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Tatsächlich schwul

von

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Cinderella

Jemand klingelte ausgesprochen gründlich an Nicks Wohnungstür und hörte auch nicht damit auf hereinzuwollen, als Nick nach zwei Minuten immer noch nicht aufgemacht, sondern stattdessen seinen Kopf unter dem Kissen vergraben hatte. Welchen Teil von „Vergiss es, ich steh nicht auf“ hatte derjenige eigentlich nicht verstanden? Hatte er sich irgendwie undeutlich ausgedrückt, als er das in seine Matratze genuschelt hatte? Mit einem Stöhnen, das der uralten Morla zu Ehren gereicht hätte, erhob sich Nick schließlich und trottete in Richtung Tür. Der schwarz-weiße Küchenfußboden verschwamm etwas vor seinen Augen, als er gegen die auf ihn einströmende Helligkeit anblinzelte. War das da auf dem Tisch eine Wodkaflasche? Und wo war die andere Hälfte davon?

„Jaha, ich komme“, nölte er den Klingler an und versicherte sich, dass er einigermaßen bekleidet war (er trug zum Glück eine Schlafanzughose) bevor er öffnete.

Von draußen strahlte ihn Alexandra an.

„Wo bleibst du denn? Ich friere mir hier den Arsch ab“, motzte sie trotz ihres Gesichtsausdrucks und schob sich, ohne eine Antwort abzuwarten, an ihm vorbei in die Wohnung.

„Dir auch einen schönen guten Morgen“, murrte Nick und schloss die Tür wieder. Es war wirklich verdammt kalt draußen.

„Morgen? Nicky-Schatz, es ist bereits halb eins. Ich muss gleich zur Arbeit, aber vorher wollte ich dir noch die tollen Neuigkeiten erzählen.“

Alexandra pflanzte sich auf sein schon leicht altersschwaches Sofa und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Alles an ihr schrie praktisch: „Frag mich! Frag mich!“

Also tat er ihr den Gefallen. „Was denn für Neuigkeiten?“

Gab es hier irgendwo was zu trinken? Und Kopfschmerztabletten. Er hatte bestimmt welche.

„Ich fliege nach Italien!“

„Oh, das ist cool.“ Nahm er an. Offensichtlich war der für solche Entscheidungen zuständige Teil seines Gehirns immer noch in Wodka mariniert. „Wann denn?“

„Nächstes Wochenende!“

War es im November nicht auch in Italien kalt? Und war er ein Spielverderber, wenn er das jetzt erwähnte?

„Mit Natascha!“

Ah, daher wehte der Wind. Moment … mit Natascha?“

„Ihr macht zusammen Urlaub?“ Nicks Denkapparat nahm langsam wieder den Dienst auf und brachte ein wenig Sinn in Alexandras begeistertes Gequietsche. Sie wollte tatsächlich mit ihrer Freundin wegfahren? Das war neu. Sehr neu.

Alexandra rollte eine blonde Strähne über den Finger. „Na ja, Urlaub ist übertrieben. Es ist eher eine Dienstreise. Ich habe dir doch erzählt, dass Sie im Reisebüro arbeitet. Ihre Chefin sollte eigentlich nach Rom zu einer Tagung, aber die ist krank und jetzt soll Natascha an ihrer Stelle fahren. Und sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme. Ist das nicht geil?“

Noch bevor Nick irgendetwas einwerfen konnte, hatte sich Alexandra seinen Laptop geschnappt und hämmerte auf dem Touchpad herum.

„Ich muss dir unbedingt das Hotel zeigen. Das ist der Hammer!“

Sie strahlte immer noch, als ihre Gesichtszüge plötzlich einfroren. Sie starrte auf den Bildschirm des Laptops und konnte offensichtlich nicht glauben, was sie dort sah. Die Augenblicke dehnten sich zu panikschwangeren Ewigkeiten, bevor sich ihre Mundwinkel sehr, sehr langsam wieder nach oben bewegten. Mit einem süffisanten Blick auf Nick klickte sie noch einmal und ein lustvolles Stöhnen erfüllte plötzlich den Raum.

Nick wurde kreideweiß im Gesicht und sein Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen. Oh scheiße, er hatte doch nicht …? Bitte nicht!

„Alex, ich kann das erklären ...“ Irgendwie.

Sie hob eine Augenbraue und verfolgte das Treiben auf dem Bildschirm. „Na ja, bist eben doch nur ein Mann. Immerhin sehen die beiden ja nicht übel aus.“

Er hechtete zum Couchtisch, griff nach dem Laptop und krachte den Deckel so heftig zu, dass er sich in Gedanken schon mal vom Display verabschiedete. Das Stöhnen verstummte mit einem matten Plopp und hinterließ drückendes Schweigen.

„Alex … es tut mir leid, ehrlich. Ich wusste ja nicht ...“

„Dass ich dich dabei erwischen würde?“ Sie verdrehte die Augen. „Meine Güte, Nick, krieg dich wieder ein. Nur weil du schwul bist, heißt das doch nicht, dass du keine Pornos gucken darfst. Vor allem nicht, wenn die Darsteller so schnuckelig sind wie die beiden Häschen da. Also nicht, dass die mir gefallen würden, aber ich kann verstehen, dass dir dabei einer abgeht.“

Nicks Gedanken purzelten durcheinander wie umgeworfene Bausteine. Er hatte … sich nicht geoutet? Oder wie auch immer man das nennen wollte. Irgendwie war er nach dem Abschluss der Tanzparty offensichtlich in den Besitz einer Flasche Wodka gelangt, hatte sich ordentlich die Kante gegeben und dann hatte er … Schwulenpornos geguckt? Wenn er wieder vollkommen klar war, musste er dringend mal ein sehr ernstes Gespräch mit seinem Unterbewusstsein führen.

Alex seufzte. „Zu schade, ich hätte dir das Hotel wirklich gerne gezeigt. Ein Superteil. Fünf Sterne, Whirlpool, Sauna, Wellnessbereich. Und ich werde den ganzen Tag da verbringen, während Natascha auf ihrem Treffen ist, und wenn sie abends heimkommt, machen wir es uns nett. Wir dürfen sogar zwei Tage länger bleiben. Mittwoch früh geht’s los bis Sonntag. Das wird so cool.“

Sie stand auf und drückte Nick einen Kuss auf die Wange. „Aber jetzt muss ich los. Die Muckibude wartet. Vielleicht komme ich nach Schichtende nochmal vorbei, aber so wie du aussiehst, solltest du heute lieber früh ins Bett gehen.“

Sie war schon fast zur Tür heraus, als sie nochmal anhielt und sich zu ihm herumdrehte. „Javier war übrigens gestern nicht mit, falls es dich interessiert.“

Nick hätte fast „Er war vorher bei mir“, geantwortet, verkniff es sich aber im letzten Augenblick. Für diesen Sonntag hatte er, weiß Gott, genug Peinlichkeiten angehäuft. Am besten legte er sich gleich irgendwo in eine Ecke zum Sterben.

Alex hauchte ihm noch eine Kusshand zu, dann klappte die Wohnungstür hinter ihr und Nick war wieder allein. Er warf einen missbilligenden Blick auf den Laptop.

„Verräter“, knurrte er das Gerät an. Dabei war er eigentlich immer so vorsichtig und öffnete diese Seiten sogar auf seinem eigenen Computer nur im Geheimmodus. Ab jetzt definitiv keinen Alkohol mehr.

Entschlossen stapfte er in die Küche und leerte den Rest des Wodkas in den Ausguss. Die Flasche schmiss er einfach in den Restmüll. Scheiß auf Recycling, er würde das Teufelsding nicht auch noch zwischenlagern. Einzig die Tatsache, dass er immer noch nur halb bekleidet war, hielt ihn davon ab, den Müllbeutel gleich noch draußen in die Tonnen zu werfen. Was er jetzt brauchte war ein kräftiges Frühstück und eine heiße Dusche. Nicht unbedingt in der Reihenfolge.
 

Während das Wasser auf seinen Kopf prasselte, kreisten seine Gedanken um den vorangegangenen Abend. Ihm wurde klar, dass er gestern gleich zwei unmoralische Angebote bekommen hatte. Und anscheinend war irgendetwas in ihm der Meinung, dass beide eine Überlegung wert waren. Obwohl er sich sicher war, dass er jetzt, selbst im trüben Licht dieses Spätoktobersonntags, keines der beiden auch nur annähernd in Erwägung zog, wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen. Also warum zum Geier hatte er gestern diesen Film angeschaut? Sicherlich nicht, um sich einen runterzuholen. Es war ja nicht so, das er noch nie in diese Kategorie reingeschaut hatte. Immerhin wollte er allen glaubhaft versichern, dass er auf Kerle stand, also musste er sich ja schließlich informieren, was dabei so abging. Aber um das, was er dabei gesehen hatte, irgendwie anregend zu finden, musste man vermutlich tatsächlich schwul sein. In gefühlten 70 % der Filme, rammelten irgendwelche Osteuropäer zu zweit, zu dritt oder zu noch mehreren mit Zigarette im Mund lustlos ineinander rum. Das Ganze hatte in etwa den Charme einer Männerumkleidekabine beim Sport. Nackte, unschöne Hühnerbrüste, zu viel Körperbehaarung und wackelnde Geschlechtsteile, wo immer die Kamera auch hinschwenkte. Denn wo Frauen ja wenigstens noch so tun konnten, als wenn ihnen das lieblose Rein-Raus-Spiel gefiel, war es bei den männlichen Darstellern nun mal ziemlich offensichtlich, wenn es das nicht tat. Immerhin sah man ihr bestes Stück ja ständig in Großaufnahme.

Er verbannte die Gedanken an furchtbare Pornos aus seinem langsam wieder in geregelten Bahnen funktionierenden Gehirn und machte sich ein Käse-Sandwich. Zusammen mit einer großen Flasche Wasser ließ er sich auf das Sofa fallen und machte den Fernseher an. Während er kaute, zappte er durch die Kanäle und musste feststellen, dass er offensichtlich die Wahl zwischen angefangenen Spielfim-Wiederholung vom vorherigen Abend und Sendungen vom Format „Bauer sucht Frau“ hatte. Irgendwo auf den hinteren Sendeplätzen fand er dann eine Tierdoku, zu der er immerhin zu Ende essen konnte, ohne beim ständigen Umschalten Butter auf die Fernbedienung zu schmieren. Aber befriedigend war das nicht wirklich.

Nick blickte zum Tisch. Der Laptop starrte zurück. Höhnisch grinsend schien er zu flüstern: „Ich weiß etwas, das du nicht weißt. Und Alex weiß es auch. Also los, mach mich an und ich zeige es dir. Oder traust du dich etwa nicht?“

Er widerstand volle fünfzehn Minuten, dann schaltete er mit einem Fluch den Fernseher ab und öffnete den Laptop. Dessen Display hatte die unsanfte Behandlung zum Glück unbeschadet überstanden. Allerdings bereute er zutiefst, dass er irgendwann mal eingerichtet hatte, dass das blöde Ding beim Zuklappen nur in den Ruhemodus ging, statt sich einfach richtig auszuschalten. Ansonsten wäre die ganze Sache mit Alexandra nicht passiert und er würde jetzt einen wunderbar langweiligen Sonntag verbringen und vielleicht sogar mal wieder seine Eltern anrufen, die von dem ganzen verkorksten Kram, der in seinem Leben abging, zum Glück so gar keine Ahnung hatten. Stattdessen wartete er mit halb zugekniffenen Augen darauf, was für Scheußlichkeiten er sich im betrunkenen Zustand wohl zu Gemüte geführt hatte.

Vor ihm erschien eine seiner üblichen Pornoseiten. Ohne lange zu fackeln klickte er auf Start und betrachtete das Geschehen auf dem Bildschirm. Er musste zugeben, dass dieser Film weitaus besser war als das, was er bisher gesehen hatte. Das fing schon damit an, dass beide Darsteller offensichtlich Spaß an ihrem Tun hatten. Außerdem beschränkte sich ihre Tätigkeit nicht auf ein simples Rumgebumse. Da gab es eine Menge Küsse, wenngleich sich diese auch schnell in den Bereich unterhalb er Gürtellinie verlagerten. Und auch da gab es Unterschiede. Er hatte natürlich schon von Rimming gehört und es auch schon gesehen, aber die Hingabe, mit der das hier betrieben wurde, war irgendwie bemerkenswert. Im Endeffekt lief es zwar doch wieder auf „normalen“ Geschlechtsverkehr raus, aber es gab für beide Darsteller einen deutlichen Höhepunkt. Das Ganze war vermutlich immer noch meilenweit weg von der Realität – immerhin war das hier ein Porno – aber nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Am Ende wurde sogar noch gekuschelt. Eigentlich ganz nett.

„Aber definitiv nicht anregend“, stellte er mit einem Blick nach unten fest. Es war also immer noch alles in bester Ordnung, wobei … Vielleicht hätte es die Sache sogar einfacher gemacht, wenn er tatsächlich schwul gewesen wäre, statt nur so zu tun. Kein Versteckspiel mehr, ein netter Freund, sonntags Kaffeetrinken bei den Schwiegereltern ...

Nick stöhnte und presste sich die Handflächen gegen die Augen. Er hatte definitiv noch nicht allen Wodka ausgeschwitzt. Am besten verkroch er sich vor der Welt, bis er wieder normal tickte. In diesem Zustand konnte man ihn ja keinem zumuten.

Er warf die erste DVD von „Babylon Berlin“ in den Player und drückte auf den Startknopf. Lieber sah er dem morphinsüchtigen Kommisar Rath zu, wie er versuchte, durch den Sündensumpf des Berlins der 20er Jahre zu waten und dabei nicht unterzugehen, als sich weiter über sein nicht existentes Liebesleben Gedanken zu machen. Das würde früher oder später ohnehin wieder Alexandra für ihn übernehmen.
 

 

Der Montag begann mit einer Überraschung. Als Renata gegen neun in den Laden schneite, war sie allein.

„Javier ist krank. Erkältung. Ihr müsst also heute alleine klarkommen.“

Nick konnte sich gerade noch auf die Zunge beißen, um nicht zu sagen, dass Javier ohnehin keine große Hilfe war. Das war nun mal das Schicksal eines Schülerpraktikanten. Den größten Teil des Tages dumm in der Gegend rumzustehen und nutzlos zu sein. Zumal im „El Corpiño“ ja auch viele der Tätigkeiten entfielen, die Läden mit größerer Warenfluktuation zu bieten hatten. Regale auffüllen, Retouren verräumen, kassieren, all das fand hier nur in relativ geringem Umfang statt. Wobei Nick eigentlich vorgehabt hatte, Javier heute die Kasse zu erklären. Immerhin gab es dabei auch so einiges zu beachten, damit man nicht durcheinanderkam und trotzdem die ganze Zeit seine Aufmerksamkeit beim Kunden hatte. Aber diese Lektion musste er wohl verschieben.

Lisa ließ geräuschvoll die Luft entweichen.

„Dann muss ich also doch selber Staub wischen“, murrte sie und schlurfte in Richtung Abstellraum, um sich die Putzutensilien zu holen. Wie es schien, war auch seine Kollegin heute Morgen nicht so recht in Form. Nick schob es zunächst auf das Wetter, aber als Lisas Laune auch mit dem Voranschreiten des Tages (und dem Konsum von nahezu einer ganzen Packung Schokokekse) nicht besser wurde, fühlte er sich genötigt, nachzufragen.

„Ach, es ist immer das Gleiche.“ Sie biss in einen weiteren Keks. „Michael kriegt einfach seinen Hintern nicht hoch. Ich werde nächste Woche 29, Nick. 29! Hast du eine Ahnung, wie lange es dauert, eine Hochzeit zu planen und vorzubereiten? Mindestens ein Jahr! Und wenn er nicht bald in die Hufe kommt, bin ich 30, bevor ich einen Ring am Finger habe. Du weißt, was das heißt?“

Nick schüttelte den Kopf.

„Wenn ich mit 30 nicht verheiratet bin, muss ich an meinem Geburtstag die Klinke der Kirchentür putzen, bis eine männliche Jungfrau kommt und mich erlöst. Hast du eine Ahnung, wie lange das dauern kann, bis so einer vorbeikommt. Vermutlich kann ich nicht mal dich darum bitten, oder?“

Nick merkte, wie eine leichte Röte in sein Gesicht kroch. „Nein, tut mir leid, da muss ich passen.“

„Siehst du?“, jammerte sie und starrte angefressen in die leere Kekspackung. „Das wird so fürchterlich peinlich werden. Und alles nur, weil er mir keinen Antrag macht.“

„Und wenn du einfach ihn fragst?“ Nick konnte das Problem nicht so ganz erkennen. Immerhin lebten sie im 21. Jahrhundert, da musste eine Frau doch nicht warten, bis irgendjemand um ihre Hand anhielt.

„Ja, das könnte ich. Und mit Sicherheit würde er auch 'Ja' sagen, aber weißt du ... es geht darum, dass er mal was für mich tut. Weil er sich vermutlich beim ganzen Rest dann wieder fein raushalten wird. Und das ist auch kein Problem. Ich kriege das prima alleine hin und mein Lebensglück hängt nicht davon ab, dass er mal von selbst den Müll rausbringt, auch wenn das durchaus ein Plus wäre.“ Sie seufzte und zupfte am Saum ihres Rocks herum. „Aber einmal im Leben hätte ich halt gerne diese ganze romantische Cinderella-Märchen-Scheiße, die man als emanzipierte Frau ja nicht gut finden darf, weil sie ja ach so diskriminierend für einen ist.“

„Ach Lisa ...“ Nick setzte sich neben sie auf das Sofa und puffte sie leicht in die Seite. „Jetzt lass mal den Kopf nicht hängen. Vielleicht überrascht er dich ja noch.“

„Daran glaube ich mittlerweile nicht mehr. Da müsste ich schon ein Plakat mit blinkender Leuchtschrift basteln: Diese Frau möchte gerne geheiratet werden.“

„Weiß er das denn nicht?“

„Doch. Wir haben ja darüber geredet, dass wir heiraten wollen. Ist auch alles schick und so, aber er fragt halt nicht.“

„Vielleicht weiß er nicht, dass du gefragt werden willst?“

Lisa zog einen Flunsch „Das sollte ihm doch klar sein, oder?“

Nick hätte beinahe gelacht. „Sag mal, lest ihr eigentlich auch, was in euren komischen Frauenzeitschriften steht, oder guckt ihr euch nur die Bilder an? Mindestens dreimal im Jahr geht doch durch die Presse, dass Männer nicht Gedanken lesen können und man als Frau seine Wünsche klar formulieren soll. Nur, weil ihr besprochen habt, dass ihr heiraten und Kinder haben wollt, löst das in ihm noch keinen Drang dazu aus, irgendetwas dafür zu tun. Er braucht klare Anweisungen. Sag ihm ganz deutlich: Ich will, dass du mir einen Antrag machst. Und streng dich gefälligst an, sonst sage ich 'Nein' und suche mir einen anderen.“

Lisa sah ihn entsetzt an. „Aber ich will doch gar keinen anderen.“

Nick grinste. „Ja, aber das weiß er doch nicht. Wenn er den Verlust seines Weibchens fürchten muss, wird der Höhlenmensch in ihm schon was dagegen unternehmen. Mit Chance überwiegt allerdings der Hipster in ihm und du bekommst Blumen statt eines erlegten Mammuts.“

Lisa musste gegen ihren Willen lachen. „Also schön, überzeugt. Ich werde meinem Höhlenmännchen eine deutliche Botschaft in Stein meißeln, damit er mich auch versteht. Und wenn er dann immer noch nicht mit einem Ring rausrückt, dann ...“, sie stockte und grinste im nächsten Augenblick, „ … dann kriegt er eins mit der Keule übergebraten.“

„Bravo, Towanda! Schnapp ihn dir.“

Lisa kicherte und warf mit dem Staublappen nach ihm. Nick fing ihn und wienerte damit geziert über die Lehne des Sofas. Anschließend reichte er das staubige Teil mit spitzen Fingern zurück. Lisa nahm das Tuch in Empfang und machte sich wieder daran, die Glasregale abzustauben.

Nick blieb sitzen und starrte ins Leere. Schön, dass alle immer so klar wussten, was sie wollten. Er wollte gar nichts, außer in Ruhe gelassen werden, aber anscheinend war die Welt der Meinung, dass das nicht ginge. Sie spuckte ihm Alexandras und Javiers und aufregende Unbekannte in die Suppe, stemmte die Hände in die Hüften und erwartete, dass er irgendwas daraus machte. Er hatte nur keine Ahnung, was.

 

 

 

Javier blieb auch die nächsten zwei Tage verschwunden. Nick fiel zum ersten Mal auf, dass er sich an dem Samstag gar keine Gedanken gemacht hatte, wie der Junge eigentlich zum Hotel gekommen und vor allem, wo er danach hingegangen war. Unterbewusst hatte er wohl angenommen, dass Javier sich mit Alexandra traf, die wie Nick im gleichen Ort wohnte, in dem sich auch das „El Corpiño“ befand. Lisa stammte aus einem der umliegenden Dörfer und Renata kam morgens ebenfalls mit dem Auto, wenngleich auch von der anderen Seite. Sie wohnte ein ganzes Stück in Richtung der nahegelegenen Großstadt, hatte ihr Geschäft aber wegen der günstigeren Mieten in den Speckgürtel verlagert. Wenn sie Javier nicht ihr Auto geliehen hatte – und irgendwie bezweifelte Nick, dass sie das getan hatte – musste er mit der Bahn gefahren sein, die um diese Uhrzeit nicht mehr allzu oft unterwegs war. Mit Pech hatte er also eine knappe Stunde auf dem zugigen Bahnsteig verbracht plus den Fußweg zum Hotel und umgekehrt zu Renatas Haus. Bei seinem Aufzug und den herrschenden Temperaturen war es somit kein Wunder, dass er sich was weggeholt hatte. Nick schüttelte innerlich den Kopf über so viel Unvernunft.

 

 

Am Donnerstag war das „El Corpiño“ geschlossen, ebenso wie auch der Rest aller Geschäfte. Reformationstag nannten es die einen, Halloween die anderen. Da Alexandra sich bereits am Dienstagabend von ihm verabschiedet hatte, ließ sich Nick allein auf seinem Sofa von einer gruseligen Komödie nach der nächsten berieseln und hoffte jedes Mal, wenn draußen Schritte und Stimmen zu hören waren, dass nicht etwa irgendwelche Kinder auf die Idee kamen, bei ihm zu klingeln und „Süßes oder Saures!“ zu verlangen. Er war sich nämlich nicht sicher, ob er außer ein paar schon sehr antiker Schokoriegel noch irgendetwas Süßes im Haus hatte. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dafür einzukaufen. Also tat er so, als wäre er nicht zu Hause und textete mit Alexandra, die ihm dank kostenlosem Wlan ständig mit neuen Fotos von ihrem wirklich traumhaften Hotel versorgte.

 

 

Am Freitag waren Lisa und Nick allein im Geschäft, da Renata in die Kirche gegangen war. Allerheiligen war einer der höchsten katholischen Feiertage und natürlich beginn die gebürtige Spanierin diesen entsprechend mit einem Messebesuch. Als sie gegen Mittag in einen weiten, schwarzen Mantel gehüllt, auftauchte, folgte ihr ein noch ein wenig blasser Schatten. Nick hätte Javier fast nicht wiedererkannt. In Anbetracht der Spitzen, die sich der Junge schon zu seinem Äußeren geleistet hatte, konnte Nick nicht widerstehen.

„Du hast ja einen Pullover an“, konstatierte er und tat gespielt entsetzt. „Bist du sicher, dass der dir nicht das Gehirn raussaugt?“

„Klappe“, knurrte Javier und nestelte an seinem Kragen herum. „Kirche ist Kirche. Da muss man anständig angezogen sein.“ Er legte ein schiefes Grinsen auf. „Außerdem musste ich Tante Nata doch davon überzeugen, dass ich wieder fit genug bin, um morgen mit dir auf die Piste zu gehen. Du hast doch wohl nicht gedacht, dass du da drumherum kommst.“

Nick hätte sich beinahe ins Gesicht gefasst. Sah man das wirklich so deutlich? Und musste er sich eigentlich wirklich an dieses erpresste Zugeständnis halten? Gab es da nicht irgendwie mildernde Umstände?

„Wenn du noch nicht wieder ganz gesund bist, könnten wir auch was anderes machen. Meinetwegen ins Kino gehen oder so.“

„Und was würdest du gucken wollen?“

Touché. Nick hatte keine Ahnung, was überhaupt lief. Er war kein großer Kinogänger, auch wenn er sich ab und an mal einen Film mit Alex zusammen ansah, wenn diese gerade keine Begleitung hatte und nicht alleine ins Kino gehen wollte. Er hob ein wenig hilflos die Schultern.

Javiers Grinsen wurde breiter. „Also doch ins Flamingo. Wie kommen wir da eigentlich hin?“

„Mit der Bahn. Ich hab kein Auto. Am besten steigst du an deiner Station einfach zu. Wir müssen eh in eure Richtung. So gegen zehn?“

Javier nickte nur. „Geht klar. Und was machen wir jetzt?“

Wenn es nach Nick gegangen wäre, Feierabend, aber er hatte noch ein paar Stunden vor sich. Und den Samstag. Das konnte ja noch heiter werden.

„Ich zeige dir mal, wie man richtig abkassiert.“

Javier grinste breit „Endlich mal was interessantes.“

Nick schüttelte den Kopf. „Spinner. Na los, ich erklär's dir.“

 

 

Als er am Samstagabend nach Hause kam, war Nick in einer seltsamen Stimmung. Irgendwie schien sein Kopf endlich zu registrieren, dass er so etwas wie ein Date hatte. Ein erzwungenes Date mit dem Neffen seiner Chefin. An dem er kein Interesse hatte. Das Ganze war doch total hirnrissig. Er war kurz davor abzusagen, als ihm auffiel, dass er völlig vergessen hatte, nach Javiers Handynummer zu fragen. Er hätte natürlich Alex anschreiben können, aber die genoss ja gerade ihren letzten Abend mit Natascha in Rom, da wollte er nicht mit irgendwelchen sinnlosen Nachrichten stören. Ganz kurz überlegte er, ob er einfach nicht hingehen sollte. Er könnte behaupten, die Bahn verpasst zu haben.

Der Gedanke spukte ihm auch noch im Kopf herum, als er sich unter der Dusche einseifte. Es wäre die perfekte Ausrede und immerhin hatte Javier seine Nummer ja auch nicht. Warum sollte er sich also Gedanken machen? Am Montag würde er sich entschuldigen und alles wäre wieder in Butter. Und nächstes Wochenende konnten sie ja meinetwegen zu viert losziehen als Wiedergutmachung. Das wäre wenigstens nicht ganz so peinlich.

Gerade als er sich mit dem Gedanken anfreunden wollte und sich selbst fast davon überzeugt hatte, dass das nur gerecht und keinesfalls irgendwie schäbig von ihm war, klingelte es an der Wohnungstür. Nick stellte das Wasser aus, trocknete sich notdürftig ab und warf sich seinen Bademantel über. Wahrscheinlich war das mal wieder der Paketbote. Die kamen oft erst um diese Zeit und Alexandra hatte neben einer Vorliebe für extravagante Kleidung auch einen Hang dazu, Sachen im Internet zu bestellen. Die Größe der Kartons ließ darauf schließen, dass einige Bestellungen den Gegenwert eines gebrauchten Kleinwagens hatten. Aber da die Retouren fast ebenso umfangreich waren, machte er sich keine allzu großen Sorgen, dass in nächster Zeit der Gerichtsvollzieher bei ihr vor der Tür stehen würde.

„Ich komme“, rief er, schlang sich den blauen Frotteegürtel fester um die Taille und eilte zur Tür. Als er öffnete erwartete ihn eine Überraschung.

„Was machst du denn hier?“, fragte er und sah Javier mit großen Augen an.



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