Worthwhile von ChiaraAyumi ================================================================================ Kapitel 1: Worthwhile --------------------- Theseus hätte schwören können, dass er seine Taschenuhr gerade auf den Esszimmertisch abgelegt hatte, doch als er sich umdrehte, lag sie nicht mehr dort. Er suchte in seinen Hosentaschen und ging dann zurück auf den Flur, wo sein Mantel an der Garderobe hing. Auch hier konnte er sie in keiner seiner zahlreichen Taschen finden. Er ging im Kopf seine letzten Schritte durch und kam zu dem Schluss, das er sie wirklich auf den Tisch gelegt hatte. Das konnte wiederum nur eines bedeuten ... „Newt!“, rief er die Treppe hoch, „wo steckt dein verdammter Niffler?!“ Von oben kam keine Antwort. Wahrscheinlich steckte sein Bruder wieder kopfüber in seinem Koffer, den er immer bei sich trug, seit er Hogwarts verlassen hatte. Theseus war in sein Elternhaus gekommen, um mit seinem Bruder über seinen Rausschmiss zu reden und ihm neue Möglichkeiten aufzuzeigen, damit er nicht immer seine Zeit in diesem Koffer verbrachte. Theseus wusste genau, was in diesem Koffer steckte und er war sich sicher, dass der Niffler gerade wieder einmal daraus entkommen war. Er musste sagen, dass er genau das nicht vermisst hatte, als er ins Zentrum von London in seine eigene Wohung gezogen war. Er vermisste seinen kleinen Bruder zwar mit seiner schrägen Art irgendwie schon ein wenig, doch er war froh, dass sein Alltag sich soviel normaler gestaltete, wenn nicht gerade ein Niffler seine heißgeliebte Taschenuhr stahl, die er zu seiner Ernennung als Auror vom Zaubereiminister höchstpersönlich geschenkt bekommen hatte. „Newt“, rief Theseus noch einmal genervt nach seinem jüngeren Bruder, doch immer noch kam keine Antwort. Musste er sich also selbst auf die Jagd nach diesem Niffler begeben. Durch seine jahrelang Erfahrungen mit Newts verrückten Kreaturen suchte Theseus als erstes die Schublade mit dem Silberbesteck ab. Er sah, dass seine Mutter vorsichtshalber einen Zauber über das Besteck gesprochen hatte, sodass es nicht mehr silbern glitzerte, sondern ein potthässlichen Weißton angenommen hatte, der alles andere als schön war. Dies traf auch auf alle anderen wertvollen Gegenstände im Haushalt zu: der silberne Kerzenleuchter war nun aus Holz, der goldene Kronleuchter mit den Kristallen war schwarz und wirkte irgendwie unecht, die Uhr hatte keine goldenen Zeiger mehr und die Pokale seiner Mutter für ihre besten gezüchteten Hippogreife hatten all ihre Ähnlichkeit mit goldenen Trophäen verloren. Er seufzte. Damit stellte sich seine Suche nach dem Niffler als deutlich schwieriger heraus als er zunächst angenommen hatte. Er hatte scheinbar den einzigen glänzenden und wertvollen Gegenstand mit in das Haus gebracht, der sich in diesem noch finden ließ. Doch das war eigentlich kein wirkliches Problem. Er zog seinen Zauberstab heraus und überzog den Apfel, der zuoberst in der Obstschale lag, mit einer goldenen Schicht. Jetzt hieß es nur abwarten und nicht blinzeln, denn verflucht war dieser Niffler flink. Da kam schon die Nase des Nifflers unter dem Schrank im Esszimmer vorsichtig hervor und Theseus setzte zum Sprung an, als es plötzlich an der Haustür klingelte. Der Niffler und Theseus hielten beide inne und schaute sich in Richtung Flur um. Als Theseus sich wieder zurück umdrehte, war der goldene Apfel aus der Obstschale verschwunden und der Niffler wieder auf Nimmerwiedersehen entschwunden. Genervt gab Theseus für den Augenblick auf und ging nachsehen, wer ihn da bei der Jagd nach dem Niffler gestört hatte. Er richtete sein Hemd, strich sich seine Haare glatt und ging zur Tür. Theseus öffnete und fand sich einer jungen Dame gegenüber, der er zwar noch nie persönlich begegnet war, aber die er dank des Fotos aus Newts Zimmer sofort identifizieren konnte. „Guten Tag. Ich bin ...“, fing sie an und er vollendete ihren Satz: „Leta Lestrange, Newts Freundin.“ Sie schlug die Augen nieder. „Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir noch Freunde sind“, sagte sie mit einem traurigen Ton in der Stimme. „Er antwortete nicht mehr auf meine Briefe. Ist er denn da?“ „Ich denke, dass er da ist. Ich bin selbst gerade erst angekommen und noch nicht dazu gekommen ihn zu begrüßen. Wenn du herein kommen möchtest, dann schaue ich nach, ob er in seinem Zimmer ist.“ Leta nickte und wirkte ein wenig erleichtert. Sie schien ihm viel zurückhaltender und scheuer als Newt sie beschrieben hatte, aber das lag vielleicht auch nur daran, dass sie sich in einem fremden Haus befand. Theseus wusste nicht, warum Newt ihr nicht mehr antwortetet und war leicht besorgt, da Leta Newts einzige Freundin war. Hatte er sich etwa noch weiter von der Welt abgeschottet? Es war dringend Zeit, das er als großer Bruder einschritt und ein ernstes Wort mit Newt sprach. „Gib mir deinen Umhang, dann kann ich ihn für dich aufhängen“, sagte Theseus freundlich zu Leta und half ihr höflich aus dem Umhang, als sie sich nervös darin verhedderte. Sie lächelte schüchtern und sah irgendwie verloren aus. Sie knetete ihre Hände und sah sich um. „Nimm doch Platz im Wohnzimmer und ich schaue nach meinem Bruder.“ Er zeigte ihr den Weg in den Salon und sie setzte sich auf das grüne Sofa, wo sie ganz steif und aufrecht, mit den Händen zu Fäusten geballt, saß. Ihr verkrampftes Lächeln schien auf ihrem Gesicht festgefroren zu sein. Er fragte sich, warum sie so schrecklich nervös und aufgeregt war. Er hatte das Gefühl, das die meisten Leute seinem Bruder eher mit Skepsis oder Abneigung begegneten, doch Leta schien ernsthaft aufgeregt zu sein und die Reaktion Newts eher zu fürchten. Theseus wollte der Sache auf die Spur kommen und nachdem er Leta freundlich Tee angeboten hatte, den sie dankend ablehnte, machte er sich auf den Weg, um endlich seinen Bruder zur Rede zu stellen. Newt öffnete auch nach mehrmaligen Klopfen nicht seine Zimmertür, die Theseus verschlossen vorgefunden hatte. Als älterer Bruder nahm er sich das Recht heraus die Tür mit einem einfach „Alohomora“- Zauber zu öffnen und einzutreten. Mitten im Zimmer lag der geöffnete Koffer, in den Newt verschwunden sein musste. Theseus seufzte. Er hatte gehofft das Gespräch mit seinem Bruder schnell hinter sich zu bringen, damit Leta nicht so lange warten musste. Einen Gast sollte man nie lange alleine sich selbst überlassen, denn sonst warf das ein schlechtes Bild auf den Haushalt und die Familie Scamander war sicher nicht unfreundlich oder rüde zu ihren Gästen. Egal, ob nun zu eingeladenen oder überraschend auftauchenden Gästen. Also musste er hinein in den Koffer. Vielleicht war es auch der beste Ort, um ein ernstes Wort oder auch zwei oder auch drei mit Newt zu wechseln, denn nirgendwo fühlte er sich sicherer und wohler als zwischen all seinen Tierwesen. „Newt“, rief Theseus, während er mühsam in den Koffer stieg. „Ich bin's, Theseus. Bist du hier?“ Er kam zunächst in eine Hütte, an deren Wände seltsame Gerätschaften hingen und Eimer mit den interessantesten Sorten Futter unter dem Tisch in der Mitte des kleinen Raumes standen. Es erinnerte Theseus ein wenig an seine Kindheit, als er seiner Mutter regelmäßig beim Füttern der Hippogreife geholfen hatte. Irgendwann hatte er sein Interesse an den Kreaturen aber verloren und er wandte sich mehr seinen Studien zu. Wenn er sich Recht erinnerte, lag es vor allem daran, dass sich seine Klassenkameraden über den Beruf seiner Mutter lustig gemacht hatten. Er war es irgendwann einfach Leid gewesen seine Familie immer zu verteidigen und er hatte seinen Ehrgeiz in sinnvollere Sachen gesteckt. Dafür hatte Newt immer mehr seiner Mutter nachgeeifert, auch wenn sie das eher mit Missbilligung betrachtet hatte, denn sie kannte zu gut die Konsequenzen und das Gerede der Leute, was sie ihren Söhnen lieber hatte ersparen wollen. Doch Newt fühlte sich nur mit magischen Tierwesen wohl, da es ihm schon immer Schwierigkeiten bereitet hatte mit Menschen außerhalb seines normalen Umfeldes zu kommunizieren. Das hatte sich scheinbar bis heute nicht geändert. Theseus fand Newt inmitten seiner Mondkälber, die begierig das Futter aus seiner Hand fraßen. Theseus betrachtete seinen Bruder einen Augenblick, wie er dort mit einem glücklichen Lächeln stand und die Geschäftigkeit seiner eigenen kleinen Welt einfach genoss. Er fühlte einen Stich in seinem Herzen, weil er, sobald er den Mund aufmachen würde, das Lächeln aus dem Gesicht seines kleinen Bruders wischen würde. Newt würde sich versteifen und all seine Gelassenheit und Ruhe, die er gerade ausstrahlte, verlieren. Theseus hasste es in diesem Moment der ältere, vernünftigere Bruder zu sein. Viel lieber würde er seinen kleinen Bruder in seiner Blase lassen und ihn vor der Welt da draußen schützen. Er biss sich auf die Lippen. Es half nichts. „Newton Scamander“. Sofort war das Lächeln verschwunden. Newt drehte sich zu ihm. „Ich will nicht darüber reden. Das habe ich unserer Mutter auch schon gesagt.“ „Newt“, Theseus seufzte, „so geht das aber nicht weiter. Du kannst nicht den ganzen Tag in deinem Koffer verbringen. Die Welt da draußen könnte deine Talente brauchen. Du kannst wie ich im Ministerium arbeiten. Ich habe bereits mit Mr. Shafiq gesprochen. Er hätte großes Interesse an dir.“ „Ich will nicht für die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe arbeiten.“ Newt verschränkte die Arme und drehte sich weg. Theseus verdrehte die Augen. „Irgendetwas musst du aber tun. Du kannst dich für die Tierwesen einsetzen. Du kannst die Bedingungen ändern. Du kannst den Menschen zeigen, was richtig und was falsch ist. Ist es nicht das, was du willst?“ Newt zuckte nur mit den Schultern. „Mir hört doch eh niemand zu.“ Theseus rückte einen Schritt näher an seinen Bruder und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du hast ein Talent. Nutze das. Du wirst sehen, dass die Leute dir zuhören, wenn sie sehen, wie du mit Tierwesen umgehst. Newt, du bist ein ganz anderer Mensch, wenn du bei deinen Tierwesen bist. Zeige das den Leuten im Zaubereiministerium und du wirst innerhalb kürzester Zeit befördert werden. Glaube mir, denn ich glaube an deine Fähigkeiten.“ Newts Mund verzog sich zu einem schüchternen Lächeln, während er den Blick starr auf den Boden gerichtet hielt. Theseus lächelte. Noch ein wenig und er hatte seinen Bruder so weit. Doch für heute sollte er sein Glück nicht überstrapazieren, auch wenn er gerade nichts anderes wollte als seinen kleinen Bruder in die Arme zu schließen. Aber er wusste, dass sich Newts Begeisterung über die Umarmungen seines älteren Bruders in Grenzen hielt. Also ließ er es dabei ihm nur auf die Schulter zu klopfen. „Übrigens hast du unten Besuch, der auf dich wartet. Leta Lestrange ist hier.“ Newt versteifte sich augenblicklich und ging sofort wieder auf Distanz. Theseus sah flüchtig einen schmerzvollen Ausdruck in Newts Augen bevor dieser sich ganz abgewandte hatte. Fluchtartig ließ er Theseus und die Mondkälber stehen und verschwand hinter einem Vorhang in den nächsten Bereich seiner kleiner Kofferwelt. Theseus musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass sein Bruder nicht mit Leta reden wollte. Irgendetwas war zwischen den beiden vorgefallen. Daher auch Letas Nervosität und ihre Furcht vor Newts Reaktion. Was immer auch geschehen war, es schien dabei ihr Fehler gewesen zu sein. „Ich glaube sie ist hier, um sich zu entschuldigen.“ Es kam keine Antwort aus dem benachbarten Bereich. Theseus wusste nicht so recht, ob er seinen Bruder folgen und ihn danach fragen sollte. Unsicher blieb er inmitten der Mondkälber stehen, die ihn mit großem Interesse beäugten, dann aber feststellten, dass er kein Futter bei sich trug und sich anderen Dingen widmeten. Theseus fühlte sich in Newts Welt völlig deplatziert. Er entschied sich zumindest einen letzten Blick auf das Gesicht seines Bruders zu erhaschen, ihn aber nicht weiter zu bedrängen. Er kannte Newt gut genug um zu wissen, wann er nicht mehr weiter zu ihm vordringen konnte. Der nächste Bereich hinter dem Vorhang glich einer Savanne. Newt war in den hinteren Teil geflüchtet, wo ein monströses Wesen Gras fraß. Es glich einem Nashorn, aber es war soviel größer und irgendwie runder in seinen Formen. Theseus blieb unsicher am Rand der Savanne stehen, denn er hatte viel zu großen Respekt vor diesem magischen Wesen. Am liebsten hätte er Newt gepackt und in Sicherheit gebracht. Warum konnte sein Bruder einfach nicht ein bisschen normaler sein? Er seufzte und lenkte damit die Aufmerksamkeit des magischen Wesens auf sich. Es schnaubte bedrohlich. Damit drehte sich zumindest auch Newt wieder zu ihm um. Seine Augen wirkten ein bisschen gerötet und es lag immer noch dieser schmerzvolle Ausdruck in ihnen. Ihn jetzt auf Leta anzusprechen, war also definitiv vom Tisch. „Wenn du mit mir reden willst, ich werde das ganze Wochenende hier sein. Denke einfach mal darüber nach. Sei etwas aufgeschlossener. Mehr erwarte ich nicht von dir.“ Newt drehte sich wieder weg ohne auf das Angebot einzugehen und Theseus beschloss lieber schnell die Beine in die Hand zu nehmen bevor das magische Wesen ihn als Bedrohung wahrnahm, denn es hatte ihn immer noch im Visier und schnaubte schon wieder. Theseus kletterte aus dem Koffer wieder heraus und war erleichtert die kleine Welt hinter sich gelassen zu haben. Das war wirklich nichts für ihn. Er hatte das Gefühl halbwegs erfolgreich gewesen zu sein. Newt hatte zumindest kurz so gewirkt, als hätte Theseus ihn erreicht und als würde er es in Betracht ziehen fürs Ministerium zu arbeiten. Dann hatte er ungeschickterweise Leta Lestrange erwähnt. Natürlich ohne, dass er geahnt hatte, dass Leta gerade ein rotes Tuch für Newt war. Er hoffte, dass er dadurch seinen vorigen Erfolg nicht sabotiert hatte. Für den Augenblick musste er die Sache beruhen lassen. Auf ihn wartete immer noch ein Gast, dem er nun schonend beibringen musste, dass seine Anwesenheit im Moment nicht erwünscht war. Letas Gesicht strahlte für eine Sekunde, als Theseus um die Ecke bog, doch das Leuchten verschwand sofort wieder, als sie erkannte, dass er alleine war. „Er will nicht mit mir reden?“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich wusste es. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt gekommen bin.“ Ein weinendes Mädchen sorgte dafür, dass Theseus sich noch unwohler fühlte, als in Newts Kofferwelt. Ihm fiel nichts Passendes ein und alles, was er sich auf dem Weg nach unten im Kopf zurecht gelegt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. „Äh“, stotterte er unsicher und rang nach Worten. „Das liegt sicher nicht an dir. Mit mir wollte er auch nicht reden.“ Eben hatte er doch noch eine gute Argumentation gehabt, die Newts Verhalten gut erklärt hätte, ohne dabei unhöflich zu wirken. Jetzt liefen die erste Tränen über ihr Gesicht, die sich nicht mehr zurückhalten ließen. Ihre Enttäuschung und ihr Schmerz war ihr an der Nasenspitze anzusehen. Theseus verließ fluchtartig den Raum, um ein Taschentuch aus seinem Mantel zu holen. Im Flur versuchte er wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Verdammt er war ein Auror. Ein weinendes Mädchen sollte ihm doch keine Probleme bereiten. Schneller als ihm lieb war, fand er das Taschentuch in seiner Manteltasche. Er räusperte sich kurz, strich sich die Haare zurück und richtete sein Hemd. Etwas gefasster kehrte er zurück in den Salon und reichte Leta das Taschentuch. Sie griff mit zittriger Hand danach und verbarg sofort ihr Gesicht darin. Theseus trat einen Schritt zurück und ließ ihr den Raum, um sich wieder zu fassen. Sie hatte sich erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle. Sie schluchzte ein paar Mal noch auf und schnäuzte sich dann extrem leise, sehr damenhaft die Nase. Dann kam ihr Gesicht wieder hinter dem Taschentuch hervor und sie hatte wieder diesen schüchternen Gesichtsausdruck, mit dem sie schon vor der Tür gestanden hatte. „Ich entschuldige mich für meinen emotionalen Ausbruch.“ Theseus winkte ab und lächelte. „Das ist doch okay. Newt kann manchmal ziemlich stur und unsensibel sein. Gib ihm ein wenig Raum, dann wird sicher alles wieder in Ordnung kommen zwischen euch beiden.“ Da war wieder das, was er eigentlich hatte sagen wollen bevor sie angefangen hatte zu weinen. Natürlich fiel es ihm jetzt wieder ein und nicht in dem Augenblick, wo er es gebraucht hätte. Leta erwiderte das Lächeln zurückhaltend. „Dann will ich Ihnen nicht weiter zur Last fallen, Mr. Scamander.“ Sie erhob sich vom grünen Sofa. Er konnte sehen, dass sie immer noch die Hände zu Fäuste geballt hatte. „Ich bringe Sie zur Tür“, bot er sich schnell an und verfiel ebenso wie sie in die Höflichkeitsform. Er half ihr im Flur wieder in ihren Umhang. Sie blieb distanziert und lächelte freundlich, als er ihr die Tür aufhielt. Irgendetwas an ihr ließ ihn nicht los, vielleicht lag es daran, dass er sich schuldig fühlte, weil er Newt nicht hatte dazu bewegen können mit ihr zu reden und sie deswegen geweint hatte. „Ich kann Sie nach Hause begleiten, wenn Sie möchten. Es ist ja schon spät und Sie haben sicher noch nicht die Appariererprüfung abgelegt.“ Leta lächelte wieder, doch immer noch erreichte das Lächeln nicht mal annähernd ihre Augen. „Vielen Dank, Mr. Scamander, aber ich denke, ich möchte einfach den kurzen Spaziergang alleine genießen. Es ist ja auch nicht weit. Mein Vater hat eine Wohnung in London für mich herrichten lassen.“ „Ich bestehe darauf. Ich würde mich nicht wohlfühle die Freundin meines Bruders alleine im Dunkeln spazieren gehen zu lassen.“ Sie erwiderte nichts mehr darauf und er nahm es als Zustimmung, ging zurück in den Flur, holte seinen Mantel und schloss die Tür. Schweigsam schritten sie die Straße hinunter. Theseus wusste auch nicht, was ihn da geritten hatte. Warum hatte er sich so aufgedrängt? War es nur aus Höflichkeit? Oder aus schlechtem Gewissen? Er hatte ja nicht mal ein Gesprächsthema. Außer seinen Bruder, aber der war sicher nicht gerade die beste Wahl im Augenblick. Er durchforstete sein Hirn nach Themen, die ein 16jähriges Mädchen interessieren könnte. Ihre Familie war ein rotes Tuch, das wusste er von Newt. In der Schule war sie wie Newt eine Außenseiterin, also auch kein geeignetes Thema. Sie fand sicherlich magische Tierwesen faszinierend, aber das war nichts, wovon er Ahnung hatte. „Was ist denn dein Plan nach der Schule?“, fragte er frei heraus und duzte sie wieder. Sie sah überrascht zu ihm auf, als hätte noch niemand sie nach ihrer Zukunft gefragt. Sie hielt inne und überlegte. Er blieb ebenfalls stehen und betrachtete sie zum ersten Mal richtig. Er kannte sie von dem Foto in Newts Zimmer, das er irgendwann in der fünften Klasse aufgestellt hatte, und ahnte daher, wie es um die Gefühle seines Bruders für Leta stand. Wenn er von der Schule sprach, handelte es sich stets um Geschichten, die Tierwesen oder Leta oder zumeist beides beinhaltete. Theseus verstand seinen Bruder. Leta war wirklich hübsch mit ihren langen, schwarzen Haaren, die sich ein wenig kräuselten. Sie hatte dunkelbraune, sanfte, traurige Augen, die in ihm etwas rührten. Ähnlich wie bei Newt wollte er sie am liebsten von dieser grausamen Welt abschirmen. Ihr ein Lächeln aufs Gesicht zaubern und sie in eine Umarmung schließen. Doch das war noch unpassender als bei seinem Bruder und er fürchtete Leta würde genauso verstockt darauf reagieren. „Ich hab ehrlich gesagt noch nie darüber nachgedacht, was ich nach der Schule machen will. Ich bin immer davon ausgegangen, dass mein Vater das für mich entscheiden wird. Dass er mich verheiraten wird, damit ich wenigstens in dieser Hinsicht einen Nutzen habe.“ Sie klang verbittert und kühl, als sie das sagte. Wieder schien sie mit den Tränen zu kämpfen, aber drängte sie zurück bevor sie von ihnen übermannt wurde. Theseus biss sich auf die Lippen. Er schien ja regelrecht ein Talent zu haben sie zum Weinen zu bringen. Abermals wusste er nicht, was er sagen sollte. Sie schien nicht erpicht darauf zu sein zu heiraten. Vielleicht erwiderte sie Newts Gefühle. Vielleicht fürchtete sie das ihr Vater Newt nicht als standesgemäß ansehen würde. Er schien wirklich direkt in ein Hornissennest gestolpert zu sein. „Ich mag Tierwesen, aber Newt kann das viel besser als ich. Ich glaube es gibt nichts, worin ich gut bin. Außer vielleicht Unheil stiften.“ „Es gibt doch sicher etwas, worin du gut bist. Jeder ist in irgendetwas gut. Man muss nur an sich arbeiten und an sich glauben.“ Nun klang er wie irgendein Guru, der mit Weisheiten um sich schlug. Großartig. Leta schüttelte den Kopf. „Ich bin einfach unbegabt. Alles, was ich anfasse, mache ich kaputt.“ Der Ausdruck in ihren traurigen Augen wurde durch ihr schwaches Lächeln nur unterstrichen. Theseus wusste nicht, was er ihr raten sollte, damit sie nicht mehr so den Kopf hängen ließ. Konnte er ihr überhaupt helfen? „Das mit Newt wird wieder, da bin ich mir sicher“, lenkte er nun doch das Gespräch auf seinen jüngeren Bruder. Ihm fiel einfach nichts ein außer sich in die nächste Sackgasse zu manövrieren. „Ich habe ihn noch nie so wütend erlebt“, flüsterte Leta. „Es geht ihm nicht darum, was ich gemacht habe, sondern vielmehr darum, dass ich mich nicht um andere gesorgt habe.“ Sie atmete tief durch und sah Theseus auf einmal direkt in die Augen. Es war, als hatte sie nur auf diesen Moment gewartet. Er erwiderte ihren ernsten Blick und wusste, dass er nun erfahren würde, was zwischen den beiden passiert war. „Ich war es, Mr. Scamander. Ich habe mit dem Jarvey herumexperimentiert. Ich habe ihn losgelassen auf diese fiesen Zicken, die immer über mich hergezogen habe. Ich wollte es ihnen ein für alle Mal heimzahlen. Ich habe nicht nachgedacht. Sie haben mich so wütend gemacht. Nicht nur über mich haben sie schlecht gesprochen, sondern auch über Newt. Das konnte ich ihnen nicht verzeihen. Ich wollte nicht, dass Newt dafür in Schwierigkeiten gerät. Das wollte ich sicher nicht. Es tut mir so leid ...“. All das brach aus ihr heraus und wurde von einer Welle von Schluchzern und Tränen begleitet. Nun konnte Theseus nicht mehr anders als sie in seine Arme zu ziehen bis sie sich beruhigt hatte. „Sch“, machte er und strich ihr übers Haar. „Sch, alles wird wieder gut.“ Theseus wusste nicht, wie lange er Leta hielt bis sie sich bestimmt wieder von ihm löste. Er wollte ihr sein Taschentuch anbieten bis ihm einfiel, dass er es ihr bereits im Salon gegeben hatte und es vermutlich dort noch auf dem Tisch lag. Sie zog ihr eigenes Taschentuch aus ihrem Umhang und wandte sich ab, um sich die Nase zu schnäuzen. Dieses Mal legte sie nicht ganz so viel Wert auf das Damenhafte. „Ich entschuldige mich für den weiteren emotionalen Ausbruch“, ihre Wangen rötete sich. „Ich wollte mich Ihnen nicht so aufdrängen, Mr. Scamander.“ „Nenn mich Theseus, bitte. Es macht mir wirklich keine Umstände. Ich hoffe ich konnte in irgendeiner Form helfen.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. Ihre Wangen verfärbten sich noch stärker. „Vielen Dank fürs Zuhören. Es tut mir wirklich Leid. Ich wollte nicht … Ich kann Ihr … dein Hemd reinigen, wenn Sie … du möchtest.“ Theseus warf ein Blick auf sein zerknittertes Hemd, auf dem deutlich die Tränenspuren zu erkennen war. „Mach dir keine Umstände. Das erledige ich später selber. Komm ich bringe dich jetzt nachhause.“ Er bot ihr seinen Arm an und sie hakte sich unter. Schweigen umhüllte sie und sie hingen beide ihren Gedanken nach. Theseus kam sich wie ein furchtbarer großer Bruder vor. Er hatte Newt nicht einmal gefragt, ob er es gewesen war. Er hatte es ehrlich gesagt gar nicht wirklich in Betracht gezogen. Es ging um ein Tierwesen und um seinen Bruder. Er war davon ausgegangen, dass es ein Versehen gewesen war, dass der Jarvey freigekommen war. Newt würde niemals einer Fliege etwas zu Leide tun. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Leta als Übeltäterin schien viel eher zu passen. Newt, der die Schuld auf sich nahm, es aber seiner Freundin übel nahm, dass sie Menschenleben in Gefahr gebracht hatte. Wahrscheinlich wusste er genau, dass es sich dabei um keinen Unfall gehandelt hatte, sondern dass Leta eine böse Absicht verfolgt hatte. Deshalb der Streit. Er verstand das Verhalten seines Bruders. Theseus warf Leta einen langen Seitenblick zu. Sie ignorierte seinen Blick und sah stur gerade aus. Sie wollte wohl nicht weiter darüber reden. Auf einmal deutete sie auf den rabenschwarzen Nachthimmel. „Da war eine Sternschnuppe. Haben Sie die gesehen, Mr. Scamander? Ähm, ich meine Theseus.“ Er warf einen Blick auf den Himmel, doch er konnte nichts sehen. Es überraschte ihn generell, dass sie mitten in London eine Sternschnuppe am Himmel gesehen haben sollte. Die Straßenlaternen gaben ihr schummeriges Licht ab und erhellten den Weg vor ihnen. Dazu versperrten die Gebäude um sie herum fast vollständig den Blick auf den Nachthimmel. Gehorsam suchte er aber den Himmel mit seinen Augen ab und wirklich eine Sternschnuppe huschte über den Himmel. Dann folgte noch eine und noch eine. „Willst du dir nichts wünschen?“, fragte Theseus Leta, die wie gebannt dem Sternschnuppenschauer zusah und sich dabei an seinem Arm klammerte. „Ich wüsste gar nicht, was ich mir wünschen sollte“, gab sie trocken zurück. „Oh, ich wüsste da einiges, was du dir wünschen könntest“, erwiderte er lächelnd. Sie zog eine Augenbraue hoch und zum ersten Mal an diesem Tag erreichte ihr Lächeln ihre Augen. Sie war atemberaubend schön, wenn sie wirklich lächelte und Theseus spürte ein angenehmes Ziehen in seinem Bauch. Dieses Lächeln würde er gerne viel häufiger an ihr sehen. Er war froh, dass er es geschafft hatte, nach all den Tränen auch ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. „Dann lass uns einen Deal machen. Ich wünsche mir etwas für dich und du wünschst dir etwas für mich. Aber keiner darf dem anderen verraten, was er sich gewünscht hat.“ Er nickte zustimmend und gemeinsam wandten sie sich dem Himmel zu. Theseus wünschte sich für Leta mehr Glück und Liebe in ihrem Leben, das sie sich wieder mit Newt versöhnte, häufiger lächelte und vielleicht auch mal lachte und ein wenig eigennützig, dass er sie noch einmal wiedersehen würde. Leta hatte die Augen geschlossen und er wunderte sich, was sie sich für ihn wünschte, doch er wusste, dass er nicht fragen durfte. Währenddessen flitzten noch hunderte weitere Sternschnuppen über den Himmel und es dauerte eine Ewigkeit bevor sie ihren Weg fortsetzen. In all dieser Zeit umhüllte sie eine harmonische Stille, die keiner von ihnen beiden unterbrechen wollte. Dann waren sie an dem Haus angelangt, in dem Leta eine Wohnung hatte und sie mussten sich voneinander verabschieden. „Vielen Dank für alles, Theseus“, sagte Leta mit einem Lächeln. „Es war ein wunderbarer Abend.“ „Ganz meinerseits. Wenn du noch einmal jemand zum Reden brauchen, kannst du mich gerne kontaktieren. Was Newt angeht, gib ihm etwas Raum und dann versuche es nochmal. Ewig böse wird er dir sicher nicht sein. Ich wünsche dir einen schönen Abend und eine gute Nacht.“ „Ich werde es versuchen. Ich gebe Newt nicht so schnell auf. Gute Nacht, Theseus.“ Mit einem letzten Lächeln verschwand sie ins Innere des Hauses. Theseus drehte sich wieder um und apparierte zurück zum Haus der Scamanders. Es war wirklich ein wunderschöner Abend gewesen. Er hoffte, dass er Leta noch einmal wiedersah. Sie faszinierte ihn und er wollte gerne noch mehr über sie erfahren. Er fragte sich, wie spät es wohl war und griff automatisch in seine Manteltasche. Doch seine Taschenuhr war nicht zu finden. Dann fiel es ihm siedend heiß wieder ein. Er hatte den Niffler vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)