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Totale Finsternis

von

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Ouvertüre

Es war der Wind, der das Schicksal der jungen Sterblichen einleiten sollte, wie eine Ouvertüre ein Musikstück. Er pfiff durch die Wälder, ließ die Fensterscheiben des düsteren Schlosses klirren und dröhnte durch den Innenhof. Ja es war, als würde ein Orchester spielen. Die einzigen Zuhörer waren die Fledermäuse, die, statt sich in die Lüfte zu erheben, lieber unter den Turmdächern Schutz vor dem grausigen Sturm suchten. Auch eine weitere Gestalt lauschte den unheimlichen Klängen der Nacht. Sie stand vor dem Tor und betrachtete die Schwärze.
 

Der Wind zerrte an ihrem schweren Umhang, während sie scheinbar ins Nichts starrte. Ihre durch die Kälte bläulichen Züge wurden weicher. Sie konnte es spüren: Bald würde sie ihren Hunger stillen können. Schwungvoll drehte sie sich dem Schloss zu und kehrte in dessen stille Mauern zurück. Die Zeit drängte. Sie hatte ein Festmahl vorzubereiten.

1. He ho Professor

He ho Professor

 

 

Der Wind peitschte unaufhörlich über die weiße Landschaft und jagte dicke Schneeflocken vor sich her. Sie verfingen sich unaufhörlich in den Haaren, Wimpern und der Kleidung des massigen Kutschers, der zwei prächtige Schimmel über die kaum erkennbaren Straßen trieb. Sein grimmiges sowie kantiges Gesicht war von der Kälte kreidebleich.

Dagegen war es in der Kutsche relativ warm. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Sie war das neueste Modell, prächtig und das edelste, was man mit Geld kaufen kann. Ganz wie man es von der Kutsche des wohlhabendsten Händlers für Textilien aller Art erwarten würde. Nichtsdestotrotz umschmiegten dicke Wintermäntel die Körper der drei Insassen: Die gesamte, wenn auch kleine Familie, die Gabriel Agreste sein eigen nannte. Sein Sohn Adrien, der ihm gegenüber saß und seine Frau Emilie, die zusätzlich in zahlreiche Decken eingewickelt war. Sie war der Grund, warum sich die drei ausgerechnet zu der unangenehmsten Jahreszeit nach Transsylvanien aufmachten. Ihr blondes Haar klebte an ihrem schweißgebadeten Gesicht. Die Krankheit hatte ihre Haut mit einen unansehnlichen Grauton betupft und ihren blutunterlaufenen glasigen Augen dunkle Schatten geschenkt. Die besten Ärzte der Welt wurden die letzten Monate nach Paris zitiert, ebenso wie Exorzisten, Nonnen und Kräuterweiber. Doch nichts schien die mysteriöse Krankheit aufhalten zu können.
 

Auch um das Familienoberhaupt stand es nicht zum Besten. Sein Gesicht war blass und die Sorgen hatten ihn um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte altern lassen. Die ersten silbernen Strähnen schimmerten durch sein eigentlich blondes Haar, auch wenn er sein Bestes gab, diese so unter zu kämmen, dass man sie nicht mehr sehen konnte. Ein inzwischen unmögliches Unterfangen... Sein durchdringender, wenn auch erschöpfter Blick ruhte auf dem zerbrechlichen Körper seiner Frau.

Dagegen wusste er vermutlich nicht einmal, welche Farbe der dicke schwarze Mantel seines Sohnes hatte. Es muss schon über ein halbes Jahr her sein, dass er Adrien angesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte. Stattdessen verbrachte er jede freie Minute, die er nicht seiner Frau widmete mit Recherchen über unbekannte Krankheiten, Wunderheilungen, Mythen über magische Relikte, die ewiges Leben oder zumindest Gesundheit versprachen, kurzum alles was seiner über alles geliebten Emilie Linderung versprach.

Leider war all das fehlgeschlagen. Er hatte schon Unsummen in herkömmliche und besagte alternative Medizin investiert. Ärzte konnten nur den Kopf schütteln, Mönche wie Nonne bekreuzigten sich und boten die letzte Ölung an, angebliche Wunderheiler und Zauberkünstler stellten sich als Scharlatane heraus. Die deprimierende Suche näherte sich immer mehr ihrem traurigen Ende zu.
 

Adrien seufzte tief, als er seine Eltern beobachtete. Es mag herzlos klingen, aber er hatte bereits eingesehen, dass er seine Mutter an die Krankheit verlieren würde und so wie die Situation aussah, auch seinen Vater. Mit jedem Misserfolg zerbrach Gabriel ein Stückchen mehr, wurde er kälter und verbitterter. Das war das Belastendste für den jungen Mann. Er wusste, dass seine Mutter sterben wurde, doch egal wie es ihm das Herz zerriss, er konnte nicht trauern, keine Tränen zeigen, zum Wohle seines Vaters. Solange dieser den Tod seiner Liebsten nicht akzeptierte, war es unmöglich zu ihm zu gehen, in seinen Armen Schutz zu suchen und die Tränen fließen zu lassen. Er würde ihn wütend abweisen, ihn anschreien und beschuldigen. „Es ist noch nicht zu spät!“, würde er brüllen oder „Wie kannst du so etwas sagen. Sie ist deine Mutter!“ Dann würde er in sich zusammenbrechen, den Weinkeller aufsuchen und seine Schuldgefühle, sein Versagen mit der nächsten Flasche Hochprozentigen herunterspülen.
 

So brutal es sich vielleicht anhört, aber Adrien wünschte sich nichts mehr, als dass sein Vater aufgibt, seine Mutter in Frieden verscheiden lässt und wieder für ihn da ist, gemeinsam mit ihm trauert. Vor ein paar Monaten war es fast soweit:

Gerade hatte ein buddhistischer Mönch, die zu dieser Zeit letzte Hoffnung seines Vaters, mit ehrlichem Bedauern seine Ratlosigkeit verkündet. Gabriel war wütend in sein Arbeitszimmer gestürmt und hatte in einen Tobsuchtsanfall alles zertrümmert, was halbwegs in die Brüche gehen konnte. Dann hatte er sich der Resignation und dem Wein hingegeben. Agreste Junior hatte damals gehofft, dass sobald der Ältere seine Niederlage hinnahm, er auch wieder so wie früher werden würde: rational, jeden ans Übersinnliche Glaubenden verspottend – sein Fels, der ihm in seiner Verzweiflung halt geben würde. Doch es kam anders. Einer der Schneider unter der Agreste Familie hatte ein Buch vergessen und-
 

Innerhalb von Sekunden brach Chaos in der Kutsche aus. Die Pferde bäumten sich wild wiehernd auf. Der Kutscher donnerte eine beachtliche Reihe an Schimpfwörtern. Das Gefährt an sich wankte, ächzte und stöhnte. Panisch versuchte sein Vater Emilie zu stabilisieren, während er sich an die Sitzbanklehne klammerte. In dem ganzen Lärm ging der hohe weibliche Schrei beinahe unter.

Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, steckte Adrien seinen Blondschopf nach draußen und besah sich der Schuldigen für das Durcheinander. Zwei Gestalten standen vor der Kutsche: eine junge Frau und ein sehr alter faltiger Mann, der hitzig auf den Bediensteten einredete.

„Wo haben Sie Ihren Schein gemacht? In der Gosse?“, keifte der Alte und wedelte mit einem Schirm wild umher, „Ich will sofort Ihren Herren sprechen!“ Oh nein, das glaube ich nicht, dachte Adrien amüsiert, während er in Richtung seines sehr wütenden Vaters schielte. Dennoch wurde Ihm sein Wunsch erfüllt.

„Was geht hier vor?“, knurrte Gabriel erbost und gesellte sich zu der kleinen Gruppe. Die junge Frau zuckte unter der kalten Tonlage sichtlich zusammen und ließ ihren Kopf gesenkt. „Sie ist vor die Kutsche gestolpert“, knurrte der Hüne und zerrte das Mädchen nach vorn. „Kein Grund ungehalten zu werden, junger Mann!“, wetterte der kleine Alte unbeirrt weiter und gab ihn einen Schlag mit dem Schirm. Dann wand er sich an den Neuankömmling, „Ihr Kutscher hätte uns beinahe ins Grab gebracht, ja ja... Als ob die Jagd nach diesen vermaledeiten Blutsaugern nicht schon gefährlich genug wäre! Nein! Ha! Da muss man sich schon vor solchen, solchen... Tölpeln“, er gestikulierte in Richtung des gorilla-artigen Fahrers, „in Acht nehmen und-“

Normalerweise würde sein Vater seinen Gegenüber einfach ignorieren, wieder in die Kutsche steigen – vor allem, da er zitterte, wie Espenlaub – und weiterfahren. Aber das Wort „Blutsauger“ hatte sein Interesse geweckt.

So unterbrach er ihn stattdessen: „Sagten Sie Blutsauger? Dürfte ich fragen, wer Sie sind?“ Wow, er klang sogar freundlich, für seine Verhältnisse jedenfalls. Der Kleine schien sich vor Stolz aufzublähen und überreichte ihn eine bereits vergilbte Visitenkarte: „Professor Abronsius aus Königsberg“

„Der Professor Abronsius?“, kam die erstaunte Antwort. Oh nein, dachte Adrien genervt, diese unverhohlene Überraschung und dieses blitzen in Papas Augen kann nichts gutes Bedeuten. „Ich las Ihre Bücher, Professor und ich muss gestehen, ich bin ein sehr großer... Bewunderer Ihrer Arbeit. Es wäre mir eine Ehre, Sie ein Stückchen in meiner Kutsche mitzunehmen.“ Der jüngere Agreste blinzelte verwirrt. Seit wann war sein Vater so... umgänglich und höflich? Ihm wurde auf seinen fragenden Ausdruck hin die Visitenkarte in die Hand gedrückt.
 

 

Professor Abronsius

Dozent für Paranormalität und Vampirismus an der Universität in Königsberg

Autor von „die Fledermaus“,

„die Fledermaus 2: Forschungen am lebenden Objekt“ und

„Der Vampir: Ein bissiger Zeitgenosse“

 
 

Das.konnte.doch.nicht.wahr.sein! Mitten im Nirgendwo trafen sie ausgerechnet auf den Autor dieser verdammten Bücher, die seinen Vater diese Schnapsidee in den Kopf gepflanzt hatten. Seit dem er das von dem Schneider vergessende Buch „Die Fledermaus“ überflogen hatte, war er nicht mehr davon abzubringen einen Vampir aufzuspüren. Einen VAMPIR! Der Blondschopf konnte lediglich die Augen rollen. Von allen verrückten ach so magischen Wunderheilungsversuchen, war die einen Vampir zu finden die mit Abstand bescheuerteste. Doch seit der Erkrankung seiner Mutter, waren rationale Argumente verschwendete Atemluft. Wenn Gabriel Agreste es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass Vampire wirklich existieren, dann gab es sie auch. Punkt.
 

„Mit dem größten Vergnügen, Herr...?“ „Agreste, Gabriel Agreste“, stellte er sich wie nebensächlich vor und geleitete den Professor zur Kutsche.

Jetzt meldete sich zum ersten mal die junge Frau zu Wort. Bei der Erwähnung seines Namens, schnellte ihr Kopf in die Höhe und ihre Augen funkelten vor Freude. „Gabriel Agreste?“, fragte sie aufgeregt, „Der Modekönig? Ich fasse es ja nicht! Sie sind mein absoluter Lieblingsdesigner! Oh Ihre letzte Kollektion war ja so umwerfend. Ich bin Marionette äh- Marinette Dupain-Cheng. War das jetzt richtig?! Ich äh-“

Ihre Wangen färbten sich rot und sie legt ein breites entschuldigendes Grinsen auf. Seltsamer Weise schien es sehr ansteckend zu sein, denn Adrien kam nicht daran herum es zu erwidern, was sie noch mehr erröten ließ.

„Meine neue Assistentin...“, erklärte der Professor knapp, „Alfred, mein alter Assistent ist bei meiner letzten Mission leider verschwunden. Ach, eine Schande ist das...“ Der kalte abschätzige Blick den das Familienoberhaupt der jungen Frau zu warf, wanderte wieder zu dem Alten, als er beiden gestikulierte, es sich in der Kutsche bequem zu machen.
 

„Sie reisen also mit Ihrem Sohn und Ihrer kranken Frau nach Sighișoara?“, erkundigte sich der Professor neugierig, „Ich muss Sie warnen. Laut meinen Forschungen ist dies eine der Vampir Hochburgen! Das ist kein Ort, um Urlaub zu machen.“

Adrien verdrehte erneut die Augen und verkreuzte die Arme vor der Brust. Genau das war der Grund, warum sie diese verdammte Stadt aufsuchen wollten. Die Hochburg der Vampire – natürlich... Einer verrückter als der Andere.

„Oh wirklich?“, erwiderte Gabriel mit durchaus überzeugender, wenn auch gespielter Überraschung, „Das ist aber ungünstig... Nun ja, ich bin sicher mit Ihnen als Experte auf dem Gebiet des Vampirismus haben wir nichts zu befürchten. Sie wollen doch sicherlich auch nach Sighișoara, nicht wahr?“

„Wo denken Sie hin, nein! Ich bin zwar, wie Sie völlig zutreffend gesagt haben, ein wahrer Vampir-Experte, doch sollte man diese hinterhältigen Blutsauger nicht unterschätzen. Wenn meine Nachforschungen korrekt sind, leben dort über 15 Vampir-Clane. Ich bin unter den Vampiren nicht ganz unbekannt, verstehen Sie, und ich muss auch an meine Gesundheit denken. Wenn ich sterbe, wer soll dann diese Kreaturen aufhalten?“

„Nun das ist sehr unerfreulich. Ich hatte mich schon darauf eingestellt Ihren neuesten Schlussfolgerungen zu lauschen, Professor.“

„Das hört man gern, Monsieur Agreste. Ich wünschte ich hätte solch interessierte Persönlichkeiten in meiner Heimat. Vielleicht könnten Sie mich ja nach Usturoi begleiten?“

„Ust...uroi?“, wiederholte der Designer ungläubig, „Warten Sie! Sie sind auf der Suche nach Vampiren in einem Dorf, das Usturoi also Knoblauch heißt?“

„Ganz Recht. Logik, Monsieur, Logik! Sehen Sie, gerade wegen des Namens würde kein Vampirjäger auch nur auf die Idee kommen dort nach den Blutsaugern zu suchen. Nun ja, aber sie haben nicht mit der überragenden Intelligenz von mir Professor Abronsius gerechnet. Ha!“

 

Gabriel tauschte einen zweifelnden Blick mit seinem Sohn aus, was Adrien sehr begrüßte. Vielleicht würde die Anwesenheit des Alten seinen Vater nicht in seiner Idee bestärken, sondern im Gegenteil ihn von seinem Vorhaben abhalten.

„Es... wäre mir ein Vergnügen“, murmelte er schließlich doch nur mit einem erheblichen Anteil Unsicherheit in der Stimme. Seine Frau hatte nicht mehr viel Zeit. Er musste so schnell wie möglich einen dieser Untoten auftreiben, um sie zu retten. Und dazu brauchte er nun mal diesen Professor.

 

„Wie können Sie sich so sicher sein, dass es dort auch wirklich Vampire gibt, Professor?“, mischte sich der Blonde nun ein, „Was ist, wenn die Vampire … ähm... Sie in eine Falle locke-“

Mit einen scharfen Blick brachte sein Vater ihn zum Schweigen.

„Nein, nein, mein Junge. So schlau diese Kreaturen auch sein mögen, mit meinem Intellekt können sie nicht mithalten.“ Adrien schnaufte nur genervt und ließ sich tiefer in die Polsterung der Sitzbank sinken.

Knoblauch

Es vergingen mehrere Stunden, die sich für Adrien anfühlten, wie eine kleine Ewigkeit. Der Grund dafür war der Professor, der anscheinend schon so senil war, dass ihm nicht auffiel, wie er „die Geschichte von vor 4 Jahren“ mehrfach erzählte. Seinem Vater schien das wenig zu stören, ganz im Gegenteil: Er hing an des Professors Lippen, wie ein Knabe bei einer Bettgeschichte.
 

Adrien rollte mit den Augen und bettete sein Kinn in seiner Handfläche.

„Ich bin mit meinem Assistenten Alfred nach Transsylvanien aufgebrochen, um diese Blutsauger zu vernichten, jaja...“

...

„Und dann verliebt sich der Bengel ausgerechnet in die Wirtstochter. Ein hübsches Ding - Das muss selbst ich gestehen.“

...

„Der Vampirgraf -wie hieß er noch? - Graf von Krolock, hatte ebenfalls gefallen an ihr gefunden und trotz meiner Bemühungen konnte er sie verführen, dieser Schuft!“

...

„Und dann verschwindet das Mädchen einfach- in die Arme dieses Blutsaugers. Als ihr Vater sie retten wollte, wurde er leer gesaugt. Natürlich wollte ich ihn sofort erlösen. Sie verstehen.“

Jetzt deutete er mit den Händen eine Pfählung an und untermalte diese mit einem geräuschvollen Zack.

„Mit seiner Hilfe konnten wir das Versteck dieser Kreaturen ausfindig machen. Der Graf wollte mir tatsächlich glauben machen, dass er ein ganz gewöhnlicher Mensch sei, Ha! Da hat er nicht mit MEINEM Intelligent gerechnet! Spätestens, als wir ihre Särge gefunden hatten, war mir natürlich alles klar. Logik, Monsieur Agreste, Logik!“

...

Der Graf hatte auch einen Sohn, der Alfred fast gebissen hätte. Und so weiter... und so weiter... Nahm diese Erzählung denn nie ein Ende?

...

„Und dieser Graf hatte tatsächlich dutzende Vampire unter sich, die alle nach unserem Blut gierten. Leider konnten wir nicht mehr verhindern, dass das arme Kind gebissen wurde. Eine Schande ist das, wirklich.“

Bei der Beschreibung des Bisses war sein Vater immer besonders aufmerksam und lehnte sich stets ein Stück nach vorn.

„Doch wir konnten fliehen. Dank meiner brillanten Idee, ein Kreuz zu errichten. Sie werden nie erraten aus was!“

Aus zwei Kerzenleuchtern, stöhnte Adrien in Gedanken und widerstand nur schwer dem Drang sich gegen die Stirn zu schlagen.

„Der Graf erlag der Macht des Kreuzes, nein, ich sollte eher sagen: Der Macht der Wissenschaft, Jawohl! Die Decke des Schlosses stürzte hernieder und erlöste die Welt von diesen Untoten! Jaja... Nur knapp konnten wir entfliehen. Leider ist dabei mein Assistent verschwunden. Vermutlich hat sich der Junge mit der Wirtstochter ein schönes Leben gemacht... Nun ja... Er hätte eh sich nie zu einem guten Vampirjäger gemausert.“


 

Der Blondschopf lehnte sich tiefer in die Polsterung der Sitzbank, als Abronsius zum siebten Mal von vorn begann. Er konnte inzwischen schon mitsprechen. Womit hatte er diese Folter verdient?

Irgendwann hatte er sogar versucht, sich mit seiner Sitznachbarin zu unterhalten. Doch nach ein paar Sätzen hatte er wieder aufgegeben. Das Mädchen brachte kaum verständliche Worte heraus und lief dabei so rot an, dass er befürchten musste, sie einer Ohnmacht nahezubringen. Vermutlich machte ihr das kalte Wetter zu schaffen, denn je tiefer sie in das Landesinnere vordrangen, desto stärker fraß sich der Frost durch die Wände der Kutsche. Ihr Führer schien schon halb erfroren, als die ersten vereinzelten Hausdächer zu erspähen waren.
 

Die Kutsche hielt vor einem verschneiten Gasthaus, aus dem laute fröhliche Stimmen und rustikale Melodien erklangen. Die Fenster, vor Frost und Dreck matt, ließen nur wenig von dem warmen Licht nach draußen in die dunkle Nacht. Dennoch konnte man das verwitterte Gemäuer durch zwei Laternen schemenhaft erkennen. Es war mit einer steinernen Schlachtszene dekoriert: Okkulte Gestalten schienen im Schutz der Finsternis um die Vorherrschaft zu kämpfen. Die Kreaturen erlagen schließlich der Kraft des Kreuzes, welches von zwei Mönchen gen Himmel gehoben wurde oder der des Knoblauchs, der um die Pfeiler nahe der Tür gewickelt worden war.
 

„Haha! Hier sind wir richtig“, triumphierte der Alte, kaum hatte die kleine Gruppe die Kutsche verlassen, „Das ist Knoblauch! KNOBLAUCH! Sehen Sie, Monsieur Agreste! Diese Gestalten sind Vampire. Eindeutig! Die Zähne, beachten Sie die Zähne! Und – und das Kreuz. Ich spüre es. Unser Ziel ist ganz nah!“

Damit stampfte er frohen Mutes in das Gasthaus, ohne weiter auf die Mitreisenden zu achten.

„Père... Dieser Mann ist durchgedreht“, zischte Adrien, kaum war Abronsius außer Hörweite, „Solche Verzierungen gibt es auch in Paris. An jeder zweiten Kirche kämpfen Engel gegen Dämonen und dort wohnen auch keine Drachen! Lass uns umkehren und-“

„Nein... Deine Mutter hat nicht mehr viel Zeit. Ihre Genesung liegt praktisch in den Händen dieses Mannes. Selbst wenn wir umkehren und doch nach Sighișoara reisen sollten, könnte es Tage, wenn nicht Wochen oder Monate dauern, bis wir einen Vampir gefunden haben. Wer weiß ob Emilie noch solange leben wird. Dieser Professor ist ein Experte auf dem Gebiet des Vampirismus. Wenn einer einen Vampir aufspüren kann, dann er. Wir bleiben.“

„Aber-“

„Wir.Bleiben!“, knurrte seine Vater wütend und gestikulierte dem Hünen Emilie in das Gasthaus zu tragen.
 

Kaum war die Tür aufgetan, schwappte ihnen eine Welle aus Wärme, stickiger Luft und Knoblauchdunst entgegen, ganz zu schweigen von den feindseligen Blicken der Einheimischen. Die Musik war schon mit Abronius' Eintreten verstummt.

Adrien kommentierte das lediglich mit „super Stimmung“ und schlürfte genervt mit dem Mädchen im Schlepptau zu dem Tresen, an dem das einzige freundliche Gesicht zu finden war. Wobei 'freundlich' eher im Sinne von schmierig grinsend zu verstehen war.
 

Der ältere wohlbeleibte Mann mit den aschblonden fettigen Haaren rieb sich die Hände und beugte sich leicht nach vorn, während er sprach: „Willkommen willkommen in unserem bescheidenen Gasthaus, meine Herren. Was kann ich für Sie tun?“

„Ihre besten Zimmer“, ergriff Gabriel das Wort, „Dazu eine Schüssel heißes Wasser und ein warmes Mahl für jeden von uns.“

Ein Weib tauchte wie aus dem Nichts neben dem Wirt auf und stierte den Designer grimmig an. Ihr von Altersflecken übersätes Gesicht war noch faltiger, als das des Professors - Ein Umstand, den Adrien eigentlich für unmöglich hielt. Die krumme ungesunde Haltung ließ sie noch winziger erscheinen, sodass sie ihren Gegenüber kaum bis zur Hüfte reichte.

Ihre krächzende Stimme bestärkte das Bild einer sterbenden Krähe noch, welches sie abgab: „Mir gefällt deine arrogante Art nicht, Grünschnabel. Du kommst hier herein stolziert, wie ein Pfau und herrschst meinen Sohn an, als wäre er dein Sklave. Das passt mir nicht, nein ganz und gar nicht.“

Der Angesprochene hob lediglich eine Augenbraue, griff in seinen hellen Wintermantel, um sein Portemonnaie hervorzuholen und mehrere Münzen über den Tresen zu schieben, wobei er penibel darauf achtete, dass er nicht mit dessen verdreckter Oberfläche in Berührung kam.
 

Die stumpfen Augen der Frau leuchteten auf und ihre mit zahllosen Ringen besteckte Hand schnellte nach vorn, um die Münzen mit ihren Zähnen auf deren Echtheit hin zu überprüfen. Dann wand sie sich an ihren Sohn: „Worauf wartetest du noch, Horia? Wir haben zahlende Gäste. Mach dich an die Arbeit! Grăbește-te!” Sie schnaufte herrisch und betrachtete die Gruppe vor sich.

„Entschuldigt die raue Begrüßung, aber oft kommen Hausierer in dieses Gasthaus, die vor dem herzlosen... äh... Wetter fliehen.”

„Dem Wetter? Dem Wetter! Pah! Es ist nicht das Wetter, wovor sie Schutz suchen, nicht wahr?”, mischte sich der Professor wirsch ein und drängelte Agreste Senior grob zur Seite, „Es sind die Blutsauger, die Blutsauger!”

Sofort brach ein wüstes Gemurmel aus. Alle Gäste des Wirtshauses schienen um ein paar Nuancen bleicher geworden zu sein, auch wenn man es unter dem Schmutz sowie den Lumpen, die sie ihr eigen nannten, kaum erkennen konnte.

Die Krähe zuckte leicht zusammen, nur um knarzend zu erwidern, dass auch die Wölfe gefährlich seien, vor allem zu dieser Jahreszeit.

Das machte selbst Adrien stutzig. Diese abwegige Reaktion war keinesfalls normal. Irgendetwas verheimlichten diese Leute. Vielleicht trieb hier ja doch jemand sein Unwesen. Ein Mörder, der Freude daran hatte des Nachts wehrlose Passanten zu überfallen.

Die Einheimischen schenkten den Neuankömmlingen allesamt ein unheimliches falsches Lächeln, ehe sie ihre Nasen, so unauffällig, wie nur möglich wieder in ihre Metkrüge versenkten und über den Schneefall sinnierten. Ein anderer begann erneut die Violine zu spielen, wenn auch die Musik ein wenig gequält erschien.
 

„Aus denen kriegen wir nichts heraus”, nuschelte der Professor in seinen Bart und schüttelte ungläubig seinen Kopf. Adriens Vater pflichtete ihn bei und versuchte es mit einem kleinen Strategiewechsel.

„Auf dem Weg hierher konnten wir die Türme eines Schlosses erblicken. Steht es zum Verkauf?”

„Ein Schloss?”, wiederholte die Alte mit einem nervösen Unterton, „Du musst dich irren, Jüngling, hier-”

„Unmöglich”, unterbrach ihr Sohn sie, als er mit einem Tablett zurückkam auf dem dampfende Schüsseln mit Suppe ruhten, „Das Schloss kann man von hier aus gar nicht sehen.”

„Taci!”, fuhr das Weib ihn an und gestikulierte eine Ohrfeige, „Mein Sohn ist nicht ganz bei Trost. Er hat wohl etwas zu viel getrunken.”

Der Wirt biss sich auf die Unterlippe, richtete aber ohne weitere Kommentare einen Tisch her. Die Jüngsten der Gruppe fackelten nicht lang und machten es sich auf den Stühlen bequem. Hungrig schlangen sie die Suppe herunter, deren Hauptbestandteil -wie sollte es auch anders sein- Knoblauch war. Aber es war immerhin ein warmes Mahl. Der Professor gesellte sich schon bald dazu. Anscheinend siegte der Hunger über seine Wissbegierde.
 

Gabriel zögerte noch etwas. Einerseits war das Verhalten dieser Leute mehr als verdächtig - Hier musste ein Vampirgraf auf die Jagd gehen. - andererseits war es sinnlos weiter die Dorfbewohner auszufragen, auch wenn diese die einzige Spur darstellten. Sie würden nicht reden, so viel war klar. Vermutlich lähmte die Angst ihre Zungen.

Nur der Teufel wusste über was für diabolische Fähigkeiten diese Kreaturen verfügten. Vielleicht wurde er in diesem Moment beobachtet? Sein Blick wanderte zu einem der vergilbten Fenster.

Draußen wütete noch immer der Schneesturm. Flocken wirbelten im Schein einer vereinzelten Laterne umher.

Dann stellten sich plötzlich seine Nackenhaare auf. Der Designer spürte wie seine Beine sein eigenes Gewicht nicht mehr tragen wollten und er in sich zusammen zu brechen drohte, hätte ihn nicht die besorgte Stimme seines Sohnes aus seiner Trance befreit. Er holte tief Luft, von der er nicht einmal wusste, dass er sie die ganze Zeit angehalten hatte. Dann schüttelte er den Kopf und strich sich über die müden Augen. Als er sie wieder öffnete und sich erneut dem Fenster zu wand, war sie verschwunden: Die Gestalt, der Schatten, den er glaubte gesehen zu haben. Diese Gestalt, die im Schutz der Nacht lauerte, fern vom Licht, welches die Lebenden stets zu umhüllen scheint. Diese Gestalt, die raubtierartig ihre Beute inspiziert, um auf den perfekten Moment zu warten um zuzuschlagen.
 

Erneut schüttelte er den Kopf und bändigte ein paar widerspenstige graue Strähnen, die sich in sein Gesicht verirrt hatten. Es war eine anstrengende Reise gewesen, ganz zu schweigen von den ermüdenden Monaten. Seine Fantasie musste ihm einen Streich gespielt haben.
 

Adrien beorderte gerade eine zweite Schüssel Knoblauchsuppe, als ihm auffiel, dass nicht alle zu Tisch gekommen waren. Die Abwesenheit des Kutschers war schnell geklärt. Er saß mit Emilie in den Armen am Kamin und wärmte seine Knochen. Doch auch sein Vater fehlte. Nicht das dieser sich viel aus gemeinsamen Essen machte... Der Blondschopf sah sich kurz um, eh er den Älteren ertappte, wie er geistesabwesend aus den Fenster starrte. Dass er dort etwas interessantes erkennen konnte, war äußerst unwahrscheinlich, immerhin ließen das die dreckigen Scheiben kaum zu. Der Junge schnaufte kurz und wollte sich daran machen, sein Essen zu verspeisen, als er im Augenwinkel sah, wie sein Vater einfror. Sämtliche Farbe verschwand aus seinem geschockten Gesicht. Dann fing er an zu zittern und unsicher nach hinten zu taumeln.

„Vater, was ist mit dir?” Keine Antwort. „Père?” Der Angesprochene zuckte kurz zusammen, schüttelte ungläubig seinen Kopf, rieb sich über die Lider und betrachtete wieder das Fenster. Dieses mal schien er nichts ungewöhnliches zu sehen, denn er entspannte sich sichtlich und knurrte etwas mit einem verächtlichen Ton.
 

Als Gabriel bemerkte, dass sämtliche Blicke auf ihm gerichtet waren, räusperte er sich kurz. „Ich... Ich werde in meinem Zimmer zu Abend essen”, murmelte er möglichst beiläufig, schnappte sich eine Schüssel und nickte den Hünen am Kamin zu, der sich auch sogleich in Bewegung setzte. Dann sagte er etwas zu der Krähe, die sich daraufhin die Hände rieb und ihn mit ein paar Weinflaschen bewaffnet folgte. Adrien konnte nur genervt mit den Augen rollen. Das würde eine lange Nacht werden. Er nahm einen weiteren Schluck von der Knoblauchsuppe. Es war schon seltsam. Diese Menschen schienen regelrecht süchtig nach Knoblauch zu sein. Überall konnte man ihn entdecken. Die Knollen hingen sogar von der Decke und um den Hälsen der meisten -nein bei näherer Betrachtung – um den Hälsen aller, die hier lebten. Der verwirrte Jüngling wand sich an den Wirt, der ein weiteres Tablett jonglierte: „Warum habt ihr alle Knoblauchketten um den Hals? Ist das hier Mode oder so?“

Dieser wurde augenblicklich bleich und hätte beinahe seine kostbare Fracht fallen gelassen. Auch die anderen Leute hielten Ihrer der Bewegung inne. Die Musik verstummte mit einem schrecklichen schiefen Ton. Die Alte blieb so abrupt stehen, dass Agreste Senior beinahe über sie stolperte.

„Knoblauch?“, wiederholte der dickliche Mann und kratzte sich am Hinterkopf.

„-hilft gegen vielerlei“, unterbrach ihn seine Mutter mit einem falschen beinahe zahnlosen Lächeln, ehe er sich wieder verplappern konnte.

„Und gut fürs Herz, ganz nebenbei“, stieg der Violinenspieler mit ein.

„Es hilft gegen Pickel“, kreischte eine Frauenstimme von hinten gefolgt von einem, „Und ist gut für die Standfestigkeit. Ha!“ Es brach ein wüstes Durcheinander an Stimmen aus, die allesamt die Nützlichkeit der Knolle priesen und das in einer Lobeshymne gipfelte.
 

„Komm mit, Bursche“, krächzte die Krähe über den Lärm hinweg, „Dein Zimmer ist gleich da vorn.“

Bitte, mein[e] Herr[en]

Gabriel wusste nicht, was er erwartet hatte. - Die Einheimischen hatten schließlich eine gänzlich andere Vorstellung von Behaglichkeit, Stil und nicht zu vergessen Hygiene. - Aber allein der Anblick des verstaubten Flures, der mit alten dunklen Holz ausgekleidet und mit Spinnweben dekoriert war, genügte, um ihn einen leichten Anflug von Klaustrophobie zu bescheren. Dabei litt er noch nicht einmal unter dieser Krankheit.

Das Zimmer, was gegen der Aussage der Alten ganz am Ende des Ganges lag, kam diesem in puncto Charme sehr nah.

„Unsere Luxussuite, Jungchen. Etwas besseres findest du nirgendwo!“

Er setzte an ihr zu widersprechen, besann sich aber. Zwar war die 'Luxussuite' kaum größer als seine Kutsche und das Mobiliar war vermutlich zusammengenommen so viel Wert, wie sein linker Schuh, aber er konnte sich schlecht zu dieser Uhrzeit eine neue Bleibe suchen.

Die Krähe stellte ihn die Weinflaschen auf den Tisch und entfernte sich, was von einem unheimlichen Knarzen der Dielen begleitet wurde.

Auch der Kutscher ließ ihn allein, kaum hatte er seine wertvolle Fracht auf der gelblichen Matratze gebettet.
 

Emilie schlief. Sie wusste nichts von den Strapazen der letzten Monate. Nur die Schmerzen drangen durch ihren ohnmächtigen Geist und ließen ihre Glieder zucken. Auch Tränen rannen über ihr verzerrtes Gesicht, wenn die Pein sie zu übermannen drohte. Ein Anblick, der Gabriels Herz jedes mal aufs neue zerbrach. Vorsichtig wischte er die Tränen beiseite, strich ihr über die fiebrig heiße Stirn und deckte sie zu. Er ließ sich in einen Stuhl fallen, unweit seiner todkranken Frau. Kurz schwankte er zwischen der Knoblauchsuppe, die ungerührt in seiner Hand verweilte und dem Wein. Da er allerdings kaum Appetit verspürte, schob er die Schüssel beiseite und öffnete die erste Flasche.

„Ich habe er bald geschafft, Liebste“, raunte er kaum hörbar, „Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis-“ Er schluckte schwer und kämpfte gegen die Bitterkeit an, die sich wie ein schwerer Mantel über seine Seele gelegt hatte. „Du musst nur noch ein wenig durchhalten.“

Mit zittriger Hand befüllte er zwei matte Tonkelche mit dem Wein.

Er hauchte „auf deine Gesundheit, meine Liebste.“, erhob den Kelch und spülte seine Sorgen hinfort.

Keuchend stützte sich Gabriel auf dem Tisch ab, als der Alkohol brennend seinen Weg bahnte und eine erleichternde Taubheit hinterließ. Zwar hatte diese Flüssigkeit nichts mit Wein gemein, doch trank er ihn auch nicht seiner kulinarischen Qualität wegen.
 

Dieser Moment in der Wirtsstube kam ihn wieder in den Sinn. Entsprang dieses Wesen nur seinem erschöpften Geist? War es wirklich nur eine Ausgeburt seiner Fantasie, ausgelöst durch die Anwesenheit von Professor Abronsius? Oder hatte er wirklich, kaum dass sie einen Fuß in dieses verfluchte Dorf gesetzt hatten, einen Vampir gesehen?
 

Aber wenn ja, warum nur hatte er dann so ein seltsames Gefühl? - Als würde ihn etwas warnen wollen, den letzten Schritt zu gehen? Ging es hier nicht um seine Frau? Die Liebe seines Lebens? Hatte er ihr nicht schwören müssen, alles zu tun, was möglich ist, um sie vor dem Tode zu bewahren? Warum hatte er dann dennoch mit dieser Angst zu kämpfen? Diese tiefe Furcht vor dem Wesen, was das Ziel seiner Suche darstellte. Er sollte sich nicht scheuen, dieser Kreatur entgegen zu treten. Diesem Engel der Dunkelheit, der die Ewigkeit verspricht.

Und trotz allem hatte er sich noch nie so gefürchtet, als er den Blick dieser eisig blauen Augen spürte, der ihn zu durchdringen vermochte. Er kam sich vor, wie ein gehetzter Fuchs bei der Treibjagd.
 

Er nahm einen weiteren großen Schluck. Dieses mal schien das Brennen schneller zu verebben.
 

Nein. So kurz vor dem Ziel würde er nicht aufgeben. Er leerte den Kelch in einem Zug und schenkte sich neu ein. Das war die letzte Chance, die Emilie geblieben war. Ihr geschundener Körper drohte gegen die Krankheit zu verlieren. Wer wusste schon, wie viel Zeit ihr überhaupt noch geblieben war?

Seine restlichen Zweifel verschwammen allmählich. Komme was wolle, er würde diesen Vampir finden und dann würde er dafür sorgen, dass der Emilie den Kuss der Unsterblichkeit verleiht.

Ein[e schöne Tochter] schöner Sohn

Was auch immer das für ein Getränk war, es wirkte schnell. Der Alkohol hatte Gabriels Geist schon beim dritten Kelch so benebelt, dass er das Klopfen kaum wahrnahm. Das war sicherlich auch der Grund, weshalb er nicht gehört hatte, wie die Dielen die nahende Anwesenheit quietschend angekündigten.

Vermutlich war es Adrien, der sich zu Bette begeben wollte. Seine Zunge war seltsam schwer, als er ihn herein bat.
 

„Guten Abend“, erklang es in einem vornehmen vom rumänischen Dialekt gezeichneten Französisch, „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“ Die erhabene Stimme kam von einer dunklen Gestalt, die langsamen Schrittes auf ihn zu flanierte.

Der Designer stutzte kurz. Was nahm sich dieser Fremde heraus ihn zu stören? Oder war es am Ende ein Bediensteter des Hauses, der ihn mit neuem Wein versorgen sollte?

So oder so, es war eine seltsame Person.

Es mochte an der nicht ganz unerheblichen Menge an Alkohol liegen, aber der überraschende Besuch wirkte geradezu übermenschlich. Seine Bewegungen waren fließend, als würde er schweben. Sein Antlitz, welches hinter einem schwarzen Zylinder und einem ebenfalls schwarzen dicken Umhang verborgen war, wirkte so rein, als wäre es von Künstlerhand aus Porzellan gefertigt worden. Und in seinen strahlenden blauen Augen schien sich der Himmel eines klaren Wintertages zu spiegeln.
 

Der Fremde ließ sich ungefragt auf den gegenüber stehenden Stuhl gleiten und meinte: „Gabriel Agreste, wenn ich mich nicht irre?!“ Der Angesprochene nickte nur und nahm einen weiteren Schluck, wobei er permanent von einem eisigen Augenpaar beobachtet wurde.

„Erwarten Sie Besuch, mein Herr?“ Er verwies auf den vollen unberührten Kelch zu der Linken des Älteren.

„Für meine Frau“, erklärte dieser knapp, schenkte sich erneut ein und stellte die leere Flasche ungeschickt beiseite.

Sein Gast wand sich zu Emilie.

„Ich versteh. Nun ich befürchte allerdings, dass sie in ihrem Zustand kein Alkohol zu sich nehmen sollte. Wenngleich dieser Trunk, den die Einheimischen als Wein betiteln, wohl jedem Körper schädigt, ungeachtet dessen, ob er an einer unheilbaren Krankheit leidet oder nicht.“

Die Gestalt nahm den Kelch, schwenkte ihn kurz und trank ihn in einem Zug aus, wobei er stets den Grauhaarigen im Blick hatte.
 

Gabriel tobte innerlich. Wie konnte er es wagen, ungeladen in sein Zimmer einzudringen und den für Emilie bestimmten Kelch zu leeren? Er wollte ihn anherrschen. Er wollte diesen dreisten Eindringling am Kragen packen, ihn für seine Unverfrorenheit züchtigen und ihn anschließend aus seiner Kammer verbannen.

Doch er konnte es nicht. Die blauen Augen schienen ihn zu fesseln. Ein jede Bewegung faszinierte ihn mehr: Wie er langsam den Kelch abstellte und seine Zunge die letzten Tropfen des rötlichen Saftes von seinen Lippen leckte, wie seine Hand in den Umhang glitt und eine teuer anmutende Flasche hervor zauberte, diese öffnete und beiden einschenkte. Es war, wie in einem Traum. Der Modeschöpfer nahm, einer Hypnose gleich, seinen Kelch und führte ihn zu seinem Mund.
 

„Ein edler Tropfen“, nuschelte er sichtlich um gute Artikulation bemüht.

„In der Tat... Allerdings sollte man ihn mit Vorsicht genießen. Der Geschmack täuscht schnell über den Gehalt hinweg“, antwortete sein Gegenüber und genehmigte sich einen winzigen Schluck, den er mit der Manier eines Sommeliers genoss.

Gabriel nickte kurz und starrte in seinen bereits zur Hälfte geleerten Kelch.

„Woher wissen Sie das?“

„Bitte?“

„Meine Frau... Sie ist todkrank, haben Sie gesagt. Woher? Sind Sie Arzt?“

„Mitnichten“, erklärte der Fremde kühl. „Es ist nicht zu übersehen. Doch auch ohne hinreichende medizinische Ausbildung, kann ich doch behaupten, dass diese kalten Gefilde für ihre Gesundheit wohl kaum vom Vorteil sein werden. Dürfte ich den Grund Ihrer Reise erfahren, mein Herr?“
 

Wäre er nüchtern gewesen, hätte er diese unverfrorene Frage sofort abgeschmettert. Aber Alkohol hat nun mal die bekannte Wirkung die Zunge nicht nur zur beschweren sondern gleichzeitig auch zu lockern.

„Wir sind nicht wegen der guten Luft hier“, brummelte er, „Schon mal was vom Kuss der Unendlichkeit gehört? Vampire, Sie wissen schon!“

Sein Gesprächspartner hielt inne und dessen blaue Augen weiteten sich überrascht.

„Ich bin hier, um einen dieser verdammten Blutsauger zu finden, zu fangen und ihn zu zwingen meine Frau zu heilen.“

„Ein... interessanter Plan, wenn Sie mir gestatten das zu sagen. Wie kommen Sie darauf, dass dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt sein wird, mein Herr?“ Die Gestalt nippte an dem Wein.

„Ich weiß es einfach!“

Ein Mundwinkel des Gastes zuckte verdächtig nach oben. „Ihre Naivität in allen Ehren, doch ich wage zu behaupten, dass der Preis des etwaigen Triumphs kaum den Einsatz aufzuwiegen vermag.“

Gabriel blinzelte zweimal und versuchte angestrengt die Worte in seinem vernebelten Verstand zu ordnen.

„Ich meine, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Sie Ihr Vorhaben umsetzen können, ohne selbst das Leben zu lassen.“

Ein Schnaufen entkam den Designer. „Opfer müssen gebracht werden. Ich werde alles geben, um Sie zu retten.“

„Gilt das auch für Ihren Sohn, mein Herr?“ Der Fremde hatte nun eindeutig ein Lächeln auf seinen sonst so stoischen Zügen. „Würden Sie auch sein Leben geben? Ein menschliches Leben für ein unsterbliches. Ein fast schon unschlagbares Angebot, meinen Sie nicht auch?“

„Was fällt Ihnen ein?!“ Außer sich sprang der Grauhaarige auf, stieß dabei seinen Stuhl um und packte den ungebetenen Besuch am Kragen. „Niemals würde ich mein Kind hergeben!“
 

Er ließ von ihm ab, um sich, des aufkommenden Schwindelgefühles wegen, auf dem Tisch abzustützen. Sein Gegenüber richtete seine Kleidung und führte unbeirrt fort: „Ich bitte um Verzeihung, mein Herr. Das war taktlos von mir. Ich habe selbst... kein gutes Verhältnis zu meiner Brut. Ich vergesse oft, dass das nicht selbstverständlich ist. Doch erschien mir Ihre Beziehung ebenfalls sehr... unterkühlt.“

„Ich bin kein sonderlich guter Vater. Das ist mir bewusst – Ich... Meine Frau war stets der fürsorgliche Part in der Erziehung und seit dem sie... Ich habe das Gefühl, dass er mir immer mehr entgleitet. Aber NIE würde ich ihn hergeben! Er ist das wertvollste, was ich besitze... “

„Ich versteh... Sie müssen sehr stolz auf ihren Sohn sein“, bemerkte die dunkle Gestalt, was ihrem Gesprächspartner zu einem Lächeln bewog.

„Sie sollten ihn sehen! Er ist ein prachtvoller Bursche. Warum Gott mich mit so einem stattlichen Knaben gesegnet hat, werde ich wohl nie verstehen.“

Der Fremde verzog kurz das Gesicht. „Gottes Wege sind unergründlich, wie ein altes Sprichwort besagt.“

„Sie sagen es! Er ist geschickt, intelligent und sein Lächeln erweicht jedes Herz... Er ist perfekt – perfekt, wie seine -“, er brach ab und wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu seiner Frau, „wie seine Mutter.“
 

Er ließ die Tischkante los, bewaffnete sich mit seinem Kelch und wankte zu Emilie, um sich neben ihr auf der Bettkante niederzulassen. Mit glasigen traurigen Augen betrachtete er sie und trank den restlichen Wein in einem Zug aus. Dabei beachtete er nicht, dass ein Teil des Trunks seinem Mund verfehlte, um sein Hemd rötlich einzufärben.

Der Fremde verfolgte ihn mit seinem Blick, schloss anschließend seine Augen und erhob sich elegant.
 

„Sie werden ihre Pläne also nicht verwerfen?“, die Stimme des unheimlichen Besuchers nahm einen lauernden Ton an. Er zückte ein schneeweißes Spitzentuch und reichte es seinen unfreiwilligen Gastgeber.
 

„So sei es. Sie werden finden, was Sie suchen, mein Herr.“

Ein Mädchen, das so lächeln kann

Es war schon weit nach Mitternacht, als die letzten Gäste aufbrachen. Der Schneesturm hatte sich gelegt. Nur noch vereinzelt fielen kleine Flocken gen Boden. Auf der aufgeklarten Himmelscheibe schimmerten abertausende Sterne und der helle Mond machte die Laternen beinahe überflüssig.

Ohne das laute fröhliche Geigenspiel war es angenehm still. Lediglich das Klirren der Krüge, welches aus der Küche schallte und das Wiehern der Pferde, die der Kutscher in einen nahegelegenen Stall unterbrachte, war zu hören.

Die Luft war immer noch stickig, obwohl alle gegangen waren. Selbst der Professor war zu Bett gegangen.
 

Adrien und Marinette hatten es sich vor dem Kamin bequem gemacht, dessen Feuer so tief heruntergebrannt war, dass nur noch die Glut glimmte, was ihm nicht davon abhielt die Gaststube unerträglich aufzuhitzen.

Der Blonde seufzte laut und streckte sich. Er war von der langen Reise erschöpft und wäre am liebsten ins Bett gefallen, aber die Vorstellung seines betrunkenen Vaters und dem Gestank nach Alkohol schreckte ihn zu sehr ab. Vielleicht sollte er noch einmal frische Luft schnappen.
 

Kaum hatte er den Gedanken gefasst, erhob er sich, bekleidete sich mit seinem dicken Wintermantel und wand sich zum Gehen. Ein leises Rascheln verriet ihm, dass seine Begleiterin es ihm gleich tat. Die kalte Winterluft kam ihnen entgegen und fraß sich durch ihre Kleider, kaum hatten sie die Tür durchschritten. Trotz oder gerade wegen des Frostes war die Luft reiner, als der Junge es je aus Paris kannte.

Der Schnee glitzerte im Schein der Laternen und vereinzelt tanzten Flocken um die beiden herum, als sie langsam durch die kaum erkennbaren Straßen des Dorfes flanierten. Die Häuser waren zwar klein, hatten aber einen rustikalen Charme, was man von den Einheimischen nicht behaupten konnte. Ein jeder schien das Pärchen mit feindlichem Blicken zu beobachten, sobald sie an ihren Fenstern vorbei schritten. Vorhänge wurden zugezogen, ehe man in die Stuben schauen konnte.
 

„Ein seltsames Dorf ist das hier“, murmelte Adrien und verzog dabei leicht das Gesicht.

Marinette nickte kurz und pflichtete ihm bei: „J-ja... Die Greif äh- Angst... viel ähm...“

Seine Augenbraue wanderte nach oben. Vielleicht hatte die Blauhaarige eine Sprechstörung, obwohl sie im Umgang mit dem Professor keine Probleme hatte. Oder es war die Kälte, die sie so stark erzittern ließ, dass sie keinen vernünftigen Satz zustande bekam. Das würde auch ihre erröteten Backen erklären.

Er schnaufte abfällig: „Ja... Abergläubisches Pack... Als ob es Vampire wirklich geben würde!“

Zu spät viel ihm auf, dass er sich mit der Assistentin eines Mannes unterhielt, der sein Leben der Erforschung der Blutsauger gewidmet hatte. Peinlich berührt murmelte er eine Entschuldigung, doch das Mädchen lächelte nur leicht und schüttelte den Kopf.

„Schon gut... Ich...ähm... glaube in Wirklichkeit gar nicht an Vampire.“

„Bitte?!“, empörte sich Adrien lautstark, „Aber du-“

„Ich bin hier, um zu beweisen, dass es keine Vampire gibt.“

Darauf wusste der Blondschopf keine Antwort. Er konnte lediglich verwirrt blinzeln.

Seine Begleiterin schmunzelte gedankenverloren und fuhr fort: „Weißt du.. Ich- ähm-...sollte eigentlich mit niemanden darüber sprechen... Aber... Ich weiß, dass du es verstehen wirst...
 

„Der Professor war nicht immer so, wie er heute ist. Er... Er war ein Genie. Jedes noch so erdenkliche Problem konnte er lösen. Er war ein Koryphäe auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Seine Logik hat viele angebliche Geister, Hexen und Monster überführt. Für ihn existierte nichts Übernatürliches auf der Welt.

Er lebte mit seiner Frau, seiner Tochter und deren Kindern eine Zeit lang in Paris. Wir waren Nachbarn und gut befreundet. Ich spielte oft mit Isabelle – So hieß eine seiner Enkeltöchter. Sie war meine beste Freundin und- Ah! Ich schweife ab. Also ähm... Er war geachtet, hoch intelligent und hatte eine wundervolle Familie... Nun ja... Und dann...“

Marinette machte eine Pause und atmete schwer. In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen.
 

„Ich wurde durch die hellen Flammen wach. Abronsius' Schreie werde ich nie vergessen. Er rief verzweifelt ihre Namen. Immer und immer wieder. Doch sie waren schon tot, noch bevor das Feuer gelegt wurde. Er konnte als einziger gerettet werden. Man fand ihn in einem Meer aus Flammen an einem Stuhl gefesselt. Anscheinend musste er mit ansehen, wie seine gesamte Familie ermordet wurde.“
 

Adrien schluckte schwer, als sich sein Kopf die schrecklichen Bilder ausmalte. Der Professor, jung an Jahren, an einen Stuhl gefesselt. Vor seinen Augen starben gerade seine Frau, seine Tochter und seine kleinen Enkelkinder. Und er konnte nichts tun. Ihm waren im wahrsten Sinne des Wortes, die Hände gebunden. Was für eine grauenhafte Geschichte.

„Und dann?“, fragte er leise und unsicher, ob er die Fortsetzung wirklich hören wollte.

„Er begann zu fantasieren. Er sagte, ein Vampir habe seine Familie getötet, um ihn zu beweisen, dass es das Übernatürliche wirklich gibt. Natürlich glaubte ihn keiner in Frankreich, dafür aber in Königsberg. So zog er aus, um Vampirismus zu studieren. Über die Jahre sammelte er immer mehr angebliches Wissen an, sprach mit 'Experten' und ernannte sich bald selbst zu einen. Die Welt der Wissenschaft wandte ihm den Rücken zu und er wurde von seinen ehemaligen Kollegen nur noch als Spinner verspottet.“

„Aber deine Familie hat ihm geglaubt?“

„Nein natürlich nicht... Aber wir haben es hingenommen, in der Hoffnung, dass er bald zur Vernunft kommen würde...

Nun ja... Vor vier Jahren wurde es jedoch noch schlimmer. Die Geschichte kennst du ja...
 

„Wir wollen ihn helfen wieder zur Vernunft zu kommen, in dem wir ihn zeigen, dass es keine Vampire gibt. Verstehst du?! Wir halten es einfach nicht aus, dass ein guter Freund von uns immer mehr seinen Wahnvorstellungen zum Opfer fällt.“
 

Sie sah ihn tief in die Augen und mit einem Schlag, wurde Adrien bewusst, warum sie ihn all das erzählte: Sie sah in ihm einen Leidensgenossen. Jemand, der einen für ihn wichtigen Menschen an den Glauben an diese Monster zu verlieren droht.

Der Junge nahm eine entschlossene Haltung an und fasste eine ihrer Hände.

„Wir werden es schaffen“, verkündete Adrien und sah ihr tief in die Augen, „Wir werden den hiesigen Grafen finden und beweisen, dass er kein Blutsauger ist!“

Marinettes Wangen erröteten. Schüchtern nickte sie zurück und schenkte ihn ein kleines aber bezauberndes Lächeln.
 

Eine Weile lang liefen sie einfach nur schweigend nebeneinander her, ein jeder tief in Gedanken. All ihre jahrelangen Sorgen schienen nichtig. Sie gaben sich gegenseitig Halt, ohne sich dessen bewusst zu sein.
 

Adrien war der Erste, der das Schweigen brach: „Meine Mutter war das blühende Leben. Sie war bildschön, beliebt und immer von Menschen umringt. Als es ihr noch besser ging, organisierte sie fast jedes Wochenende prächtige Feste oder verreiste mit ihren Freunden in ferne Länder. Vater hingegen war schon immer eher ein Einzelgänger. Nur meiner Mutter zu Liebe begab er sich unter Leute.

Als sie dann... erkrankte... brach eine Welt für ihn zusammen. Sie war sein Ein und Alles. …
 

„Er... kann ihr nicht helfen und das weiß er auch. Aber er kann ihren kommenden Tot einfach nicht wahrhaben. Er hat schon alles versucht. Und ich meine wirklich alles: Hexen, Mönche, Zaubertränke... Doch nichts kann ihr helfen. Sie stirbt, doch ich darf nicht trauern. Ich darf nicht mit ihren Leben abschließen, weil mein Vater es nicht kann, verstehst du? Ich... Ich werde beide verlieren, Marinette. Wenn meine Mutter stirbt, wird sein Herz brechen und sein Körper wird es ihm gleichtun. Meine einzige Chance wäre, dass er vorher aufgibt – dass er endlich einsieht, dass es Dinge gibt, die unaufhaltsam sind.“

„Das heißt... Er will einen Vampir finden, um deiner Mutter zu helfen?“, hauchte Marinette und blickte ihn geschockt an.

Die Blonde nickte und starrte in den Nachthimmel. Die Sterne funkelten.

„Ich... äh... Wir... Wir werden es sicher schaffen.“

„Danke“, murmelte er mit einem leichten Lächeln.
 

Erneut entstand eine lange Pause, in der beide nur schweigend durch den Schnee flanierten.

Erst ein paar Minuten später fiel Adrien auf, dass er gar keine Häuser mehr sah. Sie wurden durch dicke Bäume abgelöst, deren Wipfel sich unter der schweren Schneedecke bogen.
 

„Wir sollten zurück gehen“, bemerkte er und wand sich um. Doch zu seinem Schrecken, konnte man ihre Fußspuren nicht mehr erkennen. Auch schienen sich die Bäume bewegt zu haben, denn nichts erinnerte mehr an ihren Hinweg.

„H-Haben wir uns etwa verirrt?“, stotterte Marinette und suchte erbleicht nach irgendeinem Hinweis, der sie wieder ins Dorf führen würde. Doch die dicken Baumstämme versperrten den Blick auf etwaige Laternen oder Hausdächer.

Auch Adriens Gesicht hatte sichtlich an Farbe verloren. Die Kälte kroch ihn bereits unter die Haut.
 

Wenn sie nicht schnell zurück finden würden, dann...

Gott ist tot

Sie würden sterben.
 

Was für eine bittere Ironie. Er war hier, um das Leben seiner Mutter zu retten und dabei würde er sein eigenes lassen. Was hatte ihn auch bewogen mitten in der Nacht in diese Kälte zu gehen? Hatte er vielleicht unbewusst den Tod gesucht? Wollte er diesem deprimierenden Dasein entfliehen, seiner sterbenden Familie?
 

Zitternd schlang Adrien die Arme um seinen Oberkörper und sah zu seiner Begleitung. Dank ihm würde auch sie erfrieren. Ihre Eltern würden vermutlich nie erfahren, wie sie gestorben ist. Ihre leblosen Körper würde man nie finden. Die Wölfe würden sie zuvor zerreißen und nur ein paar Knochen zurück lassen. Am Ende wären sie nur zwei Verschollene, an deren Namen sich in ein paar Monaten niemand mehr erinnerte. Der Professor und der ältere Agreste würden vermutlich einen Vampir dafür verantwortlich machen und bei ihrer Suche endgültig dem Wahnsinn verfallen. Was für ein grausames Schicksal.
 

Das Mädchen hatte Tränen in den Augen und ihre Hände zum Gebet gefaltet. Anscheinend hoffte sie das Gott ihnen helfen würde, doch Adrien hatte schon längst den Glauben verloren. Gäbe es einen Gott, hätte er nie zugelassen, dass seine Mutter erkrankt.

Irgendwann war Marinette auf ihre Knie gesunken. Der Blonde ließ sich neben ihr nieder und versuchte ihr ein wenig Wärme zu schenken, in dem er sie umarmte. Doch das hielt den Frost nicht ab ihrer beider Lippen blau zu färben.
 

„Ich... Ich flehe dich an, Herr“, flüsterte sie zitternd und vergrub ihr Gesicht in Adriens Wintermantel, „Ich... Ich will noch nicht sterben... Ich... Bitte lass uns diese Nacht überstehen. Schicke einen deiner Engel, der uns zurück führt.“
 

„Das hat keinen Sinn“, hauchte der Junge und drückte sie fester an sich, „Es gibt keinen Gott und wenn, dann sind wir ihm gleichgültig.“ In seinen Geist kämpften sich finstere Erinnerungen an tränennasse Stunde, die er mit Gebeten verschwendet hatte. Nächte, die er damit zugebracht hatte um das Leben seiner Mutter zu bitten.
 

Doch seine Begleiterin schüttelte energisch den Kopf. „Herr! Verschone unser Leben - Meines, das von Adrien und-“

Sie zuckte heftig zusammen, als ein Ast lautstark nahenden Besuch ankündigte. Auch Adrien spannte sich an und starrte in die Finsternis. Hatten die Wölfe sie gefunden? Doch was war das? Ein Licht schaukelte unheimlich in der Dunkelheit, als wolle es Motten anziehen und in seinen Flammen verbrennen.
 

Sofort kamen Adrien die seltsamen Dorfbewohner in den Sinn. Sie hatten Angst – schreckliche Angst. Nicht vor einem Vampir, soviel war er sich sicher, doch auch nicht vor Wölfen, wie sie behaupteten. War es das, wovor sie sich fürchteten? Eine Gestalt, die ein Irrlicht mit sich führte und in der Finsternis lauerte?
 

Bald hörte man neben dem Knacken der Äste auch das Knarzen der Schneedecke, die bei näherer Betrachtung durch Hufe aufgerissen wurde. Das Licht, welches sich als harmlose Laterne herausstellte, gab bald einen schwarzen Hengst preis, auf dessen prächtigen Sattel ein mysteriöser Fremder thronte. Er trug einen schweren dunklen Mantel und einen Zylinder, welcher seine Züge verbarg. Seine hellblauen Augen schienen in der Nacht zu glühen, wie die einer Katze.
 

Der Unbekannte wand sich langsam zu beiden Teenagern und sprach mit einer melodischen vom rumänischen Dialekt gezeichneten Stimme: „Guten Abend. Welch eine wunderschöne Nacht für einen Spaziergang, nicht wahr?“
 

Adrien wusste nicht, woran es lag, vermutlich haftete die paranoide Atmosphäre des Dorfes an ihm, aber beim Anblick des Besuchers verspürte er pure Angst. Die Furcht schnürte ihm die Kehle zu und raubte ihn den Atem. Sein Herz schien aus seiner Brust entfliehen zu wollen, so sehr schlug es gegen seine Rippen. Er umklammerte Marinette, als könne gerade sie ihn vor dem Fremden beschützen.

Doch auch das Mädchen war gelähmt vor Angst und konnte lediglich geschockt den Reiter anstarren, als hätte dieser einen Revolver gezückt.
 

Die Gestalt schwang sich elegant vom Sattel und schritt ohne eile zu den Zweien.

„Nur gleicht dieser Teil des Waldes einem Irrgarten. Selbst die Einheimischen meiden diese Gegend. Vor allem wenn der Mond am Himmel steht. Wisst ihr denn nicht, dass die Wölfe zu dieser Jahreszeit besonders nach Fleisch gieren? Die Menschen nehmen ihnen die wenige Nahrung, die in den Wäldern noch geblieben ist, sodass diese armen Kreaturen hungern müssen.

Ganz zu schweigen von diesen unbarmherzigen Temperaturen. Euch muss ja schon das Blut in den Adern gefrieren.“

Sie streckte eine Hand heraus. Adrien und Marinette zuckten bei dieser normalerweise einladenden Geste gleichermaßen zusammen.

„Keine Sorge. Ich bringe euch in wärmere Gefilde, wo weder der Winter noch die Wesen der Nacht euch etwas anhaben können“

Der Fremde überbrückte die letzten Meter. Er zog beide nach oben und geleitete sie zu seinem Pferd, welches geduldig auf seinen Herren wartete. Dann hob er die Teenager in den Sattel. Er selbst nahm die Zügel und führte den Hengst tiefer in den Wald.
 

Bald drang nicht einmal mehr das Mondlicht durch die Baumwipfel. Im Schein der Laterne, die die Gestalt in der Hand hielt, konnte man vereinzelte Stämme erkennen, doch keiner erinnerte Adrien an die, welche er auf ihren Hinweg gesehen hatte. Wohin gingen sie nur? In ihren sicheren Tod? In eine einsame Hütte? Zurück ins Dorf?

War der Reiter ein barmherziger Reisender, der ihnen wirklichen helfen wollte? Oder der Ursprung all der Angst, die in dem Dorf herrschte?

Wie auch immer... Ob sie erfrieren würden oder er ihnen das Leben nehmen würde, machte wohl kaum einen Unterschied.
 

Marinette, die vor ihm im Sattel saß, murmelte leise Gebete, um solch düsteren Gedanken zu vertreiben.

Der Blonde jedoch weigerte sich bei Gott Schutz zu ersuchen. Er blieb wachsam und beobachtete ihren Führer, der schweigend durch den Schnee flanierte.
 

„Was tun SIE dann hier in dieser unmenschlichen Gegend?“, entfuhr es dem Jungen plötzlich, ehe er sich zurückhalten konnte.

Der Angesprochene hielt kurz inne und wand seinen Kopf leicht zur Seite.

„Mich führte eine... geschäftliche Angelegenheit nach Usturoi. Zu eurem Glück, bevorzuge ich es Nachts zu reisen, sonst hättet ihr wohl den Tod gefunden. Nun ich kann es euch wohl kaum verdenken: Unbesonnenheit ist immerhin der Luxus der Jugend. Ihr solltet euch allerdings das nächste Mal nicht zu solch einer dunklen und kalten Stunde aus dem Haus wagen, geschweige denn einem völlig Unbekannten, wie mir, folgen. Räuber gibt es auch an so einem abgelegenen Platz der Erde, wisst ihr?“
 

Adrien verlor sich für einen Moment in den hellblauen Augen der Gestalt. Als er wieder nach vorn blickte stockte ihm der Atem. Vor ihnen zeichnete sich die Silhouette des Gasthauses ab, aus dem sie gekommen waren. Die Laternen waren inzwischen gelöscht und doch konnte man die steinerne Schlachtszene im Mondlicht gut erkennen. Nie hätte er gedacht, dass der Unbekannte sie wirklich wieder zurück geleiten würde.
 

Der schwarze Hengst hielt kurz vor dem Haus und schüttelte sich ein paar Schneeflocken aus der Mähne. Sein Herr half der kostbaren Fracht von seinem Rücken und öffnete ihr die Tür.
 

Als er sich zum Gehen wand, sprach er noch: „Das Glück war euch hold in dieser Nacht, doch es ist unbeständig, wie das Gemüt eines eitlen Frauenzimmers. Man sollte nicht sein Wohl darauf setzten, wenn man sein Leben als kostbar erachtet.“

Der schwere schwarze Mantel bäumte sich auf, als er von einem Windzug erhascht wurde und die Augen des Fremden wirkten noch kälter als vorher.

Dann wünschte er beiden eine geruhsame Nacht und schloss die Tür.
 

Erst als das Holz sie von dem Reiter trennte, ließ die Spannung ihrer Muskeln nach und ihre Herzen begann wieder im Takt zu schlagen. Die Wärme befreite ihre Glieder von dem Frost.
 

Marinette fiel als erstes auf, dass sie ihm noch gar nicht gedankt hatten. Doch als sich ihre Hand um die Klinke schlossen, musste sie feststellen, dass die Tür sich nicht öffnen ließ. Sie sah verwirrt zu Adrien, doch auch als er es versuchte, war sie verschlossen.

Das war doch nicht möglich. Der Fremde hatte sie eingelassen und das Knacken eines Schlüssels war auch nicht zu vernehmen gewesen.
 

Vielleicht konnten sie durch eines der Fenster ihren Dank ausdrücken, wenn auch nur mit Gestik und Mimik. Doch weder der Hengst, noch sein Herr war zu erblicken - Nicht einmal das Licht der Laterne. Es war, als wäre der Fremde nie da gewesen.
 

„Vielleicht“, entkam es Marinette leise, als sie in die Dunkelheit starrte; „Vielleicht war es wirklich ein Engel, der von Gott gesandt wurde, um uns zu retten?“

Der Junge zu ihrer rechten erschauderte. „Wer auch immer das war, ein Engel war er mit Sicherheit nicht...“
 

Leise schlichen die beiden durch die totenstille Wirtsstube und suchten ihre Zimmer. Bevor Marinette sich verabschieden und in das des Professors gehen konnte, fasste Adrien sie am Handgelenk und flüsterte: „Es tut mir leid, dass ich dich in eine solche Gefahr gebracht habe... ich hätte … Ich hätte vorsichtiger sein müssen und... Du wärst fast wegen mir gestorben!“

Sein Gegenüber lächelte schüchtern und ihre Wangen färbten sich rot.

„Sch-Schon gut... Wirklich! Ich wollte ja... also mitkommen, meine ich...“ Sie machte eine kleine Pause. „Es war schön. Also nicht fast zu sterben. Zu Reden. Das war schön. Danke, dass du mir zugehört hast, Adrien.“

Adriens Gesicht würde warm und verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.

„Ich fand es auch sehr… erholsam... Danke! … Also dann... Schlaf gut, Marinette!“

„Gute Nacht, Adrien!“
 

Der Blonde blieb noch eine Weile vor der geschlossenen Tür stehen und sann über die gesagten Worte nach, ehe er den Raum betrat, den er sich mit seinen Eltern teilte.

Er hatte sich auf das Schlimmste vorbereitet: Weinflaschen, die wahllos auf den Fußboden verstreut waren, sein Vater, der am Tisch eingeschlafen war, noch immer mit einem Kelch in der Hand und der Gestank nach selbst gebrannten Alkohol.

Umso überraschter war er, als er nichts davon vorfand. Jemand schien sowohl die leeren Flaschen, als auch die Kelche weggeräumt zu haben. Auch der ältere Agreste lag nicht auf der Tischfläche, sondern neben seiner Liebsten, unter der vergilbten Bettdecke. Zwar war er offensichtlich betrunken, doch irgendwie schien er bei Trost genug gewesen zu sein, sein Jackett über die Stuhllehne zu hängen und seine Schuhe akkurat darunter zu stellen.
 

Adrien tat es ihm gleich und schmiegte wenig später seinen durchgefrorenen Körper an den seines Vaters. Dann schloss er die Augen.
 


 

Im Schutz der Nacht ritt die mysteriöse Gestalt durch den Schnee. Ihre Züge waren blau von der Kälte.

„Ein Engel Gottes?“, zischte sie sarkastisch. Die eisigen Augen verengten sich. Das Pferd schnaufte in amüsierter Weise, als wolle es seinem Herren beipflichten.

„Gott ist tot, du dummes Kind!“

Alles ist hell

Als Gabriel erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, um ihn größtmögliche Kopfschmerzen zu bereiten. Seine Augen brannten, hinter seinen Schläfen klopfte es unaufhörlich und im Stillen war er froh nichts im Magen zu haben. Ein paar Jahrzehnte später würde man seinen Zustand als Kater bezeichnen und wäre er desillusioniert gewesen, hätte er sich wohl geschworen nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren - Doch er kannte sich besser.
 

Langsam erhob er sich und stützte seinen pochenden Schädel mit einer seiner Hände. Er verzog leicht das Gesicht und öffnete die Lider. Bei Tag wirkte das Zimmer noch schäbiger, als am Vorabend, wenn die Möglichkeit denn bestand. Gabriel schnaufte kurz und machte sich daran seine Schlafstätte zu verlassen, als ihm auffiel, dass er etwas seltsames umklammert hielt. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich um ein weißes Spitzentuch, welches mit roten Flecken besudelt war.
 

War das etwa Blut auf dem weißen Stoff? Dem Designer wich die Farbe aus seinem Antlitz. Nein... Unmöglich... Blut wäre schon geronnen und hätte das Tuch schwarz-bräunlich verfärbt. Vielleicht war es Wein? Ja das schien wahrscheinlich, wenn man seine mangelnden Erinnerungen an die gestrige Nacht bedachte. Doch viel mehr, als die mysteriösen Flecken, beschäftigte ihn, wie das Tuch in seinen Besitz gelangt war.
 

Eines seiner eigenen konnte es unmöglich sein. Er bevorzugte seither weiß-rote Tücher und die waren auch nicht mit Spitze verziert. Emilie hatte auch nie solche besessen, geschweige denn Adrien.

Was ging hier vor? Wollte ihn sein Sohn einen Streich spielen? Oder hatte die alte Wirtin ihre Finger im Spiel. Nein – Dieses Tuch mutete an wertvoll zu sein, wertvoller, als alles, was die Krähe ihr eigen nannte.
 

„Vater!“, die entfernte, wenn auch laute Stimme seines Sohnes riss ihn aus den Gedanken. Er stand vermutlich unter dem trotz der Kälte geöffneten Fenster und wollte wissen, ob er schon erwacht war.

Der Angesprochene stand mit unsicher auf und stütze sie an dem Bettpfosten, später an der Wand ab. Dann begab er sich zum Fenster.
 

Leise fluchend schützte er seine Augen vor dem grellen Sonnenlicht, welches von der Schneedecke reflektiert wurde.

Sein Sohn strahlte nicht minder intensiv. „Das würde ja auch langsam Zeit, dass du wach wirst, Vater! Ich dachte schon du willst unseren ganzen Aufenthalt verschlafen.“

Er und Marinette hatten anscheinend schon wesentlich früher das Bett verlassen . Auch der Professor war zu erspähe, der sich damit beschäftigte einen besonders schweigsamen Dorfbewohner mit Fragen zu belästigen.
 

„Wie spät ist es?“, murmelte der Designer und fuhr sich über sein Gesicht.

„Fast Mittag“, antwortete Adrien, der Frage zwar nicht gehört, aber sich etwas ähnliches gedacht hatte, „Kommst du? Abronsius hat einen Dörfler gefunden, der uns die Gegend zeigt.“

„Professor Abronsius, wenn ich bitten darf“, kam es gekränkt von der Seite, „Die Jugend heutzutage hat keinen Respekt mehr vor dem Alter. Nein schlimmer! Dieser Bursche hat keinen Respekt vor mir: Professor Abronsius, einem Mann der Wissenschaft!“
 

Gabriel beachtete ihn gar nicht. Die Worte seines Sprösslings hatten ausgereicht, um seinen müden Geist zu erwecken.

Heute war der Tag gekommen. Der Tag an dem er seine Liebste vor den Krallen des Todes erretten würde. Heute war der Tag, an dem er einen Vampir finden würde.

Wahrheit

Wenig später, nachdem er sich für die Expedition entsprechend gekleidet, alle Fenster geschlossen und Emilie einen Abschiedskuss geschenkt hatte, gesellte sich Gabriel zu den anderen. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Bewohner des Dorfes gingen unter ihren Strahlen ihrer Arbeit nach.

Nichts erinnerte mehr an die angespannte Atmosphäre des Vorabends. Ein jeder war frohen Mutes, pfiff ein Lied vor sich her oder unterhielt sich mit seinen Nachbarn. Es war, als hätte man die Menschen über Nacht ausgetauscht. Selbst die alte Krähe wirkte beglückt.
 

„Was ist passiert?“, hauchte Gabriel ungläubig und besah sich der fröhlichen Schar.

Adrien zuckte lediglich mit den Schultern.

Schließlich war es Abronsius, der ihnen eine Antwort auf das seltsame Verhalten geben konnte: „Logik, Monsieur Agreste, Logik! Bei Nacht gleichen diese Dörfler aufgescheuchten Hühnern, doch bei Tag benehmen sie sich, als hätten sie keinerlei Sorgen. Was sagt uns das, hm?“ Er machte eine Pause und inspizierte die ratlosen Gesichter. „Na das ist doch ganz offensichtlich! Sie haben die Nacht und damit die Vampire überlebt! Ein jeder erfreut sich an seiner heilen Kehle! Jaja, ich sage euch: Sobald es dämmert werden sie wieder zittern vor Angst.“
 

Adrien schnaufte laut und verdrehte die Augen. Seine neu gefundene Verbündete ließ ein leises enttäuschtes Seufzen zu vernehmen.

Dass der ältere Agreste der hanebüchenen Erklärung Glauben schenkte, verstärkte die abweisende Haltung der beiden Teenager.
 

„Vielleicht genießen sie auch einfach nur das schöne Wetter“, wagte der Blonde zu widersprechen.

„Unsinn, Bursche! So erleichtert kann nur jemand sein, der mit dem Leben davon gekommen ist.“

„Aber-“

„Für meine Theorie sprechen außerdem ihre Hälse“, erläuterte der Professor und deutete auf ein vorübergehendes Paar, welches am gestrigen Abend ebenfalls im Gasthaus anzutreffen war.

Angestrengt begutachtete der Junge die beiden, doch er konnte nichts auffälliges entdecken. Sie trugen noch die gleichen Lumpen, hatten fettige Haare und dreckige, aber unversehrte Hälse.

„Was soll damit sein. Ich-“

„Sie sind weg“, unterbrach ihn sein Vater mit einem undeutbaren Grinsen im Gesicht, „Dass ich das nicht sofort gesehen habe!“

„Was meinst du, Père?“

Marinette kam zum gleichen Schluss, wie ihr Idol: „Die Knoblauchketten. Sie sind weg.“
 

Sie hatten recht. Dieses Accessoire schien ein jeder nur am Abend zu tragen, zu der Zeit, zu der laut Volksglaube Vampire und Geister ihr Unwesen treiben. Besorgt tauschten die beiden Teenager ein paar Blicke. Dass die Dorfbewohner vermutlich selbst an die Blutsauger glaubten, machte es nicht gerade leichter zu beweisen, dass sie nicht existierten. Aber was hatten sie auch erwartet? Sie befanden sich in einer kleinen Ortschaft mitten im Nirgendwo. Es würde Adrien wundern, wenn einer von ihnen schreiben geschweige denn lesen konnte. Ungebildete Menschen, wie die in Usturoi, suchen natürlich eine übersinnliche Erklärung für alles, was nicht von dieser Welt zu sein scheint.
 

Wer wusste schon, welches Ereignis zu diesem bizarren Mythos geführt hatte. Vielleicht war einmal ein Scheintoter fälschlicherweise begraben worden und erstieg wenig später seiner eigentlich letzten Ruhestätte. Vielleicht hatte es auch mit dem dunklen Reiter von letzter Nacht zu tun, den man irrtümlicherweise für einen Vampir gehalten hatte, weil er zu dieser unchristlichen Zeit zu reisen pflegte.
 

Was auch immer die Gerüchte entbrannt hatte. Adrien würde sie alle ausmerzen. Er würde beweisen, dass es keine Vampire gibt – Zum Wohle seines Vaters, zum Wohle des Professors und zum Wohle des gesamten Dorfes.
 

~~~~~
 

Es war der wohlbeleibte Wirt, den Abronsius auserkoren hatte, sie durch die verschneiten Wälder zu führen. Vermutlich hatte er ihn ein paar Münzen aus dem Geldbeutel des Designers in Aussicht gestellt.
 

Im Gegensatz zu den anderen war er sichtlich nervös. Er rieb sich oft die Hände und sah sich um, als hätte er Angst beobachtet zu werden. Mit Sicherheit fürchtete er sich vor seiner Mutter, die schon am Vorabend besonders erpicht darauf gewesen war, den Fremden nichts zu erzählen.

Gut, dass die Gier stets über die Angst siegt.
 

„Bringen wir es hinter uns“, jammerte er und deutete ihnen an, ihn zu begleiten.
 


 

Was nun folgte waren die für Adrien und Marinette längsten Stunden ihres jungen Lebens. Usturoi bestand lediglich aus fünfzig Häusern und einer kleinen Kirche mit angrenzendem Friedhof. Die umliegenden Wälder waren dicht bewachsen und verbargen etwaige Pfade, die im Gegensatz zu den als Straßen betitelten Wegen, nicht in andere Dörfer führten. Irgendwann kamen sie zu der Stelle, an der die beiden Jugendlichen beinahe den Tod gefunden hatten und an der sie dem mysteriösen Unbekannten begegnet waren. Unter den Sonnenstrahlen wirkte die kleine Lichtung zauberhaft einladend. Mit Sicherheit schlichen sich junge Paare oft hier her, um sich aneinander zu erfreuen, vor allem, wenn der Frühling den Frost verscheucht hatte und die Bäume zarte Triebe zierten.
 


 

„Professor“, meldete sich Marinette beim Anblick der Lichtung und der Hufspuren im Schnee zu Wort, „Gestern Abend, als wir einen kurzen Spaziergang-“

„Ihr habt das Wirtshaus verlassen? Bei NACHT?“, echauffierte sich der Angesprochene, wobei es wirkte, als würde ihn ein mittelschwerer Herzinfarkt ereilen, „Und dabei wisst ihr doch, dass ein Vampir hier sein Unwesen treibt!“

Der Dicke fuhr sichtlich zusammen und seine Augen inspizierten nervös das Unterholz.

Auch der ältere Agreste war außer sich, als er von dem kleinen Ausflug erfuhr. „Seid ihr noch bei Trost?! Was euch alles hätte passieren können! Ihr hättet euch verlaufen können! Euch hätten Wölfe überfallen können oder irgendwelche Gauner, die auf schnelles Geld aus sind!“

Adrien seufzte laut. Er würde wohl die nächsten Monate sein Zimmer nicht verlassen dürfen.

„Wir... Wir haben uns verlaufen...“, gestand er schließlich. Die Farbe wich aus dem Gesicht seines Vaters.

Die Schwarzhaarige fuhr unbeirrt fort: „Ein fremder Reiter hat uns gerettet. Er ritt auf einem schwarzem Hengst. Ein prächtiges Pferd! Und erst der Sattel. Dieser Mann war mit Sicherheit sehr vermögend..“

Ihr Führer zitterte, wie Espenlaub. Dicke Schweißtropfen rannen von seiner speckigen Stirn herunter.

„Das war sehr nobel von ihm, Kindchen. Nur warum erzählt ihr uns das?“, murmelte Abronsius.

„Er war reich, Professor... Und er sagte, er sei geschäftlich in Usturoi.“

„Ja!“, entkam es plötzlich dem Wirt. Er setzte ein falsches Lächeln auf und legt seinen Kopf leicht schief, „Ein... äh... Händler aus … Sighișoara. Ein zweimal im Jahr bereist er die umliegenden Dörfer und bietet ähm... Seife und verschiedenste Kleidung feil.“

Gabriel schnaufte verächtlich: „Wenn er ein wohlhabender Handelsmann gewesen sein sollte, warum sollte er ausgerechnet in Usturoi seine Ware vertreiben? Und dann auch noch Seife und Kleider, obwohl er das doch anscheinend eh nicht an den Mann bringen kann.“

„Das ist es ja“, unterbrach ihn Adrien, der langsam verstand, worauf seine Begleiterin hinaus wollte, „Die Menschen aus dem Dorf können sich das gar nicht leisten! Also, warum war er in Usturoi?“

„Natürlich! Logik! Logik! Das hätte selbst ich nicht besser schlussfolgern können. Er war bei keinem aus dem Dorf, sondern bei Jemanden mit den entsprechenden finanziellen Mitteln. Mit anderen Worten: Er war bei der Exzellenz dieser Grafschaft-“

„Nein!“, quiekte der Gastwirt mit aschfahlem Haupt, „Er... Er... war bei Mutter. Der Herr Graf wohnt nicht hier!“
 

Ein Grinsen, welches jeder der Anwesenden wohl als beinahe dämonisch beschrieben hätte, schlich sich auf die Züge von Gabriel Agreste, als er sich leicht vorbeugte, um den Wirt einzuschüchtern. „Es gibt also einen Grafen? Nicht nur das! Sie wissen anscheinend auch, wo ihre Exzellenz residiert. Teilen Sie doch Ihr wissen mit uns, Monsieur!“

Dieser schüttelte nur verängstigt den Kopf und versuchte seinen rasenden Atem zu beruhigen.

„Ich- Ich weiß es wirklich nicht! Seine E-Exzellenz ist... gern f-für sich. Niemand weiß, wo er-“

„Wollen Sie uns zum Narren halten?! Gestern sagten sie, man könne das Schloss von unserem Standpunkt nicht erblicken! Sie WISSEN wo sich sein Aufenthalt befindet“, fauchte der Designer.

„N-nein, das- Ich äh... Dieses Schloss ist-... ah! Verfallen, ja richtig! Es ist nur eine Ruine. Niemand könnte dort hausen.“

Der ältere Agreste trat noch einen Schritt näher. „Wie interessant. Ich hatte schon immer etwas für alte Architektur übrig. Führen Sie uns dort hin?“

„Oi! Nein ich- ich kann nicht... Es ist... zu gefährlich!“

„Wegen des Vampires!“, mischte sich Abronsius ein und schnitt dem beleibten Wirt den Fluchtweg ab.

„N-nein... Wegen der... der Steine. Die Ruine könnte jederzeit einstürzen. Es wäre unverantwortlich Sie dorthin zu führen.“

„Dieses Risiko gehe ich gern ein.“

Ein weitere Stimmer meldete sich zu Wort. Sie war alt und knarzig.

„Das wird leider nicht möglich sein, mein Herr. Seit einem Erdrutsch ist der Weg dorthin verschüttet. Viele haben schon ihr Leben gelassen, als sie versucht haben die Ruine zu finden.“
 

Die Krähe erschien hinter ein paar dicken Stämmen. Ihre Züge waren hart und Zorn funkelte aus ihren kleinen trüben Augen.

„Wir reden nicht gern darüber.“

„Siehst du, Vater“, flüsterte Adrien, „Dieses Schloss hat nichts mit Vampiren zu tun. Die Menschen sind einfach nur traumatisiert von einer schweren Naturkatastrophe. Wir sollten lieber diesen Fremden ausfindig machen. Vielleicht kann der uns zu dem hiesigen Grafen führen.“

„Dem hiesigen Grafen? Was wollt ausgerechnet ihr von seiner Exzellenz?“

Professor Abronsius wackelte aufgebracht mit seinem Schnauzer. „Ist das nicht offensichtlich? Wir wollen die Wahrheit über ihn ans Licht bringen! Er ist ein Vampir und-“

„Ein Vampir? Ha!“, die Alte lachte laut auf, „Ihr denkt wirklich seine Exzellenz sei ein Vampir? Wer glaubt denn bitte an solche Ammenmärchen? Graf von Farainima ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein bisschen kaltherzig und brutal erscheint er zwar, aber ihn deswegen gleich als Vampir zu betiteln. Es gibt keine Untoten. Ich hätte euch Städter eigentlich für klüger gehalten.“
 

Gabriel ballte seine Hände zu Fäusten. Was fiel dieser Frau ein, ihn so schändlich bloßzustellen. Ihn- einen der reichsten und angesehensten Männer ganz Frankreichs. Ausgerechnet dieses ranzige Weib, nahm sich heraus, ihn zu belehren, wie ein kleines Kind.

Aber was- Was wenn sie recht hatte? Waren die vergangenen Wochen umsonst? Diese Reise? Die Strapazen?

Er schüttelte den Kopf. Nein. So einfach würde er nicht aufgeben. Es bestand immer noch eine Chance, dass der Graf sein wahres Wesen vor den Augen seiner Untertanen verbergen konnte. Oder die Alte log. Wer wusste das schon?

Er war so kurz vor seinem Ziel. Aus einem Impuls heraus griff er in seine Tasche und umschlang das weiße Taschentuch.

Sein Traum würde in Erfüllung gehen. Er konnte es spüren.
 

„Nun kommt zurück ins Gasthaus. Die Wolken bedecken schon den Himmel. Es wird bald schneien.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Jenna89
2019-07-28T12:26:16+00:00 28.07.2019 14:26
Wow, die Idee ist wirklich Super und die Geschichte sehr gut geschrieben.
Bin schon sehr gespannt wie es weiter geht. :-)

Von:  Yuna_musume_satan
2019-07-28T03:18:20+00:00 28.07.2019 05:18
Klasse Kapitel und super spannend freue mich schon aufs nächste
Von:  Yuna_musume_satan
2019-05-29T23:11:41+00:00 30.05.2019 01:11
Klasse ich bin schon gespannt wie es weiter geht
Von:  Yuna_musume_satan
2019-05-08T06:09:43+00:00 08.05.2019 08:09
Die Story ist echt interessant mein fafo haste


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