Kein Ausweg - Wenn dir nicht einmal mehr die Sterne leuchten von irish_shamrock (Winterwichteln 2018) ================================================================================ Kapitel 4: 4 ------------ Ihr Weg führte sie zum Hauptquartier des NYPD, nach Park Row, Downtown. Die dunklen Wolken, die sie bereits am Morgen begrüßten, schienen sich durch den jungen Vormittag zu ziehen. Der Dezember war ihr, neben November und Januar, immer einer der schlimmsten Monate. Dunkel, kalt, verregnet oder verschneit. Die Welt schien in dieser Zeit wie verwandelt, auch wenn das Weihnachtsfest ihr stets das Herz wärmte und ein Lächeln auf die Lippen schickte. Nun jedoch kroch Melina durch die Straßen, kehrte der U-Bahn den Rücken und erreichte das Gebäude, welches der City Hall, dem New Yorker Rathaus, gegenüber lag. Und obschon sich die Sehenswürdigkeiten wie der Broadway, die St. Paul’s Chapel oder gar die Brooklyn Bridge den Rang abliefen und um die Touristen buhlten, galt all ihre Aufmerksamkeit und Konzentration einzig diesem einen Vorhaben. Schwer schluckte Melina an dem Kloß der Angst in ihrer Kehle. »Ich hätte anrufen sollen«, murmelte sie und hielt für einen kleinen Moment inne. Vor ihr erhob sich ein großes, würfelartiges Gebäude. Davor war ein kleiner Anbau platziert. Der Schriftzug »WELCOME TO POLICE HEADQUARTERS« zierte den oberen Bereich dessen. Ebenso bemerkte Melina den, in gelben Lettern bezeichnete, »VISITORS ENTRANCE« - den Besuchereingang. Zittrig rang sie nach Luft, nicht wissend, ob dies die korrekte Stelle war, an der sie sich melden musste. Sie war eine Besucherin, jedoch keine Touristin. Scheu blickte sie sich um. Doch immer, wenn Hilfe benötigt wurde, war keine Seele zu erblicken. Ein kleines, frustriertes Knurren entwand sich ihr. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?« Melina zuckte kaum merklich zusammen und wandte sich zu der freundlichen Stimme um. Sie hatte die kleine Polizistin gar nicht bemerkt. Offenbar war das lautlose Anschleichen eine Disziplin, die diese Frau mit Bravour gemeistert hatte. Das dunkle Haar hatte die Beamtin, deren karamellfarbenen Wangen vom Dezemberwind bereits gerötet waren, unter der Police-Kopfbedeckung versteckt. Die braunen Augen wanderten musternd über Melina hinweg. Doch als diese bejahend nickte, wurde die angespannte, abschätzende Miene Police Officer J. Perez', wie das kleine Messingschild auf der Uniform verwies, weicher. »Ich suche Detective Williams und Archer«, brachte Melina hervor. Die Lippen der Polizistin hoben sich zu einem Lächeln, das weiße Zähne entblößte. »Nun Miss, das hier ist der Eingang für die Touristen«, erklärte Officer Perez, während ein kleines Lachen ihres Worte umwehte. »Ja, das, habe ich mir auch gedacht«, gab Melina kleinlaut zu. »Wenn Sie ein richtiges Anliegen vorzubringen haben, dann müssen Sie zum Haupteingang. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.« Officer Perez trat an ihr vorbei und Melina folgte auf dem Fuße. Sie gab es ungern zu, doch sich zu orientieren fiel ihr nicht immer leicht. Nach wenigen Schritten hatte Officer Perez sie vor einen weiteren, aus einer Glasfront bestehenden Eingang geführt. Der Anblick des »POLICE HEADQUARTER« hätte ihr, aus der Nähe, den Atem verschlagen, doch Melina war um Haltung bemüht. Eine schmale, eckige, jedoch dünne Säule drängte sich ihr in den Weg. Ein schwarzer, runder Kreis, beschriftet mit weißen Buchstaben, hielt die Adresse des Hauptquartiers bereit: ONE POLICE PLAZA Ein Seufzer verließ ihre Lippen. »Gar nicht so schwer, hm?« Perez' Frage gelangte an ihre Ohren. Melina jedoch bejahte schmallippig. »Vielen Dank, für Ihre Hilfe, Officer.« Melina war versucht, eiligst der Kälte zu entkommen, die der Morgen mit sich führte. Officer Perez schenkte ihr abermals ein Lächeln, folgte ihr jedoch ins Gebäude hinein. Verwundert blinzelte Melina, als sie die Frau hinter sich bemerkte. »Es ist kalt und ich wollte mich ein wenig aufwärmen«, schweigend nickte Melina die Erklärung der Beamtin ab. »Wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin gleich dort drüben, beim Kaffeeautomat.« Mit einem knappen Winken wandte sich Officer Perez zum Gehen, deutete jedoch noch auf den Empfangstresen, hinter dem eine ältere Dame verharrte, den Blick mürrisch auf den Computer vor sich gerichtet. Melina zwang ihre Mundwinkel gen Norden und trat auf die Frau zu, deren Finger hastig über die Tastatur flogen. Dass sie den halben Vormittag damit zubrachte, auf die Detectives zu warten, behagte ihr ganz und gar nicht. Auch hatte Melina die unwirsche Art von Empfangsdamen immer für ein Klischee gehalten, doch Agnes McClafy belehrte sie eines Besseren. »Sie hätten anrufen sollen!«, hatte Mrs. McClafy gezischt und weiter auf den Computer eingehackt. »Dummes Ding!« Melinas wich vor Schreck zurück. »Nicht Sie!«, knurrte die Empfangsdame und hob den Blick vom Bildschirm. »Es tut mir sehr leid, aber diese Höllenmaschine treibt mich seit heute Morgen in den Wahnsinn. Ich kann Ihnen jetzt nicht helfen.« »Gibt es ein Problem, Aggy?« Officer Perez trat an sie heran und beugte sich über den Tresen. Mrs. McClafy seufzte, rollte auf dem Stuhl zurück und rieb sich die Schläfen. »Für dich immer noch, Misses Aggy!« Die Lippen Officer Perez' bogen sich zu einem Grinsen. »Hast du es schon mal mit einem Neustart versucht?« Eine Augenbraue schoss böse und pfeilschnell zum rötlich gefärbten Haaransatz der Dame hinauf. »Meine liebe Juanita, ich sitze hier fast länger an diesem Tisch, als du auf der Welt bist! Erzähl' mir also nichts von einem Neustart. Das Ding ist kaputt!« »Entschuldigung«, hob Melina an. »Ich kann leider nichts für Ihr technisches Problem, aber ich -« Sie verstummte sofort, als sie der eisige Blick Mrs. McClafys traf. »Sie möchte zu Detective Williams und Archer«, erklärte Officer Perez. Tief und geräuschvoll rang Mrs. McClafy nach Atem. »Da müssen Sie in die dritte Etage, Morddezernat!« »Ich begleite Sie«, bot sich Officer Perez, vor Tatendrang sprühend, an. »Morddezernat, wie spannend! Haben Sie was ausgefressen?« Verblüfft klappte Melina der Mund auf, doch sie schüttelte hastig den Kopf. »Diese Jugend«, murrte Mrs. McClafy. »Und was mache ich jetzt mit diesem vermaledeiten Computer?!« »Frag George«, flötete Officer Perez und schob Melina in Richtung Fahrstühle davon. »Sie sehen ein bisschen blass aus«, bemerkte Officer Perez, als beide das stählerne Gefährt bestiegen. »Ich mag keine Fahrstühle«, druckste Melina und spürte bereits, wie sich ihr der Magen drehte. »Oh, warum haben Sie denn nichts gesagt? Dann hatten wir die Treppe -« Die Augenbrauen Perez' schoben sich fragend, vielleicht sogar mitfühlend, zusammen. Doch weitere Worte blieben aus, da sich der Lift in Bewegung setzte. Mit einem Pling wurden die Fahrgäste entlassen. »Sie müssen den Flur herunter«, sagte Officer Perez. Dankend nahm Melina den Hinweis entgegen und stolperte auf schwachen Beinen den Gang entlang. Auch hier gab es einen kleinen Empfangsbereich, der von einem hochgewachsenen Beamten besetzt wurde. »Guten Morgen«, versuchte Melina das Eis, mit einer höflichen Begrüßung, zu brechen. Auch dieser Mann steckte in der typischen New Yorker Polizei-Klufft. Das Schild auf seiner Brust besagte, dass es sich bei ihm um einen O. Tolliver handelte. Als Tolliver aufsah, fuhr Melina fort: »O'Sullivan mein Name, ich würde gern Detective Williams und Archer sprechen.« »Und worum geht es?« Die Stimme des Mannes, den Melina grob auf Mitte vierzig schätzte, war geschmeidig, behielt jedoch einen leichten, skeptischen Unterton, während er ihren Namen auf einem Besucherbogen vermerkte. »Um eine Zeugenaussage«, murmelte Melina und wurde von Tolliver auf einen der Stühle verwiesen, die dem Tresen gegenüber standen. Melina biss sich auf die Lippen. Anders, als erwartet, wuselten hier Beamte durch die Flure. Stimmen und Gespräche wurden laut und verklangen. »Fast, wie im Fernsehen.« Melina reckte den Hals, um den Beamten nachzusehen, ehe sie den Blick von Officer Tolliver auffing, der sie belustigt, jedoch unverhohlen musterte. Skepsis und Argwohn schienen hier Einstellungskriterien zu sein, oder aber O. Tolliver war ein sehr vorsichtiger, misstrauischer Mann. »Die Detectives befinden sich momentan in einer Besprechung. Sie hätten anrufen sollen.« Den Rat und die Erkenntnis nahm Melina mit einem Augenrollen entgegen und bedankte sich mit einem knappen Lächeln. »Ich bin wohl nicht der Erste, der Ihnen das sagt, hm?« Die Mundwinkel Tollivers hoben sich grinsend. Melina schwieg, nahm sich die Freiheit heraus, aufzustehen und ein wenig den Gang zu erkunden. Auf und ab lief sie den schmalen Flur, unter den wachsamen Augen Tollivers. Fotos rahmten die Wände, doch nicht nur freudige Ereignisse säumten den Weg. Zeitungsausschnitte, Bilder des Grauens, sollten an die Gräueltaten erinnern, die diese Stadt täglich erfuhr. Melina verharrte vor einem Artikel aus dem Jahre 1929. Kaum vorstellbar, dass sich so etwas beinahe unversehrt hatte auffinden lassen, doch die Schlagzeile ließ ihr den Atem stocken: Schandtat in Midtown – Blutleere Leiche gefunden Noch ehe sie den ersten Abschnitt beendet hatte, rief man nach ihr. Melina wandte sich um und erkannte die zwei Herren, deren Erscheinen sie, seit dem unerwünschten Besuch am gestrigen Morgen, erwartet hatte. »Miss O'Sullivan« Es war Detective Archer, der das Wort ergriff und Melina mit einem knappen Kopfnicken begrüßte. Dann wandte er sich an den Mann hinter dem Tresen. »Oliver, könnten Sie uns eine Kanne Kaffee bringen lassen?« Melina neigte den Kopf, ehe ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte. »Sie heißen Oliver Tolliver? - Ein schweres Los, hm?« Doch dieser zuckte nur stumm die Schultern. Ein Räuspern lenkte die Aufmerksamkeit aller auf Detective Williams. Schweigend bedeutete er ihr, ihm in eines der Zimmer zu folgen. Zu Melinas Missfallen, war der Raum so gar nicht wie ein Verhörzimmer eingerichtet, das sie aus den Serien kannte. »Stimmt etwas nicht, Miss O'Sullivan?«, hakte Williams nach. »Das ist aber nicht wie bei Law & Order oder Criminal Intent«, gab sie mit dünner Stimme zu. Ein Schnauben durchbrach das Gespräch. Archer war ihnen gefolgt und zog soeben einen Stuhl zurecht, auf dem Melina Platz nahm. »Miss O'Sullivan -«, begann Archer, und wurde von ihr unterbrochen. »Bitte sagen Sie mir nicht, dass ich hätte anrufen sollen. Ich weiß, dass ich mich hätte anmelden müssen, aber -« Leise Verzweiflung mischte sich unter die gefallenen Sätze. Verdutzt blinzelte Archer, nickte jedoch abgehackt. »Wie schön, dass wir uns darüber jetzt im Klaren sind.« Hart presste Melina die Lippen aufeinander. »Fürs nächste Mal, behalten Sie dieses Vorhaben einfach im Hinterkopf. Nichtsdestotrotz sind wir froh, über Ihre Entscheidung, sich an uns zu wenden.« Die Worte Detective Archers klangen heruntergeleiert und einstudiert. »Sie wären also bereit, eine Aussage zu tätigen, richtig?« Williams wandte sich an sie und Melina bejahte mit einem schweigsamen Nicken, dennoch konnte sie nicht bestreiten, dass ihr ein wenig unheimlich zumute war. Archer trat neben sie und brachte einen kleinen Rekorder zum Vorschein. »Wir werden Ihre Aussage aufnehmen müssen.« Abermals bejahte Melina und berichtete von jenem Arbeitstag in der Schmuckabteilung, versuchte sich gezielt an das Zusammentreffen mit der Verblichenen zu erinnern und jene Bilder, so getreu wie möglich, aufzuzeigen. »Sie zahlte und verließ dann unser Haus. Also, das nehme ich an. Wir sind ja nur ein kleiner Abschnitt Macy's'.«, endete Melinas Stellungnahme des Tattages bezüglich. »Und Sie wissen nicht, wie die Visitenkarte in die Hände der Toten gelangte?«, hakte Williams nach. »Diese Karten liegen im gesamten Gebäude aus. Ich vermute, sogar auf den Toiletten.« Melina zuckte mit den Schultern. »Nun gut, aber Ihren Namen haben Sie nicht darauf geschrieben, ist das korrekt?«, fuhr der junge Beamte fort und Melina schüttelte den Kopf, verneinte jedoch, da ihre Worte noch immer auf eine Tonspur gebannt wurden. »Miss O'Sullivan«, hob Archer an. »Wären Sie bereit, uns eine Schriftprobe zu geben?« »Ja, sicher«, stimmte Melina dem Anliegen zu. »Gut.« Archer tauschte einen Blick mit Williams, der eine der Schubladen des Schreibtisches öffnete und Block und Bleistift ans Tageslicht brachte. »Dann möchte ich, dass Sie Ihren vollständigen Namen, Adresse und Geburtsdatum hier vermerken, in Schreibschrift und in Druckbuchstaben.« Ihre Finger langten nach dem Schreibblock. Am rechten, oberen Rand, erkannte sie das Polizeilogo. Der Stift kratzte unangenehm über die Linien des Blattes, doch Melina war um Sorgfalt und um eine alltägliche Handschrift ihrerseits bemüht. »Fertig.« Mit diesen Worten schob sie das Schriftstück Williams zu. Die beide Beamten beäugten das Ergebnis. »Geben Sie das jetzt zur Schriftanalyse?«, fragte Melina und schämte sich beinahe für die Bewunderung, die in jeder Silbe mitschwang. »Unsere Graphologen werden sich damit befassen«, erläuterte Williams. »Allerdings ist selbst für den bloßen Betrachter erkennbar, dass die Schriften einander nicht ähnlich sind.« Nun war es Detective Williams, der ihr die Visitenkarte erneut vor Augen führte. Die Buchstaben auf der Rückseite, die mit ihrem Namen versehen war, waren abgehackt und schienen in aller Eile auf dem festen Papier verewigt worden zu sein. Die Falten, die sich in ihre Stirn gruben, ließen die Beamten jedoch aufmerksam werden. »Ist Ihnen diese Schrift bekannt?«, fragte Archer, der sie scheinbar ganz genau beobachtete. »Nein.« Melina schüttelte den Kopf. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich bei dieser Lüge in ihr aus. Doch so schnell, wie jener Schauer über sie hinweggefegt war, war sie wieder bei Sinnen. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, warum sollte ausgerechnet -? Melina scheuchte diesen Gedanken eiligst beiseite. »Ich möchte helfen«, brachte sie ohne Umschweife hervor. »Mit Ihrer Aussage ist uns bereits geholfen«, gab Detective Archer zur Antwort. »Nein, ich möchte richtig helfen.« Wieder tauschten Archer und Williams einen Blick. »Ihr Eifer in allen Ehren, aber das hier ist Polizeiarbeit. Sobald wir neue Erkenntnisse gewonnen haben, melden wir uns bei Ihnen. Bis dahin, Miss O'Sullivan.« Williams erhob sich und reichte ihr die Hand zum Abschied. Archer tat es ihm gleich, jedoch geleitete dieser sie noch bis zur Tür. »Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren, Miss O'Sullivan«, sagte er. Skepsis zierte ihr Gesicht. »Bin ich verdächtig?« »Nein, Miss O'Sullivan. Wären Sie verdächtig, dann hätten wir dieses Gespräch nicht in diesem Büro geführt«, gab Archer zu. »Also gibt es diese Verhörräume doch.« Melina hatte Mühe, ihre Aufregung, Begeisterung zu zügeln. »Wie meinen?« Archers buschige Augenbrauen verbogen sich. »Diese Räume, mit dem Spiegel, wo die Zeugen – Ach, schon gut, vergessen Sie einfach mein Gebrabbel«, eiligst winkte sie ihre Worte beiseite. »Sie scheinen ja sehr interessiert zu sein. Das ist positiv, dennoch sollten Sie bedenken, Miss O'Sullivan, dass dies hier kein Wischiwaschi mit Kameras und Drehbuch ist. Es geht um Mord. Reale Fälle. Und glauben Sie mir, Sie möchten weder auf der einen, noch auf der anderen Seite des Spiegels stehen!« Mit einer geleitenden Geste Archers, war Melina aus dem Zimmer verbannt. Die Beamten benötigten drei Tage, um den Entschluss zu fassen, eine Zivilistin in die Angelegenheiten mit einzubinden. Immer wieder mahnte Archer davor, eine scheinbar Unbeteiligte mit Informationen zu füttern, die jenseits jeglicher Vorstellungskraft lagen. Doch vielleicht würde diese Tatsache genügen, Melina O'Sullivan von der abstrusen Idee abzubringen, sich einmischen zu wollen. Den meisten Menschen war es unangenehm, einer Vorladung zur Wache nachzukommen, geschweige denn, als mögliche Zeugen in Erscheinung zu treten. Und dieser Frau schien es nicht weniger zu behagen. Dennoch glaubte Franklin Archer, in all seinen Dienstjahren, die Menschen einschätzen zu können. Ein Vorteil, jedoch auch eine Gratwanderung. Zu viel des guten Glaubens war stets mit Enttäuschungen behaftet. »Ich behaupte nicht, dass sie lügt.« Noch immer hörte er die Worte seines Kollegen, sobald Melina O'Sullivan dem Büro entschlüpft war. »Oh, das tut sie, Williams.« Archer war in seiner Meinung unumstößlich. »Vielleicht verheimlicht sie nur etwas.« Archer schnaubte bei Williams Aussage und in ihm reifte schon beinahe Mitgefühl für diesen jungen, unerfahrenen Beamten heran. »Auch das schließe ich nicht aus«, stimmte er jedoch unweigerlich zu. »Junge, du musst lernen, dass nicht jedes hübsche Mädchen frei von Sünde ist. Meistens sind das die aller Schlimmsten.« Und nun saßen die beiden Detectives tatsächlich in einem Raum, der denen, in den Serien, in Nichts nachstand. Kalt, starr, mit dem Nötigsten ausgestattet. Ein Metalltisch, drei Stühle. Ein Einwegspiegel, auf den O'Sullivan angespielt hatte, hinter diesem Zeugen und Angehörige vor den Blicken des Beschuldigten geschützt waren und jedes Wort mitanhören durften. Eine Lampe, deren Schein direkt auf den kargen Tisch fiel. »Sie wollen sie ärgern.« Dass Williams leise, aber belustigt schnaubte, ließ selbst Archer grinsen. »Tun wir nicht alles, um unsere Fälle aufzuklären?«, fragte Archer und war um einen kühlen Ton bemüht. »Du glaubst, sie verschweigt uns etwas?« Bejahend nickte Williams. »Ich würde nicht so weit gehen, Sie zum Täterkreis zu zählen, allerdings hat mich ihr plötzliches Stocken, während der Aussage, stutzig gemacht. Und vielleicht haben wir ja Glück.« Achtlos zuckte Cord Williams die schmalen Schultern. »Glück und Polizeiarbeit?«, grunzte Archer. »So etwas gibt es nicht!« Sowie Melina erneut bei Mrs. McClafy vorstellig wurde, begrüßte diese sie jedoch viel freundlicher, als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Einen knappen Anruf später, hielt bereits ein Officer auf sie zu, der sie, durch die marmorne Eingangshalle hindurch, an den Fahrstühlen vorbei, in einen Gang führte. Alles wirkte nüchtern, abgeklärt, die Wände kahl, der Boden mit Linoleum ausgelegt. Ein älterer Mann, in Hausmeisterkleidung, kam ihnen entgegen. Grüßend tippte der Officer, dessen Namen Melina nicht so schnell erblicken konnte, an die Polizeimütze und marschierte weiter. Melina folgte ihm. Als er vor einer dunkelgrauen Tür stehenblieb, stoppte auch Melina. Er streckte die Finger nach der Klinke aus, öffnete und ließ Melina eintreten. Erst im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick auf seinen Namen: T. Collins Dieser schloss, nachdem Melina inmitten des Raumes stand, die Tür. Sie war mit sich allein. Als Detective Williams nach ihr schicken ließ, nahm sie an, dass die Polizei zu neuen Erkenntnissen gekommen sei, die man ihr in seinem Büro mitteilte. Doch nun? Sie sah sich um. Das Raum war schmal und es ließ sich nichts erblicken, bis auf eine weitere Tür und einen Spiegel. Sie trat an diesen heran und fand nur Dunkelheit vor. Da Collins recht wortkarg schien und ihr keine Mitteilung machte, wann die Beamten den Weg zu ihr fanden, beschlich Melina ein merkwürdiges Gefühl. Dass man sie warten ließ, behagte ihr nicht, doch umso erleichterter war sie, als die Tür von Neuem geöffnet wurde. Archer, Williams und eine ihr fremde Frau erschienen. Diese wurde ihr als Doktor Christina Townsend, Pathologin, vorgestellt. Schweigend begrüßte Melina die Anwesenden. »Miss O'Sullivan.« Archer trat an ihr vorüber und öffnete die andere Tür. Als er den Lichtschalter betätigte, entflammte sich der Leuchter flackernd. »Bitte.« Ungläubig schoben sich ihr die Augenbrauen zusammen, doch Melina folgte der auffordernden Geste. Ihr verschlug es den Atem, dann suchte sie Archers Blick, doch dessen Miene blieb ausdruckslos. »Also haben Sie doch so einen Raum.« Melina reckte ihr Kinn, während sich ein überlegenes Grinsen auf ihre Lippen stahl. »Wir dachten, wir erweisen Ihnen einen Gefallen, wenn Sie für uns dasselbe tun«, sagte Williams und ließ sich auf einem der zwei Stühle nieder, ehe er Melina den einzelnen Platz an der Wand zuwies. Ihr kribbelten die Fingerspitzen, doch Melina mahnte sich zur Ruhe, obschon ihr der Atem keuchend ging und sie die Hitze ihrer entflammten Wangen bemerkte. Wären nicht so viele Schaulustige vor Ort, hätte sie vor Freude und Aufregung gejuchzt. Ihr Blick wanderte zum Spiegel, der jedoch nichts von dem Vorraum preisgab. Sie sah einzig das Antlitz aller Versammelten. »Miss O'Sullivan.« Es fiel Melina schwer, den Blick von all dem abzuwenden, auch wenn eine solche Situation für jeden anderen womöglich als beklemmend empfunden wurde. Da nun auch Detective Archer ihr gegenüber Platz nahm, bemerkte Melina, dass für Doktor Townsend keine Möglichkeit bestand, sich setzen zu können. »Keine Panik«, winkte diese ab, als sie Melinas fragenden Blick bemerkte. »Es dauert nicht lang.« Melina schluckte und wandte sich wieder den Beamten zu. Williams zog eine Akte hervor. Wo er dieses Dokument versteckt hielt, war ihr völlig entgangen. Die Mappe war schmal, folglich konnte diese nicht allzu viele Informationen bereithalten. Die Anspannung war den Beteiligten dennoch anzumerken. »Miss O'Sullivan, es hatte den Anschein, als sei die Karte, die meine Kollegen bei der Ermordeten fanden, mit Absicht dort platziert worden«, begann Detective Williams und lehnte sich in dem Stuhl zurück, während seine Augen nach einer Regung in ihrer Körpersprache suchten und Melina enttäuschte ihn nicht. »Wie?« Ein hoher, keuchender Laut verließ ihr die Lippen. »Wir wollten sicher gehen, dass wir uns nicht verstricken, deshalb haben wir Ihnen diese Information vorenthalten. Wir wollten Sie damit weder verdächtigen, noch in Schwierigkeiten bringen, geschweige denn ...«, fuhr Williams fort, doch Archer unterbrach ihn. »Ihnen Angst einjagen, Miss. Das liegt uns fern, wir sind da, um zu helfen.« Schwach nickte Melina die Worte Archers ab. Freundlicher Weise gab man ihr die nötige Zeit, das Gehörte aufzunehmen. »Platziert? Was soll das bedeuten?« Ihr Blick huschte von Williams, zu Archer, und von diesem zur Pathologin. »Wir glauben, dass es sich dabei keinesfalls um einen Zufall handelt, Miss«, sagte Archer. »Weder, was die Tat, noch was das Ablegen von möglichen Beweisen anbelangt, die auf Sie zurückzuführen wären.« »Ich, ich verstehe nicht, was -?«, verdattert blinzelte Melina. »Offenbar möchte jemand gezielt den Fokus auf Sie lenken, Miss O'Sullivan«, gab Williams preis. »Aber, warum?« Hilflosigkeit hatte ihre Arme um sie geschlungen. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir, in diesem Punkt, völlig ratlos sind«, knirschte Archer. Melina sackte auf dem Stuhl zusammen. »Sie meinen, jemand wollte mir die Tat in die Schuhe schieben? Warum?« Schweigend sahen die Polizeibeamten einander an. »Und Sie wollten mir keine Angst machen!« Melina lachte auf, höhnisch und bitter. »Dann bin ich jetzt also doch verdächtig? Heißt es nicht immer, der Täter kehre stets an den Ort des Verbrechens zurück?« »Miss O'Sullivan«, versuchte Detective Williams, den aufkommenden Sturm zu besänftigen. »Was glauben Sie? Warum sollte ich einer fremden Frau, die für ihre kleine Tochter nach einem Geschenk sucht, nach dem Leben trachten?« Wut wallte in ihr auf, da Melina keinerlei Erklärung mehr parat hatte. »Wir glauben Ihnen, Miss.« Archer erhob sich von seinem Platz und winkte Doktor Townsend herüber. »Zumindest, was den Teil mit dem Mord betrifft. Aber wir wissen, dass Sie uns etwas verheimlichen.« Wieder öffneten sich ihr die Lippen, doch nicht ein Laut kam daraus hervor. Mit einem Kopfnicken wies Archer die Ärztin an, eine weitere Mappe vorzulegen. »Die Obduktion«, erklang die Stimme Doktor Townsends, »der Leiche ergab, dass diese völlig blutleer zurückgelassen wurde.« »Blutleer?« Melina hörte die Worte wie Gift aus ihrem Mund kriechen. »Was wollen Sie damit sagen?« »Nun, Miss, dass der Körper Gabriella Sumners nicht einen Tropfen Blut mehr in sich hatte«, erklärte Franklin Archer mit einer Ruhe in der Stimme, die ihr erneute Schauer durch den Körper jagte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)