Cursed von Lycc ================================================================================ Kapitel 17: Wenn die Gefühle Tennis spielen ------------------------------------------- Aiden war ungebremst in einen bulligen Typen mit kurzer Stoppelfrisur und Jeansjacke gerannt, der ihn jetzt wütend anfunkelte. „Entschuldung.“ Aiden wollte sich umdrehen und wieder gehen doch der Mann hielt ihn am Kragen fest. „Nicht so schnell, du kleines Miststück.“ Grob wurde Aiden zurück gezogen und in die Gasse geschubst. Reel fing ihn auf, bevor er stolpern und stürzen konnte, und erfasste schnell ihre Lage. In der Gasse standen noch vier weitere junge Männer mit ähnlichem Aussehen und Bierflaschen in den Händen. „Na was haben wir denn hier?“ Bedrohlich umringten sie die beiden. Ein paar Schlägertypen, die Ärger suchten und bei der Gelegenheit vielleicht gleich noch etwas Geld abgreifen wollten, wie Reel feststellte. Sofort schob er Aiden schützend hinter sich und dieser klammerte sich an dessen Ärmel fest. „Zwei kleine Schwuchteln.“ Der Mann von der Ampel hatte sich soeben auch noch dazu gesellt. Also sechs gegen zwei – ihre Chancen standen mal wieder großartig. Reel knurrte leise und analysierte ihre Gegner: der Typ mit dem grünen Shirt zog sein linkes Bein leicht nach, der mit der hässlichen Hose trug eine Sonnenbrille obwohl es in der Gasse recht düster war (konnte dadurch also schlechter sehen) und außerdem trug der mit den vielen Aufnähern an der Jacke vermutlich ein Messer in der Hosentasche. Der in Grün kam als Erster auf sie zu und wollte nach Aiden greifen. Instinktiv trat Reel seitlich nach dessen schwachem Bein. Dieses gab nach, der Mann knickte ein und bekam als Bonus auch noch Reels Knie vors Kinn geknallt. Reel war erschöpft, in der Unterzahl und hatte Aiden zu beschützen, daher spielte er nun nicht lange mit seinen Gegnern herum. Das Überraschungsmoment ausnutzend ging er zum nächsten Angriff über. Der Typ, bei dem Reel ein Messer vermutete, war am gefährlichsten, also musste er ihn als nächstes ausschalten. Dieser zog auch sofort ein silbernes Klappmesser aus der Tasche und stürzte auf ihn los. Mit zwei koordinierten Bewegungen und einem geschickten Schlag brach er ihm den rechten Arm und das Messer fiel klirrend zu Boden. In der nächsten Bewegung nahm Reel dieses auf und führte es in einem gekonnten Zug über die Brust des Mannes. Unaufhaltsam quoll das Blut aus dem Schnitt hervor und verfärbte die Jacke und deren Aufnäher rot. Er war nicht tief genug um ernsthaften Schaden zu verursachen, aber tief genug um ihn fürs erste unschädlich zu machen und eine hübsche Narbe zu hinterlassen. Nummer zwei und drei griffen ihn gleichzeitig an. Geschickt ließ Reel ihre Angriffe ins Leere laufen und nutze die riesigen Lücken in deren Deckung um dem einen gewaltsam das Schlüsselbein zu brechen und ihm anschließend des Knie so heftig in die Magengrube zu rammen, dass dieser sich übergeben musste. Der andere ging nun mit einer leeren Bierflasche auf ihn los, doch Reel wich auch diesem Angriff mühelos aus, drehte seinem Angreifer den Arm auf den Rücken, bis dieser die Flasche fallen lassen musste, und brachte ihm einen Tritt in die Kniekehle bei. Abschließend rammte er dessen Kopf schonungslos gegen die Hauswand neben ihm, woraufhin dieser bewusstlos zusammensank. „REEL!“ Er fuhr herum. Die beiden übrigen Männer hatten sich an Aiden vergriffen und einer von ihnen bedrohte Reels Lieblingsspielzeug mit einem weiteren Messer, ähnlich dem das Reel grade erst erbeutet hatte und welches er nun in einer Kurzschlussreaktion warf. Zielsicher landete die glänzende Klinge in der Schulter des Mannes mit Sonnenbrille, der Aiden von hinten festhielt. Schmerzerfüllt heulte er auf, als die Klinge sich bis zum Heft in dessen Fleisch versenkte. Zeitgleich verlor Reel nun sämtliche Selbstbeherrschung. Ungezügelt flammte der tiefschwarze Schattenumhang um seine Schultern auf und lodernd rote Augen stachen aus dem blassen Gesicht hervor. Ein einziger blitzschneller Tritt befördert den letzten Unverletzten – den Typen von der Ampel – mit nun gebrochenen Rippen an die Hauswand hinter ihm. Besitzergreifend umschlang Reel Aidens Körper und auch sein Schatten tat es ihm gleich und hüllte den Kleineren fast vollständig ein. Ein bedrohliches Knurren entfuhr Reels Kehle und wer von den Männern noch in der Lage dazu war, ergriff nun panisch die Flucht. Doch Reels Anspannung ließ nicht wirklich nach. Noch immer drückte er Aiden fest an sich und dieser begann nun beruhigend auf seinen aufgebrachten Dämon einzureden. Vorsichtig griff er über seine Schulter hinweg um Reels Nacken zu erreichen und kraulte ihn geduldig. Nach und nach schien dieser sich wieder zu beruhigen und ließ seinen Kopf auf Aidens Schulter sinken. Wenig später löste er sich in schwarzen Nebel auf und verschwand in Aidens Körper. Dieser konnte die Erschöpfung seines Dämons nun noch deutlicher spüren und auch so etwas wie Angst. Keine Angst vor den Männern – die hatten keinerlei Chance gegen ihn gehabt – sondern Angst um Aiden. Der starke Beschützerinstinkt, den Reel ihm gegenüber immer wieder bewies, freute Aiden insgeheim mehr als er sich selbst eingestehen wollte. „Danke, Reel“, flüsterte er ihm zu, erhielt jedoch keine wirkliche Antwort. Reel schlief zwar nicht, aber so richtig wach war er auch nicht. Mit schnellen Schritten lief er an einem bewusstlosen Schläger vorbei, der von seinen Kameraden einfach zurückgelassen worden war, und steuerte die Bushaltestelle an. Im Bus ließ Aiden den Überfall noch einmal Revue passieren. Reel hatte problemlos vier bewaffnete Männer ausgeschaltet und er selbst konnte sich nicht mal lange genug vor zwei Typen verteidigen, bis Reel ihn retten kam. Immer wieder wurden ihm seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten schmerzlich bewusst. Wieder im Zimmer angekommen lief Aiden sofort zum Bett, auf dem sich Reel auch gleich materialisierte, zusammenrollte und einschlief. Leise kniete sich Aiden vors Bett, stütze sich mit den Armen auf der Bettkante ab und beobachtete wie sich Reels Brustkorb gleichmäßig hob und senkte. Zärtlich strich er ihm die Haare aus dem Gesicht, die in Reels Atem leicht hin und her wippten. Ein leises Seufzen unterdrückend fuhr er ihm mit den Fingern über die blasse Wange. Aiden konnte seine Gefühle für den launischen Dämon nicht leugnen, egal wie sehr er es auch versuchte. Und das obwohl er ganz genau wusste, dass er für ihn nur ein Spielzeug war – zwar sein Lieblingsspielzeug, aber eben nur ein Spielzeug. Für ihn war er nur Eigentum und trotzdem fühlte Aiden sich bei ihm so wohl wie sonst bei niemandem. Warum musste er ausgerechnet für Reel so empfinden? Das machte alles nur noch komplizierter. Mal ungeachtet der Tatsache, dass er ein Dämon war, war er auch noch ein Mann und lebte schon viel länger als Aiden und war schrecklich launisch und besitzergreifend. Hatte Aiden jetzt etwa Stockholm-Syndrom? Ganz abgesehen davon schien Reel sowieso nur für die Schönheit in seinem Skizzenbuch ernsthaft Augen zu haben – mit Aiden spielte er nur. Das war ihm spätestens seit dem Zwischenfall klar, als er ungefragt das Buch aufgeschlagen und sofort eine von Reel verpasst bekommen hatte. Sehnsüchtig ruhten seine Augen auf dem blassen Gesicht. Schweren Herzens riss er sich von dessen Anblick los und schnappte sich seine Konsole um sich abzulenken. Bedacht darauf Reel nicht zu wecken, machte er es sich neben ihm auf dem Bett bequem und begann zu spielen. Irgendwann zog Reel Aidens Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er hatte im Schlaf nach ihm gegriffen und vergrub nun seine schmalen Finger in Aidens T-Shirt. Dieser musste leicht schmunzeln und kraulte ihn als Reaktion darauf liebevoll hinterm Ohr, woraufhin Reel sich noch etwas enger an ihn kuschelte. Auf das Abendessen musste Aiden nun leider verzichten. Er wollte Reel nicht wecken, also angelte er erneut etwas aus seinem Süßigkeiten Vorrat. Lukas hatte ihm alles Essbare, was er noch im Zimmer hatte, zur Verfügung gestellt damit es nicht schlecht wurde und Aiden war nun sehr dankbar dafür. Sein eigener Vorrat war während der Prüfungszeit beträchtlich geschrumpft und wäre heute ansonsten wohl zur Neige gegangen. Zum Duschen musste er dann schließlich doch Reels Finger aus seinem Shirt lösen – oder zumindest versuchte er das. Selbst im absoluten Tiefschlaf machte er es Aiden nicht leicht und so weckte er ihn nach einigen Minuten doch ungewollt auf. Verschlafen rieb er sich die roten Augen und entblößte seine Reißzähne beim Gähnen. „Ich geh nur duschen. Schlaf weiter“, beruhigte Aiden ihn und verschwand im Badezimmer. Als er es wieder verließ, saß Reel auf dem Fensterbrett und betrachtete den Sternenhimmel. Sobald er jedoch Aiden bemerkte und dieser sich zum Bett bewegte, schwang er sich von der Fensterbank und gesellte sich wieder zu ihm. Nonchalant schlang er seine Arme um Aiden und schmiegte sich müde an ihn. „Geht's dir gut? Hast du bei dem Vorfall in der Stadt was abbekommen?“ Aiden ließ sich auf die Umarmung ein und sog Reels Geruch tief ein bevor er antwortete. „Mir geht’s gut. Ich bin nur ein wenig frustriert.“ Reel stutzte. „Warum das denn?“ „Ich bin einfach so schwach. Ohne dich bin ich total wehrlos und dir dazu auch noch ein Klotz am Bein. Das ärgert mich.“ Aiden hatte schon recht. Für Reel wäre es weitaus einfacher, wenn Aiden sich zumindest ein bisschen verteidigen könnte und dann würde er sich auch weniger Sorgen um ihn machen. „Ich bringe es dir bei“, entschied Reel daher kurzerhand. Aiden löste sich von ihm und sah ihn irritiert an. „Das Kämpfen meine ich. Ich werd's dir beibringen. Morgen früh fangen wir an.“ Aiden wollte etwas erwidern, aber ihm fiel gar kein Grund dafür ein, also gab er es auf und ließ stattdessen seinen Kopf wieder gegen Reels Brust sinken. Aufmunternd fuhr dieser ihm durch die braunen Haare und sog seinen Geruch tief ein.. Den Rest der Nacht verbrachte Reel entweder wach oder in nur unruhigem Schlaf. Aiden war in seinen Armen eingeschlafen und sein zu großes Schlaf-Shirt war ihm dabei gefährlich weit von der Schulter gerutscht. Okay, vielleicht hatte Reel dem auch ein wenig nachgeholfen, aber wer wird sich dann an solchen Kleinigkeiten aufhängen? Vorsichtig schob er seine Hand vom Saum her unter den Stoff und legte so ein gutes Stück von Aidens Rücken frei. Reel biss sich fest auf die Unterlippe bis er sein eigenes Blut schmeckte und zog das weiße Shirt schnell wieder zurecht. 'Verdammt. Corvo, wo bist du, wenn man dich mal braucht?' Selbstbeherrschung war nie eine von Reels Stärken gewesen, aber in diesem einen Zusammenhang hatte er mehr als genug Übung in Zurückhaltung. Reel wollte Aiden. Das wusste er nun schon seit einiger Zeit und normalerweise nahm sich Reel was auch immer er wollte – so hielt er es schon sein Leben lang. Aber DAS war die eine Sache, zu der er niemals jemanden zwingen wollte. Also hielt sich Reel zurück und konzentrierte sich auf Aidens unschuldiges Gesicht. Gebrochene blaue Augen tauchten in seinem Geist auf und erinnerten ihn an Nächte, die er am liebsten für immer aus seinem Gedächtnis brennen wollte. Nein, diesen gebrochenen Ausdruck wollte er nie wieder sehen – und schon gar nicht in Aidens Augen. Behutsam zog er die Decke höher und um Aidens Schultern. Am nächsten Morgen machte Reel sein Versprechen wahr und wies Aiden an in bequemer Kleidung in den Wald zu gehen, der an das Internat angrenzte. Als sie diesen ein Stück weit betreten hatten, materialisierte sich Reel und schritt neben Aiden her bis sie eine Lichtung mit halbwegs ebenem Grund fanden. Dann begann Reel mit dem Unterricht. „Du bist klein, also gibst du ein schlechtes Ziel ab. Außerdem bist du untrainiert und unerfahren, daher solltest du sowieso davon absehen selbst anzugreifen. Also bringe ich dir erst mal bei wie du ausweichst und blockst, damit du lange genug durchhältst.“ Reel ließ seinen Schattenumhang verschwinden um Aiden einen besseren Blick auf seinen Körper zu ermöglichen und ging in Position. Die Beine in leicht versetzter Schwert-Stellung für optimalen Halt und Beweglichkeit und die Arme zum Schutz erhoben. Aiden tat es ihm gleich. „Du stehst nicht richtig.“ Ein grober Stoß von der Seite und Aiden strauchelte. „Wenn deine Hacken auf einer Linie liegen, bist du seitlich leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Stell sie etwas versetzt zueinander auf. Und die Arme höher. So wie du sie jetzt hältst, hast du eine riesige Lücke in deiner Verteidigung und zwar genau vor deinem Gesicht.“ Reel korrigierte Aidens Haltung. „Das könnte dir etwas komisch vorkommen, weil dir so deine eigenen Hand ein wenig im Weg ist und du dadurch nicht richtig sehen kannst, aber daran gewöhnst du dich.“ Reel nahm ebenfalls wieder die Verteidigungs-Haltung ein und führte ihm nun den Passiv-Block vor. Dabei schnellen Ober- und Unterarm in einem engen Winkel nach oben um den Kopf vor Schlägen zu schützen. „Wichtig ist, dass du den Arm wirklich eng an den Kopf legst. Ansonsten“ Reel schlug mit der flachen Hand auf Aidens Block-Versuch und machte ihm so seinen Fehler schmerzhaft bewusst. „kriegst du nämlich deinen eigenen Arm mit voller Wucht ins Gesicht.“ Aiden zuckte zusammen und sah Reel leicht verärgert an. „Du hast einfach viel zu viel Spaß dabei.“ Dieser zeigte ihm als Antwort nur mit einem Grinsen seine Reißzähne und fuhr mit seiner Erklärung fort. „Außerdem musst du immer bedenken, dass du nicht nur deinen Kopf sondern auch deine Ohren schützt. Ein einfacher Schlag mit der hohlen Hand aufs Ohr reicht aus, um ein Trommelfell zu zerreißen und jemanden unwiderruflich auf dieser Seite taub zu machen.“ Reel deutete die beschriebene Handform und Bewegung an. „Daher musst du auf einen wirklich engen Winkel zwischen Ober- und Unterarm achten.“ Reel ließ Aiden die Passiv-Blöcke aus beiden Richtungen ein paar mal trocken üben, dann ging auch er wieder in Position. „Flache Hand – keine hohle Hand! Beide Richtungen. Ich greife an. Du blockst. Verstanden?“ Aiden kontrollierte noch einmal seine Haltung und nickte dann. Erst langsam, dann immer schneller regneten Schläge von links und rechts auf Aidens Kopf ein. Reel schlug nicht wirklich kräftig zu, aber mit ausreichend Kraft um ihn jeden einzelnen falsch ausgeführten Block deutlich spüren zu lassen. Nach einer Weile – Aidens Oberarme waren bereits rot und taten ziemlich weh – gönnte Reel ihm endlich eine Pause. Einige Minuten ließ er ihn zu Atem kommen, dann zog er ihn wieder auf die Füße. „Eine Sache machen wir noch, danach entlasse ich dich für heute.“ Reel zwinkerte ihm ermutigend zu und ging in Position. Aiden nahm alle Kraft zusammen, die er noch aufbringen konnte und tat es ihm gleich. „Wir spielen das gleiche Spiel wie eben, aber dieses Mal darfst du auch angreifen.“ „Also quasi wie Schattenboxen.“ Reel musste bei diesem Wort ein wenig schmunzeln und nickte. „Genau. Bist du bereit?“ Aiden atmete tief durch und nickte ebenfalls. Reel verlangte ihm in dieser letzten Übung eine ganze Menge ab. Erbarmungslos nutzte er die Lücken, die durch Aidens eigene Angriffe entstanden und zwang ihn immer wieder sich zu bewegen, indem er ihn umkreiste oder ihren Abstand zueinander veränderte. Erst als Aiden kräftemäßig an seine Grenzen stieß, brach Reel das Training ab. Völlig am Ende ließ Aiden sich auf einen Baumstumpf sinken. „Gar nicht mal schlecht für den ersten Versuch“ lobte ihn Reel und Aiden antwortete schwer atmend: „Ich hab dich doch kein einziges Mal richtig getroffen.“ „Darum ging es ja auch gar nicht. Du solltest dich verteidigen und das hast du ganz gut hinbekommen. Du darfst dich nicht mit mir vergleichen. Als Dämon bin ich einem Menschen eh überlegen und viel mehr Übung als du habe ich auch. Du hast dich wirklich gut geschlagen.“ Aufmunternd fuhr er ihm über den Kopf und brachte die braunen Haare noch ein bisschen mehr durcheinander. „Nächstes mal zeig ich dir, wie man sich aus Griffen um den Hals und die Handgelenke befreit.“ Aiden wollte etwas erwidern, entschied sich jedoch dazu die Luft lieber zu sparen. Reel setzte sich neben ihn ins Gras, lehnte den Rücken gegen den Baumstumpf und den Kopf gegen Aidens Bein. Trotz der Jahreszeit war es hier unter dem dichten Blätterdach noch angenehm kühl. Tief zog Aiden die frische Luft in seine Lungen und genoss die besondere Atmosphäre des Waldes. Nach einer Weile trieben ihn dann Hunger und der Wunsch zu duschen ins Internat zurück. Als er satt, geduscht und in frischer Kleidung aufs Bett fiel, fühlte er sich so gut wie lange nicht mehr. Reel saß wieder auf dem Schreibtisch und Aiden griff nun nach seinem Handy. Es gab da eine Sache, die ihn schon die ganze Zeit nicht losließ, und so gab er nun „Symptome für Stockholm-Syndrom“ in das Fenster der Google-Suche ein. Nach ein paar Minuten und vielem Zweifeln änderte er seine Suchparameter dann doch zu „lgbtq+“. Ganz unwissend war er in der Richtung nicht. Seine Tante Bonnie war in der Community aktiv und setzte sich für sie ein, aber so richtig beschäftigt hatte Aiden sich damit nie. Schnell landete er auf tumblr, scrollte durch einige Posts, las mal auf dieser mal auf jener Website einen Artikel oder einen Blog-Eintrag und stieß auch hin und wieder auf einige Bilder. An dem Blog eines Jungen, der sich in einen Mitschüler verliebt hatte, blieb er besonders lange hängen. Er schrieb Aiden in vielen Punkten aus der Seele, auch wenn seine Situation mit Reel doch ein ganzes Stück komplizierter war. Plötzlich nahm er eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahr. Ohne dass Aiden es bemerkt hatte, war Reel hinter ihm aufs Bett geklettert und sah ihm über die Schulter. Dieser verdeckte nun panisch sein Handy-Display und lief hochrot an. Reel entfuhr ein belustigtes Glucksen und er knuffte Aiden grinsend in die Seiten. „Nawwww. Das muss dir doch nicht peinlich sein.“ Spielerisch biss er ihm ins Ohr und begann ihn zu kitzeln. Aiden war sehr empfindlich was Kitzeln anging und versuchte sich unter Lachen aus Reels Umarmung zu winden, doch der Dämon hatte viel zu viel Spaß daran ihn zu ärgern, als dass er ihn jetzt schon wieder freigegeben hätte. Aiden versuchte erfolglos sich gegen Reels flinke Hände zu wehren und hatte mittlerweile schon kleinen Tränen vom Lachen in den Augen. Als er ihn endlich wieder freigab, war Aiden völlig fertig und sein Zwerchfell schmerzte leicht. Schwer atmend lag er auf dem Bett – den grinsenden Reel neben sich. Amüsiert beobachteten die roten Augen wie Aidens Gesicht langsam wieder eine natürliche Farbe annahm. Als Reel nun erneut nach ihm griff, versuchte Aiden reflexartig sich zu verteidigen, doch Reel schob seine Hände sanft zur Seite um sich an ihn kuscheln zu können. Aidens Herzschlag war noch etwas beschleunigt, kam jedoch langsam wieder zur Ruhe. Liebevoll begann Aiden wieder durch die schwarzen Haare zu fahren und seinem Dämon den Nacken zu kraulen. Flüchtig warf er seinem Handy einen Blick zu, doch noch bevor seine Gedanken wieder dorthin zurückkehren konnten, begann es plötzlich zu klingeln. Seine Mutter rief ihn an – vermutlich wegen Aidens morgiger Heimreise. Erschöpft aber gut gelaunt tippte er das grüne Hörersymbol an und begrüßte sie überschwänglich. Reel lauschte dem Telefonat nur halbherzig und konzentrierte sich lieber auf Aidens Geruch und Nähe. Als dessen gute Laune sich aber auf einmal in Luft auflöste und seine Miene sich verfinsterte, wurde Reel hellhörig und setzte sich auf um nun doch vernünftig mithören zu können. „Es tut mir so leid, Aiden. Ich will dich doch so unbedingt endlich wieder zuhause haben, aber ich kann das einfach nicht bezahlen. Ich brauche das Auto für die Arbeit und der Rechtsstreit wegen der Versicherungssumme kann sich noch Wochen oder Monate hinziehen.“ Aiden versuchte gefasst zu bleiben und bemühte sich um eine feste Stimme. „Ich verstehe das schon, Mom. Ich komme klar. Mach dir keine Gedanken. Wir können ja nachfeiern.“ Seine Mutter konnte seine Tränen nicht sehen, aber vor Reel konnte Aiden sie nicht verstecken. Tröstend legte er die Arme um ihn. „Schon gut, Mom. Ich bin okay, wirklich. Das ist halt einfach blöd gelaufen. Wichtig ist, dass dir dabei nichts passiert ist. Ich muss jetzt auch los. Wir reden später weiter, okay?“ „Na gut. Wenn sich was ändert, sag ich dir sofort Bescheid. Mach´s gut, mein Spatz.“ „Bye Mom.“ Schnell legte Aiden auf bevor seine Stimme ihn verraten konnte. Schweigend ließ er sich in Reels Arme sinken und von ihm trösten. Seine Mutter war in einen Autounfall verwickelt gewesen. Alle Beteiligten waren glücklicherweise unverletzt geblieben, aber die Versicherung des Unfallverursachers weigerte sich zu zahlen und nun war ein Rechtsverfahren eingeleitet worden. Bis das durch war, blieb Aidens Mutter auf den Kosten sitzen. Sie war auf das Auto, welches nun einen Totalschaden hatte, für ihren täglichen Arbeitsweg angewiesen. Da waren die über Dreihundert Euro für Aidens Zugtickets nach Hause und zum Internat zurück einfach nicht mehr drin und seine Mutter musste die Tickets stornieren. Dazu kämen ja auch noch, die Kosten für die Geburtstagsfeier und die Kosten die Aiden im Haushalt verursachen würde. Im Internat zahlte sein Vater alle anfallenden Kosten, wie Wasser, Strom, Lebensmittel und ab und an spendierte er ihm auch neue Anziehsachen, aber bei einem Heimatbesuch müsste seine Mutter dafür aufkommen. Kurz gesagt: Aiden konnte seine Familie doch nicht besuchen und würde die gesamten Sommerferien allein im Internat verbringen müssen. Naja, nicht ganz allein. Reel verstand gut was grade in seinem kleinen Internatsschüler vor sich ging – vermutlich besser als dieser es erahnen konnte. Heimweh und die Sehnsucht nach geliebten Personen waren ihm alles andere als fremd. Zärtlich strich er ihm über den Rücken bis sein Körper nicht mehr vom Schluchzen bebte. Noch etwas schwach aber zielsicher rückte Aiden plötzlich ein Stück zur Seite und setzte sich zwischen Reels Beine. Ihm war jetzt alles egal. Er wollte sich einfach nur von Reel trösten lassen und der Dämon nahm sich ja schließlich auch immer was er wollte. Also machte Aiden es sich in dessen Schoß gemütlich, vergrub sein Gesicht an Reels Hals, seine Finger in dessen Oberteil und weinte leise weiter. Reel war ein wenig überrascht, ließ Aiden jedoch gewähren. Allem Anschein nach war er wohl nicht der einzige, der die Nähe des anderen brauchte. Bereitwillig schloss er ihn enger in die Arme und strich durch die nassen Haare. Es fiel Reel grade wirklich schwer Aidens Situation nicht auszunutzen, aber er rief sich immer wieder die blauen Augen und die von ihm so verhassten Nächte ins Gedächtnis – so behielt er die Kontrolle über sich. Sie blieben eine ganze Weile so, bis Aidens Handy erneut klingelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)