Shards of Red von lunalinn (Endeavor x Hawks) ================================================================================ Kapitel 11: Vermillion ---------------------- Es ist viel, was in den letzten Tagen passiert ist. Viel, das er lange verdrängt hat und nun überdenken muss. Alte Wunden, neue Erkenntnisse. Es ändert nichts an der Situation oder an dem, was er tun will, doch er reflektiert. Nicht nur seine Eltern, Endeavor, Twice…auch sich selbst. Vielleicht ist das das Härteste daran. Sich dem eigenen Ich zu stellen und zu hinterfragen, ob gewisse Entscheidungen richtig gewesen sind. Er weiß, dass er rückblickend nicht viel hätte anders machen können – nicht in der Position, in der er gewesen ist. Wenn er sich jedoch Shoutos Worte zurück ins Gedächtnis ruft, wird ihm klar, dass der Junge um einiges stärker ist als er selbst. Es ist einfacher, sich abzuwenden als sich mit dem Gedanken, zu verzeihen, auseinanderzusetzen. Er weiß nicht einmal jetzt, obwohl er ein erwachsener Mann ist, ob er es könnte. Andererseits hat sich um ihn bislang niemand so sehr bemüht, wie es Endeavor und seine Frau bei ihren Kindern tun. Man sieht es, man hört es…man fühlt, dass es ehrlich gemeint ist. Hawks kann sich nicht vorstellen, dass seine Eltern so zu ihm stehen könnten. Vielleicht ist die Kluft dafür zu groß – zumal sein Vater im Gefängnis sitzt. Er hat ihn nicht ein einziges Mal besucht. Natürlich nicht. Doch selbst wenn es die Kommission nicht gegeben hätte, hätte er es wahrscheinlich nicht getan. Alles, was er von diesem Mann je bekommen hat, sind Schläge und Beschimpfungen. Was würde ihn wohl heute erwarten? Was sollte er überhaupt sagen? Hey Dad, sorry, dass ich erst jetzt komme. Hatte mega viel zu tun, Held sein und so, Menschenleben retten…und wie geht’s dir so? Ist das Essen im Knast gut? Oh, übrigens, ich arbeite mit dem Kerl zusammen, der dich damals verknackt hat. Ach – und mein Lover ist er nebenbei auch! Ob ich einen Vaterkomplex habe? Eh…da hab ich noch nicht so drüber nachgedacht…oh, und wo Mom ist, weiß ich nicht. Nachdem sie mich an Endeavors Schurken-Sohn verkauft hat, ist sie einfach abgehauen. Ein absolutes No Go. Auch wenn dieses Gespräch in seinem Kopf natürlich über alle Maßen überspitzt ist. Gerade jetzt, nachdem Endeavors Ruf ohnehin schon im Eimer ist, darf niemand davon erfahren, was zwischen ihnen ist. Oder war. Hawks weiß es nicht. Was er zusammen mit Best Jeanist entschieden hat, dass sie hinter der Nummer 1 stehen werden, dazu steht er einhundertprozentig. Jemand, der sich so sehr bemüht, seine Fehler gutzumachen, und offensichtlich unter ihnen leidet – den wird er nicht fallen lassen. Er kann Endeavor…Enji nicht fallen lassen. Auch wenn er und seine Frau Dabi geschaffen haben, für seine Entwicklung mit verantwortlich sind – sie sind sich dessen bewusst und wollen dafür geradestehen. Vielleicht ist es unter anderem das, was Hawks Angst macht, obwohl es das Richtige ist. Rei scheint gar nicht so labil zu sein, wie es anhand der Vergangenheit zu erwarten gewesen wäre. Nicht mehr zumindest. Hawks hat die Entschlossenheit in ihrem Blick gesehen…und es beeindruckt ihn. Weil er nicht glauben kann, dass seine Mutter so etwas jemals für ihn hätte aufbringen können. Er auch nicht für sie oder seinen Vater, um fair zu sein. Jedenfalls hat er Enjis Reaktion darauf gesehen. Plötzlich ist es nicht mehr nur die Maske, die ihn wie Hannibal Lecter aussehen lässt, die ihn einengt. Es ist die Furcht davor, dass Enji sich gegen ihn und für Rei entscheiden könnte, sollte sie dies wollen. Einen Neuanfang. Einen, bei dem Hawks nichts zu suchen hat. Das alles rückt in weite Ferne, denn sie haben momentan andere Probleme. Eigentlich sollte er professionell genug sein, um all das auszublenden, doch wie gesagt – da ist so viel zu reflektieren. Obwohl er gut im Verdrängen ist, fällt es ihm gerade schwer. Er möchte für Enji da sein. Ihn fragen, ob zwischen ihnen trotz aller Geheimnisse alles okay ist. Sie haben doch eine Beziehung? Eine momentan stillgelegte zwar, aufgrund der Umstände, aber es ist dennoch eine Beziehung, nicht wahr? Da ist so viel Ungesagtes zwischen ihnen…und trotzdem die Welt um sie herum im Chaos versinkt, muss er unter vier Augen mit dem Mann reden, der alles für ihn ist. Drei Tage ist es her, dass sie beschlossen haben, als Team zusammenzuarbeiten. Sie, die Top Drei, All Might und Midoriya, der unscheinbare Junge, in dem so viel mehr steckt. Der Junge, den sie beschützen müssen, und Hawks weiß, dass das hier nicht der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch über ihre Beziehung ist, doch er muss Klarheit haben. Es ist alles schwer genug, sodass er sich nicht ständig fragen will, woran er ist. Die Halskrause sowie die Maske kann er zum Glück endlich ablegen, mit seiner eigenen Stimme sprechen, anstatt sein Handy dafür zu benutzen. Wenn er schon nicht fliegen kann, ist das wenigstens ein kleiner Trost. Ganz sind die Schmerzen noch nicht verschwunden, aber es lässt sich aushalten. Er trägt seine Alltagskleidung, weißes Shirt mit dunkler Jacke, Jeans und Sneaker. Ein Stück Normalität. Hawks sammelt sich und klopft an die Tür zu Endeavors Zimmer. Er hat ihm dieses süße Zuckerzeug als Geschenk mitgebracht, das er so gerne isst und bei dem Hawks nicht verstehen kann, warum ihm das überhaupt schmeckt. Er selbst würde Yakitori immer vorziehen, aber gut, jedem das Seine. Ihm wird flau im Magen, als er ein Brummen vernimmt, das ihm signalisiert, dass er hereinkommen darf. Er schiebt den Kopf zur Tür rein und grinst den Hünen im Bett viel munterer an, als er sich fühlt, und er weiß selbst nicht, ob das bloß Gewohnheit ist oder eine Taktik, mit der er sich schützen will. Schließlich steht da einiges zwischen ihnen. „Zimmerservice!“, flötet er los und hebt die Tüte kurz an, ehe er eintritt und die Tür hinter sich schließt. Der Raum ist karg und steril wie eh und je, die wenigen Gute-Besserung-Geschenke stehen auf einem Tisch in der Ecke. Blumen, Präsentkörbe…anscheinend gibt es doch noch Fans, die ihm zur Seite stehen werden. Nicht alle haben ihn fallen lassen. Hawks wird ihn nicht fallen lassen. Enji sieht immer noch mitgenommen aus, auch wenn er das Krankenhaus morgen verlassen darf – seine Atemmaske muss er nicht mehr tragen. Das Schlimmste ist sein Blick, der zwar nicht mehr ganz so gebrochen wirkt, jedoch sieht man ihm die Zerrissenheit darüber, was passiert ist, deutlich an. Kein Wunder. Dabi hat alles gegeben, um seinen Vater zu zerstören. Vielleicht hat Dabi Gründe, jedoch sind es in Hawks‘ Augen keine, die rechtfertigen, was er getan hat. Die Morde, mit denen er sich rühmt. Die Zerstörung der Weltordnung. Offensichtlich war ihm Enji kein guter Vater, aber hey, wenn es danach geht, da kann Hawks auch ein Lied von singen – und er ist kein durchgeknallter Mörder geworden. Für ihn ist das weder Rechtfertigung noch Entschuldigung. „Dir geht’s wohl besser“, hört er Enji murmeln, wobei dieser ihn mustert. Sein Blick bleibt dabei viel zu lange an den noch geschwollenen Narben an seinem Hals und Gesicht hängen – ebenso wie ihm das Fehlen seiner Flügel auffallen muss. Wenn man es gewöhnt ist, ihn mit den roten Schwingen zu sehen, muss er genauso unvollständig wirken, wie er sich fühlt. Selten hat er kaum noch Federn, ist es nicht gewöhnt, so lange ohne sie herumzulaufen. Generell so viel zu laufen. „Unkraut vergeht nicht“, scherzt er weiter, um seine Unsicherheit zu überspielen. Er öffnet die Tüte und platziert die kleine Plastikschachtel auf seinem Beistelltisch. Enjis Blick bleibt kurz daran hängen, doch erwartete Sprüche von wegen, dass er das nicht verdient habe, bleiben zum Glück aus. „Danke“, sagt er bloß leise und Hawks lächelt schief. Er setzt sich zu ihm auf die Bettkante, wobei Enji den Blick Richtung Fenster schweifen lässt. Eine Weile ist es still zwischen ihnen, denn Hawks weiß nicht, wie er anfangen soll. Normalerweise findet er immer irgendwelche Worte, doch gerade schnürt sich ihm eher der Hals zu. „Bist du wütend auf mich?“ Es ist das Erstbeste, das ihm einfällt, da der Ältere keine Anstalten macht, die Stille zu brechen. Direkt richten sich die türkisfarbenen Augen auf ihn – und Hawks fällt unweigerlich erneut auf, wie mitgenommen Enji aussieht. Als wäre er um Jahre gealtert, die Augen geschwollen, dunkle Ringe darunter. Es ist nicht so, als würde ihn das abschrecken – im Gegenteil, dieses Maß an Gefühlen, das der andere zeigt, macht ihn für Hawks bloß anziehender. Weil es bestätigt, dass Enji zwar nicht alles richtig gemacht hat, dies aber bereut und versucht, ein besserer Mensch und Vater zu sein. „Wütend“, wiederholt er das Wort tonlos. „Wenn hier jemand wütend sein sollte, dann wohl eher du.“ Hawks blickt ihn ruhig an. „Ich war nicht ehrlich zu dir. Der Nomu damals, von dem ich wusste…Best Jeanist…meine Rolle in dem Ganzen. Die Kommission“, erwidert er, doch Enji schnaubt daraufhin. „Das spielt keine Rolle. Du hast bloß deine Tarnung aufrechterhalten. Hättest du mich nicht gewarnt, hätten wir nie von den Plänen der League erfahren. Noch mehr Menschen wären gestorben, One For All wäre ihnen vielleicht in die Hände gefallen…nein. Ich bin nicht wütend auf dich. Ich…bin froh, dass du lebst.“ Die Worte sind wie Balsam für Hawks‘ Seele und ein bisschen lässt seine Anspannung nach – zumindest bis Enji weiterspricht. „Du solltest wütend auf mich sein. Es ist, wie er gesagt hat…man erntet, was man sät. Deine Verletzungen sind meine Schuld. Ich…meinetwegen ist er geworden…was er heute ist…“ Er ballt dabei die großen Hände zu Fäusten, schaut verbittert vor sich hin. Dass Enji wegen ihm Schuldgefühle hat, ist das Letzte, das Hawks will. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass er sie ihm nicht nehmen kann. Vermutlich würde er an seiner Stelle genauso empfinden. „Du hast Fehler gemacht, wie wir alle“, meint er dennoch. „Helden sind auch nur Menschen. Menschen machen Fehler. Das gehört dazu. Du warst ihm nicht der beste Vater…aber letztendlich hat er seine Wahl selbst getroffen. Deine anderen Kinder sind auch keine Mörder geworden, trotzdem ihr kein gutes Verhältnis habt. Meine Verletzungen sind nicht deine Schuld.“ Hawks möchte am liebsten nach seiner Hand greifen, die auf der Bettdecke liegt, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, doch er kann sich nicht dazu überwinden. Vielleicht ist es zu viel. Reden ist wohl gerade angebrachter. „Es ist meine Schuld“, widerspricht Enji und blickt ihn wieder direkt an. „Du willst es nur nicht sehen, weil du dich an dieses falsche Bild von mir klammerst. Du denkst, dass meine Heldentaten aufwiegen, was ich meiner Familie angetan habe – doch so ist es nicht. Was da draußen passiert…das Chaos…die Verzweiflung der Menschen, die den Glauben verloren haben…das alles passiert wegen meiner Fehler.“ Hawks will sagen, dass das auch passiert, weil Dabi ein manipulativer Scheißkerl ist, der die Schwächen anderer riechen kann und auszunutzen vermag. Er ist effizient in dem, was er tut. Seine tragische Geschichte zu benutzen, um die Helden in Verruf zu bringen und die Gesellschaft zu entzweien. „Ja. Fehler, die du wieder gutmachen willst“, sagt er stattdessen. „Ich klammere mich nicht an irgendein falsches Bild. Ich sehe bloß, wer du bist. Das habe ich immer.“ Seine bernsteinfarbenen Augen bohren sich fest in die des anderen; er wird sich nicht von ihm wegtreiben lassen, denn damit hat er gerechnet. „Takami war kein guter Mann.“ Der Name durchfährt Hawks wie ein Peitschenschlag, trotzdem er ihn in letzter Zeit öfter hat hören müssen. Er hat sich zu lange nicht mit seiner Vergangenheit identifiziert – und diesen Namen aus Enjis Mund zu hören, lässt ihn sich anspannen. „Daher musste ich ihn festnehmen“, fügt dieser an. „Ja“, brummt Hawks gedehnt. „Wem sagst du das? Aber falls du denkst, dass ich deswegen böse auf dich bin, kann ich dich beruhigen. Ich bin dir dankbar dafür.“ Enjis Blick gefällt ihm nicht, denn da ist keine Erleichterung. Nicht mal ein Funken. „Das dachte ich mir schon“, gibt er zurück und sieht dabei aus, als würde er sich unwohl fühlen. „Dafür…hast du mich zu sehr idealisiert. Deine Worte…du denkst, ich hätte dich gerettet, nicht wahr?“ Hawks versteht nicht, warum er es so sagt, als wäre es anders. Es weckt die Wut in ihm, doch er reißt sich zusammen. Noch. Kommt ganz darauf an, in welche Richtung dieses Gespräch gehen wird. Er hat da eine leise Ahnung, denn Enjis Worte zu seinem Vater könnten bedeuten, dass dieser vermutet, dass seine Kindheit alles andere als rosig gewesen ist – womit er Recht hätte. „Du hast mich gerettet“, erwidert er stur, doch Enji schnaubt abfällig. „Ich habe meinen Job gemacht. Mehr nicht. Du schuldest mir nichts.“ Wenn Hawks ehrlich ist, kommt das hier nicht überraschend. Er hat befürchtet, dass Enji ihn in diese Schublade steckt. Alles in ihm sträubt sich dagegen, doch wenn er jetzt aus der Haut fährt, bestätigt er ihn. Er will nicht mit Enji darüber sprechen, wirklich nicht, aber er muss. Spätestens in diesem Moment, in dem er ihn in die Opferrolle drängen will. Vielleicht ist er das mal gewesen. Als Kind sicherlich. „Es geht hier auch nicht um irgendwelche Schulden“, entgegnet er kühl. „Bevor du ihn festgenommen hast, hab ich selten mehr gesehen als diese abgewrackte Hütte, in der ich eingesperrt war. Meine Eltern…sie waren beide…kaputt. Nicht fähig, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen und ich war bloß ein Klotz an ihrem Bein. Die Kommission hat mir keine Freiheiten gelassen, aber sie hat mir die Möglichkeit geboten, etwas aus meinem Leben zu machen. Jemand wie du zu werden. Gutes zu tun. Meine Fähigkeiten auszubauen. Bevor du aufgetaucht bist, waren Helden für mich bloß Science Fiction. Nicht real. Ohne dich wäre ich dort vielleicht niemals rausgekommen, also ja, natürlich bin ich dir dankbar.“ Enji weiß anscheinend nicht, was er sagen soll, so wie er die Lippen zusammenpresst. Überzeugt ist er nicht, das merkt man. Es ist frustrierend, dass er versucht, ihm madig zu machen, was er bewundert und liebt. Aber er weiß auch, dass dieses Gespräch unvermeidbar ist. Egal, wie die Zukunft aussieht. „Du bist ein gebranntes Kind, Hawks“, knurrt er. „Deine Zuneigung für mich basiert auf den falschen Gründen.“ „Was wären denn die richtigen?“, fragt er herausfordernd. „Jedenfalls nicht…das“, knirscht der Rothaarige. „Denkst du, wir sind dieses typische Klischee? Vaterkomplex? Opfer wird vor seinem Peiniger gerettet und landet dann in einer gewalttätigen Beziehung? Du hast mir nie wehgetan. Nicht einmal. Und du hast mir nie das Gefühl gegeben, nichts wert zu sein, Enji. Also tu uns beiden den Gefallen und fang jetzt nicht damit an.“ Selbst wenn es damit zu tun hat, ist es immer noch sein freier Wille, der ihn bei diesem Mann hält. Enji ist nicht wie sein Vater. Er ist kein Feigling. Kein schlechter Mensch. Er stellt sich seinen Taten. Vielleicht hätte sein Vater das auch getan, wenn Hawks ihm nicht den Rücken gekehrt hätte. Vielleicht auch nicht. Er weiß es nicht. Aber er weiß, dass Endeavor sein Leben gerettet hat und dass seine Gefühle für Enji keine Schwäche sind. Idol hin oder her, er ist nicht verblendet. Er versteht, was Enji getan und dass Dabi die Wahrheit gesagt hat. Ein wenig für seine Zwecke verdreht, aber der Kern stimmt. Es ist nicht so, dass Hawks das alles ausblendet, aber an der Vergangenheit festzuhalten hat noch niemandem geholfen. „Ganz ehrlich“, bricht Hawks die Stille, als Enji eisern schweigt. „Wenn du mich nicht mehr willst, dann sag es. Such keine Gründe, um mich zu vertreiben, sondern sei ehrlich.“ Der andere hebt den Kopf so ruckartig, dass er den breiten Nacken knacken hört. „Was soll das heißen?“, knurrt er ihn an. „Hier geht es nicht um mich, sondern um dich.“ „Sicher?“, erwidert Hawks trocken. „Ich hab deine Frau erlebt. Sie ist viel stärker, als Dabi der Welt Glauben gemacht hat. Vielleicht habt ihr ja eine Chance auf einen Neuanfang, wenn ihr es noch mal versucht. Ihr seid immer noch verheiratet. Es könnte eure Familie wieder vereinen.“ Er will nicht zeigen, wie viel Angst ihm diese Option macht, denn es gibt sie. Nie würde er Enji irgendwelche Steine in den Weg legen, nur um ihn an sich zu binden. Wenn er ihn nicht mehr will, wird er ihn gehen lassen. Ohne Drama. Auch wenn es wehtun wird. Dass sich Enjis Miene verfinstert, ist ausnahmsweise mal ein gutes Zeichen. Wenn er ihm hiermit in die Hände spielt, würde da mehr Erleichterung sein. Hoffentlich. Hawks will glauben, dass er dasselbe für ihn empfindet und ihn tatsächlich bloß vor sich schützen will. Weil er denkt, dass Hawks durch seine Vergangenheit gebrochen ist. Es zeigt, was für ein Mann er ist. Dass er sich nicht in ihm getäuscht hat. „Du denkst, ich suche Ausreden, um wieder…nein. Rei würde nie…und ich ebenfalls nicht. Dafür ist zu viel passiert. Ich bin einfach nur froh, dass sie wieder…in einem Raum mit mir sein kann. Dass sie mit mir redet. Das ist mehr, als ich bis vor kurzem gehofft habe. Wir raufen uns für unsere Kinder zusammen. Für Touya. Das hat nichts mit unserer Ehe zu tun. Das ist vorbei.“ Die Worte erleichtern Hawks ungemein und abermals erwischt er sich dabei, wie seine Finger zucken. Er will ihn berühren, aber er weiß nicht, ob das okay ist. Auch, weil jederzeit jemand hereinkommen könnte. „Warum willst du mir dann einreden, dass ich dich nicht will?“, fragt er ruhig, obwohl er es ahnt. Enji hadert mit sich, doch diesmal bricht Hawks die Stille nicht. Er will es von ihm hören. „Weil ich…dich nicht mit mir in den Abgrund reißen will“, bringt er schließlich hervor. „Deine Wunden, deine Flügel…sag, was du willst, aber es ist meine Schuld. Ich habe Dabi durch meine Sünden geschaffen. Die Kommission gibt es nicht mehr. Du könntest zum ersten Mal frei sein…dafür brauchst du mich nicht. Im Gegenteil, mein Ruf wird dir schaden. Die Menschen verachten mich…und sie werden dich ebenso verachten, wenn du mir den Rücken stärkst…oder wenn rauskommt, dass wir…“ Enji muss nicht zu Ende sprechen, es ist klar, was er meint. Es ist ein Risiko, ist es immer gewesen, doch ist ihnen beiden immer bewusst gewesen. Diesmal greift er nach einer von Enjis Pranken, drückt diese fest und sieht ihm in die Augen. „Die Menschen verurteilen nicht nur dich. Ich hab’s dir bereits gesagt, draußen herrscht Chaos. Ob ich hinter dir stehe oder nicht, sie wissen, dass ich der Sohn eines Verbrechers bin. Es gibt ein Video von mir, wie ich Bubaigawara von hinten ersteche. Bubaigawara, der mir vertraut hat. Ich weiß, dass ich es tun musste, aber…er hat das nicht verdient.“ Tief atmet er durch, denn dieser Mord lastet schwer auf ihm. Weil Bubaigawara und er…so etwas wie Freunde gewesen sind. Scheinbar. Er ist ein guter Kerl gewesen. Jemand, den Hawks bewundert. Und um den er trauert, wenn er es auch nicht offen zeigt. „Hawks…“ Enji entzieht ihm seine Hand nicht und das gibt ihm Hoffnung, dass er ihn nicht wirklich von sich stoßen will. Dass das der unnötige, aber rührende Versuch ist, das Richtige zu tun. Für ihn. Hawks. Weil sich darum irgendwie bisher niemand geschert hat. Generell um seine Gefühle. Für seine Eltern ist er nur Ballast gewesen. Für die Kommission ein Werkzeug. Für Enji möchte er eine Stütze sein. Der Wind in seinem Rücken – auch wenn das ohne seine Flügel schwer ist. „Ich weiß, dass ich obsessiv bin, was dich angeht. Du bist mein Antrieb gewesen, mein Held…ich wollte werden wie du. Das hat mich das harte Training überstehen lassen. Ich brauchte ein Ziel und das musstest du sein. Und vielleicht habe ich sogar einen Vaterkomplex – ich meine, hey, wäre krass, wenn ich keinen hätte, nach allem, was gewesen ist.“ Enji kann darüber nicht lachen, aber wenigstens zieht er die Hand nicht weg, sodass Hawks fortfährt. „Ich wollte dich damals so unbedingt kennenlernen. Ich musste wissen, ob du so bist, wie ich mir dich vorgestellt hatte – und du warst sogar noch großartiger. Wie du den Nomu bezwungen und allen gezeigt hast, dass du es verdienst, die neue Nummer 1 zu sein – das hat mich beeindruckt. Und gleichzeitig habe ich mich so schäbig gefühlt, weil ich ihn dir praktisch auf den Hals gehetzt habe. Weil ich dich angelogen habe. Die Narbe in deinem Gesicht…ich hatte immer das Gefühl, dass das meine Schuld ist.“ Es ist das, was ihm schon lange auf der Seele brennt. Erst jetzt kann er es Enji erzählen, denn er ist kein Spion mehr. Er kann endlich absolut ehrlich sein – auch wenn es sich falsch anfühlt. Viel zu lange hat er seine Emotionen verborgen. Er hat gelernt, mit der Maske zu leben. Enji hat ja keine Ahnung, was es ihm bedeutet, als er den Druck seiner Finger erwidert, seine Hand nun in die seine nimmt. Sie verschwindet regelrecht in seiner Pranke. „Ist es nicht“, erwidert er leise. „Du konntest es mir damals nicht sagen, das verstehe ich. Du hast mit mir zusammen gekämpft. Mir den Rücken gestärkt und mir vertraut. Das ist mehr als genug. Und die Narbe…die habe ich verdient. Wäre ich gestorben, wäre es meine eigene Unzulänglichkeit gewesen.“ Es tut so gut, das zu hören, denn es hat ihm Sorgen bereitet. „Und…was das andere angeht“, redet der Rothaarige weiter und wischt sich einmal mit der freien Hand übers Gesicht. „Ich will dir nichts einreden. Ich will bloß sicher sein, dass du es nicht irgendwann bereust. Dass dir plötzlich klar wird, dass du deine Freiheit verschenkt hast, weil du glaubst, dass du mich brauchst.“ Hawks bringt dafür nur ein müdes Lächeln zustande. „Wäre das denn so furchtbar?“, fragt er und genießt die Wärme, die Enjis Finger ausstrahlen. „Wenn ich dich brauche?“ Er bemerkt das Zögern des Älteren, wie dessen Blick wieder zum großen Fenster flackert, wo sich mittlerweile dunkle Wolken zeigen. Vermutlich wird es bald ein Gewitter geben. „Während des Kampfes…als Touya…über dich gesprochen hat“, beginnt Enji nach einer Weile. „Ich hatte die ganze Zeit Angst davor, was er dir angetan haben könnte. Er hat damit geprahlt. Ich…habe das Schlimmste befürchtet…“ Dabis manischer Blick hat sich in Hawks‘ Erinnerungen gebrannt. Er wird ihn nie vergessen können. Den Hass und den Wahnsinn…und er ist nicht sicher, ob man diesen Kerl überhaupt retten kann. Vielleicht ist es dafür zu spät. Dennoch schweigt er und lässt den anderen reden, konzentriert sich auf die raue Stimme. „Dass er dir die Flügel…ich sehe dich an und ich kann nur daran denken, welches Leid ich verursacht habe. Dass du meinetwegen vielleicht nie wieder fliegen kannst.“ Hawks blickt ihn ruhig an, während die Worte auf ihn wirken. Nie wieder fliegen. Ja. Das kann sein. Dabi hat ihm den kompletten Rücken verbrannt, eine zinnoberrote Wundfläche, die allmählich vernarbt, zurückgelassen. Sein Quirk ist, was ihn ausmacht. War es immer. Doch selbst seine Flügel haben nie wirklich ihm gehört. „Weißt du, ob mit oder ohne Flügel…ich wollte immer nur jemand sein, der anderen hilft. Jemand, der nützlich ist. Ob ich fliegen kann oder nicht, es hat sich nicht geändert. Was ich für dich empfinde, hat sich nicht geändert. Was ich gesagt habe, meine ich auch so. Ich werde dir helfen, deine Last zu schultern…und ich will an deiner Seite sein. Wenn du mich lässt.“ Da ist etwas in Enjis Blick, das ihm deutlich macht, dass ihm das Gesagte etwas bedeutet. Eigentlich dürfte der andere keine Tränen mehr übrig haben – doch seine Augen schimmern verdächtig. Ein bisschen beneidet Hawks ihn dafür, dass er seine Gefühle so herauslassen kann, obwohl das sonst nicht seine Art ist. In ihm selbst hat sich so vieles aufgestaut, doch er hat gelernt, es in sich zu verschließen. „Hawks…“ Abermals ist er froh, dass Enji nicht einmal fragt, ob er ihn weiterhin so nennen soll, sondern es einfach tut. Der Name Keigo ist ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, welche zu ihm gehört, doch er identifiziert sich nicht damit. Es ist eigenartig, ihn zu hören. Er braucht diesen Namen nicht. Das Zimmer wird für einen Moment in gleißendes Licht gehüllt, was nicht gerade romantisch ist, aber gut, das ist die ganze Situation nicht. Das grollende Donnern folgt, doch Hawks zuckt nicht mal mit der Wimper. „Es ist, wie du sagst. Ich bin jetzt frei. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen und ich werde sie nicht bereuen. Wenn ich dir sage, dass ich bei dir bleiben will, dann ist das die Wahrheit. Das hat nichts damit zu tun, dass ich eine schwere Kindheit hatte oder mir die Optionen fehlen.“ Obwohl es eine dumme Idee ist, rutscht er näher zu ihm heran, ihre Hände sind weiter ineinander verschränkt. „Und wenn es ein Fehler sein sollte, dann ist es mein Fehler. Vertrau mir einfach, dass ich schon damit klarkomme. Ich bin stark genug für jegliche Konsequenzen, hm? So wie du.“ Enji schluckt hart, man merkt, dass es ihm etwas bedeutet. Hawks hofft, dass er ihm glaubt, denn er wird von den Diskussionen müde. Er möchte sich am liebsten in seine Arme sinken lassen und die Nähe genießen, bis sie ihre neue Mission antreten müssen. Enji weiß nicht, wie sehr er ihm gefehlt hat. Die ganze Zeit hat er sich nach ihm gesehnt und gefürchtet, was danach passieren würde. Wenn es einer von ihnen nicht überlebt. Falls etwas schief geht und sie sich nicht wiedersehen. Oder wenn sich der Ältere von ihm abwendet, weil ihm die Wahrheit über ihn nicht gefällt. „Du bist viel stärker als ich“, hört er Enji brummen und muss warm lächeln. „In dem Fall kannst du dich umso mehr auf mich verlassen und deine Bedenken vergessen, hm?“ Enjis türkisfarbene Augen bohren sich in seine, erschöpft, aber dennoch intensiv. Dann zieht er ihn zu seiner Überraschung an sich, in seine Arme, und Hawks lässt ihn. Obwohl es fahrlässig ist und er nicht, wie sonst, sicher davor sein kann, dass gleich jemand zur Tür hineinkommt, lässt er sich fallen. Weil er es braucht. Die Nähe, Enjis Geruch, seinen muskulösen Körper an seinem. Nach allem, was passiert ist, gibt es ihm die nötige Sicherheit. „Vielleicht helfen wir uns einfach gegenseitig“, murmelt Enji und hält ihn ganz fest. Hawks lehnt den Kopf gegen seine breite Brust und nickt kaum merklich. „Klingt nach einem guten Plan, Großer.“ Das Prasseln der Regentropfen gegen die Scheibe hat plötzlich etwas Beruhigendes und Hawks‘ innere Anspannung fällt. Mehr noch, als Enji die Lippen in sein Haar drückt. Die Geste ist voller Zuneigung – und davon hat er in seinem Leben eindeutig zu wenig bekommen. Ebenso wie Wertschätzung. Nicht von den richtigen Personen. Und selbst wenn Hawks einen Vaterkomplex haben sollte, der ihn für Männer wie Enji empfänglich macht – scheiß drauf. Was spielen die Gründe schon für eine Rolle, wenn es dafür sorgt, dass er glücklich ist? Sein Leben ist noch nie normal verlaufen, warum also sollte es jetzt so sein? Das hier ist alles, was er will. Bei Enji sein, ihm eine Stütze…nein, sein Partner sein, und dafür sorgen, dass die Welt wieder in Ordnung kommt. Das wird sie. Irgendwie. Wenn sie alle an einem Strang ziehen. Hawks schließt die Augen und genießt, wie Enji seinen Rücken streichelt und einfach nur da ist. Es sind noch längst nicht alle Probleme gelöst, Wunden müssen heilen – physisch und psychisch, aber wenn sie zusammenhalten, wird das schon. Der Feind ist noch da draußen, der Kampf noch nicht vorbei. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, der auf sie wartet – und er will sie auskosten, solange er kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)