Von Sünden anderer Ufer von Cyberschaf ================================================================================ Kapitel 1: Ein kleiner Gefallen ------------------------------- Nicolas Montoya ließ den Straßenlärm von San Diego hinter sich verstummen, als er durch die Eingangstüren des gläsernen Hochhauses trat. Seine Ohren vernahmen stattdessen flüchtiges Klackern von Absatzschuhen und schrilles Telefonläuten. Im Anzug gekleidete, angespannte Gemüter schnellten an ihm vorbei, um danach ungeduldig auf den Ruftasten des Fahrstuhls herumzudrücken. Der Business-Hochdruck hatte wie jeden Morgen sein volles Ausmaß erlangt.                 Der junge Mann befand sich im Hauptgebäude der nicht allzu unbekannten Firma Nexus, seinem derzeitigen Arbeitsplatz. Doch er war weder Aktionär noch Unternehmer. Er war niemand, der sich aktiv am geschäftlichen Werdegang der Nexus GmbH beteiligte. Nein, in dem Konzern für Unterhaltungstechnologie und Lichttechnik war Nicolas Montoya nur ein gewöhnlicher Hausmeister.                   Nach einem tiefen Atemzug steuerte er das Facility-Office an, wo die morgendliche Routine der Aufgabenkontrolle beginnen würde. Dort erwartete ihn auch schon Mr. Donald Combs, der ihn während seiner damaligen Probephase eingearbeitet hatte. Inzwischen aber erledigte Nicolas dieselben Aufgaben wie dieser, weshalb er und Combs beruflich auf gleicher Augenhöhe standen.                 »Morgen, Nick«, grüßte der Ältere, der sich ihm mit krummen Rücken auf dem Drehstuhl zuwandte.                         »Combs«, entgegnete auch Nicolas und warf einen Blick auf den Arbeitsplan, den sein Kollege gerade am Computer geöffnet hatte. »Steht was Besonderes an heute?«                 »Mhm«, kam es grummelnd von Combs, »der Kühlschrank von Etage 12.« Er grinste ihn mit schiefem Mundwinkel an.                 »Der Kühlschrank«, wiederholte Nicolas gleichermaßen schmunzelnd, »natürlich. Ich erledige das dann nach der Zählerablesung.« Noch ein letztes Mal ging er die Tabelle prüfend durch, eher er sich im Nebenraum die Arbeitsuniform anzog.                     Als Hausmeister war man ein Alleskönner, und wurde dementsprechend auch fast überall gebraucht: von kleinen Reparaturen und Kontrolle der Handwerkerarbeit bis hin zum Winterdienst, Entrümpelungen und der Grünanlagenpflege.  Nicolas wurde oft auf seine Karrierewahl angesprochen. Für viele schien sie nämlich unüblich und antiquiert, zumindest für einen jungen Mann wie er. Doch ihm gefiel seine Arbeit und er fand nichts am Beruf der Geschäftsleute, was er jemals neiden konnte. Er fühlte sich frei und flexibel; nicht an Stuhl und Schreibtisch gebunden.                 Im zwölften Stockwerk angekommen, öffneten sich die Fahrstuhltüren und Nicolas betrat zum wiederholten Male in diesem Monat die Online Sales Abteilung. Ein Berg von Licht schien ihm sogleich durch die riesigen Fenster entgegen und der wohlige Duft von Kaffee stieg ihm in die Nase. Im selben Moment wurde er auch schon von der Sekretärin bemerkt, die ihm zur Begrüßung ein Augenzwinkern schenkte.  Er war eben nicht nur irgendein Hausmeister. Er war der Hausmeister. Für die weibliche Partie der Angestellten von Nexus war Nicolas der Hingucker schlechthin: gut gebaut, dunkelblondes Haar, und karamellfarbener Teint. Und auch wenn es ihm insgeheim leidtat, konnte er sich bei dem Gedanken ein Schmunzeln nicht verkneifen. Diese ganze Schwärmerei für nichts und wieder nichts. Denn Nicolas war nämlich schwul. Und der grundlegende Beweis dafür erschien just in diesem Moment vor seinen Augen: Edward Perkins - Online Sales Manager und Zweitleiter von Etage 12. In taktvollen, zielstrebigen Schritten kam dieser nämlich am anderen Ende des Raums um die Ecke gebogen. Sein Anzug prahlte mit hochwertigem Schnitt in dunkelgrauem Design, und sein Jackett trug er geöffnet, weshalb sein mit Sorgfalt glattgebügeltes Hemd zum Vorschein kam. Die beiden Männer kreuzten sich, und Mr. Perkins erhob den Blick aus seiner Arbeitsmappe, in welcher er bis eben noch herumgeblättert hatte.                 »Mr. Montoya, schön, Sie zu sehen!«, ertönte dessen Stimme, und Nicolas Herz rutschte ihm augenblicklich in die Hose. Kurz hielt er inne, nickte ihm lächelnd zu und gab dabei einen halbverstummten Laut von sich, ehe er ohne weiteres in der Büroküche verschwand. Er war ein wahrhaftiger Feind des Smalltalks; vermied ihn, wann immer ihm sich die Möglichkeit dazu bot. Er war bei dem Versuch, eine oberflächliche Unterhaltung mit Perkins zu führen, sowieso schon mehrmals ins Stottern geraten.                   Nach halbstündigem Werkeln am Kühlschrank des Pausenraums stellte der junge Hausmeister das Gerät zurück an Ort und Stelle, bevor er wieder seine sieben Sachen vom Werkzeugkasten beisammen räumte.  Sein Blick schnellte zur Tür, als Perkins zusammen mit dessen Vorgesetzte Mr. Hudson hindurchtrat. Verwundert blieb Hudson stehen und machte einen fragenden Ausdruck.                 »Der Kühlschrank, Sir«, erinnerte ihn Nicolas zuvorkommend, »ich habe den Thermostat ausgetauscht.«                 William Hudson grunzte zufrieden: »Aah, ich erinnere mich. Sie sind Combs neuer Lehrling.« Er setzte sich auf einen der Stühle, während sich Perkins einen Kaffee aus der Maschine zubereitete. »Gute Arbeit, mein Junge.«, sagte er ihm lobend und verschränkte dabei die Arme auf seinem dicken Bauch.                 »Kein Lehrling, Sir. Mr. Combs hat mich nur eingebarbeitet; vor zwei Jahren etwa«, berichtigte er, »und ich habe den Thermostat schon drei Mal ausgetauscht. Der Kühlschrank hätte schon längst ersetzt werden sollen.« Nicolas zögerte kurz. »Das konnte ich aber nicht umsetzen, da uns ihr Einverständnis dazu fehlt.«                 Bei dem letzten Satz lachte Edward Perkins auf und wandte sich an seinen Chef: »Das hörst du nicht zum ersten Mal, Hudson. Hör auf den Jungen und gönn uns einen gescheiten Kühlschrank. Das Teil da hat bestimmt schon zwanzig Jahre auf dem Kasten.«                 Sich am Kopf kratzend gab der Chef nur ein Grummeln zur Antwort. Perkins ließ sich mit seinem Kaffee auf einen der Stühle nieder und sah Nicolas mit einem Lächeln entgegen, der daraufhin ein intuitives Verlangen verspürte, sich auf den Lippen herumzukauen.  Innerlich verfluchte er seinen Traumprinzen für sein unverschämt gutes Aussehen. Manchmal glaubte er, Edward war sich seinen Reizen nicht einmal bewusst.                 Als besagter an der Kaffeetasse nippte, fixierte Nicolas den goldenen Ring an dessen Hand, der ihm bei der Bewegung entgegenfunkelte. Jener Ring, welcher nichts, aber doch so viel für Nicolas aussagte. Er symbolisierte die Unendlich- und Beständigkeit zweier Liebenden – die Liebe zwischen Edward und dessen Frau. Und doch war es bloß ein austauschbarer, herkömmlicher Metallring.                     Mit zügigen Schritten, so als stünde noch etwas Dringendes an, verlies Edward Perkins das imposante Hochhaus seiner Firma. Die Sonnenstunden verkürzten sich von Tag zu Tag, und obwohl die Pazifikküste Kaliforniens für ihr durchgehend sanftes Klima bekannt war, wehte dem brünetten Mann eine herbstliche Brise durch seinen Sakko. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass er ausnahmsweise recht früh in den Feierabend ging. Oder viel eher gegangen worden war. Hudson konnte es nämlich gar nicht haben, wenn sich seine Stunden zu sehr überschlugen. Laut ihm wäre er dann schließlich nicht der erste, der wegen Überarbeitung zum Burnout-Fall wurde. Mit dem Gedanken daran, dass sein Chef mal wieder maßlos übertrieben hatte, stieg er in seinen schwarzen Mercedes Coupé und schlug den Weg zum Little Italy ein, ein wohlhabender Stadtbezirk in unmittelbarer Nähe der Downtown San Diegos.                 Nachdem er den Schlüssel zwei Mal im Schloss umgedreht hatte, um seine Penthouse-Wohnung zu betreten, flog ihm sofort ein warmer Duft nach pikanter Würze entgegen. Er streifte seine Schuhe ab und stellte sie ordnungsgemäß zu den anderen Paaren, entledigte sich seines Jacketts und lauschte einem melodiösen Summen am anderen Ende des Zimmers. Zwei Schritte weiter befand er sich im Eingangsbereich der Küche, die den Raum mit einem großen Wohnzimmer teilte, und wo Vanessa mit dem Rücken zu ihm gekehrt das Abendessen zubereitete.                     »N‘Abend, die Dame«, Edward schlang seine Arme um ihre Hüfte und der zierliche Körper unter ihm zuckte augenmerklich zusammen.                 »Ed! Du schon hier?«, trällerte sie und drückte ihm im Halbumdrehen einen Kuss auf den Mund, »ich dachte, du musst heute wieder länger machen.« Freudig deutete sie auf den Tisch, und bot ihrem Mann damit an, sich zu setzen. Der Tisch war bereits gedeckt; so wie jeden Abend, wenn er nach Hause kam.                 »Ich bin heute früher raus. Hudson spielt mal wieder den großen Aufpasser, damit ich mich nicht übernehme.« Nachdem er Platz genommen hatte, legte er seinen Kopf schief, um seinen Nacken zu dehnen, »ich weiß nicht, wie er sich das vorstellt. Wir haben einen Haufen zu tun, das ganze Team.« Er fing sich einen argwöhnischen Blick von seiner Genossin ein.                 »Er wird schon wissen, was er macht«, kommentierte sie und gesellte sich zu ihm, nachdem sie ihm Rotwein eingeschenkt hatte. »Schön, dass du da bist. Dann habe ich dich ja heute ganz für mich, mh?« Sie stupste ihm in die Seite und sah ihn erwartungsvoll an. Edward gab keine Antwort, sondern steckte sich stattdessen die Gabel in den Mund. Eine Weile lang kaute er bloß auf dem Gemüse herum, weshalb Vanessa ihre feingezupften Augenbrauen in die Höhe zog. »Ed«, kam es von ihr in ermahnendem Ton, »sag mir bitte nicht, dass du jetzt gleich wieder im Arbeitszimmer versschwindest.«                 »Ich muss.«                 »Garnichts musst du!« Ihr Arm schnellte zu seiner Hand und hielt diese bestimmend fest, »ruh dich aus.« Fürsorglich strich sie ihm über den Handrücken, »wir schauen uns einen Film zusammen an.«                 »Vanessa, du weißt wie wichtig diese – «                 »Ich weiß.«, unterbrach sie ihn. Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr: »Ich weiß es. Aber du tust niemandem einen Gefallen damit, wenn du uns im nächsten Moment aus den Latschen kippst.«                 Augenrollend entzog er seine Hand ihren schmalen Fingern und stieß einen angestrengten Laut aus: »Wenn ich aus den Latschen kippe?«, wiederholte er ihre Worte halblaut, »ich bin dreiunddreißig, keine sechzig. Und im Übrigen kerngesund.«                 »Noch.«, raunte Vanessa in ihr Rotweinglas und beließ es letzten Endes bei diesem Argument.                   Der Rest des Abends verlief beinahe schon schweigsam. Wie immer räumten sie zusammen auf; unterteilten dabei ihre Aufgaben wie gehabt: Edward kümmerte sich um die Spülmaschine, während Vanessa lediglich die Küchenzeilen und den Essentisch abwischte – immerhin übernahm sie durch das Kochen schon den Großteil.                   Gemeinsam am selben Tisch zu essen gehörte nicht zu den Selbstverständlichkeiten im Alltag des jungen Ehepaars. Oft machte Edward Überstunden und kehrte erst zu später Stunde heim; dann, wenn Vanessa schon tief und fest schlief. Trotzdem machte sie sich jedes Mal die Mühe, ihm zumindest ein warmes Gericht zu hinterlassen, denn sie wusste, dass er in der Geschäftskantine nichts als Junkfood und Fertigmahlzeiten zu Mittag bekam. Sie selbst als Modejournalistin hatte einen erheblich entspannteren Arbeitsrhythmus. Mit ihrem acht Stunden-Tag fühlte sie sich zwar ausgelastet, konnte sich nachmittags aber dank ihrer festgeregelten Arbeitszeiten unbekümmert anderer Dinge widmen. Das völlige Gegenteil von Edwards Job also: Seine Verpflichtung als Manager kostete ihn Verantwortung, Zeit, und eine Menge Nerven. Doch er liebte seine Arbeit. Es machte ihm nichts aus, für das Image seiner Firma gerade zu stehen und zu jeder erdenklichen Uhrzeit erreichbar zu sein.   Die Sonne war kaum erst aufgegangen, da saß Edward schon in seinem Büro und bereitete sein heutiges Meeting vor. So wie immer gehörte er zu den wenigen Ersten, die bei früher Morgenstunde schon durch das Department geisterten. Dazu zählten auch die Reinigungskräfte, die tagtäglich um 5 Uhr ihren Dienst antraten und dafür sorgten, die gesamte Einrichtung in Schach zu halten. Auf der Suche nach einem Ordner in einer der Schubladen, spürte Edward auf einmal das Vibrieren seines Smartphones in der Hosentasche und zog es daraufhin heraus. Ein kurzer Blick auf das Display verriet, dass es sich um eine Nachricht von Vanessa handelte.                 Die Spülmaschine ist ausgelaufen... kümmerst du dich drum? Muss jetzt los… und denk an dein Versprechen!                 Ein langer Luftausstoß verlies seine Lungenflügel und er fing an, seinen Nasenrücken zu massieren. Als gäbe es nicht schon genug zu tun, sprach er innerlich zu sich selbst. Schnell tippte er eine Antwort und grübelte währenddessen über eine Lösung für die Küchenpanne nach, von welcher er soeben erfahren durfte. Doch dann, als er sein Handy wieder in der Tasche vergrub, schoss ihm eine Idee in den Sinn.                 Mittlerweile zu zumutbareren Zeiten, etwa um 10 Uhr, befand sich Edward vor dem Facility-Office im Erdgeschoss. Er steckte seinen Kopf durch die offenstehende Tür und erkannte, wie Nicolas in seiner blauen Einheitskleidung am Computer saß und mit der Maus herumklickte.                 »Klopf, klopf«, kündigte er seine Anwesenheit an. Der Andere blinzelte in seine Richtung. »Entschuldigen Sie die Störung.«                 »Mr. Perkins«, sagte der Jüngere überrascht und machte eine Handbewegung, um Edward damit Einlass zu erweisen. »Worum geht es?« Er erhob sich aus dem Stuhl und sah ihn aufmerksam an. Edward musste ein Stück zu dem Blondschopf heruntersehen, da dieser um wenige Zentimeter kleiner war als er.                 »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«   Genau wie an den vergangenen Tagen zogen rosarote Wolken über die abendliche Skyline von San Diego: Lichterloh spiegelten sie die Farben in den Wolkenkratzern wider und verliehen der Stadt einen Hauch von Idylle.  Mit dem Anbruch der Dunkelheit löste sich nun auch der Feierabendverkehr, und der unterschwellige Lärm der Häfen erlisch im Einklang mit dem nun beginnenden Nachtleben.                 Nicolas bekam von all dem nichts mit, als er unschlüssig vor Mr. Perkins Wohnungstür stand. Der Weg mit dem Fahrstuhl in das oberste Geschoss war ihm unendlich lang vorgekommen, und schon jetzt konnte er sich in etwa ausmalen, was der Manager für eine erstklassige Aussicht von dieser Höhe aus haben musste. Ein letztes Mal vergewisserte er sich, ob er auch der richtigen Adresse gefolgt war, ehe er seinen Arm zur Klingel ausstreckte. Als man schließlich ihr Gebimmel vernahm, befeuchtete er sich reflexartig seine trockenen Lippen und nahm eine kerzengerade Haltung an. Es näherten sich hörbare Schritte von der anderen Seite, und als die Tür geöffnet wurde, funkelten ihn zwei lindgrüne Augen energisch entgegen.                 »Guten Abend, Miss. Nicolas Montoya.«, stellte er sich vor und bat der jungen Frau einen Händedruck an, welcher zögernd von ihr erwidert wurde, »Ich arbeite bei Nexus. Ihr Mann bat mich heute Morgen, einen Blick auf ihre Spülmaschine zu werfen.«                 Ihre Miene erhellte sich etwas und sie stellte sich ebenfalls vor, doch machte sich kurz darauf eine Spur von Skepsis auf ihrem Gesicht breit. »Und wo steckt Edward?«, fragte sie mit suchendem Blick durch den Hausgang.                 »Er richtet Ihnen aus, dass er noch etwas zu erledigen hat, aber so schnell wie möglich nachkommt.«                 Vanessa presste ein gespieltes Jauchzen hervor: »Sicher doch. Dass ich nicht lache.« Sie trat einen Schritt zurück; darauf hindeutend, dass Nicolas eintreten möge, und führte ihn sogleich in den Küchenbereich. Nicolas musste kein Menschenkenner sein, um zu begreifen, dass seine Gastgeberin überaus schlecht gelaunt war.                 »Die Spülmaschine lief heute Morgen wie vom Blitz getroffen aus. Da muss irgendwas undicht sein«, erklärte sie, und beobachtete Nicolas dabei, wie er sich prüfend zu dem Gerät herunterbeugte. Sorgfältig begann der junge Hausmeister, sich den Problemfall genauer unter die Lupe zu nehmen, ohne dabei ein weiteres Wort mit Vanessa auszutauschen. Mit verschränkten Armen stand sie an einem Tresen angelehnt; schien ebenso unschlüssig darüber, über was sie mit dem unerwarteten Besucher reden sollte. Die ganze Zeit über spürte Nicolas ihren bohrenden Blick in seinem Rücken. Er konnte es überhaupt nicht leiden, wenn man ihm während der Arbeit auf die Finger guckte, was zu seinem Glück nicht allzu oft der Fall war. Aber hier, in der Penthouse von Mr. Perkins höchstpersönlich, und unter den wachsamen Augen seiner Ehefrau fühlte er sich wie in einer Einbahnstraße ohne Wendemöglichkeit. Ebenso hatte er sich nie erträumen lassen, jemals einen Fuß in die Privatwohnung jenes Mannes zu setzen, und doch kniete er genau in diesem Moment vor dessen Küchenzeile und machte sich die Hände für ihn schmutzig.                 Noch bevor er in den Gedanken über seinen heimlichen Schwarm abdriften konnte, öffnete sich die Haustür, und wo man vom Teufel sprach, erschien Edward Perkins im Eingangsbereich. Sowohl Vanessa als auch Nicolas richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn, als er seine Laptoptasche auf die Ablage der Theke legte und sie begrüßte.                 »Du bist spät«, kam es von der Frau, die ihre Arme nicht aus der gekreuzten Haltung löste. Nicolas derweil machte Anstalten, aufzustehen, und Vanessas Stimme wurde um einen Ton ernster: »Ich dachte, wir hatten eine Abmachung.« Edward öffnete den Mund, um ihr zu antworten, doch war sie schneller:                 »Du hast gesagt, du bist vor 7 zuhause.«, entrüstet und kam sie einen Schritt auf ihn zu, »ich habe uns Kinokarten vorreserviert, Ed! Und anstatt einfach mal wie jeder andere normale Mensch pünktlich Feierabend zu machen, schickst du mir irgendeinen Klempner ins Haus und denkst, das würde irgendwas rechtfertigen, wenn du hier erst um 9 antanzt?!«                 Bei dem Wort Klempner entschied sich Nicolas dazu, sich schnurstracks wieder seiner Arbeit zu widmen, und so zu tun, als hätte er dies gekonnt überhört. Auch Edward war die Situation scheinbar mehr als peinlich und entschuldigte sich für einen kurzen Moment, bevor er mit der schlanken Frau im nächsten Raum verschwand. Noch eine ganze Weile hörte man das Paar aus dem Nebenzimmer diskutieren, wobei die schlichtenden Worte des Mannes lauthals von der Stimme seiner Frau übertönt wurden. Wenige Minuten später tauchte Edward wieder in der Küche auf und schloss mit einer erleichterten Geste die Tür, hinter welcher er bis soeben noch die Wut seiner Geliebten zu bändigen hatte. Auf dem Boden sitzend, und mit der Ablaufpumpe der Spülmaschine in der Hand, sah Nicolas wortlos zu Edward auf. Dadurch, dass sie nicht einmal ein persönliches Verhältnis zueinander hatten, geschweige denn wirkliche Arbeitskollegen waren, stellte sich die Lage unangenehmer heraus als erwartet. Trotz allem war es Edward, der zuerst das Wort ergriff:                 »Ein Glück, dass in Schlafzimmern keine Teller rumstehen, die einem zufliegen können.«, lachte er verlegen.                 Nicolas schaute auf das Plastikteil in seiner Hand hinab und sagte schmunzelnd: »Meine Schwester hat mich damals immer mit dem halben Kleiderschrank beschmissen, wenn sie nichts Besseres zum Werfen fand.« Die beiden Männer lachten und sie schauten sich für einige Sekunden lang nur an. Vanessa schien sich im anderen Raum wieder beruhigt zu haben, denn man hörte keinen Mucks von ihr. Erst jetzt fiel Nicolas auf, wie abgeschlagen sein Gegenüber vor ihm stand: Mit seinen tiefhängenden Schultern und dunklen Augenringen ähnelte er viel mehr einem durstigen Vampir als dem sonst so ambitiösen Spitzenunternehmer. Es war eine paradoxe Vorstellung für ihn, dass ein solch makelloser Mensch dieselben alltäglichen Hürden zu überwältigen hatte, wie jeder andere auch. Bei diesem Gedanken legte er die Ablaufpumpe neben das Spülbecken und richtete sich auf.                 »Die Türdichtungen sind in Ordnung, genau wie der Druckschalter. Ich habe einen Glassplitter in der Ablaufpumpe gefunden und ihn entfernt. Ich vermute, dass das Wasser nicht richtig abgepumpt werden konnte und deshalb ausgelaufen ist.«                 »Oh«, erwiderte Edward leise, »und wegen eines Glassplitters musste ich Sie nach Feierabend noch herjagen.« Schnell zog er einen Geldbeutel aus seiner inneren Jackentasche, die er sich noch nicht ausgezogen hatte. »Hier«, sagte er, »für die Umstände.« Überzeugt hielt er dem Jungen eine überschaubare Menge an Dollarscheinen entgegen, jedoch erhob dieser beschwichtigend die Hände:                 »Nein, nein! Ist nicht der Rede wert.«, lehnte Nicolas ab, und spürte den Ansatz von Verlegenheit aus seiner Bauchmitte aufkommen, »ich bin froh, wenn ich helfen konnte, Mr. Perkins.«                 Für einen weiteren Augenblick hielt Edward mit dem Geld inne, ehe er es wieder in der Brieftasche verstaute und dem Hausmeister nun im Gegenzug die Hand reichte:                 »Edward«, lächelte er nun, »oder einfach nur Ed.« Kapitel 2: In der anderen Liga ------------------------------ Nach dem Zwischenstopp bei Mr. und Mrs. Perkins bog Nicolas mit einem abgedroschenen Gebrauchtwagen in die nächste Wohngegend ein. Natürlich gehörte das Industriegebiet, welches er momentan sein Zuhause schimpfte, nicht zu den gehobenen Standards, denn anders als im Little Italy hausten hier hauptsächlich Familien mittleren Standes und Studenten, welchen das teure Stadtleben im Zentrum wohl noch eine Nummer zu groß war.                 Unter sternenlosem Himmel parkte Nicolas auf dem Abstellplatz vor dem Mehrfamilienhaus und schaltete den Motor des Gefährts ab. Ruhig ausatmend ließ er sich in die Rückenlehne fallen und starrte gegen die Wand des Gebäudes vor ihm. Dabei ließ er den Tag Revue passieren; schweifte zu Edwards Beziehung mit seiner Frau Mrs. Perkins ab, und empfand im selbigen Moment ein wenig Mitleid für ihn. Er selbst wurde als Kind Zeuge einer gescheiterten Ehe zwischen seinen Eltern, und wuchs daher im Unglauben über die Existenz und Beständigkeit von ewiger Liebe auf. Es war nicht so, dass er selbst nie verliebt gewesen war, nur konnte er sich auf Teufel komm raus nicht vorstellen, bis zum Ende seiner Tage mit der einen und selben Person das Bett zu teilen.                  Sein Blick fiel auf sein Telefon, das er den lieben langen Abend unbeachtet auf dem Beifahrersitz hatte liegen lassen. Vom Licht des Bildschirms geblendet, zog er seine Augen zu kleinen Schlitzen. »Vier verpasste Anrufe«, nuschelte er perplex, nachdem er danach gegriffen hatte, und entschied sich letztendlich dazu, aus dem Wagen auszusteigen. Als er das Treppenhaus des Gebäudes betrat und ihm der leicht moderige Geruch des Holzgeländers in die Nase stieg, musste er feststellen, dass er sich an seine übergangstechnische Unterkunft bereits gewöhnt hatte. Denn obwohl sich Nicolas manchmal seine eigenen vier Wände herbeiwünschte, fühlte er sich hier - in der Wohnung seines festen Freundes - schon wie Zuhause.                   »Hallo schöner Mann«, wurde Nicolas keine Minute später für sein Kommen in der kleinen Zweizimmerwohnung begrüßt. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und ihm bot sich der Ausblick auf Omar, der gerade die Beine auf dem Zweisitzer langmachte und dabei seinen Rotwein locker aus dem Handgelenk schwenkte. Das Zimmer wurde durch ein paar Kerzen spärlich beleuchtet.                 Nicolas trat weiter in den Raum, stoppte vor dem Sofa, und fuhr dem Mann durch sein kurzes, dunkles Haar. Omars braune Augen trafen auf das matte Grün, welches nur noch schwer unter den müden Lidern von Nicolas zu erkennen war.                 »Tut mir leid, dass ich deine Anrufe nicht abgenommen habe«, sagte er in sanfter Lautstärke, »ich musste nochmal los, um einem Arbeitskollegen in seiner Küche unter die Arme zu greifen.«                   Kurz schloss Omar unter der Berührung seines Freundes die Augen, während seine Hand mit dem Weinglas im Schoß verweilte. »Bei wem?«, fragte er schließlich und sah ihn von unten herauf an. Dabei kam sein südländischer Teint durch das flackernde Kerzenlicht zum Vorschein.                   »Kennst du nicht«, antwortete Nicolas, bevor er sich zu ihm herunterbeugte und ihn küsste. Anschließend stützte er sich mit den Armen auf der Sofarückenlehne ab und musterte sein Gegenüber. Omar Díaz Flores war ein Latino wie er im Buche stand: von zimtfarbener Mischlingshaut und seinem spanischen Akzent untermalt, waren seine zentralamerikanischen Wurzeln unverkennbar. Als Costa-Ricaner zeugte er von klischeehaftem, heißblütigem Temperament, zu welchem sich Nicolas schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen stark angezogen gefühlt hatte. Omar war jemand, der kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es darauf ankam; selbst, wenn er dabei laut werden musste. Von Scham oder jeglicher Hemmung also keine Spur.                 Kaum hatte Nicolas diesen Gedanken zu Ende geführt, gab Omar ihm einen festen Klaps auf den Hintern. »Hat dein hübsches zweites Gesicht denn heute auch genug Aufmerksamkeit bekommen?«, griente er und verfestigte dabei den Druck, mit dem er seinen Po umfasste, »oder hat schon dieser Mister ‘Kennst du nicht‘ dafür gesorgt?«                   Nicolas entwich das Lächeln. »Was?«, kam es entrüstet von ihm. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er zu Omar hinunter, der seinen Blick unverfroren erwiderte. Da nun auch diesem sein Grinsen vergangen war, löste er den Griff an Nicolas Hinterteil und stellte sein Weinglas auf den Couchtisch vor ihm.                                  »Das war ein Scherz oder?«, fragte der Blonde.                 Schwungvoll drehte Omar sich zu ihm: »Klang es denn wie einer?«, zischte er.                 Jetzt fing es wieder an, dachte Nicolas. Da war er wieder, dieser trotzige Kindskopf, der es liebte, ihn herauszufordern und ihn an die Grenzen seiner Geduld zu treiben. Omar war ein wahrer Streitkönig, und eifersüchtig noch obendrein.                   »Du hast es ja nicht mal für nötig gehalten, mir Bescheid zu sagen«, fuhr der Mestize ohne Pause fort, »ich frage mich, was genau dich so beschäftigt hat, dass du dein Handy nicht abnehmen konntest.«                   »Wie ich schon sagte, ich habe mir die Spülmaschine für einen Arbeitskollegen angeschaut. Er hat mich heute Morgen darum gebeten, und dann bin ich nach Feierabend zu seiner Frau gefahren. Er kam nach.« Nicolas beobachtete bewusst, wie sich Omars Haltung etwas entspannte, als er Edwards Frau erwähnte. Er ließ sich nun auf dem Zweisitzer nieder und legte einen Arm um den anderen, der ihm noch immer misstrauisch entgegenfunkelte.                   »Sag mir wenigstens wie er heißt.«                   »Warum?«                   »Sag es einfach!«                   Nicolas seufzte. »Edward. Edward Perkins.« Für einen Moment lang passierte nichts, doch dann spürte er, wie Omar seinen Kopf an seine Schulter legte und sein ganzes Gewicht auf ihn lagerte.                   »Ich hasse es, wenn ich nicht weiß, wo du bist, und mit wem«, sprach er nachdenklich. Der junge Hausmeister lag nun auch seinen Kopf auf den seines Partners ab. »Ich weiß. Tut mir leid.«       Es war Freitagmorgen und das gesamte Personal der Nexus GmbH widmete sich dem Endspurt zum Wochenende. Hier und da flatterten Verträge und Rechnungen umher, während sich Formulare jeglicher Art stapelweise vor den Sekretärinnen anhäuften.                 Zu seinem Glück hatte Edward zwar immer viel zu tun, fühlte sich aber in dem Getümmel von Workaholics nie wirklich überfordert. Trotz der überragenden Menge an bevorstehenden Terminen, Meetings und Abgabefristen behielt sein Department ein stabiles und gesundes Arbeitsklima.                 Auf dem Weg zur Etage 12 prüfte der Manager die Uhrzeit an seinem schweizer Uhrwerk, während er geduldig auf einen der Fahrstühle wartete. Kaum war einer der Lifts einstiegsbereit, entzweiten sich dessen Metalltüren und offenbarten dahinter einen etwas mehr als kniehohen Kleinkühlschrank. Der Mann, der auf das Gerät aufpasste, war kein geringerer als Nicolas Montoya.                 »Na, das ging ja flott.« Mit einem großen Schritt betrat der Geschäftsmann den Fahrstuhl und stellte sich zu dem Jüngeren. »Hudson hat also endlich nachgegeben«, sagte er anschließend und deutete dabei auf die scheinbar nigelnagelneue Anschaffung, die vor Nicolas Füßen stand.                   Auch dieser schaute auf das Gerät unter ihm. »Heute tausche ich das alte Ding aus. Weiß Gott was mit dem Teil nicht gestimmt hat.«                   »War wohl nichts mehr zu machen«, sagte Edward anmerkend und schaute Nicolas dabei geradewegs entgegen, doch dieser wich seinem Blick aus und ließ ihren belanglosen Wortwechsel unkommentiert. Die restliche Fahrt über sagten sie nichts, ehe sich der Kleinere beim Öffnungssignal der Türen von der Spiegelwand abstieß und das Gerät mit einem schwungvollen Ruck vom Boden abhieb. Edward machte den Mund auf, um seine Hilfe anzubieten, doch blieben ihm bei dem Anblick die Worte im Hals stecken. Als trüge er ein Federkissen auf den Händen, stieg Nicolas mit dem kiloschweren Kühlschrank aus dem Fahrstuhl aus und ließ Edward mit einem ungläubigen Blinzeln zurück.                   In der Büroküche angekommen, stellte der Hausmeister mit Edward im Schlepptau den neuen Kühlschrank an seinen zukünftigen Platz. Gerade wollte Edward erneut das Wort erheben, da öffnete sich nochmals die Tür und Oberchef Mr. Hudson kam hereinstolziert. Als er sah, an was Nicolas gerade arbeitete, klatsche er euphorisch in die Hände.                 »Wenn das nicht mein Lieblingshausmeister Morris ist!«, jubelte er und beäugte das neue Kühlgerät wie ein Kleinkind zu Nikolaus.                 »Montoya, Sir.«, korrigierte der Blonde, schon längst an die Vergesslichkeit des dicklichen Mannes gewöhnt.                 Edward gab sich nicht einmal die Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen, da stand der kräftige Mann schon hinter ihm und klopfte ihm wie einem alten Gaul auf den Rücken. »Perkins«, kündigte er an, »heute gibt’s was zu feiern.« Fragend drehte sich dieser zu seinem Vorgesetzten um und wartete auf eine Aufklärung.                 »Collins hat den Köder gefressen. Er hat den Vertrag unterschrieben«, flötete Hudson, »mit ihm in unserem Repertoire werden sich die Verkaufszahlen verdreifachen!« Jetzt blitzte es auch in den Augen Edwards freudig auf und er stimmte der guten Laune seines Chefs ein. Nicolas derweil schien von Tuten und Blasen keine Ahnung zu haben und hielt es für besser, den beiden Männern schweigsam zuzusehen.                 »Sie, Junge!«, sagte Hudson nun, und Nicolas zuckte kaum merklich zusammen, »nach Feierabend wird angestoßen. Sie kommen doch mit, oder?« Nun war es sogar Edward, der ihn verwundert ansah.                 Der Blondschopf schien kurz nach den passenden Worten zu suchen, ehe er die Stimme erhob: »Ich gratuliere Ihnen zur erfolgreichen Lage, Sir. Aber ich denke nicht, dass mich der Anlass irgendetwas angeht.«                   »Ach, Papperlapapp! Nur keine falsche Bescheidenheit«, sprudelte es aus dem dickbäuchigen Geschäftsmann, »Perkins? Sie zeigen dem Jungen, wo wir uns treffen. Die anderen wissen Bescheid.« Ein letztes Mal warf Hudson dem neuen Kühlschrank noch einen abschätzenden Blick zu, ehe er pfeifend aus dem Raum verschwand. Übrig blieben nur noch die jungen Männer, die sich mit großen Augen ansahen. Nicolas schaute dem eleganten Anzugträger hilfesuchend entgegen, doch dieser zuckte lediglich mit den Schultern.                     Nachdem sich Nicolas zu Dienstende seiner Einheitskleidung entledigt und einen schlichten Hoodie übergezogen hatte, schaltete er noch alle Lichter des Facility-Offices aus und verriegelte die Tür. Jetzt, bei Sonnenuntergang, verließ er das Gebäude und sein Blick fiel durch die gläsernen Eingangstüren auf Edward, der auf ihn zu warten schien. Draußen angekommen, wehte den Männern ein kühler Wind entgegen. Der Blondschopf vergrub seine Nase unter dem Saum seines Kragens und machte sich anschließend zusammen mit Edward auf den Weg Richtung Parkplatz.                 Als er nach fünfzehnminütiger Fahrt aus seinem Auto gestiegen war und sich in dem Parkdeck des Trefforts umgesehen hatte, geriet Nicolas um ein Haar ins Wanken. Nicht, dass es ihm peinlich wäre, oder er sich in irgendeiner Weise minderwertig fühlte; doch spielte er hier, zwischen den protzigen Sportwägen und feinpolierten E-Klassen, offensichtlich in einer ganz anderen Liga. Schluckend suchte er das Deck nach Edwards Mercedes ab, und wurde auch sogleich fündig, als der Manager zwanzig Meter weiter winkend auf sich aufmerksam machte:                   »Hier drüben, Nicolas!«, vernahm ihn der Hausmeister, wie er ihn zum ersten Mal mit seinem Vornamen anredete, »wir müssen mit dem Aufzug fahren. Die anderen warten oben auf uns.«                   Oben… die anderen, hallte es in Nicolas Kopf wider, und er wunderte sich im selben Moment, zu was er sich an diesem Abend überhaupt hatte verleiten lassen. Da fiel ihm ein, dass er Omar noch gar nicht über den Zwischenfall benachrichtigt hatte, und um schlimmeres zu vermeiden, hinterließ er besagtem eine Nachricht für sein späteres Kommen.                   Im Obergeschoss eingetroffen, weiteten sich Nicolas wie von selbst die Augen. Vor ihm präsentierte sich ein gigantischer Raum, ausgelegt mit rotem Teppich, ausgiebiger Lichtausstattung und mit einer prächtigen, runden Bar genau in der Mitte. Außen rum befanden sich vereinzelte Sitzbereiche, welche gleichermaßen mit pompösen Sesseln und Zweisitzer versehen waren. Nicolas stellte mit Staunen fest, wie man aus allen Winkeln des Lokals eine ungehinderte Sicht auf das nächtliche Stadtpanorama hatte. Sogleich kam ihnen ein Ober entgegen, der den Männern zum Empfang ein Champagnerglas von einem runden Tablett anbot, doch im Gegenzug zu Edward lehnte der Hausmeister mit einer überrumpelten Geste ab.                 »Werde ich heute noch zum König gekrönt oder was verschafft mir die Ehre?«, sprach Nicolas mit hochgezogener Augenbraue zu seinem Begleiter, als der Ober sich wieder abgewandt hatte.                   Edward schmunzelte. »Dein erstes Mal in der Business-Class?«, fragte er.                   »Business-Class? «, lachte der Kleinere freigeistig auf, »wenn die Queen von England hier nicht mit ihrem Guten Abend-Tee in der nächsten Ecke sitzt, fress ich n‘ Besen.«                                    Edward presste ein heiteres Lachen hervor und schob Nicolas etwas vor sich her. »Hier treffen sich die Vorsitzenden einiger Firmen, um anzustoßen, oder auch um heiklere Themen zwischen Vertragspartnern zu besprechen. Die großen Entscheidungen werden nämlich selten auf nüchternem Magen gefällt.«                   »Aha«, gab Nicolas abwägend von sich und spürte, wie seine Haut unter Edwards Hand auf seinem Rücken leicht zu Kribbeln begann, »und was gibt es diesmal zu feiern?«                 »Wir haben einen langersehnten Kunden erworben – kurz gesagt«, erklärte der andere, »Collins hat sich lange nicht dazu durchringen können, uns als Hauptanbieter anzunehmen. Er vertreibt einige Telefonfilialen und wird in Kürze an zwanzig neuen Standorten inaugurieren. Wir beliefern ihn dann quasi mit allem Drum und Dran; Ton- und Lichtausstattung, Monitore für interne Werbezwecke… Für uns bedeutet das letztendlich ein Verkaufszuwachs wie wir ihn schon lange nicht mehr hatten.«                 Nicolas nickte wortlos und ließ sich von dem Geschäftsmann zu dem nächstliegenden Sitzareal führen. Von weitem ertönte augenblicklich eine ihm vertraut vorkommende Stimme, und so wie erwartet, erkannte man Mr. Hudson, der glucksend in einem der gepolsterten Sessel saß. Zu seiner linken befanden sich zwei weitere Männer, ebenfalls im Anzug, die er nur vom bloßen Sehen aus der Firma kannte.                   »Da sind ja die zwei Sportsfreunde!«, grölte der dicke Mann wie eh und je, und klopfe auf das Polster neben sich, »setzen sie sich, setzen sie sich.«                   Als sich die jungen Männer zur Runde gesellt hatten, wurden ihre Gläser auch sogleich mit einer goldenen Flüssigkeit gefüllt. Nicolas griff nach dem Glas, um daran zu riechen und rümpfte dabei die Nase. Sein Blick flog durch die Anwesenden, welche allem Anschein nach nichts an dem Getränk auszusetze hatten; vor allem Edward schien den rauchig strengen Geschmack des Alkohols in vollen Zügen zu genießen. Als dieser aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Nicolas ihn anschaute, drehte er seinen Kopf zu ihm.                   »Was ist? Magst du keinen Whiskey?«                   Nicolas schüttelte den Kopf und drehte sein Glas in seinen Händen umher. »Ich trinke allgemein nicht so oft.«                   »Mein lieber Scholli! Sind wir jetzt etwa schon beim Du?«, mischte sich Mr. Hudson lauthals in die Unterhaltung ein und hob sein Glas in die Luft, um Nicolas zum Anstoßen anzufordern. Dieser gab sich nach kurzweiligem Zögern geschlagen und stieß auch mit dem Rest der Runde an.                       Nach einer gefühlten Ewigkeit befanden sich die Männer noch immer an Ort und Stelle; tranken einen Whiskey nach dem anderen und unterhielten sich angeregt über diverse Themen: von Geschäftspolitik und Verkaufsstrategien bis hin zu den ach so reizenden Sekretärinnen des Abteils von Etage 12. Nur Nicolas hielt sich im Großteil aus der Unterhaltung raus; warf hier und da mal einen Kommentar ein - aber auch nur, wenn man ihn dazu einlud. Vor lauter Business Talk begann ihm schon der Schädel zu brummen, da wechselte Hudson auf einmal das Thema:                 »Nicolas! Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben Sie Kinder?«                   Nicolas erstarrte für einige Sekunden, doch dann riss er sich selbst aus seiner Benommenheit: »Ähm«, machte er, »ich habe keine Kinder«. Er setzte sich etwas aufrecht, da sich nun alle Augen auf ihn richteten.                   Hudson machte einen verblüfften Laut. »Sind Sie also unverheiratet?«, hakte er ungeniert nach, und fing sich sofort einen zurechtweisenden Blick von Edward ein, »was ist? Darf man unter Kollegen keine Fragen stellen?«, verteidigte sich Hudson mit verschränkten Armen.                   »Ist schon in Ordnung«, gab der Blonde mit einem beschwichtigenden Lächeln von sich, »im Moment bin ich ledig.«                   Hudson brummte nachdenklich und deutete dann nickend zu Edward: »Und du? Du kriegst die Kurve nicht. Hast einen gutbezahlten Job, eine bildschöne Frau, ein Haus… Und trotzdem keine Kinder«, meckerte er seinen Sprössling an.                   Edward verdrehte die Augen. »Es ist noch genug Zeit dafür«, erklärte er, wie er es schon so oft vor seinem neugierigen Chef gemacht hatte, »Vanessa und ich wollen es langsam angehen.«                   Bei Vanessas Namen räusperte sich Nicolas kurz, ehe er sich entschuldigend erhob, um die Toilette aufzusuchen. Unwillkürlich musste er an die Diskussion denken, die er zwischen Mr. und Mrs. Perkins mitbekommen hatte, und kam sich dabei so vor, als wisse er über ein unaussprechliches Geheimnis.                   In der Herrentoilette angekommen, stellte er sich an eines der Pissoirs und verlor sich in dem Gedanken über seine unbegründeten Schuldgefühle. Er gab zu, dass seine ganze Schwärmerei für den Manager weder Hand noch Fuß hatte, und dass die Erfolgschancen bei ihm wahrscheinlich weit unter null standen. Außerdem fühlte er sich in seiner Beziehung mit Omar geborgen und hatte inzwischen eine ganze Menge für den hitzköpfigen Schönling übrig, sodass ein Seitensprung für ihn nicht in Frage käme. Trotz allem überkam ihm jedes Mal ein wohliger Schauer, wenn ihn der Geschäftsmann mit diesen markanten, aber auf gleicher Weise auch so unfassbar weichen Gesichtszügen ansah.                 Als hätte man seinen inneren Monolog kilometerweit mithören können, öffnete sich die Tür und Edward trat in den Raum hinein. Einen Wimpernschlag lang trafen sich ihre Blicke.                 Der Manager stellte sich zwei Pissoirs weiter an die Wand und öffnete seinen Gürtel, während Nicolas nur damit anfing, ein großes Loch in die weißen Wandfliesen vor sich zu starren. Nachdem er seine Blase entleert hatte und sich auf das Waschbecken zubewegte, vernahm er den schließenden Laut von Edwards Reißverschluss und sah sich im Spiegel an. Kurz zupfte er sich an seinem Haar herum, und erkannte in der Spiegelung wie der große, schlanke Mann nun ebenso an das nebenanliegende Waschbecken trat. Als Nicolas kurz darauf nach dem Seifenspender greifen wollte, fuhr ihm die Hand von Edward dazwischen. Sofort entzweiten sich ihre Finger; wie zwei gleichnamige Pole, die sich voneinander abstießen.                   »Erst das Wasser, dann die Seife«, grinste ihn Edward auf halbem Meter Abstand entgegen.                   Nicolas blinzelte ihn an. »Was?«                   »Die Seife«, wiederholte der andere und deutete dabei auf den Spender, »du hast deine Hände noch nicht nass gemacht.«                   »Ach so. Ja«, entkam es dem Hausmeister nur halblaut, ehe er den Wasserhahn gehorsam aufdrehte, um sich seine Hände zu befeuchten. Auch Edward begann, sich seine Hände gründlich zu waschen.                   »Das ganze Gerede über die Arbeit vorhin hat dich bestimmt gelangweilt«, erhob Edward nun wieder das Wort, »es ist gar nicht so leicht vom Job abzuschalten; selbst wenn es gar nicht so rüberkommt, als bräuchte man Mal eine Pause von all dem.« Sich am Waschbeckenrand anlehnend, hörte Nicolas schweigend zu. Edward legte seinen Kopf in den Nacken und atmete langsam aus. »Oft versucht Vanessa etwas Neues mit mir zu unternehmen, damit unsere Ehe nicht so routinebelastet ist. Sie sieht es nicht gerne, wenn ich mich zu sehr in die Arbeit reinhänge. Aber das hast du ja mehr als deutlich mitgekriegt.« Er machte eine kurze Pause und schaute sich dabei auf die Füße, ehe er fortfuhr: »Manchmal fühle ich mich noch keine dreiunddreißig. Dreiunddreißig Jahre alt zu sein bedeutet verantwortungsbewusst zu sein und nicht vor seiner eigenen Ehefrau davonzurennen, wenn sie ein bisschen Zweisamkeit sucht.«                 Da stand er also vor ihm, hier in der Herrentoilette einer High Society-Bar, und schüttete Nicolas geradewegs das Herz aus. Der sagenumwobene Edward Perkins; der mit dem Traumjob, einer bildschönen Ehefrau und einer Eigentumswohnung in den Dachspitzen San Diegos. Doch wäre das nicht schon genug, wurde Nicolas auf einmal klar, dass er nun wohl oder übel den Tröstenden spielen musste, und trat unbeholfen von einem Fuß auf den anderen.                 »Wenn du Ablenkung brauchst«, fing er leise an und schluckte das bisschen Spucke herunter, das sich in seinem Mund angesammelt hatte, »ich meine… wenn du Mal über etwas anderes als über deinen Job reden möchtest, oder dich nicht mit deiner Frau unterhalten willst, dann können wir…« Nicolas sprach seinen Satz nicht zu Ende, da er sich seinen Worten plötzlich bewusst wurde. Hochrot schoss ihm die Peinlichkeit in den Kopf und das Gefühl von Reue wurde augenblicklich in seinem Brustkorb entflammt.                   »Warum nicht?«, hörte er dennoch Edwards Stimme unbekümmert sagen, »was hältst du von morgen Abend?« Sofort richtete Nicolas seinen Kopf wieder auf. »Ich kenne einen Pub, der dir vielleicht mehr zusagt als das hier«, schlug Edward vor und schenkte ihm ein Lächeln, welches der Blonde an jenem Abend nicht mehr so leicht aus dem Kopf bekommen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)