Aschenregen von nimatkaja ================================================================================ Kapitel 2: Der Junge aus dem Wasser ----------------------------------- Als Linus aufstand, war es bereits Nachmittag. Bevor er ins Bett gegangen war, hatte er sich seinen Wecker gestellt, aber offensichtlich nicht den penetrantesten Modus gewählt. Er hatte den Alarm im Halbschlaf ausgeschaltet und einfach weitergeschlafen. Nach abruptem Aufwachen war er erfahrungsgemäß komatös genug, um sich nicht an die Gegebenheit erinnern zu können und sich stattdessen beim Erwachen zu wundern, warum sein Wecker denn nicht geklingelt hatte. Er gähnte einmal, streckte sich, kuschelte noch einen Moment mit der Katze auf seinem Bauch, dann sammelte er seine Kleidung ein und ging erst einmal duschen. Gestern war er nach kurzem Gespräch mit seiner Mutter einfach nur ins Bett gekippt. Heute fühlte er sich eklig. Der ganze Schweiß musste weg, außerdem hatte er das unangenehme Gefühl, dass seine Haare nach Rauch rochen. Sysdale war zu weit weg gewesen. Vermutlich bildete er sich das nur ein. Außerdem schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn er jetzt gleich duschen ging. Dann wäre er angezogen, wenn seine Mutter von der Arbeit kam. Pure Konfliktvermeidung, denn Alrun Färber konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn ihr Sohn den ganzen Tag lang in Nachtzeug in der Wohnung hing. Und dann war da noch der Junge aus dem Wasser. Während des Duschens versuchte Linus jeden Gedanken an ihn zu verdrängen, auch wenn er scheiterte. Aber wenn nicht, während er geschlafen hatte, irgendetwas Unvorhergesehenes geschehen war, dann lag Horatio an jenem Morgen im Gästezimmer im Bett. Dort, wo er gestern auf der Stelle eingeschlafen war. Keiner hatte es ihm übel genommen. Bei Linus hatte es etwas länger gedauert, ehe er ins Bett gekonnt hatte, denn seine Mutter hatte alles wissen wollen. Alrun war ein unglaublich fürsorglicher Mensch, doch manchmal wünschte sich Linus, dass sie es weniger wäre. Gestern war nicht das erste Mal gewesen, dass er es als störend empfunden hatte. Gestern, als er nichts weiter gewollt hatte, als einfach nur schlafen zu können, doch Alrun waren immer wieder neue Fragen eingefallen. Im Bad putzte er auch gleich die Zähne, dann nahm er eine von zwei Tabletten. Die andere durfte er nicht so spät am Tag nehmen, die musste er am Morgen schlucken, wenn sein Schlafrhythmus wieder hergestellt war. Anschließen verließ er das Bad und ging in die Küche, um die Katzen zu füttern. Aria und Grave waren seit fünf Jahren bei ihnen, unabhängig voneinander, da im gleichen Jahr ihre beiden alten Katzen gestorben waren. Aria war klein, hatte einen sehr runden Kopf und war eine schlaue Katze, die lieber beobachtete, als selbst irgendetwas zu machen. Grave hingegen war groß und verlor seine grauen, langen Haare überall. Und vor allem war er außerordentlich blöd. Als die zwei sich dann ihrem Frühstück widmeten, entdeckte Linus auf dem Küchentisch einen Zettel, den seine Mutter geschrieben hatte, sowie Kuchen von vorgestern und die Zeitung von heute. Alrun hatte vergessen, den Kuchen über Nacht abzudecken, sodass er knochentrocken war. Linus wusste nicht, ob er genug Hunger und Faulheit zugleich hatte, den heute noch anzurühren. Und, ob er dreist genug war, Horatio etwas davon anzubieten. Da seine Gedanken ohnehin wieder bei Horatio waren, ging er als nächstes ins Gästezimmer. Die Wohnung war nicht riesig, aber für zwei Personen doch recht groß. Theoretisch wohnten sie hier zu dritt, Linus' Vater gab es ja auch noch. Aber der lebte für seine Universität, so sehr, dass er häufig genug dort nächtigte. Doch selbst an der Uni hielt sich Dewin im Moment nicht auf. Er hatte einen Auftrag in einem ganz anderen Teil Miserias zu erledigen. Linus öffnete die Tür zum Gästezimmer so leise wie es ging, dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Angeln quietschten. Als Antwort darauf ertönte ein Husten. „Schon gut, bin wach.“ Er trat ein, lehnte die Tür hinter sich an. Dann schaute er zu Horatio. Der Raum war nicht groß und beinahe mehr Abstellkammer als Gästezimmer. Wären sie alle heute Morgen nicht so müde gewesen, wie sie gewesen waren, hätte Alrun sich sicherlich hundertfach für den Zustand des Zimmers entschuldigt und noch mit Putzen begonnen. Sie hätte nicht Unrecht gehabt, andere Teile der Wohnung waren auch schon einmal sauberer gewesen. Aber wann hatten die zwei schon einmal Besuch? Lieber lagerten sie Bücher und Gerümpel, das sonst in der Wohnung keinen Platz mehr fand. „Guten Morgen?“, grüßte Linus vorsichtig, missachtend, dass es bereits sechzehn Uhr war. Horatio öffnete den Mund, doch da er gleichzeitig versuchte, sich aufzusetzen, artete sein Morgengruß in ein Stöhnen vor Schmerz aus. Daraufhin ließ er sich lieber wieder ins Bett fallen, hustete, und hob die Arme vor das Gesicht. „Moin.“ Linus musterte ihn und stand einen Moment lang einfach so da. Gastfreundlichkeit, puh. Soziale Interaktion, doppelt puh. Seine Mutter war in Dingen wie diesen besser. Doch die war leider nicht da. „Dein Name war Linus, richtig?“, war Horatio dann der, der zuerst wieder sprach. Er nickte, ehe ihm auffiel, dass Horatio das im Moment nicht sehen konnte. „Ja. Ja.“ Was sagte er jetzt am besten? „Kann ich dir irgendwas bringen? Tee?“ „Schmerztabletten?“ Horatio hörte sich ausgesprochen gequält an. „Beides?“ Trotz der Arme in seinem Gesicht, konnte Linus ihn grinsen sehen. Es wirkte nicht ganz so kaputt wie am Morgen. Vielleicht lag es am Schlaf, vielleicht hatte er die schweren Gedanken im Moment nur verdrängt. „Kannst du mal einen Moment nicht so perfekt sein?“, fragte Horatio wenig verständlich, dann lachte er heiser und ausgesprochen leise. Es ging in ein ungesundes Husten über. Linus biss sich leicht auf die Unterlippe und ihm wurde warm. „Kennst mich doch gar nicht“, sagte er anschließend und es sollte irgendwie lustig klingen, aber er war zu unfähig dafür. Nein, Horatio sollte ihn nicht für etwas halten, was er nicht war. „Einen... Einen Augenblick.“ Er lächelte ein schiefes Lächeln, das sein Gast ohnehin nicht sehen konnte, und verschwand in die Küche. Warum war er perfekt durch allgemeine Gastfreundlichkeit? Er verstand das nicht wirklich. Ihm musste nicht gedankt werden, für Dinge, die selbstverständlich waren. Das Teelager seiner Mutter konnte ihn ein Glück ablenken. Er trank in der Regel nur Schwarztee und hatte sich lange nicht mehr mit den merkwürdigen Teesorten seiner Mutter beschäftigt. Merkwürdige Mischungen mit ebenso merkwürdigen Namen, weshalb er lieber erst einmal den Wasserkocher anschmiss. Horatio bekam aus offensichtlichen Gründen keine Heiße Liebe von ihm und da er aus Hostis kam auch keine Hostische Waldgurke. Tore von Caelum war vom Titel vielleicht nicht so schlimm, aber er wusste nicht, was er sich unter „Apfelstrudel“ als Teesorte im Geschmack vorstellen sollte. Aliatusgesang klang sehr lyrisch, Scheißwettertee aus Kaw zumindest passend zu Kaw selbst, einer Stadt weit in Tribunus' Westen. Er entschied sich schließlich für irgendetwas Normales, etwas Gesundes, füllte ein bisschen Tee ins Sieb und goss anschließend das Wasser drauf. Anschließend brachte er ihn Horatio auf einem Tablett, zusammen mit einem Glas Wasser und Schmerztabletten aus dem Badschrank. Horatio hatte sich eine Rückenstütze aus Kissen gebaut, damit er ohne Anstrengung im Bett sitzen konnte, und lächelte freundlich, als Linus eintrat. Seine Müdigkeit konnte er dabei jedoch nicht verstecken. „Danke, echt“, sagte er, als Linus das Tablett abgestellt hatte. „Kein Thema.“ Linus lächelte knapp und stand einen Moment lang da wie bestellt und nicht abgeholt. Was machte er jetzt? Er kannte Horatio nicht wirklich und dennoch waren sie hier zu zweit. Wenigstens wusste er um die eigene soziale Inkompetenz bescheid, das verhalf ihm ihn einer realistischen Selbsteinschätzung. Das Wissen darum half ihm aber nicht weiter. Es machte ihn nur noch unsicherer. „Sag mal“, begann Horatio dann ein Glück und unterbrach die unangenehme Stille. Er schaute an Linus vorbei, in Richtung Fenster. Der Tisch vor diesem war unter den Stapeln an Büchern kaum noch auszumachen. „Hat das Zimmer 'ne Heizung?“ „Oh, ja, klar!“ Linus drehte sich zu ihr um. „Soll ich sie aufdrehen?“ „Wär' echt super, danke. Is' dein Kapitän eigentlich immer so?“ Linus hatte sich dazu entschlossen, sich noch einen Stuhl heran zu holen. Stehend fühlte er sich dümmer als sitzend. Aber erst einmal hatte er die Heizung aufgedreht. „In der Regel, ja.“ „Eh, da hoff' ich mal, dass der sich nich' der hostischen Marine gegenüber so hatte“, feixte Horatio daraufhin, ehe er sich die Schmerztablette gönnte. „Die meisten Magier mögen es nich' so wirklich, wenn sie von 'nem Zivilisten blöd angemacht werden, erst recht mal nich' die Magier aus'm Militär. Sind nämlich echt eingebildete Schnösel. Kapitäne leider nur auch, hah.“ „Hm?“ Linus sah auf, mied aber nach wie vor Augenkontakt. „Bist du nicht selbst Magier?“ Horatio schüttete sich Zucker in den Tee. „Ja, irgendwie, ich bin unter zwanzig und ohne Ausbildung, da nenn man uns nich' so, aber ich denk' mal, das wär für den Fischer eh zu viel gewesen, der wollt' doch sowieso nichts begreifen.“ Linus unterbrach ihn nicht, um anzumerken, dass Bosch noch der intelligenteste auf dem Schiff war und erstaunlich viel wusste. „Aber nay. In Hostis beginnt das Schuljahr im März und ich werd' im Mai erst siebzehn, wäre dann erst so ab dann an der Militärakademie dort... Oder eben auch nich', so wie's gerade steht. Wenn das mit... der Clanverwaltung läuft. Oder so.“ Er schaute in seinen Tee und zog die Augenbrauen kurz zusammen, offenbar dachte er nach. Seine Gedanken gab er jedoch nicht preis. „Ich hätt' ja eh keinen Bock gehabt, dahin zu müssen. Also, zur Militärakademie. Avasikuu is' echt 'ne supertolle Stadt, aber es ist doch ein Stück weg von zu Hause. Nay. Die Hauptstadt ist schön, aber meine Heimatstadt Cilghain is' auch nich' langweilig. Auch wenn meine Schwester in Avasikuu ist... meistens. Sein sollte. Was auch immer.“ Er zuckte mit den Schultern, grinste bei der Erwähnung seiner Schwester kurz. Dann war es still, weil ihm nicht mehr einfiel, was er noch sagen sollte. Oder sein Körper war an seine Grenzen gekommen, seine Atmung ging schwer und er hustete gelegentlich. Linus würde ihn morgen definitiv zum Arzt schleifen, aber heute hatte schon alles geschlossen. Jetzt jedoch wollte er die Stille nicht auf ihnen lasten lassen. „Was ist mit deiner Familie?“, fragte er. Es interessierte ihn, auch wenn er nicht wusste, wie Horatio auf diese Frage reagieren würde. Vielleicht half es ihm, darüber reden zu können. „Ich... weiß es nich'. Nach wie vor“, antwortete er schließlich nach weiteren Augenblicken der Stille. Sein Grinsen verschwand und hinterließ Leere. „Ich... Hab' keine Ahnung. Ophelia – also, meine Schwester – is' kurz vor Beginn von dem ganzen Trara drüben zu mir gekommen und hat mich auf ein Schiff nach Hohendamm verfrachtet. Kannst dir ja denken, dass ich das komisch fand und viele Fragen gestellt hab und blah.“ Er seufzte. „Ich hab' kein Visum. Ich glaub' auch nich', dass sie eins hatte. Aber... sie hat mir das Geld gegeben.“ Horatio nickte zu einem alten Sessel, der lange nicht mehr in Benutzung war. Der Bezug hatte ein paar Mottenlöcher, doch dies war nicht der Grund, warum keiner darauf saß. Das lag an dem weiteren sehr großen Stapel Bücher und ein paar Fachzeitschriften, in der Ecke klemmte Linus' alter Cellobogen, dessen Bespannung ganz labberig durchhing und dann war da noch ein Karton, in dem die Katzen sich gelegentlich versteckten. Und auf dem ganzen Haufen lagen im Moment Horatios Klamotten. Sie hatten sie gestern zum Trocknen ins Bad gehängt, aber da sie trocken waren, hatte Alrun sie wohl vor dem Gehen wieder zu Horatio gelegt. Linus fragte sich, ob Bosch Horatio weitergelassen hätte, hätte er kein Geld gehabt. Er hatte nichts von Horatio verlangt, das nicht. Aber ohne wären seine Chancen im neuen Land noch wesentlich geringer gewesen, das war auch Linus bewusst. Hatte Horatios Schwester geahnt, was an jenem Abend in Sysdale passieren würde? „Warum das?“ Er sah Horatio mit den Schultern zucken. „Was weiß ich. Hat halt... mitgedacht... oder so.“ Horatio räusperte sich, es ging in ein Husten über. „Ich werd' trotzdem versuchen, zur Hauptstadt zu kommen. Rubrica ist ein guter Anhaltspunkt und ein ganzes Stück größer als Hohendamm.“ „Das stimmt wohl“, gab Linus ihm murmelnd Recht. „Wenn du Magier bist, dann... hast du sicherlich auch am Amt kein Problem.“ Viele Leute, die auswandern wollten, wurden zurück geschickt. Linus wusste nicht, wie das bei Angehörigen eines Clans war, aber er wusste sehr wohl, dass jedes Land nach besten Möglichkeiten versuchte, alle Magier zu ergattern, die es kriegen konnte. Sie müssten Horatio also mit offenen Armen empfangen. Horatio verzog das Gesicht ganz leicht. „Die schicken mich bestimmt zur Akademie.“ „Hm, das kann sein“, sagte Linus. „Aber... hättest du das in Hostis nicht auch gemusst?“ „Jaaaa, schon.“ Horatio lachte leise, klang ein bisschen abwesend dabei. „Zu Hause lachen die nur über's tribunische Militär. Weißt du, wie sie die Großmeister nennen? Bademeister. Weil die aussehen und sich verhalten als hätten die Strandaufsicht und angeblich immer nur daneben stehen und zuschauen und nie was machen.“ „Ich weiß nicht“, gestand Linus. „Hab bisher noch keinen getroffen.“ Dabei lächelte er leicht. Hostis und Tribunus hatten sich nie sehr nahe gestanden und dass Leute aus dem hohen, kalten Norden jene im Süden für verweichlicht hielten, erschloss sich ihm. „Na ja. Aber schlimmer kann's wohl nich' sein, oder? Werd' ich ja sehen. Vielleicht schicken die mich ja auch gar nich' hin. Also, wenn ich so die Wahl hab, dann mach ich das nich'. Sondern halt... irgendetwas anderes, fänd' ich angemessen.“ „Was denn so?“, erkundigte sich Linus, woraufhin Horatio mit den Schultern zuckte. „Was auch immer. Keine Ahnung, ah. Na ja. Es is' ein bisschen komisch, weil Hostis is' ja sonst in allem strenger, aber dabei offenbar nicht?“ „Uh“, kam es sehr langsam von Linus. „Ich weiß nicht genau. Damit habe ich mich bisher noch nie beschäftigt.“ „Bist selbst keiner, was?“ „Hm?“ „Kein Magier?“ Erneutes Husten. Er trank einen Schluck Tee, der aber offenbar zu heiß war. Linus schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nichtmal eine ordentliche Haarfarbe verpassen.“ „Ordentlich? Ich find die echt hübsch.“ Horatio grinste kurz. Linus wurde warm. „Aber nay, hast du schonmal dein Blut getestet?“ Linus verneinte stumm. „Warum?“ „Was hätte ich davon?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich will nicht ins Militär.“ „Man kann mit Magie 'ne Menge mehr machen, als Leuten aufs Maul zu geben“, sagte Horatio. „Schon, ja.“ Eigentlich wollte Linus nicht über sich reden. „Ich... will aber auch nichts mit Magie, ich meine... Nein.“ Sein Fähigkeitengrad war eh zu gering für irgendetwas, dann würde seine Magie auch nicht für Zauber reichen, die nicht an seine Clanfähigkeiten gebunden waren. Ganz einfach. Nicht, dass er deshalb bestimmt wusste, was er eigentlich beruflich machen wollte später. Aber immerhin wusste er doch recht sicher, was er nicht wollte. Linus schaute auf die Uhr an der Wand. Er brauchte ein anderes Thema. „Meine Mutter kommt bestimmt so in einer Stunde nach Hause.“ Horatio nickte und schien den Köder zu schlucken. „Was macht sie eigentlich?“ „Hafenverwaltung“, antwortete er. „Warst du deshalb auf dem Kutter?“ „Hmmm, Praktikum.“ Er nickte. „Noch bis März.“ Linus überlegte, was er sagen konnte, damit sie nicht mehr über ihn redeten. „Hast du keine Ausbildung gefunden oder wurdest du abgelehnt oder was?“ Horatio wirkte aufmerksam und müde zugleich. Er sollte ihn nicht über so etwas ausfragen, das war unwichtig. Auch wenn es ihm vielleicht half, sein mögliches Schuldgefühl damit zu schmälern, dass er gerade im Grunde genommen kostenlos bei Alrun und Linus unterkam. „Abgelehnt“, antwortete Linus. Eigentlich war es gelogen, aber er erinnerte sich nicht gern an letzten Sommer. „Hm, in Ordnung.“ Horatio trank noch mehr Tee. „Und dein Vater? Was macht der so? Also, wenn der mit hier is', wenn nich' dann, uh... Ja. Was auch immer.“ „Doch, ist hier. Also, nicht im Moment, im Moment ist der in Rantastala und...“ „Rantastala? Das ist ja echt am Arsch der Welt, was verschlägt den denn dorthin?“ „Er ist Professor für Sprachen an der Universität hier in Hohendamm“, erzählte Linus. „War erst in Rubrica vor ein paar Wochen und dann haben sie ihn nach Hostis geschickt.“ „Macht er da... Hostisch als Sprache oder was?“ Er konnte nicht einschätzen, ob Horatios Interesse ehrlich war oder nur aus Pflichtgefühl bestand. „Ja. Vor allem altes Nordosthostisch. Im Moment... Egal.“ Mit einem Handwink brach er ab. „Was is'?“ „Ich, hm.“ Linus seufzte. „Willst du wirklich mehr hören?“ „Hey, hey.“ Horatio hob Abstand haltend seine freie Hand. „Warum sollt' ich dich was fragen, wenn ich's gar nich' wissen will, aye?“ „Hm. Keine Ahnung“, murmelte er, schaute ihn dabei aber nicht an. Dann räusperte er sich, weil er irgendetwas machen wollte. Weil er nicht über sich reden konnte und ihm nichts einfiel, was er Horatio im Gegenzug fragen konnte und sich deshalb schlecht fühlte. Warum war er eigentlich so unfähig in völlig normalen Dingen? Es herrschte einige Augenblicke Stille, in denen Horatio Linus vermutlich sehr genau musterte. Linus sah es nicht gut, er schaute weg. Es war die Art von Stille, die man physisch spüren konnte. „Ich... Tut mir Leid, ich bin nicht so spannend.“ „Sag das nich', das führt nur dazu, dass ich drüber nachdenke, das will ich doch gar nicht.“ Horatio winkte ab. „Also, was wolltest du noch sagen?“ „Ich... weiß nicht mehr.“ Linus schaute weg. Er wusste wirklich nicht mehr, was er in dem Moment noch hatte hinzu fügen sollen. Seine Gedanken waren abgelenkt gewesen. Horatio seufzte schwer und Linus machte sich sehr auf einen Kommentar diesbezüglich gefasst, aber es kam nichts. Stattdessen trank der Junge noch ein paar Schlucke Tee. „Was auch immer. Rantastala is' echt am Arsch der Welt. So weit weg war ich noch gar nich'. Also, ich war generell noch nich' weit weg. Jetzt halt mal in Sysdale und ansonsten mal in Avasikuu? Yay. Aber das war's auch schon.“ „Avasikuu?“ Linus konnte wieder aufschauen. Er wusste nicht, ob Horatio jetzt mit Absicht einfach so weitersprach. Wenn ja, dann war er dankbar darüber. Das Thema war ihm gerade angenehmer, er dachte lieber an Avasikuu als anderes. Immerhin war Hostis' Hauptstadt jetzt seit Jahrhunderten in der ganzen Welt gelobt für seine Schönheit. Gesehen hatte er sie allerdings nicht, nur auf Bildern. „Ja!“ Horatio nickte. „Hab meine Schwester besucht, ein paar Mal. Das letzte Mal letzten Sommer? Ja. Die Stadt ist super, man kann so viel machen, viel mehr als in Cilghain und das Wetter ist auch nich' so eklig da. Viel wärmer und weniger Regen. Also, in Ordnung, ein paar Ecken sind da sehr aufgeblasen, der Palast und das gesamte Regierungszentrum, aber wenn man das so anschaut, sieht man schon, warum die Yelkin so irre stolz auf ihre Heimat sind.“ Linus nickte langsam. Das konnte er sich vorstellen. Das Zarenreich der Yelkin war jetzt knapp siebenhundert Jahre alt und hatte nach wie vor einen Posten als Großmacht inne, trotz der vielen harten Winter. Siebenhundert Jahre waren genug Zeit, die eigene Hauptstadt aufzubauen, ihr zur Prunk und Größe zu verhelfen. Auch wenn sein Vater einmal gesagt hatte, Hostis wäre vor zwanzig Jahren noch schöner gewesen als jetzt. Linus konnte sich an die fünf Jahre Schnee und Eis nicht mehr erinnern. Es war überall, in ganz Miseria spürbar gewesen, auch hier, in Hohendamm. Aber Linus war damals noch zu klein gewesen. „Warst du im Palast?“ Horatio schüttelte sofort den Kopf. Seinem darauf folgenden Gesichtsausdruck zu urteilen bereute er es aufgrund der Kopfschmerzen sogleich wieder. „Nay, nay, natürlich nich', die lassen da nich' jeden rein. Also schon, es gibt den Museumsteil und blah, aber das kostet Geld und eigentlich interessiere ich mich nich' so super für Geschichte und außerdem ist das alles unendlich voll mit Touristen. Und da ist das echt nur ein kleiner Teil vom Palast, kein' Schimmer, wer da eigentlich wohnen soll. Vermutlich ist das Ding echt nur zum Angeben da. Yelkin eben. Hat zumindest meine Schwester gemeint.“ Er gluckste. „Wohnt sie in Avasikuu?“, fragte Linus weiter, bemerkte aber, wie Horatios Mimik daraufhin etwas zusammen brach. Er wünschte sich, er hätte den Mund gehalten. „Aye“ seufzte er. „Also. Zumindest hat sie das lange. Dann hat sie sich Ende letztes Jahr von ihrem Freund getrennt und ist erst zurück nach Cilghain gekommen und dann nach Sysdale gegangen und... Ja. Was auch immer.“ Er zuckte mit den Schultern. „War auch schön, sie mal wieder dazuhaben.“ Er nickte erneut, wusste dann aber nicht, was er noch fragen sollte oder wollte. Theoretisch würde er noch etwas über Horatios Familie fragen, aber er wollte ihn nicht durch den Gedanken daran traurig machen. Auch ohne das war er schon mitgenommen genug. Dann jedoch, als Horatio gerade wieder Tee trank, fiel ihm noch etwas ein und er stand auf. Auf den Gedanken hätte er schon viel eher kommen können. „Einen Moment“, sagte er zu Horatio, ehe er das Zimmer verließ, in die Küche ging und mit der Zeitung vom Tisch wiederkam. Wie hatte er die nur vergessen können? „Uh“, hörte er Horatio aufgeregt neben sich. „Schreiben sie was? Sie schreiben doch was, nicht wahr? Das müssen sie, aye!“ Die Frage erübrigte sich, als Linus das Titelblatt anschaute, samt Bild darunter. Natürlich hatte es das Ereignis vorne drauf geschafft. Erst recht, als er las, was passiert war. „Was steht da, was steht da?“, quengelte Horatio weiter, stellte den Tee weg und streckte die Hand nach der Zeitung aus. Linus lies sie sich abnehmen, damit er selbst beide Hände frei hatte, um das Gesicht kurz in ihnen zu vergraben. Der Zar war tot. Der Sprengsatz gestern in Sysdale hatte beim explodieren den Zaren von Hostis getötet. Ihn, ein paar Militärangehörige, ein paar Politiker, eine ganze Hand voll Angestellter. Magische Explosion, deshalb waren sämtliche Spuren der Täter verwischt worden. Ermittlungen liefen. Hostis' Flaggen hingen reichsweit auf halbmast. In dem Zeitungsartikel standen nur Fakten über die Geschehen, keinerlei Kommentare. Nicht von Hostis selbst, auch nicht von Tribunus' Präsidenten. Die beiden Länder standen sich nicht nah, im Gegenteil. Tribunus formte mit den anderen beiden Kontinenten eine Union, während sich Hostis heraus hielt und sein eigenes Zeug machte, was von allen anderen kritisiert wurde. Aber die Winter waren gekommen, die Wirtschaft zusammen gebrochen, der alte Zar verstorben. Dann war Nikolaij VI gekommen, hatte Hostis aus den Ruinen wieder hochgeschaufelt und jetzt hatte auch sein Regime so jäh geendet wie das seines Vaters. Nikolaijs Tochter war zu jung für den Posten als Regentin sein jüngerer Bruder würde seinen Platz besetzen. Doch Hostis schwieg und so machte es auch Tribunus. Horatio war ausnahmsweise still, als er die Zeitung weglegte und nach seinem Tee griff. Er war zu schnell dabei, ihm spritzte Flüssigkeit über die Finger, doch er schien sich dafür nicht zu interessieren. „Meine Schwester muss da irgendwie rausgekommen sein, sie wird hier gar nich' erwähnt.“ Linus schaute ihn an. Er durfte ihn jetzt nicht bemitleidend anschauen, das würde ihm nicht helfen. „Ich muss nach Rubrica“, kam es sehr gepresst von Horatio. „Ich muss da hin, ich kann nich' hier sitzen und... nichts machen und hier sitzen und Zeit und ich... Ich weiß nich'.“ Seine Stimme klang schrecklich dünn, zitternd. Mehr noch als in der Nacht. Dann schwang er seine Beine aus dem Bett, sprang auf, verlor jedoch gleich darauf das Gleichgewicht und fiel zurück. „Wenn Ophelia sagt, dass ich da Familie hab, dann stimmt das auch, sie hat immer Recht, dann kann ich sie dort wieder treffen! Sie lügt nich', sie... kann nich'...“ „Du kannst jetzt nicht...“, wollte Linus ihn beruhigen, doch er schien ihm gar nicht zuzuhören. „Du kennst sie ja gar nich', wenn sie sagt, wir treffen uns in Rubrica, dann treffen wir uns auch in Rubrica! Wirklich, kannst du mir ruhig glauben.“ Linus hatte die Augenbrauen zusammengezogen und musterte Horatio, sagte aber nichts. Was konnte er in einer solchen Situation schon von sich geben, was auch geholfen hätte? „Tut mir Leid, ich...“, setzte Horatio an, doch er zitterte zu sehr, um weiter zu reden. Daraufhin vergrub er das Gesicht in den Händen. Unsicher kaute sich Linus auf seiner Zunge herum. Er konnte nicht einmal in Ansatz verstehen, wie Horatio sich fühlen musste, denn bisher hatte er niemanden Nahestehenden verloren. Es wäre anmaßend zu behaupten, dass er dies könnte. Er war nicht in Horatios Situation und selbst wenn, so war er doch ein ganz anderer Mensch. Jeder fühlte unterschiedlich. Hier ging es nicht um ihn. Hier ging es um Horatio und wie es ihm wieder besser gehen könnte, einen richtigen Weg, mit seinem Problem umzugehen. Nur hatte Linus keine Ahnung, wo er ansetzen sollte. „Du wirst jetzt erstmal wieder gesund“, begann er dann langsam und vermutete, dass es wohl ein mitfühlendes Zeichen gewesen wäre, hätte er ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Aber er mochte keinen Körperkontakt, schon gar nicht mit fremden Menschen. „Und dann fährst du nach Rubrica. Ich hab doch gesagt, dass ich helfen werde. Und meine Mutter definitiv auch.“ „Du hast schon genug gemacht.“ Horatio schaute noch nicht auf. Seine Stimme war immer noch brüchig und heiser. „Ich steh schon so tief genug in deiner Schuld.“ „Ist doch egal“, nuschelte Linus. „Ich helfe dir doch nicht, damit ich von dir irgendetwas bekomme. Das wäre albern.“ „Das, was du machst, ist doch erst recht albern, du kennst mich doch gar nich'“, beharrte Horatio. Linus konnte sehen, wie er zwischen seinen Fingern hindurch lugte. „Das ist doch aber meine Sorge, oder?“ Diesmal war es der Magier, der ein leises „Hm“ von sich gab. Er ließ den Kopf hängen. „Das ist alles so grässlich. Von vorn bis hinten.“ Er seufzte leise, hustete anschließend. Auch Linus wusste nicht, was jetzt passieren würde. International, politisch, und um ehrlich zu sein wollte er sich auch keine Gedanken darüber machen. „Du musst schnell gesund werden, um nach Rubrica zu kommen.“ Sein Gegenüber nickte langsam, dann lehnte er sich zurück ins Bett und kuschelte sich in die Decke ein. „Habt ihr was zu essen?“ „Oh.“ Das war peinlich. „Ja, ja, natürlich. Was willst du? Wir haben... Zeug.“ „Zeug, ja. Ich hätt' gern Zeug.“ Horatio gluckste. „Ja ich... koche heute Abend etwas, bis dahin, ich weiß nicht. Es hat trockenen Kuchen und... Brot?“ Horatio lächelte in sich hinein. „Ich nehm' gern auch trockenen Kuchen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)