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Hello!Project Online

von

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Grad Zero

An Räumlichkeiten mangelte es dem hiesigen Haushalt keinesfalls, dachte sich Reina belustigt. Sie waren bereits an unzähligen Türen vorbeigelaufen, während sie inzwischen den vierten Korridor betraten. Sollte dies tatsächlich ihr neues Zuhause werden, hoffte sie, dass der Weg zum Kühlschrank wenigstens ausgeschildert war.

Trotzdem gefiel es dem jungen Mädchen, sich an diesem Ort aufzuhalten. Jedes Zimmer, in das sie einen kurzen Blick erhaschen konnte, wirkte außergewöhnlich liebevoll gepflegt. Die Gänge waren durchflutet vom warmen Licht, welches von den hohen Decken auf sie hinunter schien. Der Boden war mit haselnussbraunem Laminat überzogen und wurde gleichermaßen durch rotgoldene und weißschwarze Teppiche verziert, ähnlich den Fahnen in der Eingangshalle. Beim Anblick der silbern funkelnden Ritterrüstungen an jedem Eck eines Korridors, fühlte sich Reina an ein zauberhaftes Prinzessinnenschloss erinnert. Woher dieser Gedanke kam, konnte sie jedoch nicht nachvollziehen. Er war einfach da. Und das stimmte sie seltsam glücklich.
 

„Wir sind da.“
 

Ihre Reiseführerin blieb abrupt stehen. Eine massive Holztür baute sich vor ihnen auf. Sie wirkte äußerst stabil und wies metallene Scharniere entlang der Ränder auf.

Reina wurde mulmig zumute. Was erwartete sie dahinter? Ein neues Leben? Alte Erinnerungen?

Erneut zierte ein Lächeln ihr Gesicht. Was es auch war, Reina fühlte sich zu allem bereit.
 

„Du scheinst glücklich zu sein. Das ist etwas ungewohnt für mich.“
 

Goto Maki musterte das grinsende Mädchen mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen. Normalerweise besaßen Neuankömmlinge vollkommen andere Arten von Emotionen. 

Angst. Unsicherheit. Zweifel. Wut.

All dies hatte die erfahrene Frau in vergangenen Zeiten erlebt. Doch niemals verspürte sie eine solche Harmonie und kindliche Naivität an ihrer Seite.

Mit einem leichten Stoß öffnete sie die Tür. Ein letztes Mal kehrte sie um, blickte mit funkelnden Augen in das sanft gebräunte Gesicht ihrer Begleitung und sagte:
 

„Ich glaube, wir dürfen viel von dir erwarten, Yokoyama Reina.“
 

Mit einem breiten Lächeln drehte sie sich um, trat in den Raum hinter der massiven Tür und lies die verdutzt dreinblickende Reina beinahe stehen.
 


 


 


 


 

Am Firmament entflammte derweil ein wunderschöner Sonnenuntergang, geprägt durch ein strahlend goldenes Gelb, welches in ein brennendes Orange überging und sich schließlich in immer dunkler werdenden Rottönen mit dem Horizont verband.

Kamikokuryo Moe lehnte in tiefer Entspannung über dem Geländer des Balkons, auf dem sie sich befand. Gedankenversunken blickte sie in die endlose Weite der Natur, welche sich vor ihr so vielfältig entfaltete.

Grüne Wiesen. Ein dunkler Wald. Hohe, blaue Berge mit weißen Zipfeln. Die Landschaft wirkte malerisch. Beinahe wie ein wunderschöner Traum, surreal und doch greifbar nah.

Kamiko, so wurde das junge Mädchen allseits genannt, spürte ein seltsames Gefühl von Fernweh in sich aufkeimen. So wann und dann kamen solche Regungen in ihr auf, doch auch nach über einem halben Jahr konnte sie immer noch nicht einordnen, woher diese Art der Gefühle stammte. In solchen Zeiten vernahm sie eine innere Leere. Ein Vermissen nach etwas, was da war und doch nicht. Möglicherweise war es ein Gedanke, den sie nicht greifen konnte. Oder vielleicht entsprang das Gefühl einem Bedürfnis, das sie nicht erfüllt bekam.

Letzten Endes konnte sie solange darüber nachdenken, wie sie wollte. Es gelang ihr nie, eine zufriedenstellende Lösung für das Problem zu finden. Aber wie sollte sie auch etwas lösen, was sie selber nicht einmal begriff.

Langsam spürte sie die aufkommende Kühle, die sich mit der Abenddämmerung bemerkbar machte. Nach den heißen Sommertagen der letzten Wochen war dies eine willkommene Abwechslung. Kamiko genoss den schwachen Wind, wie er durch ihre langen schwarzen Haare strich. Voll tiefer Entspannung schloss sie die Augen und ließ den Moment ruhig entschwinden.
 

„Du bist in letzter Zeit ziemlich häufig an diesem Ort.“
 

Eine vertraute Stimme beendete die Stille schlagartig. Kamiko öffnete die Augen und lächelte. Sie wusste genau, wer da hinter ihr, am Balkoneingang, stand. Sie drehte sich zu der Person um und antwortete:
 

„Es ist angenehm, am Ende des Tages ein paar Minuten für sich zu sein und noch ein wenig Energie zu tanken. Findest du nicht auch, Rikako?“
 

Die angesprochene Person, ein hochgewachsenes Mädchen mit schulterlangem, dunklem Haar, lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Rahmen der Tür. Ein tiefes Stirnrunzeln zog sich über ihr makellos hübsches Gesicht.
 

„Ich mache mir Sorgen um dich. Ab und zu etwas Luft zu holen ist absolut in Ordnung. Du kapselst dich allerdings in letzter Zeit immer mehr von der Gruppe ab. Die lachende Moe ist beinahe komplett verschwunden.“
 

Die Lippen von Kamiko nahmen schmalere Züge an. Der Kommentar hatte eindeutig ihre Gefühle getroffen, doch wollte sie sich dies auf keinen Fall anmerken lassen.

Das Mädchen namens Rikako bemerkte allerdings sofort, dass sie einen Nerv getroffen hatte und trat entschlossen einen Schritt auf Kamiko zu.
 

„Falls es wegen Kassa ist…“
 

Sofort riss Kamiko die Augen auf.
 

„Nein!“
 

Schweigen. Beide Frauen blickten sich intensiv an. Dann ertönte die Stimme des kleineren Mädchens erneut. Dieses Mal wirkte ihre Stimme schwächer.
 

„Nein, das ist es nicht.“
 

Obwohl sie eigentlich geplant hatte, ihrer Stimme mehr Nachdruck zu verleihen, wusste sie, dass ihr genau das Gegenteil gelungen war. Rikako hatte dies sicher auch bemerkt, so dachte Kamiko. Aus diesem Grund warf sie einen leicht verunsicherten Blick in Richtung der Person, die ihr nun direkt gegenüberstand.

Für einen kurzen Moment sagte niemand ein Wort. Keiner regte sich auch nur.

Plötzlich spürte Kamiko eine sanfte Wärme an ihrer linken Hand. Rikako hatte sie ergriffen und lächelte schwach, während sie wisperte:
 

„Du darfst dich nicht verstecken. Auch wenn du zurzeit das Gefühl hast, als würde es dir dadurch besser gehen. Letzten Endes wird es dich zerstören. Und das will ich nicht. Das will niemand von uns.“
 

Rikakos Augen funkelten. Kamiko liebte es, in diese haselnussbraunen Diamanten zu blicken. Sie gaben ihr das Empfinden tiefster Geborgenheit. Sie fühlte Sicherheit und Glück in der Nähe von Rikako. Keine andere Person vollbrachte dieses Kunststück für sie.
 

„RIKAKOOOOOO! KAMIKOOOOOO!“
 

Eine laute Stimme durchschnitt die Stille des Moments, der die seltsame Situation umgab. Die beiden jungen Frauen schreckten auseinander und blickten blitzschnell in Richtung der Balkontür. Keine Sekunde später erschien ein hellbrauner Schopf im Eingang und setzte beim Anblick der Szenerie ein breites Grinsen auf.
 

„Na da habe ich euch ja direkt in flagranti erwischt, würde ich sagen. Turteltauben in spe, he?“
 

Kamikos Augen weiteten sich vor Schreck und ihre Wangen färbten sich puterrot, während Rikako abwehrend ihre Arme vor der Brust kreuzte und hektisch antwortete:
 

„Murotan! Du siehst das falsch. Wir haben nur geredet. Nicht wahr, Kamiko?“
 

Die Angesprochene nickte panisch.
 

„Genau! Genau! Ich… Wir… äh…“
 

Das Fräulein namens Murotan lachte herzhaft. Japsend brachte sie hervor:
 

„Ihr solltet euch genau jetzt sehen. Der Sonnenuntergang ist nichts gegen die rote Farbe in euren Gesichtern.“
 

Kamiko und Rikako wussten darauf nichts zu erwidern und konnten die peinliche Situation nur aussitzen, bis Murota Mizuki, das war der vollständige Name der lachenden Frau, sich beruhigt hatte und sie endlich erlöste:
 

„Die neuen Kenshuusei sind nun vollständig anwesend. Maho interessiert sich nicht so besonders dafür und Take ist im Training, deshalb wollte ich euch fragen, ob ihr Lust habt, mich bei der Besichtigungstour zu begleiten.“
 

Bei den letzten Worten schlich sich ein verstohlenes Grinsen auf das Gesicht des Energiebündels. Ein Schauer lief Kamiko über den Rücken. Sie wusste genau, wie diese Besichtigungstour ablief. Sie hatte es bereits einmal mitgemacht. Im Normalfall versuchte man sich bei Kenshuusei-Einweihungsfeiern so rar wie möglich zu machen, einzig und allein aus dem Grund, damit man nicht die tragische Begleitung von Murotan war. Denn die hatte ihre eigene Art, die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Und dies war nie zum Vorteil von denjenigen, die sich an ihrer Seite befanden.

Rikako seufzte. Sie schien den gleichen Gedanken zu verfolgen wie Kamiko. Doch hatte Murotan eine Person ins Visier genommen, war es unmöglich, ihrem Bann zu entkommen. Und da die beiden Mädchen nicht noch weiter als Zielscheibe für den vorher inszenierten Spott herhalten wollten, hatten sie keine andere Wahl, als der Anfrage zuzusagen.

Murotan sprang vor Freude in die Luft.
 

„Hihi, das wird super. Die Neuen werden uns so richtig kennen lernen und nie wieder vergessen.“
 

Rikako warf Kamiko einen verächtlichen Blick zu und flüsterte:
 

„Eben das befürchte ich…“
 

Kamiko bemühte sich, ein Grinsen zu verkneifen und begleitete ihre beiden Kameradinnen ins Haus hinein.
 


 


 


 


 

Reina, immer noch an der Seite von Goto Maki, befand sich inzwischen in einem Raum, der starke Ähnlichkeiten mit einem Klassenzimmer hatte. Mehrere Holztische und -stühle nahmen den Großteil an Platz ein, während an der vordersten Front eine Art Leinwand aufgebaut war. Die leere Fläche zwischen der Leinwand und den Tischen umfasste etwa ein Viertel des Raumes. Der Boden war an dieser Stelle durch eine kleine Stufe erhöht und erinnerte Reina an eine Bühne. 

Wozu es wohl diente? Vielleicht benötigte derjenige, der seine Präsentation vor all den Zuhörern hielt, enorm viel Platz. Oder möglicherweise sollten mehrere Personen auf die Bühne passen, um etwas vorzuführen.

Doch während das Mädchen sich noch immer erstaunt umschaute, wies ihre Begleitung sie darauf hin, dass sie nicht allein waren.

Erst jetzt bemerkte Reina die anderen Gestalten, die an einer Ecke des Zimmers saßen oder gegen die Wand lehnten. Insgesamt fünf Personen. Allesamt Mädchen, die, zumindest auf den ersten Blick, alle ungefähr ihrer Altersgruppe entsprachen.

Bei diesem Gedanken hielt Reina kurzzeitig inne. Wie alt war sie eigentlich?

Exakt im selben Moment, als sie sich selbst diese Frage stellte, flüsterte ihr wieder die sanfte Stimme zu:
 

„Fünfzehn…“
 

Schlagartig blickte sie sich intensiver im Raum um. Niemand hatte sie direkt angesprochen. Weder Goto Maki noch eines der anderen Mädchen.

Aber warum hätten sie dies auch tun sollen, schließlich hatte Reina ihren Gedanken nicht laut ausgesprochen.

Etwas verwirrt folgte sie ihrer Führerin durch den restlichen Raum. Während Goto Maki lächelnd in die Runde grüßte, musterte Reina die Neulinge genauer.

Sie wirkten jeder für sich mehr oder weniger stark eingeschüchtert oder verängstigt. 

Zum Einen war da Nishida Shiori. Ihr besonderes Augenmerk waren die süßen Grübchen, die sich bei jeder Regung ihres Gesichtes entpuppten.

Dann war da Yoshida Marie. Sie hatte lustige Knopfaugen und Reina dachte für sich, dass sie bestimmt gut miteinander auskommen würden. Jedoch waren ihre Ohren vor Nervosität rot gefärbt und sie wirkte eindeutig am Ängstlichsten von allen Versammelten.

Hashisako Rin, höchstwahrscheinlich die Jüngste im Raum, besaß ein so unschuldiges Gesicht, dass sie beinahe etwas verloren wirkte.

Ein Mädchen, sie fiel durch ihre Größe auf, denn sie überragte die meisten Anderen bei Längen, versuchte etwas verkrampft zu lächeln, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Es gelang ihr nur mäßig. Sie stellte sich als Kawamura Ayano vor. Insbesondere neben Rin erschien sie wie ein gewaltiger Riese.

Die wohl Coolste unter ihnen, so hatte es zumindest den Anschein, war Yamazaki Yuhane. Lässig war sie mit ihrer rechten Schulter an die Wand gelehnt und warf aufmunternde Blicke in die Runde, fast so, als wollte sie sagen: „Habt keine Angst! Ich bin für euch da!“, was wiederum skurril wirkte, da sie ja selbst augenscheinlich ein Neuankömmling war.

Nachdem Goto Maki alle Mädchen untereinander bekannt gemacht hatte, wendete sie sich von der Gruppe ab und schritt auf die Bühne zu.

Mit einem beeindruckenden Fingerschnipsen schaltete sich das Raumlicht aus. Stattdessen war nun das flimmernde Leuchten der Leinwand deutlich wahrzunehmen. Ein Schriftzug formte sich darauf:
 

„HELLO ! PROJECT ONLINE“
 

Einige der Mädchen flüsterten ehrfurchtsvoll den Titel, den sie dort erstmals lasen. In majestätischer Manier breitete Goto Maki ihre Arme aus und begann zu sprechen:
 

„Willkommen zu Hello!Project Online! Mit eurer Anwesenheit hier und jetzt habt ihr bereits den ersten Schritt getan, Teil dieser fantastischen Reise zu werden. Einer Reise, die euch alles beibringen wird, was ihr für das Leben wissen müsst.“
 

Sie machte eine kurze Pause und schaute lächelnd in die Runde. Keiner sagte ein Wort. Gebannte Stille erfüllte den Raum. Dann setzte sie fort:
 

„Dieses Schloss, wir bezeichnen es als Haven, dem Zufluchtsort jeglicher Gestrandeter des Lebens, ist ab heute euer Zuhause. Wir, die Lehrer, bringen euch alles bei, um in dieser Welt zurecht zu kommen. Auch wenn es die meisten unter euch schon wissen, will ich es gern wiederholen: Mein Name ist Goto Maki. Ich bin zuständig für die Schulung des Geistes. Eine der drei Disziplinen und Grundpfeiler unserer Institution. Bei mir werdet ihr, falls ihr natürlich ausgewählt werdet, die Extraction, die Extrahierung eures Inneren nach Außen, erlernen. Der Umgang mit eurem Geist. Die Berührung eurer Seele und die Auseinandersetzung mit dieser.“
 

Reina betrachtete heimlich die anderen Mädchen. Noch wusste sie nicht, was all das hier überhaupt sollte. Wofür genau waren sie da? Was war das Ziel des Ganzen? Wer hatte sie an diesen Ort gebracht?

All diese Fragen und noch viel mehr Verwirrung erkannte Reina in den Gesichtern ihrer Leidensgenossen.

Auch Goto Maki war dies nicht verborgen geblieben und ihre Gesichtszüge wurden ernsthafter. Mit einem leiseren Ton und bedächtiger gewählten Worten als zuvor, erklärte sie weiter:
 

„Ich möchte euch nicht anlügen. Und ich sehe in euren Augen, dass ihr nach Antworten giert. Doch diese Antworten, die ihr sucht, sind gefährlich. Doch natürlich habt ihr ein Recht darauf zu erfahren, warum ihr hier seid.“
 

Die Lehrerin machte eine unangenehm lange Pause und atmete mehrmals tief durch. Gerade als Reina dachte, dass Goto Maki einfach vergessen hatte, dass sie etwas erzählen wollte, begann diese bedrohlich ihre Stimme zu heben:
 

„Wie ihr womöglich bereits bemerkt habt, ist dies nicht die reale Welt. Wir befinden uns in einer virtuellen Realität.“
 

Bumm. Bumm. Bumm. Reinas Herz raste. Was wurde ihr da gerade gesagt? Nicht die reale Welt? Was bedeutete das? Aber sie war doch hier? Ihre Hand lag auf einem hölzernen Tisch, dessen ebene Form sie vollkommen spüren konnte ohne Verzögerung. Die Blicke, die sie durch den Raum warf, wirkten so glasklar. Und der Geruch des Klassenzimmers…

Goto Maki setzte ihren Vortrag erbarmungslos fort:
 

„Ja, diese Information mag für euch erst einmal ein Schock sein. Und wahrscheinlich glaubt ihr mir nicht einmal. Schließlich fühlt sich hier alles so echt an.“
 

Ihr Blick verschärfte sich. Selbst Reina verspürte nun ein leichtes Unbehagen.
 

„Lasst euch nicht täuschen. Exakt in diesem Moment seid ihr in einem Spezialkrankenhaus an vielen Sensoren angeschlossen, die alle Sinne eures Körpers abdecken. Schmecken. Riechen. Hören. Sehen. Fühlen. Jegliche Nervenenden sind mit einem Super-Computer verknüpft, der euch all diese körperlichen Gefühlsregungen nur vorspielt. Er berechnet akribisch genau in Nanosekunden, was ihr wann wie spürt, indem er eure Gehirnströme analysiert und zuordnet.“
 

Bei dieser Vorstellung jagte eine Gänsehaut über Reinas Rücken und eine weitere folgte gleich danach, als sie darüber nachdachte, dass diese Gänsehaut durch einen Computer erzeugt wurde, der an ihrem Körper angeschlossen war.

Goto Maki ließ den Mädchen eine kurze Pause, um all dies zu verdauen. Als sie bemerkte, dass ihre Zuhörer sich wieder etwas gefangen hatten, sprach sie, nun zumindest rücksichtsvoller, weiter:
 

„Ich möchte, dass ihr mir jetzt genau zuhört und konzentriert bleibt. Denn was ich euch nun sage, kann euch zerstören, wenn ihr nicht aufpasst.“
 

Angst durchflutete den Raum spürbar. Doch niemand sprach ein Wort. Goto Maki nickte aufmunternd und erzählte dann:
 

„Ihr seid einer schweren neuronalen Krankheit anheimgefallen. Die Behandlung erfordert extreme Maßnahmen, die durch euer Bewusstsein in der realen Welt nicht ausführbar gewesen wären. Deshalb wurden eure Hirn-Aktivitäten und die dazugehörige Netzstruktur unter großem Aufwand kopiert und in ein virtuelles Gefäß gepackt. Innerhalb dieses Gefäßes wurde eine Blockade errichtet, die die Erinnerungen an euer altes Leben wegsperrt. Stattdessen wurde die virtuelle Netzstruktur, auf die ihr freien Zugriff habt, mit neutral zugänglichen Daten gefüttert, wie beispielsweise die Erinnerung an ein Klassenzimmer aus einer vollkommen normalen Schuleinrichtung. Ihr alle hattet wahrscheinlich einen angenehm nostalgischen Moment, als ihr den Raum betreten habt.“
 

Sie wies mit ihren Handflächen auf die Umgebung, in der sie sich befanden. Reina musste ihr gezwungenermaßen Recht geben. Der Raum fühlte sich merkwürdig vertraut an, obwohl sie überhaupt nicht wusste, woher dieses Gefühl stammte. Die anderen Mädchen fühlten allesamt ähnlich, stellte sie mit einem Seitenblick fest.
 

„Ich weiß, die Situation wird euch gerade komplett überfordern. Und vielleicht seid ihr auch nicht ganz zufrieden mit der Handhabung. Ihr könnt euch aber gewiss sein, dass all dies vorher mit euch abgesprochen wurde. Jeder von euch hat dieser Behandlung eigenwillig zugestimmt. Denn sie rettet euch. Zumindest wird das Beste versucht, um euch zu retten…“
 

Plötzlich versagte die Stimme von Goto Maki und die Augen der Mädchen rissen weit auf vor Schreck. Yuhane war die erste, die rief:
 

„Was soll das heißen? Ist es möglich, dass wir dennoch sterben?“
 

Die Angesprochene lächelte schwach, bevor sie antwortete:
 

„Ja. Ihr könnt sterben.“
 

Das hatte gesessen. Reinas Magen zog sich zusammen. Ihr wurde übel. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte Dinge erleben. Spaß haben. Neue Freunde kennen lernen. War sie schonmal verliebt gewesen? Wie fühlte sich das an? Welche aufregenden Erlebnisse waren ihr entgangen. Und welche Erlebnisse hatte sie vergessen?

So viele Gedanken und Fragen schossen gleichzeitig durch ihren Kopf, dass ihr ganz schwummrig wurde.

Währenddessen hob Goto Maki beschwichtigend die Arme.
 

„Hört zu! Ja, es ist wahr. Ihr befindet euch in akuter Lebensgefahr. Das will ich nicht beschönigen. Doch spürt ihr etwas zurzeit davon? Fühlt ihr Schmerzen?“
 

Verwirrt blickten sich die Mädchen gegenseitig an. 

Nein. Keiner von ihnen spürte ein Unwohlsein außerhalb der Nachrichten, die sie gerade erhalten hatten. Tatsächlich hatten sie sich allesamt bis vor wenigen Minuten sogar noch recht positiv und lebhaft unterhalten. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn in ihrem Bewusstsein eine tödliche Krankheit geschlummert hätte.
 

„Ihr seht also, die Therapie ist äußerst wirkungsvoll. Besäßet ihr noch all eure Erinnerungen und Wahrnehmungen aus der realen Welt, könnte dies zu einem Kollaps eures Gehirns führen und die Ärzte wären nicht mehr imstande, etwas für euch zu tun. Tatsächlich, und hier kommt die wahre Behandlung ins Spiel, seid ihr selbst eure eigenen Ärzte…“
 

Goto Makis schönes Lächeln war zurückgekehrt, als sie in die ratlosen Gesichter blickte.
 

„Diese Welt, die einzig und allein für euch erzeugt wurde, ist die Therapie, die ihr benötigt, um gestärkt und, was natürlich das Wichtigste ist, geheilt in die Realität zurückzukehren. Wie ein Phönix, der aus seiner Asche emporsteigt.“
 

Es setzte eine kurze Pause ein, damit den Worten etwas Nachhall gewährt wurde. Reina hatte das Gefühl, als hätte Goto Maki genau darauf hingearbeitet mit ihrem Monolog. Und sie sollte Recht behalten.
 

„Wie ihr euch sicherlich vorstellen könnt, geht der Fortschritt einer Therapie immer vom Patienten aus. Verliert der Patient seinen Lebenswillen, so siegt die Krankheit. Umso stärker der Patient an sich und sein Umfeld glaubt, umso garantierter ist auch der Erfolg für die Therapie.

Im Normalfall wird solch ein Prozess mit dem gesamten Körper und Geist in der realen Welt vollzogen. Dies ist in eurem Fall nicht so einfach. Ihr könnt euch während der Behandlung weder bewegen, noch dürft ihr bei Bewusstsein sein. Aus diesem Grund wurde diese virtuelle Realität erschaffen, um ein therapeutisches Umfeld zu simulieren. Hier könnt ihr Körper und Geist in vollem Bewusstsein frei entfalten. Eure Aufgabe besteht darin, das Potential eurer mentalen Kraft und eurer Energie zu steigern und dabei die seelische Balance in euch zu halten. Harmonie und natürliches Gleichgewicht sind hier die Stichwörter.

Während ihr diese Entwicklung eures Seins durchlebt, werden euch immer wieder Aufgaben gestellt, welche von unterschiedlichster Gestalt sein können. Manche dieser Aufgaben sind wichtig für das Bestehen unserer Gesellschaft in dieser Welt und steigern zum einen euer Ansehen hier, zum anderen aber auch euer Selbstvertrauen und somit die Stärke eures Willens nach Leben und Freiheit.

Es gibt aber auch Aufgaben, und damit einhergehende Prüfungen, die essentiell für euer Überleben sind. Versagt ihr bei der Erfüllung einer solchen Aufgabe, kann dies schwerwiegende Auswirkungen auf euer Befinden in der Realität haben.

Wie ihr hört, seid ihr also immer selbst der Schlüssel zu eurer Heilung.“
 

Goto Maki blickte nach diesen hart zu verdauenden Worten vielsagend in die Runde. Viele Fragezeichen bildeten sich über den Köpfen der Mädchen, doch jede von ihnen hatte das Empfinden, dass eben diese Fragen schon bald von selbst geklärt werden würden. Auf die gute oder schlechte Weise.
 

„Nun möchte ich euch noch erklären, wie ihr hier im Haven leben werdet und was das Haven überhaupt ist.“
 

Ein letztes tiefes Luftholen Goto Makis hallte durch den Raum.
 

„Die Mädchen, die hier im Haven leben, sind alle ungefähr in eurem Alter. Manche älter. Manche jünger. Es existieren verschiedene Gruppierungen, denen bestimmte Mädchen zugewiesen sind. Innerhalb dieser Gruppierungen lernen die Mitglieder zwei unserer drei Grundpfeiler kennen. Die Kenntnis über den Geist, mein Fachgebiet, und die Kenntnis über die Energie.

Der dritte Grundpfeiler, die Kenntnis über die Klarheit, wird unter den Generationen vermittelt. Eine Generation setzt sich aus Mädchen aller Gruppierungen zusammen, die gleichzeitig oder in einem engen Zeitraum einer Gruppierung zugewiesen wurden, da ihr Wissensstand sich auf dem gleichen Niveau befindet. Dies ist bei den anderen beiden Kenntnissen nicht von Nöten, da dort das Zusammenspiel mit der eigenen Gruppierung, die fortan eure Familie ist, besonders in den Fokus gerückt wird.

Innerhalb einer Gruppierung versucht man die verschiedenen Rehab-Grade zu durchlaufen, welche von Eins bis Fünf erfolgen. Sie dienen der Beurteilung eures Rehabilitierungs-Status und geben euch auch eine Seniorität.“
 

Goto Maki schrieb mit ihrem Finger ein unsichtbares S in die Luft und plötzlich verschwand der Schriftzug von der Leinwand. Stattdessen tauchten sechs Bilder von verschiedenen Personen auf. Darüber römische Ziffern von Null bis Fünf.
 

„Dies sind Mädchen an unserer Akademie. Sie alle gehören unterschiedlichen Graden und damit auch unterschiedlichen Senioritäten an. Sie sind also in verschiedenen Stadien der Therapie und somit ist ihre gemachte Erfahrung mit der Welt deutlich differenzierter voneinander. Anhand dessen können wir eine eindeutige Hierarchie festlegen. Sollten tiefgreifende Entscheidungen geäußert werden, wird immer nach der Seniorität beurteilt. Ein Grad-3-Mitglied hat auf ein Grad-4-Mitglied zu hören. Ein Grad-4-Mitglied hat einem Grad-5-Mitglied wiederum den nötigen Respekt zu erweisen. Ihr versteht bestimmt worauf ich hinaus möchte.

Es ist ein simples Senpai-Kohai-Konstrukt, wodurch ihr in der Lage seid, von den erfahreneren Mädchen zu lernen und gleichzeitig Wissen weiterzugeben an eine jüngere Generation.“
 

Nishida Shiori unterbrach mit einem Mal durch einen Fingerzeig den Vortrag von Goto Maki. Diese blickte irritiert zu der jungen Schwarzhaarigen mit den süßen Grübchen. Reina mochte ihre ruhige Stimme, auch wenn sie etwas brüchig war, geprägt durch die Unsicherheit, die in jedem der Mädchen hier im Raum steckte.
 

„Frau …ähm …Goto?! W-Was bedeutet denn die Null? Sie sagten doch, es gäbe nur fünf Grade?“
 

Goto Maki grinste bei der Anmerkung und richtete ihre Augen auf das Bild des Mädchens unter der prägnanten Null. Sie trug kurzes, schwarzes Haar und wirkte sowohl fröhlich als auch entschlossen. Ihre Pose, das Gesicht in die Ferne gerichtet und die Hände unter vollendeter Körperspannung einige Zentimeter von der Hüfte entfernt, verlieh der ganzen Szenerie des Bildes einen heroischen Ausdruck. Reina wurde warm ums Herz und gleichzeitig verspürte sie einen Instinkt in sich aufkeimen, diese Person unbedingt kennen lernen zu wollen.
 

„Es ist richtig, was ich vorhin sagte. Es gibt nur fünf offizielle Rehab-Grade. Jedoch existiert noch eine weitere inoffizielle Bezeichnung. Grad Zero!“
 

Und mit einer weiteren majestätischen Bewegung drehte sie sich zu ihren Zuhörern um und wies mit dem Zeigefinger auf die Mädchen.
 

„Ihr! Ihr befindet euch derzeit im Grad Zero! Dies ist eine Einstufung, die es euch ermächtigt, euch hier im Haven aufzuhalten und die Grundausbildung unserer Lehren zu erhalten. Ihr seid die Neuankömmlinge und könnt noch nicht sofort einer Gruppierung zugewiesen werden. 

Nein. Ihr erhaltet erst ein Training. Und je nachdem wie schnell ihr lernt und bereit seid, werdet ihr nach einiger Zeit einer Gruppierung zugewiesen. Schließlich muss festgestellt werden, ob euer Körper und Geist überhaupt stark genug sind, um an der Therapie teilzunehmen. Erst dann beginnt ihr mit der offiziellen Rehabilitierung. Legt euch also gut ins Zeug!“
 

Ein allgemeines Raunen ging durch die Runde. Reina versuchte all die Informationen, die sie soeben erhalten hatte, in eine gewisse Struktur zu bringen in ihrem Kopf.

Es ging um ihr Überleben. So viel hatte sie verstanden. Sie musste in eine dieser Gruppierungen, um die Therapie auch wirklich umsetzen zu können.

Dies alles wirkte äußerst beunruhigend. Zumindest hatte Reina das Gefühl, als müsste sie so empfinden.

Doch seltsamerweise machte sich eine gewisse Erleichterung in ihr breit. Sie wusste nun, was mit ihr los war. Sie war weder irre noch hatte sie sonst irgendeinen bleibenden Schaden davongetragen, weswegen sie alle Erinnerungen verloren hätte. Mal abgesehen davon, dass sie todkrank war, war alles in Ordnung. Bei diesem trockenen Gedanken musste sie sich ein Lachen verkneifen.

Als sie sich umblickte, sah sie in nicht ganz so zuversichtliche Gesichter. Kawamura Ayano wechselte sekündlich zwischen heiserem Lachen und entsetztem Gesichtsausdruck. Yoshida Marie war komplett in sich zusammengesunken. Hashisako Rin versuchte krampfhaft ihre Tränen zu unterdrücken. Nishida Shiori war kreidebleich geworden.

Einzig Yamazaki Yuhane erschien genauso gefasst und zuversichtlich wie Reina, was diese wiederum beruhigte.

Da jedoch so langsam der erste gewaltige Schock nachließ, schritt Goto Maki selbstsicher auf die Mädchen zu, formte mit ihrem Zeige- und Mittelfinger ein V und berührte mit diesen ihre rechte Wange. Über beide Ohren grinsend sagte sie:
 

„Willkommen bei Hello!Project Online! Und natürlich willkommen an der REHAB Academy!“



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