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Hello!Project Online

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Der Wald und die Nacht

Die hölzerne Treppe des Barhauses knarrte entsetzlich. Von unten war kein Geräusch zu vernehmen. Trotzdem verriet das stetig flackernde Schimmern der Kerzenlichter, dass sich zumindest der Wirt noch in unmittelbarer Nähe befand.

Kamiko und Murotan standen still und in lauernder Position auf den ächzenden Stufen.

Sie waren die Kleinsten und damit die Leichtesten in der Gruppe. Der Plan bestand darin, dass sie die Treppe hinunterschlichen, am besten ohne Geräusche zu verursachen, und die Lage vor der Bar auskundschafteten. Das hatte sich womöglich jetzt schon erledigt, dachte sich Kamiko. Die knarzende Treppe dieses Gasthauses war der Tod einer jeden Geheimaktion. Selbst die besten Diebe hätten sich vor ihr geschlagen geben müssen.

Murotan, die bei jedem Knacken des Holzes halb erstarrte und sofort in ihren Bewegungen innehielt, fluchte leise:
 

„Da können wir auch gleich wie die Trampel rennen und allen schreiend Bescheid geben, dass wir jetzt verschwinden. Es würde keinen Unterschied machen.“
 

Kamiko fand es irgendwie ironisch, diese Worte ausgerechnet aus dem Mund der Chaoskönigin zu hören. Nichtsdestotrotz hatte sie Recht. Im Grunde war ihre Heimlichtuerei nun aufgeflogen.

Kurz entschlossen richtete sich Murotan auf, griff mit beiden Händen fest an das Geländer, stützte sich ab und sprang über die Barriere direkt nach unten in die Bar. Der harte Aufprall signalisierte, dass dies auf jeden Fall von den Bewohnern des Hauses gehört werden musste.

Kamiko hatte ihr entsetzt nachgeschaut. Ohne sich zu rühren, blickte sie, über das Geländer gelehnt, nach unten. Murotan winkte ihr fröhlich grinsend.
 

„Du kannst runterkommen. Hier ist niemand. Alles leer.“
 

Seufzend nahm die Schwarzhaarige den eigentlichen Weg. Unter Knarzen und Ächzen, was lange nicht so laute Geräusche verursachte wie der Sprung von Murotan, schritt Kamiko die Treppe hinunter.

Als sie an die Seite ihrer Kameradin trat, blickte sie sich im Raum um. Tatsächlich war niemand mehr anwesend. Selbst der Wirt war ausgeflogen. Das schien alles sehr suspekt. Ihre Nachbarin ging einige Schritte in Richtung Ausgang. Sie öffnete leise die Tür und lugte spähend hinaus. Scheinbar war nichts zu sehen, denn kurze Zeit später kam sie mit zuckenden Achseln zurück.
 

„Auf den Straßen ist niemand unterwegs. Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Das Barhaus hat auch als einziges noch Lichter an. Ansonsten ist es stockdunkel da draußen.“
 

Kamiko schloss die Augen. Sie fokussierte sich auf die umliegenden Strukturen und weitete ihren Geist aus. Ein schwach schimmerndes Leuchten umgab ihren Körper. Murotan fragte verschmitzt lächelnd:
 

„Erkennst du etwas?“
 

Für mehrere Minuten sprach keiner der beiden ein Wort. Die Chaoskönigin wartete in geduldiger Manier, während ihre Partnerin die Arbeit verrichtete. Kamiko hatte eine Art Druckwelle ihres Geistes in jeden Winkel des Dorfes entsandt. Sie suchte nach, wie sie es nannte, Schwarzen Seelen.

Die Fähigkeiten des jungen ANGERME-Mitgliedes hatten sich auf der zweiten Mission mit ihr herauskristallisiert. Es stellte sich heraus, dass Kamiko eine besondere Begabung besaß, die Kenntnis des Geistes anzuwenden. Sie war einerseits in der Lage, ihr Bewusstsein um einen bestimmten Radius zu erweitern, und somit alles zu erfassen, was ihr in diesem auferlegten Zirkel vor das innere Auge stoß. Das wirklich Eindrucksvolle jedoch war die zusätzliche Möglichkeit, die Hülle von fokussierten Zielen genauestens durchleuchten zu können. Vitale Zustände. Seelische Befindlichkeit. Sogar das vorhandene Gleichgewicht zwischen Energie und Geist blieb ihr nicht verborgen, weshalb sie bereits zweimal von Goto Maki um Hilfe gebeten wurde bei medizinischen Analysen. Zuletzt bei dem Mädchen mit dem Namen Yokoyama Reina.

Da ihre Teammitglieder nicht genau verstanden, wie diese Art der Bewusstseinserweiterung funktionierte, sie hatten es alle nacheinander selbst ausprobiert und waren kläglich gescheitert, musste Kamiko auf die simple Beschreibung von Farben zurückgreifen, um ihren Empfindungen Ausdruck zu verleihen. So hatten beispielsweise Grüne Seelen eine positive Ausstrahlung. Sie besaßen keine bösen Absichten und befanden sich im Gleichgewicht mit ihrem Umfeld. Gelbe Seelen hingegen schlossen auf eine innere Zerrissenheit. Meistens hatten solche Ziele vor kurzem ein lebensentscheidendes Ereignis hinter sich gebracht oder dachten noch immer über dieses nach. Die Roten Seelen galten als potentielle Gefahr. Ihre Balance war gestört und das Gedankengut wirkte zweifelhaft.

Doch die von ihr bezeichneten Schwarzen Seelen waren das Schlimmste, was passieren konnte. Diese Personen, die solch eine teuflische Aura mit sich trugen, waren auf Tod, Verderben und Chaos aus. Solche Ziele mussten gemieden oder, falls es nicht anders möglich war, schnellstmöglich neutralisiert werden.

Kamiko öffnete langsam die Augen. Das Schimmern um sie herum ließ augenblicklich nach. Murotan blickte sie erwartungsvoll an, doch die Schwarzhaarige schüttelte unsicher mit dem Kopf.
 

„Es befindet sich kein Jäger in unmittelbarer Nähe. Das ist merkwürdig. Hat sich Rina vielleicht verhört?“
 

Ihr Gegenüber verneinte das lächelnd.
 

„Rinapuu verhört sich nicht. Ihr zwei Sonderlinge habt zwar unterschiedliche Fähigkeiten, doch auf beides ist bisher immer Verlass gewesen. Ich gebe Ayaka Bescheid, dass die Luft rein ist.“
 

Murotan ließ die zweifelnde Kamiko zurück, während sie selbst mit langen Schritten die Treppe hinauf sprintete.

Das Mädchen mit den glatten, schwarzen Haaren hüpfte nervös von einem Bein aufs andere. Was war hier nur los? Waren sie wirklich in unmittelbarer Gefahr? Jäger waren für gewöhnlich grausam und gingen zuweilen äußerst taktisch vor. Doch bisher konnte ANGERME sie immer umgehen, nicht zuletzt wegen Kamikos Fähigkeit. Sollten sie also tatsächlich einen Weg gefunden haben, sich vor ihr bewusst zu verbergen, würde das bedeuten, dass sie von dem Mädchen und ihrem besonderen Status wussten. Dieser Gedanke machte Kamiko große Angst.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie fast nicht mitbekommen hätte, wie alle ihre Kameraden aufgeregt zu ihr traten. Murotan sagte hastig:
 

„Kassa hat etwas aus dem Fenster beobachtet, Kamiko. Das musst du dir anhören.“
 

Leicht benommen drehte sich die Angesprochene zu der Jüngsten. Diese lief puterrot an und murmelte:
 

„I-Ich weiß nicht, was ich da gesehen habe. Ich könnte mich auch irren…“
 

Take boxte ihr sanft gegen die Schulter und sagte:
 

„Hau es raus! Besser eine falsche Information als gar keine Information.“
 

Kassas volle Lippen bebten fürchterlich ehe sie antwortete:
 

„D-D-Da waren zwei Kapuzengestalten. In einer Gasse. S-Sie haben auf unser Haus gezeigt und s-sind dann weggegangen.“
 

Murotan fragte:
 

„Wann war das genau?“
 

Die Angesprochene dachte nach, doch Ayaka kam ihr zuvor:
 

„Vor ungefähr zehn Minuten bemerkte es Kassa. Es hätte also für Kamiko theoretisch möglich sein können, sie zu orten.“
 

Verunsichert ließ die Genannte ihren Kopf hängen.
 

„Ich habe jede Gasse überprüft und keine Schwarze Seele entdecken können.“
 

Kana stupste sie liebevoll an.
 

„Das bedeutet doch nur, dass sie das Dorf verlassen haben. Und genau das wollten wir ja sowieso erreichen.“
 

Rikako hingegen war nicht ganz so zuversichtlich.
 

„Wir müssen trotzdem davon ausgehen, dass die Feinde ein Mittel gegen Kamikos Fähigkeiten entwickelt haben oder zumindest wissen, wie sie diese umgehen können.“
 

Ayaka nickte zustimmend.
 

„Wir werden jetzt ganz ruhig den Ort verlassen. Der Wald sollte unser nächstes Ziel sein. Wir müssen uns unbedingt mit Maho treffen.“
 

Rina sprach mit unsicherer Stimme:
 

„In den Wald? Jetzt? Was ist denn, wenn sie uns dort auflauern?“
 

Keiner wusste darauf eine entkräftigende Antwort. Natürlich war es keine gute Idee nachts durch den Wald zu marschieren. Besonders nicht, wenn Jäger in der Gegend waren. Allerdings war Hierbleiben auch keine Option. Und der Wald wäre sowieso ihr nächster Bestimmungsort gewesen.

Kana schritt, wie es schon einige Zeit vorher Murotan getan hatte, zur Tür und spähte hinaus. Als sie sich sicher schien, dass keine fremde Person in der Nähe war, winkte sie die anderen zu sich.
 

„Ich denke, jetzt ist ein guter Zeitpunkt zum Aufbrechen.“
 

Take hob den Daumen, um ihr beizupflichten und flüsterte dann zielstrebig:
 

„Na dann los geht’s! Auf zur gruseligen Nachtwanderung in den dunklen, dunklen Wald.“
 

Ayaka warf ihr einen letzten vorwurfsvollen Blick zu, dann machte sich die Gruppe auf den Weg.
 


 


 


 


 

Das Mädchen mit den feuerroten Haaren hatte nicht zu viel versprochen. Zwischen dem Meer aus Bäumen herrschte stockfinstere Dunkelheit. Man konnte nicht einmal die eigene Hand vor den Augen sehen. Immer wieder hörte man das Wimmern von einem der Mädchen. Das ständige Knacken von Ästen in der Ferne und das unterbewusste Gefühl, dass sie blindlinks in eine Falle liefen, hinterließ bei jedem von ihnen einen unangenehmen Schauer auf dem Rücken.

Kassa klammerte sich angsterfüllt an Kana. Auch Kamiko hielt sich an Rina fest. Murotan hingegen, die längst nicht mehr so tough wirkte wie sonst, ging mutigen Schrittes voran. Take und Rikako folgten ihr in einigem Abstand. Ayaka übernahm die Nachhut.

Mehrere Stunden irrten sie nun schon durch das Dickicht. Anfangs hatte sie das Empfinden nicht losgelassen, beobachtet zu werden. Ihre Gedanken waren auf einen plötzlichen Hinterhalt fokussiert. Doch nichts dergleichen geschah. Dabei war das die perfekte Gelegenheit für die Jäger. Falls es überhaupt welche gab. Sogar Rina zweifelte inzwischen an dem, was sie gehört hatte. Kamiko fragte sie flüsternd:
 

„Und du bist dir ganz sicher, dass die Dorfbewohner von Jägern sprachen?“
 

Das ältere Mädchen mit dem runden Gesicht runzelte die Stirn.
 

„Eigentlich ja. Aber ich wäre ganz froh darüber, wenn ich mich geirrt hätte. Und zurzeit hat es den Anschein danach.“
 

Viele Worte wollte niemand groß verlieren, während sie durch den Wald streiften. Jeder war mit sich selbst und seinen Gedanken von Horrorszenarien beschäftigt. Kamiko plagten vergangene Gruselgeschichten von Hexen, die Kinder entführten und gesichtslosen Männern, die einen nie wieder aus ihrem Bann ließen. Sofort schüttelte es sie heftig vor Gänsehaut.

Plötzlich brach ein Leuchten in die Szenerie. Sie betraten eine Lichtung. Das blaue Schimmern des Mondlichts auf der flachen Wiese hätte einen wunderschönen Eindruck hinterlassen können, wäre die Lage der Gruppe nicht so dermaßen angespannt.

Die Mädchen traten in das Zentrum des Geschehens, welches so seltsam und unnatürlich auf sie wirkte. Keine Menschenseele war zu sehen. Trotzdem gingen sie in erwartungsvoller Haltung einen Schritt nach dem anderen. Sie rechneten jeden Moment mit einem Angriff. Für einen kurzen Moment vernahm man nur das sanfte Rauschen des Windes, der durch die Blätter wehte.
 

„Nordosten. Eine Person. Westen. Zwei Personen.“
 

Rinas hohe Stimme war ruhig. Kamiko wandte den Blick auf ihre Kameradin. Diese hatte die Hände trichterförmig an die Ohrmuscheln gelegt, um ihren Hörsinn noch zu verstärken. Ayaka gab die ersten Befehle:
 

„Wir formieren uns. Bleibt in Position bis ich euch etwas anderes sage.“
 

Für Kamiko und die anderen waren diese Kommandos reinste Routine. Sie übten sie beinahe täglich. Murotan und Rikako übernahmen die Front. Sie waren reine Bewegungskünstler. Hinter ihnen nahm Take ihre Stellung ein. Sie diente als Unterstützung der vorderen Linie. Da Kassa noch keine direkte Rolle im ANGERME-Gefüge besaß, wurde sie neben ihre Mentorin positioniert: Kamiko. Deren Aufgabe war es, die Koordination des Angriffes zu überwachen, die Standorte der Feinde beständig zu lokalisieren und deren taktischen Plänen zuvorzukommen. Außerdem, da sie keine medizinische Kraft im Bunde hatten, wurde der kleinen Schwarzhaarigen die Aufgabe zuteil, die Lebensenergie ihrer Kameraden im Auge zu behalten.

Die Nachhut übernahmen Rina, Kana und Ayaka. Die drei besaßen neben Take die größte Erfahrung im Kampf und konnten somit Situation bedachter und optimierter einschätzen als die hitzköpfigen Rikako und Murotan oder gar die Jünglinge. Sollte also irgendetwas schief laufen, konnten sie problemlos eingreifen und die Rolle ihrer Vordermänner mit Bravour ausfüllen.

Aus dem Dunklen vor ihnen ertönte eine raue Stimme:
 

„Sieh an, sieh an! Wen haben wir denn da? Haben sich etwa ein paar kleine Mädchen im Wald verirrt?“
 

Kamiko stockte. Das klang nach einem gewöhnlichen Menschen. Jäger redeten nicht so geschwollen daher. Sie waren nahezu perfekte Tötungsmaschinen und hatten kein Interesse an nutzlosem Small-Talk.

Ein Mann erschien im Schatten der Lichtung. Er war hochgewachsen, trug einen Stoppelbart und eine graue Mähne und schleppte eine schwere Keule mit sich. Die Waffe war ausgeschmückt mit ins Holz eingeschlagenen Nägeln.

Wie von Rina angekündigt tauchten auch aus westlicher Richtung zwei Männer auf. Ihre Gesichter waren zuerst mit Kapuzen bedeckt, jedoch nahmen sie diese beim Hervortreten ab. Das konnten die Personen gewesen sein, die Kassa vom Fenster aus beobachtet hatte. Beide hatten ein teuflisches Grinsen aufgesetzt. Der Größere von beiden, sein Gesicht war ganz vernarbt, sprach mit einer sehr tiefen, bedrohlichen Stimme:
 

„Ihr Gören aus dem Schloss habt echt Mumm in unser Territorium einzudringen. Kommt hierher mit euren feinen Klamotten und eurem vielen Geld und glaubt echt, dass man euch einfach so passieren lässt.“
 

So langsam löste sich die Spannung von ANGERME, welche sich über die letzten Stunden so maßlos aufgebaut hatte. Nun, da sie wussten, wer die unmittelbare Bedrohung war, konnten sie alle nicht anders, als vor Erleichterung aufzuatmen. Es waren nur Gefäße. Murotan, die bereits in Kampfhaltung gelauert hatte, musste sogar unentwegt grinsen. Schließlich sagte sie amüsiert:
 

„Na ihr seid mir ja ein paar Spaßvögel. Und wir dachten schon, dass Jäger hinter uns her sind. Das vereinfacht die ganze Angelegenheit natürlich.“
 

Ihre Kontrahenten reagierten auf diese Anmaßung mehr als wütend. Der Grauhaarige hob drohend seinen Schläger in die Höhe und trat mit langsamen Schritten auf die Gruppe zu. Der Vernarbte und sein Partner knurrten aggressiv und taten es ihm gleich.
 

„Ihr verwöhnten Schnallen solltet den Mund nicht soweit aufreißen. Gebt uns jetzt euer gesamtes Hab und Gut, einschließlich eurer wertvollen Kleidung.“
 

Die Männer lachten bösartig und waren inzwischen sehr nah gekommen. Kamiko entspannte ihre Züge und kratzte sich etwas irritiert an der Wange. Wie waren sie denn in solch eine unangenehme Situation geraten?

Der Kleinste von ihnen bemerkte die Geste und nahm es sofort als Provokation auf. Sein schriller, wütender Ton hallte über die Lichtung:
 

„Mit dir fangen wir an, Winzling! Runter mit dem Stoff. Wenn du Glück hast, sind wir auch ganz sanft zu dir.“
 

Rikako trat zwischen den Sprecher und Kamiko. Genervt antwortete sie:
 

„Das reicht jetzt so langsam. Keiner von uns will hier irgendwas ausziehen. Wenn ihr unbedingt nackte Haut sehen wollt, dann schlage ich euch vor, dass ihr euch einfach gegenseitig betrachtet. Auch wenn ich verstehen kann, dass das für keinen von euch ein angenehmer Anblick werden würde.“
 

Obwohl Kamiko den Schutz nicht bedurft hätte, freute sie sich darüber, dass ihre Freundin sie verteidigte. Der Vernarbte schrie zornig:
 

„Du wagst es…“
 

Murotan legte den Zeigefinger auf die Lippen:
 

„Psst! Du weckst sonst noch Bambi auf.“
 

Damit hatte die Chaoskönigin den Bogen überspannt. Rasend vor Wut rannten die Banditen auf die Gruppierung zu. Alles ging Schlag auf Schlag.

Murotan hatte blitzschnell zu einer Vorwärtsbewegung angesetzt. Ihr Faustschlag schoss in unsagbarer Geschwindigkeit durch die Luft, sodass man den Zusammenprall mit dem Körper ihres Gegenübers nur hören konnte, aber nicht sah. Der Grauhaarige schlitterte über den Boden der Lichtung und riss ganze Batzen von Wiesenballen mit sich.

Zeitgleich war Rikako in die Luft gesprungen und hatte mit einem gezielten Tritt den Vernarbten ausgeknockt, indem sie einen Volltreffer an dessen Schläfe vollführte.

Neben Kamiko tauchte plötzlich der kleinere Mann auf. Seine weitaufgerissenen Augen zeigten die Gier seiner Seele. In eben jenem Moment wollte Kamiko zur Wehr ansetzen, doch plötzlich stöhnte ihr Peiniger schmerzhaft auf und sackte auf der Stelle in sich zusammen. Ein Mädchen hatte ihm eine wuchtige Kopfnuss verpasst.

Zuerst dachte Kamiko, dass es Kassa war. Die stand jedoch immer noch vollkommen regungslos hinter ihr und hielt sich am Saum des Oberteils ihrer Mentorin fest. Also blickte sich Kamiko das Mädchen neben ihr genauer an. Auch Murotan, die immer wieder die Hände zusammenklatschte, als hätte sie sie sich irgendwo schmutzig gemacht, kam lachend zu ihnen.
 

„Na das ist ja eine Überraschung. Du bist zeitig dran, Maho.“
 

Dann erkannte Kamiko sie auch. Das Zusammenspiel aus Licht und Schatten auf der Lichtung hatte es schwer gemacht, sie zu erkennen: Aikawa Maho, das neunte Mitglied von ANGERME. Nun war die Gruppierung endlich wieder vollständig.

Ihre schwarzen Haare waren zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden. Ihr Gesicht hatte für Kamiko eine lustige Form. Die Stellung der Augen, die so weit auseinander lagen, hatte für das Mädchen immer eine gewisse Ähnlichkeit damit, wie sie sich ein Alien vorstellte.

Die Neue kratzte sich peinlich berührt am Kopf, wandte sich zu Kamiko und entschuldigte sich lächelnd:
 

„Tut mir leid, kleine Moe. Du hättest ihn auch umboxen können, aber ich fand seine Frisur so unschön, dass ich unbedingt draufschlagen musste.“
 

Die Angesprochene starrte Maho entgeistert an. DAS war ihr Grund, warum sie eingegriffen hatte?

Die Gruppe bildete einen Kreis. Sie hatten die Männer an einen nahen Baum gefesselt und mussten nun beraten, wie es weiterging. Ayaka richtete das Wort an den Neuankömmling:
 

„Aiai, schön, dass du wieder da bist. Du warst bei den Waldbewohnern. Hast du etwas herausbekommen?“
 

Maho lächelte und schüttelte mit dem Kopf.
 

„Ich hatte laute Stimmen gehört, da wollte ich mal nachsehen, was los ist. Aber nein, Ayacho, leider haben sie nicht genug Betten, dass wir dort übernachten können.“
 

Ayaka starrte sie verwirrt an, Murotan klatschte sich lachend die Hand vor das Gesicht und Take schlug ihr gegen den Hinterkopf und rief laut:
 

„Mensch, das war doch gar nicht die Frage. Hast du herausgefunden, ob sich unsere Zielperson dort befunden hat?“
 

Das Gesicht von Maho hellte sich auf.
 

„Ah, ja! Natürlich! Ja, die Frau mit der Maske war zu Besuch da.“
 

Kanas Augen weiteten sich vor Aufregung.
 

„Bist du ihr begegnet?“
 

Die Ausgefragte schüttelte den Kopf.
 

„Nein, das nicht. Aber die Ansässigen haben mir erzählt, dass sich vor ein paar Tagen eine Frau mit Maske niedergelassen hatte. Sie wollte den Einheimischen bei ihrem Affenproblem helfen.“
 

Rina runzelte die Stirn.
 

„Affenproblem?“
 

Maho nickte hastig.
 

„Ja! Ihre Beerenpflücker wurden immer wieder von Riesenaffen überfallen. Das erzählten sie der Masken-Frau. Die hatte sich dem Problem angenommen und seitdem gibt es wieder Beeren im Walddorf. Doch nachdem die Affen erledigt waren…“
 

Take beendete den Satz:
 

„…ist auch die Frau verschwunden, nicht wahr?“
 

Die Zopfträgerin nickte erneut.
 

„Genau! Verrückt, oder?“
 

Ayakas Gesicht nahm nachdenkliche Züge an. Für einen langen Moment sprach niemand ein Wort. Dann seufzte die Anführerin resigniert und richtete ihren Blick auf die Banditen, die reglos in ihren Seilen hingen.
 

„Okay, dann haben wir jetzt erst einmal unsere Spur verloren. Da wäre es Zeitverschwendung, wenn wir ohne Plan durch die Gegend irren. Das Walddorf war unser letzter Anhaltspunkt. Wir nehmen diese Typen mit und geben sie bei den Hütern ab. Sie sollen sich um sie kümmern. Wir werden den Obersten des Schlosses berichten, was wir bisher in Erfahrung gebracht haben.“
 

Rikako gab mit einem spöttischen Unterton zu verlauten:
 

„Also… nichts?“
 

Ayaka lächelte.
 

„Wie oft kamen wir schon mit leeren Händen zurück?“
 

Take, die gemeinsam mit Murotan, Kamiko und Kassa die Banditen befreite, um sie dann langsam aus ihrer Bewusstlosigkeit zu holen, antwortete darauf belustigt:
 

„Viel zu oft!“
 

Ayaka grinste süffisant.
 

„Ganz genau! Und wie oft wurden wir dafür bestraft?“
 

Kana knuffte ihr in die Seite, bevor sie lachend von sich gab:
 

„Noch nie. Denn wir haben eine fantastische Anführerin.“
 

Die Gruppe lachte herzhaft und schnell verbreitete sich gute Stimmung unter ihnen. Lediglich Kamiko wandte sich auf dem Weg in Richtung Walddorf, wo sie die restliche Nacht überdauern wollten, bevor es endgültig nach Hause ging, ein letztes Mal leise flüsternd an Rina:
 

„Sag mal, gab es also doch keine Jäger?“
 

Ihre Kameradin dachte kurz nach und antwortete dann mit ihrer klaren Stimme:
 

„Es ist wirklich seltsam. Ich bin mir immer noch sicher, dass die Dorfbewohner von Jägern gesprochen haben. Aber vielleicht haben sie einfach nur die Banditen gemeint.“
 

Kamiko nickte zögerlich. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Schließlich murmelte sie:
 

„Das mag wohl so sein. Ich habe keine Schwarze Seele wahrgenommen. Diese komischen Typen sind zwar schlechte Menschen, aber sie besitzen nicht die böse Aura, die ich fürchte. Und trotzdem hatte ich so ein seltsames Gefühl im Dorf…“
 

Rina lächelte sanft.
 

„Mach dir keinen Kopf darum. Dann haben wir uns halt geirrt. Jetzt ist nur wichtig, dass wir uns an ein gemütliches Lagerfeuer setzen, etwas essen und die Augen zumachen.“
 

Die Schwarzhaarige stimmte ihr fröhlich zu. Doch die dunkle Vorahnung wollte sie dennoch nicht mehr verlassen.



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