Entscheidungen von tobiiieee (Was, wenn?) ================================================================================ Prolog: Souvenir ---------------- „Sag, dass du nicht gehst.“ Genesis schaute tief in Ramons traurige Augen hinter den großen Brillengläsern und sah darin die letzten Monate gespiegelt. Ihre zahlreichen Verabredungen zum Abendessen, ungezählte Flaschen Wein, unzählige Diskussionen bis in die Nacht, zahllose Sterne am grenzenlosen Nachthimmel, unermessliche, unendliche – aber einseitige Liebe. „Bleib bei mir.“ Genesis wusste auf diese Flut nichts zu erwidern. Für ihn war ihre Zeit nicht viel mehr als eine etwas längere Sommerromanze gewesen, während der sie viele Nächte kaum ein Auge zugetan hatten, tagsüber in alle Richtungen ausgeflogen waren, an leeren Tagen, wenn sie müßig sein konnten, müßig und albern. „Dann komm wenigstens wieder“, sagte Ramon auf Genesis‘ Schweigen. „Nächsten Sommer?“ Ramon musste wissen, dass Genesis nichts versprechen wollte. Lissabon war für ihn nicht um die Ecke. Wenn es nach ihm ginge, hätte er seine beiden Leben, das in Midgar und das in Lissabon, einfach miteinander verbunden, dann würde Ramon mit ihm kommen oder er würde bei Ramon bleiben, solange sich nur alles miteinander verflechten ließe – aber er wusste, dass es nicht möglich war. Es war vorbei, er hatte den Mietvertrag seines Hauses gekündigt, die Fenster geschlossen, die Tür verriegelt, den Schlüssel abgegeben, gepackt, seine Habseligkeiten vorausgeschickt. Seine Zeit in Lissabon war abgelaufen. Ramon zog die Augenbrauen zusammen. Er war am Boden zerstört. Genesis konnte nur erraten, wie viele Hoffnungen er sich gemacht hatte. „Mein Angebot steht noch“, erinnerte ihn Ramon. Oh ja. Sein Angebot. Nein, Genesis würde es nicht annehmen. Er hätte es niemals annehmen können. Genesis schüttelte den Kopf. Ramon senkte den Blick gen Boden. „Dann viel Glück euch beiden“, sagte er zuletzt, niedergeschlagen, kapitulierend. Genesis sah ihn mitleidig an. „Ich schreib dir.“ Kapitel 1: Sieben Tage Regenwetter ---------------------------------- Von seinem Platz am Tisch aus schaute Sephiroth missmutig aus dem Fenster. Es regnete. Regnete stark. Regnete seit Tagen. Das Einzige, was sich in diesem Regen noch bewegte, waren Vögel, die gen Himmel flogen. Sephiroth mochte Regen sonst, und am Anfang hatte er ihm auch nichts ausgemacht. Für ihn war es kein Problem, seine Shin-Ra-Jacke mit der Kapuze überzuwerfen, um in den Lederstiefeln seiner Uniform kurz nach unten ins Dorf Banora zu stapfen und den Markt aufzusuchen. Normalerweise. „Mittlerweile hat es so viel geregnet, dass es bestimmt keine gute Idee mehr ist, den Hügel runterzulaufen. Oder hoch.“ Genesis hatte kaum von seinem Buch aufgeblickt, als er das sagte. Natürlich konnte sein teilnahmsloser Ton Sephiroth nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Gatte ihm soeben eine ernstgemeinte Warnung ausgesprochen hatte, sich ja nichts zu brechen. So war es Sephiroth in Ermangelung seines üblichen Markteinkaufes nur geblieben, sich mit ein wenig Brot, Butter und Salz an den Tisch vorm Fenster zu setzen. Sephiroth seufzte und drehte sich vom Fenster weg. Er lehnte sich weit zurück und während er den letzten Bissen herunterkaute, beobachtete er Genesis, der am anderen Ende des Wohnzimmers zwischen seinen vielen Bücherregalen lässig auf dem Sofa saß und vor sich hin las. Sephiroth mochte es, seinem Mann beim Lesen zuzuschauen; immerhin schaffte der es dann nicht, gemein zu ihm zu sein. Jetzt wieder lächelnd, ließ Sephiroth den Teller mit den Krümeln auf dem Tisch stehen, durchquerte den Raum und setzte sich zu Genesis aufs Sofa; als dieser keine Notiz davon nahm – oder es zumindest vorgab –, nahm er seine bessere Hälfte sanft in den Arm. Genesis ließ es zu und lehnte sich mit dem Rücken gegen Sephiroth, ohne jedoch auch nur einen Moment seine Lektüre zu unterbrechen. So ließ Sephiroth einige Augenblicke verstreichen, ehe er sagte: „Ich mag das, wenn du liest, weißt du.“ „Dich machen die merkwürdigsten Dinge an“, erwiderte Genesis mit betont tonlosem Desinteresse. Sephiroth zog verwundert die Augenbrauen zusammen. „Von Anmachen hat niemand was gesagt.“ Genesis sah tatsächlich von seinem Buch auf und wandte sich halb nach hinten zu Sephiroth um. Er schaute ihm direkt in die Augen. „Doch, ich. Gerade eben.“ Lange sahen sie sich schweigend an. Schließlich ließ Genesis ein leichtes Lächeln vermuten. Sephiroth verstand. Auch gegen das Schlafzimmerfenster prasselte der Regen unnachgiebig in dicken erbarmungslosen Tropfen; es schien kaum Licht herein. War die Sonne überhaupt irgendwann an diesem Tag aufgegangen? So dunkel, wie es war, war eine ungefähre Uhrzeit unmöglich auszumachen; vielleicht dämmerte es schon zur Nacht, vielleicht war der Himmel aber auch nur wolkenverhangen und es war gerade erst Mittag. Sephiroth kümmerte das in seinem warmen Bett herzlich wenig, er war zufrieden, er war satt, befand sich im Trockenen und hatte nicht nur irgendeinen Mann an seiner Seite liegen, sondern einen mit goldenem Ring am Finger, der dem an seinem eigenen exakt glich. Er rückte näher an Genesis heran, der noch leicht döste und ihm dabei den Rücken zuwandte, und fasste mit der Rechten vorsichtig um seinen Mann herum an dessen linke Hand, an der der Ehering saß. Mit einem missbilligenden Geräusch öffnete Genesis die Augen und sah Sephiroth vorwurfsvoll mit gerunzelter Stirn von der Seite her an. „Ja, bitte, ist was?“, fragte er gereizt. Vielleicht war es der Regen, der seine Stimmung drückte und ihn auf düstere Gedanken brachte, aber manchmal – in ganz seltenen Momenten – sah Sephiroth in Genesis‘ Ehering nicht nur das eigene Eheversprechen. Manchmal sah er darin auch, dass Genesis einst eine Wahl getroffen hatte. Und auch wenn es ihm schwerfiel, es anzusprechen, so hatte er sich eines doch schon oft gefragt. Er ließ Genesis‘ Hand los und rückte wieder ein Stück ab. „Bereust du manchmal, wie du dich entschieden hast?“ Genesis drehte sich nun auf den Rücken. „Täglich.“ Sephiroth sagte nichts, schaute Genesis nur an. Genesis seufzte. „Himmelherrgott, Seph, was soll ich auf so was sagen?“* „Na ja, du hättest auch den anderen Antrag annehmen können.“ „Ja, sicher, hab ich aber nicht.“ „Aber was, wenn du’s gemacht hättest?“ „Dann hätte ich mich erst mal mit der Bürokratie rumschlagen dürfen, als Ausländer, der in Portugal heiraten möchte ...“ „Du bist wieder unglaublich romantisch.“ „Was willst du denn noch hören?“ „Was gewesen wäre.“ Genesis seufzte nun ernsthaft genervt. „Du redest Unsinn.“ Und er wandte sich nach einem Buch um von den vielen, die neben dem Bett auf dem Tisch lagen, aber Sephiroth ergriff erneut seine Hand. Genesis verdrehte die Augen. „Du meinst es ernst, oder?“ Sephiroth nickte. Genesis legte sich das Buch auf den Schoß, öffnete es aber nicht. „Dich stört ein anderer Mann?“ Sephiroth nickte. „Auf einem anderen Kontinent?“ Sephiroth nickte. „Mit dem ich nie offiziell zusammen war?“ „Der dir aber trotzdem einen Antrag gemacht hat.“ Darauf hatte Genesis keine Antwort. Mit einem weiteren Seufzer gab er sich geschlagen. Sein nachdenklich wandernder Blick ging in Richtung Zimmerdecke, Sephiroth war jedoch klar, dass er diese nicht wirklich sah, sondern an seine Zeit in Lissabon zurückdachte. „Tja, was wär schon gewesen“, begann Genesis leise. „Wenn ich ihn geheiratet hätte, würde das zunächst mal bedeuten, dass wir uns endgültig getrennt hätten – das hättest du schon mal nicht überlebt.“ Und schon war wieder aller Ernst verflogen. Genesis sah ihn überlegen an. „Nicht lustig“, sagte Sephiroth kleinlaut. „Weißt du was“, schlug Genesis vor, „wenn du mich schon nicht mein Buch lesen lässt, dann musst eben du mir eine Geschichte erzählen: Was wäre gewesen, wenn ich Ramon geheiratet hätte und nicht dich?“ „Wie, was, ich hab dich gefragt!“ „Tja, und jetzt frag ich dich.“ Auch wenn er zunächst überrascht war, begann Sephiroth zu überlegen. Kapitel 2: Wie alles beginnt ---------------------------- „Weißt du, ich glaube, du musst mir zuerst noch auf die Sprünge helfen.“ Genesis, der es sich mit dem Blick auf Sephiroth bereits gemütlich gemacht hatte, entfuhr ein genervtes Geräusch. Abwartend schaute er Sephiroth an. „Du hast mir nie erzählt, wie genau es eigentlich dazu kam, dass er dir einen Antrag gemacht hat.“ „Oh.“ Genesis‘ Gesichtsausdruck glättete sich. „Schätze nicht. Also, es war so ...“ „Und, haben wir heute noch irgendwas vor?“, fragte Sephiroth. „So oft ist unsereins ja doch nicht in Lissabon oder überhaupt in Europa.“ Genesis überlegte, was er in der Gegend noch mit Sephiroth anstellen konnte oder ob er ihn einfach zum Zentrum mitnehmen sollte – es war Freitagabend, sicherlich war eine Menge los. Nicht, dass das das Programm wäre, das Sephiroth sonderlich schätzte. Genesis wusste, dass es ihn am glücklichsten machen würde, sich einfach in irgendein Lokal zu setzen und einheimische Spezialitäten auszuprobieren. Und anschließend ein Glas guten Rotweins ... Wie, Rotwein? Genesis fluchte. „Ich muss telephonieren.“ Sephiroth sah ihn fragend an. Genesis kramte sein Handy hervor und wählte zögerlich Ramons Nummer. Der nahm allerdings in kürzester Zeit ab. Noch während Genesis sich etwas planlos meldete, stand er von dem Tisch auf, an dem er mit Sephiroth gesessen hatte, und begab sich nach draußen. „Hey, ich versteh sowieso nichts, wenn du dich auf Portugiesisch unterhältst“, rief ihm Sephiroth noch nach, bevor Genesis die Tür hinter sich schließen konnte. „Alles in Ordnung?“, fragte ihn Ramon. „Hast du Besuch?“ „Ja ...“ Genesis wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er verstand nicht, warum er sich Ramon gegenüber schuldig fühlte. Er war ihm nicht verpflichtet; sie waren nie offiziell ein Paar gewesen. Er hatte immer von den anderen Männern gewusst, mit denen Genesis sich getroffen hatte. Warum quälte es ihn nun so sehr, ihm von einem bestimmten Mann zu erzählen? „Hör mal ...“ Er stockte. Aber es half alles nichts. „Wir können das Wochenende nicht miteinander verbringen.“ „Wieso nicht?“, fragte Ramon bestürzt. „Was ist das für Besuch?“ „Also ...“ Er seufzte. „Mein Ex ist aus dem Nichts aufgetaucht und ...“ „Und ...“ Er hörte förmlich, wie Ramon zwei und zwei zusammenzählte. Sein Ton veränderte sich. „Und jetzt ist er nicht mehr dein Ex.“ „Richtig ...“ Zwischen ihnen entstand eine unangenehme Stille. Genesis trat von einem Fuß auf den anderen. Ramon sagte immer noch nichts. Er bekam das Gefühl, dass es seine Aufgabe war, das Gespräch jetzt irgendwie zu kitten. Ramon tat ihm so leid. Er wollte ihn irgendwie versöhnen. „Wir können uns trotzdem wie verabredet heute Abend treffen.“ „Ach?“ Ramon klang skeptisch. „Nun, ich müsste dann nur irgendwann wieder nach Hause.“ „Von mir aus“, sagte Ramon steif. Er legte auf. „Wie immer zu spät“, warf ihm Ramon kühl vor, als Genesis am verabredeten Treffpunkt ankam. Ramon saß offensichtlich schon länger an einem Tisch draußen vor ihrer Stammkneipe, wenn man danach urteilte, dass die Flasche Rotwein vor ihm bereits ein ganzes Stück geleert war. Von drinnen drang der klagende Fadogesang einer Frau durch die offene Tür. Genesis setzte sich Ramon schweigend gegenüber und goss sich ebenfalls Flüssigkeit in ein Glas ein. Ihm war allerdings nicht danach, davon zu trinken. Lange saßen sie da, Ramon funkelte ihn wütend an und Genesis schaute irgendwie entschuldigend drein. Genesis seufzte. Er hatte doch nichts falsch gemacht. Ramons Blick wandelte sich allmählich und wurde nachsichtiger. Sie näherten sich einander zunehmend an, bis Ramon wieder das Wort ergriff. „Das kam wirklich plötzlich“, seufzte er. „Für mich auch, das kannst du mir glauben.“ Genesis nahm einen Schluck Wein. „Also“, sagte Ramon geschäftig. „Also“, echote Genesis. „Ihr seid jetzt also wieder zusammen.“ „Ganz recht.“ „Wozu wart ihr dann eigentlich getrennt?“ Genesis musste kurz lachen. „Wozu hast du dann überhaupt Schluss gemacht, wenn du ihn doch nur zurücknimmst?“ Genesis hielt mit dem Glas auf halbem Weg zum Mund inne. „Wer sagt, dass ich Schluss gemacht hab?“ Ramon sah ihn mit einem sarkastischen Blitzen in den Augen an. Genesis verstand, was er sagen wollte. „Ja, ok.“ „Als ob du jemanden zurücknehmen würdest, der dich abserviert hat. Ich wette, in deinem ganzen Leben hat noch niemand mit dir Schluss gemacht.“ „Diese Aussage“, erwiderte Genesis, das Weinglas nachdenklich in der Hand schwenkend, „lässt sich sogar halten. Es kommt ein bisschen auf die Definition an.“ Ramon schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. „Wie ist er so?“ „Hm?“ „Dein Ex“, erklärte Ramon, „der nicht mehr dein Ex ist.“ „Oh, ach so“, machte Genesis, „klar.“ Er war von der Frage überrumpelt. Ihm fehlten die Worte. Er gestikulierte ein wenig hilflos. „Wie soll er schon sein?“ „Der Mann, der dich glücklich macht“, bohrte Ramon weiter. „Was hat er, was ich nicht habe?“ „Oh.“ Das war es also, worauf Ramon hinauswollte. Genesis begann zu grinsen. „Du brauchst gar nicht so zu tun, als ob du ihn nie gegooglet hättest.“ Mit dieser Antwort hatte Ramon offensichtlich nicht gerechnet. Für einige Momente verschlug es ihm die Sprache, in denen Genesis, der ihn weiter süffisant anlächelte, fast meinte, Ramon in der Dunkelheit erröten zu sehen. Genesis überlegte gerade, ob Ramon wohl versuchen würde, Tatsachen abzustreiten, als er einräumte: „Schuldig im Sinne der Anklage.“ „Und?“, fragte Genesis vergnügt, „worauf bist du gestoßen?“ Ramon brauchte wieder längere Zeit, um eine Antwort zu finden. Er suchte offensichtlich nach den richtigen Worten. „Er hat längere Haare als ich.“ „Das kann man wohl sagen“, erwiderte Genesis lachend. „Und?“ Genesis schaute ihn fragend an. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Genesis überlegte. „Na ja ... Wir haben den gleichen Job ... Er ist aus der Hauptstadt, ich vom Land ... Er ist eher naturwissenschaftlich und an klassischen Sprachen interessiert ... Kann kochen ...“ „Ah“, machte Ramon, „ein Mann, der kocht, da konnte ich nur verlieren.“ „Das ist mein K.O.-Kriterium für Partner“, sagte Genesis nickend mit allem Ernst, den er aufbringen konnte. Ramon sah ihn weiterhin an. „Hn ... Seine Mutter war Wissenschaftlerin – die Intelligenz hat sich da irgendwie vererbt. Und, mein Gott, gebildet ist der Mann, im Gegensatz zu mir hat er auch einen Schulabschluss – und einen echt guten noch dazu –“ Ramon unterbrach ihn. „Warte, warte, warte – was?“, fragte er ungläubig. Genesis glaubte zu erraten, was Ramon so verblüffte. „Na ja, ich bin mit 14 von der Schule abgegangen, da gibt es bei uns noch keinen Abschluss.“ „Aber – du – ich meine –“ Ramon musste sich sammeln, bevor er erneut ansetzte: „Willst du mir sagen, du setzt dich als Gasthörer in meinen Kurs und bist mit Abstand der beste Teilnehmer, der am meisten versteht und beiträgt – und all die Gespräche, die wir geführt haben, über Themen, bei denen man nicht mal aus den Kollegen was rauskriegt – und du kennst dich in antiker und moderner Literatur bestens aus – in Philosophie und Politik – ganz zu schweigen von Wirtschaft –“ „Gut, also das haben mir meine Eltern mitgegeben“, unterbrach ihn Genesis. „– all das und du hast keinen Schulabschluss?“ „Bin ich jetzt ein schlechterer Mensch?“, fragte Genesis rundheraus. „Was, nein“, stammelte Ramon, ganz vor den Kopf gestoßen, „das meinte ich nicht. Siehst du, du kannst sogar besser diskutieren als ich.“ Genesis war ganz geschmeichelt. Ramon schaute ihn an, als hätte er ihn vorher noch nie richtig gesehen. „Du bist ein wahres Rundumpaket.“ „Man kann vieles auch auf Eigeninitiative nachholen.“ „Aber warum?“ Ramon schaute ihn immer noch mit großen Augen an. „Das muss ich dir doch wohl nicht erklären.“ „Nein, ich meine –“ Ramon sammelte sich erneut. „Ich meine, wieso machst du erst keinen Abschluss, und dann ...“ Er beendete den Satz nicht. Genesis seufzte. „Ich musste aus meinem Dorf raus. Die einzige Möglichkeit war, zu Shin-Ra zu gehen.“ „Das ist dein Arbeitgeber, nicht?“ Genesis nickte. „Ich bin sehr früh im Leben ganz oben angekommen, ich hatte also viel Zeit, alles nachzuholen. Bis dahin musste ich einfach Prioritäten setzen, um zu überleben – um zu funktionieren.“ Sein Finger fuhr über den Fuß des Weinglases, während er mit leerem Blick den Tisch vor sich fixierte. „Es war keine schöne Zeit.“ Den Blick auf den Tisch gesenkt, bemerkte Genesis, wie Ramons Hand zuckte, drauf und dran, seine Finger zu berühren. Genesis nahm die Hand wieder vom Tisch. „Du hast also die Dinge nachgeholt, die dir wirklich wichtig waren, sobald du einmal zur Ruhe gekommen bist“, fasste Ramon alles zusammen. Genesis nickte. „Bildung. Lebensethik. Die Schulung des Geistes.“ Genesis nickte bei jedem Begriff. Es entstand eine gespannte Stille. Genesis hob den Blick und sah Ramon an. Der schien mit sich zu ringen. Er holte tief Luft. „Heirate mich.“ Genesis starrte ihn an. „Ein bisschen unvermittelt, findest du nicht?“, fragte Sephiroth, als Genesis mit seiner Erzählung geschlossen hatte. „Das dachte ich damals auch“, räumte Genesis ein. „Aber ich denke, was seine Frage ausgelöst hat–“ „Vielmehr seine Aufforderung“, grummelte Sephiroth. Genesis überging ihn. „– was also seine Frage ausgelöst hat, ist – also, erst mal natürlich, dass du aufgetaucht bist und er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Aber auch – ich meine – seine Forschung steht für ihn schon an erster Stelle. Er definiert sich stark über seinen Bildungsgrad. Ich glaube, jemanden zu finden, der so ähnlich ist, ist für ihn selbst unter Akademikern schwierig, gerade jemanden, der auf der gleichen Wellenlänge ist. Immerhin haben wir uns schon wirklich gut verstanden. Auf einer persönlichen Ebene.“ Sephiroth verschränkte finster dreinblickend die Arme vor der Brust. „Und was hast du geantwortet?“ „Mein Gott, dass ich schon verlobt bin*, was sonst? Ist deine Neugierde jetzt befriedigt?“ „Nein, meine Eingangsfrage ist noch nicht beantwortet.“ Genesis seufzte. „Du wolltest eine Geschichte hören.“ „Wenn du dann jetzt das Erzählen übernimmst ...“ „Schon gut, schon gut.“ Sephiroth überlegte. „Also, angenommen, wir hätten uns damals ausgesprochen, wären aber nur zu Freundschaft übergegangen, er hätte dir den Antrag gemacht und du –“ Sephiroth musste schlucken. „– hättest angenommen. Richtig so?“ „Ja, er hätte mir nie einen Antrag gemacht, wenn du nicht aufgetaucht wärst.“ „Was?“, fragte Genesis ungläubig. „Heirate mich“, wiederholte Ramon, diesmal mit Nachdruck. „Bleib hier bei mir in Portugal. Du könntest an meinen Forschungen teilhaben, ich bin sicher, du wärst mir eine wertvolle Hilfe. Von mir aus kannst du auch weiter meine Kurse besuchen ...“ Ramons Blick wurde unsicher, als ob ihm soeben klar geworden wäre, was er da sagte. Mit großen Augen beobachtete er Genesis und wartete auf dessen Urteil. Der begann zu überlegen. Er hatte noch nie darüber nachgedachte, Gaia endgültig den Rücken zu kehren und für sein ganzes Leben in Portugal zu bleiben. Sicher hatte er darüber nachgedacht, den Job bei Shin-Ra an den Nagel zu hängen. Aber alles in Midgar zurückzulassen und in Lissabon neu anzufangen? Für einen Mann? Zugegeben, in Lissabon und gerade in der Zeit mit Ramon war er so froh gewesen wie seit langem nicht mehr. Sich unverbindlich in Vorlesungen zu setzen und Stadt- und Universitätsbibliotheken zu nutzen hatten ihm das Gefühl gegeben, in kürzester Zeit weiter gekommen zu sein als vorher in seinem ganzen Leben. Und Ramon tat ihm gut, keine Frage. In Anbetracht sich wiederholender schrecklicher Erlebnisse hatte er seinen Umgang mit Männern ohnehin auf ein Minimum beschränkt, auf Amar und Ramon. Gut, mit Sephiroth war er vorhin im Bett gelandet, aber Sex mit dem Ex zählte nicht. Würde es also so einen großen Unterschied machen, nur noch mit Ramon zusammenzusein – und ihn gar zu heiraten? Warum sollte er es eigentlich nicht wagen? „Ja“, sagte er schließlich. Sein zwischenzeitlich glasig gewordener Blick richtete sich wieder fest auf Ramon. „Ja?“, fragte der ihn fassungslos. „Ja“, bestätigte ihm Genesis noch einmal. Ramon erstarrte; Genesis meinte zu sehen, wie seine Augen feucht wurden. Er nahm Genesis‘ Finger sanft in seine Hand. „Vielleicht ist das der richtige Moment, um dir endlich zu sagen, wie sehr ich dich liebe.“ Genesis hatte so etwas befürchtet. Er konnte nicht behaupten, solche Gefühle ehrlich zu erwidern. „Ja, vielleicht.“ „Ich ...“ Ramon rang erneut mit sich. „Ich wollte nicht ... Ich dachte vorher, wenn ich es dir sage, setz ich dich unter Druck. Ich wollte dich nicht vertreiben.“ „Na ja“, begann Genesis mit einem Seufzen, unterbrach sich aber. „Vielleicht muss man manches nicht aussprechen. Ein bisschen hab ich’s mir ja gedacht.“ Ramon lächelte ihn selig an. „Du machst mich so glücklich.“ „Verlobt?“ Sephiroth war bei diesem Wort alles aus dem Gesicht gefallen. „Mir war vorhin nicht ganz klar, dass du vergeben warst.“ „War ich auch nicht“, fauchte Genesis, „sonst hätte ich das wohl kaum gemacht.“ „Ihr wart gar nicht zusammen und er hat dir trotzdem einen Antrag gemacht? Sind wir wieder in einem früheren Jahrhundert gelandet?“ Genesis musste grinsen. „Ich glaube, der Vergleich hinkt gleich auf beiden Füßen.“ Sephiroth zuckte mit den Schultern. „Es kam schon unerwartet.“ „Du hättest ja nicht annehmen müssen.“ „Wieso nicht?“ Jetzt war es an Genesis, mit den Schultern zu zucken. „Das ist bestimmt die richtige Herangehensweise an die Ehe. Du wirkst begeistert.“ Kapitel 3: Der Ring ------------------- „Ein Juwelier?“ „Na, wir brauchen doch Verlobungsringe.“ „Ach?“, fragte Genesis. „Brauchen wir die?“ „Natürlich.“ Ramon ließ sich nicht beirren. „Jetzt geh schon rein, es beißt dich keiner.“ Genesis ließ das Schaufenster mit den prächtigsten Uhren, Ohrgehängen, Ketten und Ringen hinter sich und betrat unsicher das Geschäft, Ramon, einen fröhlichen Ausdruck im Gesicht, direkt hinter ihm. Ramon mochte zu der Verkäuferin, die direkt begeistert mehrere Modelle hervorholte, einen Draht haben, Genesis drückte sich im Hintergrund und sah dem Ganzen nur skeptisch zu. Die Verkäuferin ließ sie diskret einen Moment allein, um sie zu zweit eine Wahl treffen zu lassen. „Was sagst du?“, fragte ihn Ramon unbeschwert. Genesis seufzte. „Du hättest vorher einen Ton sagen können.“ „Was? Wieso?“ „Ich bin nicht so der Schmuckmensch.“ „Das ist kein Schmuck, das sind Verlobungsringe.“ „Ramon“, sagte Genesis bestimmt, „schau sie dir an, das sind Schmuckstücke.“ Ramon wechselte die Spur. „Was soll das eigentlich heißen, du bist kein Schmuckmensch?“ Er schob Genesis‘ Haar auf einer Seite hinters Ohr, um seine unzähligen Piercings zu enthüllen. „Man hat noch überhaupt kein Wort erfunden, um die Anzahl der Durchlöcherungen in deinen Ohren auszudrücken.“ „Das ist kein Schmuck, das ist ein Hobby.“ Er strich sich wieder das Haar über die Ohren. „Wie wär’s denn mit einem ganz schlichten Ring, ohne diesen ganzen Stein-Schnickschnack?“ „Und am besten noch aus Aluminium?“ „Es war wenigstens ein Vorschlag.“ Sie starrten sich an, keiner bereit, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen. Sie einigten sich darauf, die Entscheidung zu vertagen und zunächst etwas zu essen. Der Juwelier, zu dem Ramon ihn geführt hatte, befand sich in einem Einkaufszentrum. Sie holten sich hier und dort eine Auswahl an Köstlichkeiten verschiedenster Länder und ließen sich an einen Tisch nieder, der noch nicht besetzt war. Genesis spürte bei jedem Bissen Ramons vorwurfsvolle Blicke auf sich. Er sah aber überhaupt nicht ein, dass er der Böse war; Ramon konnte ihm genauso gut entgegenkommen. „Was ist das Problem an einem Ring?“, brach es plötzlich aus Ramon hervor. „Was ist das Problem an einem schlichten Ring?“, erwiderte Genesis. „Den würd ich sogar tragen. Weißt du, wie ein Ehering, nur in Silber.“ „Aber so sieht ein Verlobungsring nun mal nicht aus. Ein Verlobungsring hat mindestens einen Stein, am besten einen großen.“ Genesis seufzte. „Warum bloß musst du dahergehen und es so kompliziert machen?“ „Professor Lavigne-Stein hilft uns gerade auch nicht weiter.“ Genesis hielt inne. Er sah Ramon amüsiert an. „Das hast du erkannt?“ Ramon grinste. „Guilty pleasure.“ Er schaute etwas betreten drein. „Ich hatte 2004 ein echt schlimmes Beziehungsende und, ganz die Drama Queen, hab ich My Happy Ending sehr laut aufgedreht, aber ich muss sagen – es tat ziemlich gut.“ Genesis versuchte, bei diesem Geständnis ernst zu bleiben. Nachdem sich allerdings ein erstes Glucksen aus seiner Kehle gestohlen hatte, konnte er nicht anders, als in Ramons Lachen mit einzustimmen.   Seufzend schloss Genesis die Haustür hinter sich. Sephiroth saß am Küchentisch und lauschte offenbar dem Radio. Er drehte sich aber lächelnd um, als er Genesis hereinkommen hörte, und begrüßte ihn überschwänglich. „Was machst du da?“, fragte Genesis ihn. „Nun“, begann Sephiroth, als Genesis sich zu ihm setzte, „es hat sich nach längerer Zeit herausgestellt, dass ich wirklich nicht ein einziges Wort Portugiesisch verstehe.“ „Dann hast du deine Zeit ja sinnvoll verbracht.“  „Und du so?“ Sephiroth stellte das Radio aus. „Frag nicht“, antwortete Genesis augenverdrehend. „Hochzeitsvorbereitungen sollen ja die Hölle sein“, meinte Sephiroth verschmitzt grinsend. „So weit sind wir ja noch nicht mal. Es geht um den Ring.“ Genesis rollte die langen Ärmel seines dunklen Hemdes hoch. „Nicht den Ehering, den Verlobungsring. In dieser Hitze, es ist der heißeste Monat des Jahres, und er hat nichts Besseres zu tun, als mich von einem Juwelier zum nächsten Goldschmied zu schleppen, obwohl ich ihm gesagt hab, dass ich keinen Ring brauche oder will.“ Er seufzte. „Das Gute ist, dass ich mit ihm wenigstens streiten kann. Ich kenn da ganz andere Menschen.“ Er warf Sephiroth einen bedeutungsschweren Blick zu und stand dann auf, um sich einen Kaffee zu kochen. „Endlich jemand, mit dem du dich verbal duellieren kannst“, erwiderte Sephiroth mit stark ironischem Unterton. Genesis setzte sich mit einer Tasse wieder an den Tisch. Während er dem dampfenden Kaffee beim Abkühlen zusah, fiel sein Blick auf seine Unterarme. „Du kannst immer noch weglaufen, weißt du“,  nahm Sephiroth den vorigen Gesprächsfaden wieder auf. „Wie Amélie Nothomb, meinst du?“ „Was?“ „Ach, nichts weiter.“ Genesis betrachtete immer noch seine Unterarme. Auch Sephiroths Blick fiel darauf.  „Was, denkst du darüber nach, den nächsten Mann unter deine Haut zu bringen?“, fragte ihn Sephiroth neckend. Er meinte das A, das sich Genesis für Angeal direkt unter der Handfläche auf den Arm hatte tätowieren lassen, und den Seraph auf seinem linken Unterarm, der für Sephiroth stand. „Nein“, erwiderte Genesis nur. Er hatte eine andere Idee.   „Amélie Nothomb?“ Genesis warf Sephiroth von der Seite einen beeindruckten Blick zu und rückte sich im Bett zurecht. „Manchmal les ich auch Bücher, ohne dass du sie mir hinlegst“, erwiderte Sephiroth. „Du glaubst also, dass ich ein solches Problem mit einem Verlobungsring hätte?“ „Du wolltest doch keinen.“ „Und deswegen streiten wir uns gleich?“ „Ich wollte nur anbringen, dass du mir immer vorwirfst, mit mir könne man ja nicht streiten.“ „Mit dir kann man ja auch nicht streiten.“ Sephiroth seufzte.   Genesis wurde von Ramon in seiner Wohnung ein Kaffee vorgesetzt. „Verstehst du?“, sagte er gerade. „So kriegst du deinen Ring und ich keinen, aber beide sind zufrieden.“ Ramon setzte sich ebenfalls mit einer Tasse an den Tisch. „Interessante Idee.“  „So kannst du dir deinen Wunschring aussuchen“, setzte Genesis nach, „und ich kann mir denselben tätowieren lassen. Und ich verlier ihn nie.“ Ramon wirkte überzeugt. Kapitel 4: Die Wohnung ---------------------- Nach zwei Wochen brachte Genesis Sephiroth mit Ramons Wagen zum Flughafen. Ramon war damit zu Genesis‘ Haus gefahren und hatte ihm dann die Schlüssel überlassen; er selbst war im Haus geblieben. Es war interessant, Sephiroth und Ramon zum ersten Mal aufeinander treffen zu sehen; sie waren recht steif, bestenfalls höflich zueinander. Ramon schien eruieren zu wollen, was es an Sephiroth war, das Genesis so viele Jahre an ihn gebunden hatte; Sephiroth hingegen machte den Eindruck, genau prüfen zu wollen, ob Ramon gut genug war, um Genesis von nun an an sich zu binden. Glücklicherweise standen sie sich nicht lange gegenüber, bis Genesis und Sephiroth aufbrechen mussten. „Also“, begann Sephiroth, bevor es zur Sicherheitskontrolle ging, „ich schätze, so schnell sehen wir uns nicht mehr wieder.“ Genesis erstarrte. Mit voller Wucht traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag, dass Sephiroth vollkommen recht hatte: Wenn er jetzt ging, kam er nicht mehr zurück. In seinem ganzen Stress mit Ramon hatte er das völlig vergessen. Sephiroth hatte sich für zwei Wochen freigenommen und diese Zeit bei ihm verbracht. Und sobald sie sich hier trennten, ließ Genesis jemanden zurück, der ihn sehr lange begleitet hatte. Der Gedanke ließ ein großes schwarzes Loch in seinem Magen entstehen. Doch er versuchte das nagende Gefühl zu überspielen. „Ich glaube, die haben gestern so was erfunden, das sie Internet nennen.“ „Trotzdem, ich meine –“ Sephiroth schien zu etwas Längerem anzusetzen. „Du bist und warst immer ein großer Teil meines Lebens und –“ „Und“, unterbrach ihn Genesis, „du wirst hier jetzt keine sentimentale Rede halten.“ Sephiroth sah ihn liebevoll an. Er konnte nicht erwartet haben, dass Genesis ihn gewähren lassen würde; sie kannten sich zu gut. „Aber ich kann Danke sagen.“ Genesis, sich verzweifelt kontrollierend, schnürte es die Kehle zu. Er nickte mit zusammengepressten Lippen. Sephiroth nahm ihn fest in den Arm und Genesis schlang ihm die Arme um den Hals, das Gesicht daran verborgen. Sie standen lange so da und hielten sich fest. Es war seltsam, dass Genesis erst jetzt auffiel, wie angenehm Sephiroth roch; er atmete tief ein, um möglichst viel von dem Geruch einzusaugen und für immer in seinem Gedächtnis zu speichern. Strähnen von Sephiroths Haar kitzelten in seinem Gesicht. Wie oft hatte er in Ekstase die Finger darin vergraben, in dem weichen Haar, so lang ... Genesis konnte nicht fassen, was er tat, als er Sephiroth Minuten später losließ; er beobachtete, wie er in den Bereich der Sicherheitskontrolle verschwand, und schaute ihm noch lange hinterher. Er konnte nicht mehr tun, als unsicher dazustehen und auf den Fleck zu starren, an dem er Sephiroth das letzte Mal gesehen hatte; als er aufhörte zu zittern, war es schon beinahe Zeit für den Flug. Genesis riss sich los, wandte sich um und ging zögernd über den Parkplatz auf Ramons Wagen zu. Er setzte sich ans Steuer, fuhr aber nicht los. Es ging ihm einfach nicht aus dem Kopf, was er da gerade zugelassen hatte. Wie konnte er so dumm sein? Wen hatte er da bitte gehen lassen? Und zu wem kehrte er zurück? Genesis versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die ihm in den Augen standen, und sich aufs Fahren zu konzentrieren, als er den Wagen vom Parkplatz am Flughafen herunter steuerte. Ganz hatte er sich immer noch nicht beruhigt, als er den Wagen vor seinem Haus parkte, aber lange konnte er nicht warten, ehe er hineingehen musste; er wollte nicht, dass Ramon etwas merkte. Er stieg aus und ging langsam auf die Haustür zu, stets um seine Fassung bemüht, aber etwas sagte ihm, dass es vergebens war. Drinnen saß Ramon am Küchentisch, über irgendwelche Papiere gebeugt. Genesis ging auf ihn zu und legte eine bebende Hand auf eine freie Stuhllehne. Ramon sah zu ihm auf. „Kaffee?“, fragte er mitfühlend.  Genesis setzte sich zitternd. „Ich glaube, das wär jetzt eine gute Idee.“ Ramon erhob sich, umrundete den Tisch und schaltete die Kaffeemaschine ein, ehe er sich wieder zu Genesis an den Tisch setzte. Sie schwiegen sich lange an, Genesis zu niedergeschlagen, um zu sprechen, Ramon zu ratlos. Erst als der Kaffee fertig war und Genesis dankend eine Tasse von Ramon annahm, traute der sich etwas zu sagen. „Wie lange wart ihr zusammen?“ „Fast neun Jahre.“ Genesis schüttelte ungläubig den Kopf. „Und ich lass ihn gehen.“ Ihm lief eine stille Träne die Wange herunter. Er schlug die Augen nieder. „Das ist wirklich lange.“ Genesis sah ihn an. „Wir kennen uns so lange ... Er kennt mich so gut ... Und ich ...“ „Und du lässt ihn gehen, schon klar.“ Genesis sah Ramon fassungslos an. „Na ja, erzähl ruhig deinem Zukünftigen, wie sehr du deinen Ex vermisst.“ „Es geht nicht darum, dass er mein Ex ist.“ „Ist gut, ich weiß“, sagte Ramon beschwichtigend. „Man verliert nicht oft jemanden, der einen so lange begleitet hat.“ Nun war es vorbei; die Tränen liefen ungehindert Genesis‘ Gesicht entlang. Ramon sah ihn nur hilflos an. Genesis wischte sich über die Augen, in dem Versuch, den Tränen wieder Einhalt zu gebieten. Ramon versuchte, seinen Teil beizutragen. „Was heißt denn verlieren?“, griff er den Gesprächsfaden wieder auf. „Es gibt Möglichkeiten, Kontakt zu halten.“ „Er lebt am andern Ende der Welt!“, herrschte ihn Genesis an. „Wohin er gerade wieder unterwegs ist. Was soll das für Kontakt sein? Machen wir uns doch nichts vor – er ist nicht mehr Teil meines Lebens. Genauso wie alle andern in der Heimat.“ Nachdem Genesis es einmal ausgesprochen hatte, verlor der Gedanke seinen Schrecken. Er versuchte sich zu beruhigen. Ihm liefen nur noch einzelne Tränen über die Wangen. Sein Blick ging nach unten zu seiner Hand, an der nun sein frisch gestochener Verlobungsring prangte. Er sah Ramon an. „Du weißt, du musst sie mir jetzt alle ersetzen.“ Ramon schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er hob die Hand, an der der originale Ring saß, und wischte ihm mit dem Daumen sanft die Tränen weg. „Ich kann zwar nicht kochen“, sagte er und nahm mit dem Zeigefinger die letzte Träne von Genesis‘ Gesicht, „aber ich kann es ja lernen. Ich bin gut im Lernen.“ Genesis lächelte dankbar. Ramon überbrückte die Distanz zwischen ihnen und küsste ihn kurz vorsichtig auf die Lippen. „Jetzt trink am besten deinen Kaffee, dann geht’s dir bestimmt gleich besser.“ Genesis nickte und nahm einen Schluck vom Kaffee, der mittlerweile deutlich abgekühlt war. Trotzdem schien ihn neue Kraft zu durchströmen, als er weiter an der Tasse nippte. Seine Augen waren vermutlich immer noch gerötet, aber seine Atmung wurde wieder normaler. „Besser?“, fragte Ramon. „Ich werd wieder“, antwortete Genesis mit einem tiefen befreienden Seufzer. Er fühlte noch die Spuren der getrockneten Tränen auf seinen Wangen, spürte aber ebenso wieder Stärke in seinen Körper strömen. „Kann ich dich dann mit was anderem aufregen?“ „Wieso?“, fragte Genesis skeptisch. „Wegen des Zusammenziehens ...“ „Hier ist genug Platz für dich, kein Problem.“ „Liebling ...“ „Nenn mich nicht so.“ „Was?“ „Nun, also – was auch immer du gerade ansprechen wolltest, lass mich zuerst eins klarstellen“, sagte Genesis bestimmt, „nämlich dass du mich gefälligst weder Liebling noch Schatz oder sonst bei irgendeinem Kosenamen nennst, verstehen wir uns da?“ Ramon saß wie vom Donner gerührt vor ihm. „Wieso nicht?“ „Weil ich es nicht möchte.“ „Warte mal kurz. Geht’s hier um mich?“ „Nein, wieso?“ Ramon sah ihn ungläubig an. „Du willst mir erzählen, ihr wart neun Jahre zusammen und du hast dich nie bei irgendeinem Spitznamen oder so was nennen lassen?“ „Ich verwehre mich gegen alles, was in Richtung Schatz, Liebling, Hase oder ähnliches geht –“ „Das kann ich ja vielleicht noch verstehen –“ „Und du willst mich ja nach diesem Anfall wohl kaum mit einem Spitznamen ansprechen, den mein Ex benutzt hat – und nur mein Ex, niemand sonst.“ „Und sonst hast du keine Spitznamen?“ „Nein.“ „Alle Leute, die dich kennen, sprechen dich immer mit vollem Vornamen an?“ „Wenn ich ihnen etwas bedeute“, sagte Genesis mit Nachdruck. Ramon gab nach. „Also, worüber wolltest du reden?“ „Ähm ... Das wird dir nicht gefallen“, warnte ihn Ramon mit verzeihungheischender Stimme vor. „Ich kann hier nicht einziehen.“ „Was soll das heißen? Ich hab doch eben gesagt, dass du kannst.“ „Nein, ich meine – ich kann es einfach nicht.“ „Ramon“, sagte Genesis drohend. „Was ist das für ein Spiel?“ „Hör mal, ich bin sehr kompliziert, ich kann nicht überall arbeiten, weißt du. Es war ein Wunder, dass ich meine Wohnung gefunden habe. Und ich kann nicht von früh bis spät im Büro hocken, ich muss zu Hause arbeiten.“ „Ramon“, sagte Genesis wieder, „du wohnst auf ungefähr fünf Quadratmetern.“ „Es sind fünfzig.“ „Gehüpft wie gesprungen“, winkte Genesis mit einer Handbewegung ab. „Das kannst du nicht ernst meinen. Deine Wohnung reicht, um übers Wochenende Besuch zu haben, aber nicht für zwei Leute. Hier ist dreimal so viel Platz wie in deinem Loch.“ „Es geht nicht anders“, bestand Ramon. „Und ich meine es ernst.“ „Ramon, nein.“ Genesis schüttelte den Kopf. „Lieber wohne ich getrennt von dir als mich von diesen Wänden einschließen zu lassen.“ „Ich sag ja nicht, dass wir keine andere Wohnung suchen können, die groß genug für zwei ist, aber übernächste Woche beginnt auch schon wieder das Semester und ich sage dir, ich werde nicht zur Wohnungssuche kommen.“ Genesis war nicht bereit, nachzugeben. „Nein. Nein, Ramon, nein. Keine zehn Pferde bringen mich dazu, in diese Wohnung zu ziehen. Die ist schon für dich und deine Bücher zu klein. Keine Chance, tut mir leid, nein.“ Genesis öffnete seufzend einen weiteren Umzugskarton mit Büchern. Er holte ein paar Nietzsche-Ausgaben hervor, die er sich in Coimbra geleistet hatte. „Weißt du“, sagte Ramon und kam vom andern Ende des kleinen Wohnzimmers seiner Wohnung auf ihn zu, „du müsstest dich vielleicht weniger über zu knappen Platz beschweren, wenn du wenigstens darauf verzichten könntest, Bücher hier aufzustellen, die wir beide haben und die dann nur doppelt hier rumstehen.“ „Von wegen doppelt“, erwiderte Genesis gereizt und zerrte Ramons Nietzsche-Ausgabe aus dem Regal. Er hielt beide nebeneinander. „Sieht das für dich wie das gleiche Buch aus?“ „Es steht derselbe Name drauf und es ist derselbe Titel.“ „Und das ist auch schon alles. Verschiedene Jahrgänge, verschiedene Auflagen, verschiedene Umschläge. Zwei völlig verschiedene Bücher. Schreib mir nicht vor, wie ich damit umzugehen habe.“ Ramon seufzte nachgebend. „Soll ich das vielleicht übernehmen?“ „Nein.“ Genesis wandte sich ab und begann seine Bücher einzusortieren. Mitten in der Bewegung spürte er, wie Ramon von hinten seine Arme um ihn schlang und einen Kopf über seine Schulter legte. Genesis ließ die Bücher in der Hand zu Boden gleiten* und schloss die Augen in Ramons Umarmung. „Worüber streiten wir hier eigentlich?“, fragte ihn Ramon sanft. „Wir streiten doch nicht.“ Er seufzte wohlig. Ramon gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange und ließ ihn dann weiter seine Bücher einordnen. Als er nach einer ganzen Weile damit durch war, setzte er sich zu Ramon an den Küchentisch und öffnete seinen dort abgelegten Laptop. „Was machst du?“, fragte Ramon. „Schauen, wie das mit der Ummeldung innerhalb der Stadt hier funktioniert.“ „Oh, das kann ich dir auch sagen.“ Ramon streckte eine Hand aus und klappte den Computer zu. Genesis schaute ihn ungläubig an. „Das macht man aber auch nicht.“ „Ich weiß. Ich wollte nur noch was besprechen.“ „Schieß los.“ „Nächste Woche beginnt wieder das Semester ...“ „Ja?“ „Und ich möchte dich gerne dem Institut vorstellen.“ „Ist das dein Ernst?“ „Nur den Kollegen.“ „Das ist mir schon klar, aber ist das trotzdem dein Ernst? Was soll das?“  „Na ja“, druckste Ramon herum, „sie mögen nicht meine engsten Freunde sein, aber dennoch sind das Menschen, mit denen ich den Großteil meiner Zeit verbringe, die Wochentage von früh bis spät, viele Wochenenden, den einen oder anderen Abend, von September bis Juni. Es ist nur fair.“ „Nein. Ich lass mich nicht vorstellen wie ein Haustier. Außerdem kenn ich den Großteil von denen doch schon irgendwie – ich saß sogar in der Vorlesung deines Professors.“ „Du weißt genau, worum es mir geht. Aber ich dachte mir schon, dass du ablehnst. Tja ...“ Ramon machte ein nur gespielt bedauerndes Gesicht. „Eine Gelegenheit weniger für diesen unglaublich guten Kuchen ...“ Genesis war geködert; er wollte es sich aber nicht anmerken lassen. „Was für Kuchen?“, fragte er so nebenbei wie möglich. Ramon grinste.  „Na ja, Linda, die Kollegin, mit der ich mir das Büro teile –“ „Kenn ich.“ „Und die ist zufällig eine echt gute Bäckerin.“ „Du bist unfair.“ „Ist das ein Ja?“ Genesis verdrehte die Augen. „Von mir aus. Ich steh übrigens auf Apfelkuchen.“ „Was du nicht sagst.“   „Also, Linda, sag mal.“ Genesis setzte sich mit Linda und einem Stück ihres umwerfend guten Kuchens in eine Ecke des Büros, in dem das Institut zusammengekommen war, um Ramons und seine Verlobung zu feiern. Sie passten gut zusammen mit ihren roten Haaren, auch wenn Lindas Locken eindeutig gefärbt waren. „Bis auf dich hatte hier niemand auch nur den Hauch einer Ahnung, dass Ramon vom andern Ufer ist, kann das sein?“ „Ja, richtig“, erwiderte Linda diabolisch grinsend. „Hab ich in dem Moment gemerkt, in dem ich den Raum betreten habe.“ „Aber Ramon ist so verknallt, der hat nichts davon mitgekriegt.“ „Das Gefühl hatte ich auch.“ „Aber erzähl mal!“ Linda zeigte mit ihrer Kuchengabel auf ihn. „Was ist passiert seit Juni?“ Im Juni waren Ramon, Linda und andere Institutsangehörige zu einer Fachtagung nach Porto gefahren, zu der Ramon Genesis nach einer Überredungskampagne, bei der viel Ungerechtigkeit im Spiel gewesen war, mitgenommen hatte; Linda war nicht entgangen, dass etwas zwischen ihnen lief. So war sie die einzige, die über Ramons Liebesleben Bescheid gewusst hatte. „Nichts eigentlich, es hat sich nichts verändert, nur hat Ramon mir letzten Monat aus heiterem Himmel einen Antrag gemacht.“ Linda machte hinter ihrer dicken Brille große Augen. „Einfach so?“ „Ja, wir waren nicht mal offiziell zusammen.“ Bei einem Blick in Lindas Gesicht bereute Genesis seine Worte sofort: Dieser Ausdruck konnte nur bedeuten, dass in kürzester Zeit das ganze Institut Bescheid wissen würde. Er gabelte wieder weiter seinen Kuchen und nahm sich vor, auf Lindas Fragen nicht mehr zu antworten.   „Du hast eine blühende Phantasie“, kommentierte Genesis Sephiroths Erzählung.            „Ach, echt?“ Sephiroth hielt seine Version der Geschichte bis dahin eigentlich für ganz realistisch. „Du glaubst, ein Akademiker würde seine Homosexualität verstecken?“ „Machen die das nicht?“ „Kulturwissenschaftler meines Wissens jedenfalls nicht ...“ „Oh“, machte Sephiroth überrascht. Dann zuckte er die Schultern. „Na ja, egal, ist ja auch meine Geschichte.“ „Ist das deine Ausrede dafür, dass du denkst, ich würde dir hinterherweinen?“ „Würdest du garantiert.“ „Hast du mich jemals weinen sehen?“ „Äh – ja?“ Sephiroth verstand die Frage nicht. Genesis bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Das war ein Todesfall, das zählt nicht.“ „Hey, wenn dir meine Geschichte nicht gefällt, dann hör ich auf.“ Genesis‘ Augen wurden groß. „Nein, ich möchte wissen, wie es weitergeht“, sagte er kleinlaut. „Vorausgesetzt, du machst es nicht wie Amélie Nothomb, nur weil wir drüber gesprochen haben. Du solltest dich schon an die Vorgabe halten.“ Sephiroth verdrehte die Augen. „Mach ich schon, keine Sorge.“ Kapitel 5: Bonuskapitel ----------------------- Die Sonne des späten Nachmittags war etwas, das auch Genesis gut genießen konnte. Mit entspannt geschlossenen Augen gemütlich auf eine Parkbank gefläzt, hatte er zur Abwechslung sogar die langen Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Die Sonnenstrahlen wärmten ihm angenehm die Haut; er atmete ruhig und dachte an nichts Weltbewegendes, während eine leichte Brise raschelnd durch die Bäume wehte. Er hörte Leute vorbeigehen, aber in seinem tranceartigen Zustand der Seligkeit war ihm nicht danach, genauer nachzuschauen. Er genoss das helle Licht auf seinen Armen. „Wolltest du zu mir?“, sprach ihn jemand an. Genesis ließ sich Zeit mit einer Antwort und atmete noch einmal in aller Ruhe tief durch. „Ich kenne den Weg zu dir“, erwiderte er schließlich unbeeindruckt, ohne die Augen zu öffnen. Er hatte genau gewusst, was er tat, als er sich in den Park am Ende derjenigen Straße setzte, die zu Ramons Institutsgebäude führte. Ramon setzte sich neben ihn. „Ich schätze, das war ein Nein?“ Ohne zu antworten, änderte Genesis seine Position auf der Bank so, dass er sich quer über sie erstreckte und sein Kopf auf Ramons Schoß lag. Nun strahlte die Sonne auf seine andere Gesichtshälfte, die er ihr vorher nicht zugewandt hatte. Er seufzte wohlig und öffnete langsam die Augen, als würde er gerade erst eines Morgens erwachen. Ramons helles Hemd wirkte im Sonnenschein besonders blütenweiß. Er lächelte, als er Genesis eine Hand sanft an die Seite des Halses legte und mit dem Daumen leicht über seine Lippen fuhr. Genesis spürte seinen Puls gegen Ramons Finger schlagen. Er schloss wieder die Augen und wandte das Gesicht ab. Ramons Hand streichelte weiter über seinen Hals, wanderte dann über seinen Arm langsam herunter und verweilte kurz bei Genesis' Händen, bevor sie an seiner Taille zum Liegen kam. Genesis ließ alles ohne weitere Proteste geschehen. Es war schön so, wie es war. Kapitel 6: Und die andern I --------------------------- „Was soll das heißen, wir können uns nicht mehr treffen?“, fuhr ihn Amar, der ihm sehr nah gekommen war, wutentbrannt an. Zorn verzog ihm das sonst ganz ansehnliche Gesicht; sein Körper war bis in den letzten Muskel vor Erregung angespannt. „Nun“, erwiderte Genesis unbeeindruckt, „das soll genau das heißen, du hast es also schon ganz gut erfasst.“ „Ich will keine Spielchen spielen!“, gab Amar erhitzt zurück. „Erklär mir das gefälligst!“ Genesis sah ihn mit festem Blick an. „Erst beruhigst du dich – sonst muss ich dich bitten zu gehen.“ Immerhin standen sie vor seinem Haus. Er bezahlte eine gute Miete, um in dieser Gegend zu wohnen; Krawall konnte ihn seinen Platz in der Nachbarschaft kosten. „Wie soll ich mich beruhigen?“, rief Amar, immer noch erzürnt, immer noch viel zu laut. „Erst antwortest du nicht, wenn ich dich anrufe oder dir schreibe, dann lässt du mich hier antanzen, als wär ich dir hörig, aber nur um mir zu sagen, dass du mich in die Wüste schickst! Glaubst du, so kannst du mit mir umgehen?“ „Amar, ich bin dir nicht verpflichtet und ich war es nie“, stellte Genesis sachlich klar. „Wir haben ein bisschen Zeit miteinander verbracht, das ist alles. Du wusstest immer, dass es auch andere Männer gibt.“ Amar horchte auf. „Was genau soll das heißen?“ Genesis hatte das Gefühl, schon zu viel gesagt zu haben. Er wusste aber, dass er Amar nicht loswerden würde, wenn er ihm jetzt nicht die Wahrheit sagte. „Es gibt seit Neuestem einen festen Partner in meinem Leben.“ Amar lachte laut und kalt; die Unehrlichkeit darin schmerzte. „Du? Du und ein fester Partner? Dir reichen doch nicht mal zwei Kerle in einer Nacht!“ Genesis versuchte, sich nicht zu sehr beeindrucken zu lassen; er wusste, dass Amar verletzt war und er seinen Worten nicht zu viel Gewicht beimessen sollte. Am besten war, ihm jetzt nahezulegen, wieder nach Hause zu gehen und die Sache zu begraben – Genesis hatte noch nicht einmal angesetzt, als er Sephiroth erblickte, der die Straße entlangkam. Er hatte die Gegend nach guten Einkaufsmöglichkeiten erkundet, im Sinn den ungefähren Plan, für das Mittagessen zu sorgen. Auch Amar verstummte und sah Sephiroth, der unbeirrt an ihm vorbeiging, fassungslos an. „Du hast ein echtes Gefühl für Timing, Crescent“, seufzte Genesis mit ermatteter Miene. „Immer zu Diensten“, strahlte Sephiroth verschmitzt. Genesis hielt ihm die Tür hinter sich auf. „Gehst du dann jetzt bitte rein?“ „Alles ok?“, fragte Sephiroth. „Jetzt geh rein!“, erwiderte Genesis etwas gereizt. Als Sephiroth im Haus verschwunden war, kam Genesis erneut nicht dazu, das Wort zu ergreifen, ehe Amar sich schon wieder in Rage redete. „Der ist ja immer noch da!“, erzürnte er sich. „Ist er es?“ „Nein“ war alles, was Genesis sagen konnte. „Ha!“, unterbrach ihn Amar da schon. „‚Ein fester Partner‘, schon klar! Und was ist dann bitte mit ihm?“ „Amar, ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen.“ Genesis hatte Mühe, seine Stimme weiterhin ruhig zu halten. „Und in Anbetracht der Nachbarn, die schon gucken, würde ich dich jetzt auch bitten zu gehen.“ Amar sah sich nach den erwähnten Nachbarn nicht einmal um; sein lodernder Blick fixierte Genesis. Er bewegte sich nicht einen Zentimeter. Auf Genesis machte er den Eindruck, als ob er am liebsten auf irgendetwas einschlagen würde; die Finger waren krampfartig angespannt, kurz davor, Fäuste zu ballen; sein Körper sah aus, als ob er bereit wäre, loszustürmen. Genesis beunruhigte das nicht; er verfügte über eine militärische Ausbildung und war in der Lage, Männer innerhalb von Sekunden zu überwältigen. Einzig – er wollte nicht dazu gezwungen sein. „Amar, bitte“, sagte er eindringlich, „geh einfach.“ „Wer ist der Kerl?“, spie ihm Amar entgegen. Genesis wusste nicht, ob sich Amar auf Sephiroth oder Ramon bezog, aber es war ihm auch egal. Er wollte Amar loswerden, nicht mehr und nicht weniger. „Das geht dich nichts an“, sagte er deswegen bissig. „Und jetzt verschwinde.“ Es war nur eine winzige Bewegung; Amar war noch nicht zu mehr gekommen, als nur einen halben Schritt auf ihn zuzumachen, aber bei dieser Bewegung übernahm Genesis‘ Instinkt. Er schätzte Amars Kraft ab, ohne darüber nachzudenken, was er eigentlich tat, und nutzte das Moment, um Amar heftig von sich zu stoßen. Dieser strauchelte, wich mehrere stolpernde Schritte zurück, fand aber im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder, um nicht auf das Pflaster des Gehwegs zu schlagen. Schwer atmend richtete er sich gerade auf und starrte Genesis fassungslos und verängstigt an. „Du wusstest von Anfang an, wozu ich fähig bin“, sagte Genesis kühl. „Ich hab dich jetzt mehrmals aufgefordert, zu gehen.“ Ohne ein weiteres Wort, aber auch ohne seinen verstörten Blick von Genesis abzuwenden, trat Amar den Rückzug an; Genesis sah ihm nach, bis er den Weg entlang und um die Ecke verschwunden war. Erst dann entspannte sich sein Körper wieder. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hasste es, Gewalt anwenden zu müssen. Er drehte sich um, öffnete die Tür und ging zu Sephiroth ins Haus. Der stand in der Küche und sortierte seine Einkäufe ein. Nachdem Sephiroth alles im Kühlschrank verstaut und diesen wieder geschlossen hatte, lehnte sich Genesis dagegen und sah Sephiroth weiter zu. „Hast du eigentlich keinen Jetlag?“, fragte er, um irgendetwas zu sagen. „Schon“, erwiderte Sephiroth schulterzuckend. „Du bist so hart im Nehmen.“ Es hatte beeindruckt klingen sollen, doch Genesis‘ Stimme blieb emotionslos. Sephiroth lächelte ihn schief an. „Hab ich den Jungen nicht gestern schon mal gesehen?“ Genesis nickte. „Er hat es nicht so gut aufgenommen, dass ich jetzt vergeben bin.“ „Alles ok?“, wiederholte Sephiroth besorgt. „Kerle, die denken, man schuldet ihnen was“, sagte Genesis weiterhin tonlos. „Davon hatte ich eigentlich schon genug; ich dachte nicht, dass er dazugehört.“ Sephiroth lächelte verständnisvoll. „Jetzt bist du ja verlobt.“ „Ja“, sagte Genesis, „richtig.“ Diese undankbare Bemerkung wollte er so nicht stehen lassen. „Ramon ist schon ganz sanft.“ „Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich den Namen von deinem – Professor oder was er ist – erfahre.“ „Seph, wie oft noch, er ist kein Professor.“ „Du springst aber auch jedes Mal wieder drauf an.“ Sephiroth grinste zufrieden. Genesis seufzte. „Er hat in dem Jahr, bevor wir uns kennengelernt haben, promoviert.“ „Soll heißen?“ „Dass er einen Doktortitel hat.“ „Und wo ist der Unterschied?“ Genesis schaute Sephiroth von der Seite mit einem Blick an, der zähere Männer hätte töten können. „Der Unterschied besteht in ungefähr 15 Jahren harter Arbeit, die früh morgens beginnt und bis Mitternacht geht.“ „Das heißt, ein Professor wäre dir zu alt.“ „Sicherlich gibt nicht jeder seine Habilschrift erst mit Mitte 40 ab, aber – ja.“ „Ramon ist so alt wie wir?“ „Ein Jahr älter als ich, ja.“ Sephiroth setzte einen nachdenklichen Blick auf, ehe er seine Geschichte fortsetzte. „Doktor, nicht Professor.“ „Wie auch immer“, sagte Sephiroth schulterzuckend. Er war fertig damit, Dinge in der Küche zu verstauen, und nahm sich jetzt der letzten Tüte an. „Was hast du gekriegt?“, fragte Genesis interessiert. „Ganz wunderbaren Fisch und tolle Meeresfrüchte“, sagte Sephiroth mit einem Leuchten in den Augen. „Hundert Prozent frisch, das merkst du, die Tüte steht offen und du riechst nichts. Das ist großartig.“ Er holte einen Fisch aus der Tüte hervor und begann ihn in der Spüle zu entschuppen. „Erzähl, was war das für ein Typ?“ Genesis musste kurz überlegen, was Sephiroth meinte. „Oh“, sagte er dann, „Amar.“ „Ja?“ Genesis setzte sich an den Tisch. „Ich hatte Langeweile und dachte, es kann nicht schaden, sich weiterzubilden, und da gerade das neue Semester begonnen hatte, hab ich mich gegen einen kleinen Obolus als Gasthörer ins universitäre Institut eintragen lassen, und da saß ich im selben Kurs wie Amar – bei Ramon übrigens.“ „Das Bild beginnt sich zusammenzufügen“, sagte Sephiroth belustigt. „Die beiden wussten nichts voneinander“, beschwichtigte ihn Genesis. „Jedenfalls nicht namentlich. Sie wussten beide, dass es da – noch andere gibt.“ „Die Klatschpresse daheim hat sich ziemlich darüber ausgelassen, ich weiß Bescheid.“ Sephiroth grinste wieder ganz verschmitzt. „Aber was ist das mit diesen beiden speziell?“ „Oh, mit Amar hab ich die Wochentage verbracht und mit Ramon das Wochenende“, erklärte Genesis ganz nüchtern. „Amar ist ein armer Student, also hab ich ihn ausgehalten, aber Ramon verdient gutes Geld, also hab ich mich einladen lassen.“ „Was, du dich einladen lassen? Wo gibt’s denn so was?“ Sephiroth lächelte wissend. „Dabei hast du selbst gutes Geld.“ „Weißt du, er hat dafür auch was bekommen“, sagte Genesis unbescheiden. „Was, dich?“ „Natürlich.“ Sie schauten sich in die Augen. „Willst du mir da widersprechen?“ Sephiroth schürzte die Lippen. „Und was hast du bekommen?“, fragte er stattdessen. „Einen eifersüchtigen Freund?“ Genesis seufzte. „Ja, Amar gehört eher zur ... temperamentvollen Sorte ...“ „Irgendwelche Qualitäten muss er ja haben“, sagte Sephiroth augenzwinkernd. „Na ja ...“ Genesis seufzte erneut. „Er ist jung und unerfahren. Gerade 23.“ „In dem Alter hatte ich schon ein paar Tricks drauf.“ „Die ich dir alle beigebracht habe, tu nicht so.“ Sephiroth gab nach. „Aber wenn du jemanden für die Wochentage hattest – und jemanden fürs Wochenende ...?“ „Oh, weißt du, manchmal wird das langweilig.“ „Klar.“ Sephiroth fuhr damit fort, ihr Mittagessen vorzubereiten. „Hast du Angeal davon erzählt?“ „Seph, wenn ich ihn angerufen hätte, hättest du das mitbekommen.“ „Ja ...“, machte Sephiroth. „Jetlag. Legt das Hirn lahm.“ „Nein, ich mach das schon noch.“ Angeal war nicht der einzige, der in Kenntnis gesetzt werden musste. Als nächstes würden sie es wohl Ramons Familie erzählen – und dann irgendwann seinen eigenen Eltern ... Kapitel 7: Und die andern II ---------------------------- „Kennst du die Familie eigentlich?“, fragte Sephiroth. „Nein“, erwiderte Genesis halb entsetzt. „Natürlich nicht.“ „Toll, dann kann ich mir ja was ausdenken. – Und wo wohnen die Eltern?“ „Uff“, machte Genesis. „Irgendwo im Nordwesten von Lissabon.“ „Wie kommt man da hin?“ „Metro?“ Auch Genesis war überfragt. „Aber sie müssen schon ziemlich weit draußen wohnen, Ramon hat angedeutet, dass sie einen ganzen Bauernhof als Wohnhaus übernommen haben.“ „Dann hast du dich ja pekuniär in bester Gesellschaft befunden“, bemerkte Sephiroth verschmitzt grinsend. „Meine Mutter hat mich schon vor Ewigkeiten gefragt, ob ich jemanden zu Weihnachten mitbringe.“ Genesis gingen daraufhin hundert Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Da er sich nicht entscheiden konnte, was davon er zuerst sagen sollte, sah er Ramon nur fragend an. „Na ja, sie hat da so einen Hof, bei dem sie den Vogel bestellt – sie hat so einen völlig absurden Biotick – und wenn man sich da nicht Monate vorher meldet, geht man leer aus, weil sie auch nicht das größte Kontingent haben, also hat sie mich angerufen – es ist ja nicht so, als ob es immer so viel Essen gäbe, dass wir noch zehn spontane Gäste übersättigen könnten –“ „Und?“ Ramons Erklärung war nicht das, was Genesis hören wollte. „Und möglicherweise hab ich da angedeutet – du weißt schon, dass es jemanden geben könnte ...“ Ramon sah Genesis nicht in die Augen, als er dieses kleinlaute Geständnis abgab. Genesis ließ nicht locker. „Und vor einer wie langen Ewigkeit war das genau?“ „Ähm ...“ Ramon tat, als ob er überlegte, aber Genesis war klar, dass er sich nur kaum traute, mehr zu verraten. „Im ... Juli?“ „Ramon.“ Genesis wartete ab, bis Ramon ihn schüchtern ansah; er selbst begegnete diesem Blick mit gnadenloser Härte. „Wann haben wir uns verlobt?“ „Am sechsten August“, antwortete Ramon freudestrahlend. Auf Genesis‘ Blick hin schrumpfte er auf seinem Stuhl wieder zusammen. „Und wie genau kommst du dazu, deiner Familie im Juli zu erzählen, es ‚gäbe da jemanden‘?“ „Ich hab dazu aber auch gesagt, dass es nicht ganz sicher ist“, erklärte Ramon. „‚Nicht ganz sicher‘? Nicht ganz sicher ist man sich bei jemandem, den man gerade getroffen hat, nicht bei jemandem, mit dem man vier, fünf Monate ins Bett geht.“ Ramon schaute beleidigt drein. „Es war ja wohl mehr als das.“ „Der Punkt ist, dass wir nicht zusammen waren und auch nicht im Begriff, zusammenzukommen, so als ob es nur eine Frage der Zeit gewesen wäre.“ „Warum musst du darauf eigentlich immer so rumreiten?“, fragte Ramon erhitzt. „Weil ich mich mit andern Männern getroffen habe.“ „Weiß ich.“ „Ich will nicht, dass für irgendwen der Eindruck entsteht, ich hätte dich betrogen.“ „Was?“ Ramon war offensichtlich überrascht. „Davon kann überhaupt nicht die Rede sein, ich wusste von Anfang an, worauf ich mich einlasse.“ Er griff über den Tisch seiner Wohnküche und streichelte Genesis‘ Hand, die an seiner Kaffeetasse lag. „Deswegen brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ehrlich nicht.“ Ramons liebevolles Lächeln ließ Genesis‘ Herz etwas aufwärmen. Eine Weile verbrachten sie in einer angenehmen Stille, unterbrochen nur davon, dass sie ab und an an ihren Tassen nippten. Als diese geleert waren, räumte Ramon sie ab. „Und warum erzählst du mir das jetzt, im November?“, fragte Genesis. „Na ja, Weihnachten ist schon nächsten Monat.“ Ramon setzte sich wieder und sah Genesis‘ skeptischen Blick. „Und es ist nur fair, dass du weißt, dass meine Eltern seit Juli darauf warten, dass ich ihnen endlich einen neuen Mann vorstelle.“ Genesis nickte. „Du weißt, dass wir in meiner Heimat nicht so die Weihnachtstradition haben mit – keine Ahnung – einem Baum und irgendeinem Weihnachtsmann.“ „Ach, Weihnachten macht Spaß, wenn man erst mal weiß, dass es den Weihnachtsmann wirklich gibt.“ „Du nimmst mich auf den Arm.“ „Hast du nie den Film mit Tim Allen gesehen?“ Ramon zwinkerte ihm zu. „Doch, klar, hundertmal. Mindestens.“ Genesis zwinkerte nicht. Für Genesis‘ Geschmack kam der Vortag des Heiligen Abends viel zu schnell. Ramon hatte noch einige Unterlagen und Bücher für die Arbeit durchzuackern, so kamen sie erst am späten Nachmittag dazu, aufzubrechen, und Genesis saß die ganze Zeit wie auf glühenden Kohlen. „Es ist ganz einfach“, erklärte ihm Ramon, „wir nehmen die blaue Metrolinie bis zur Endstation und dann – dazu kommen wir, wenn es so weit ist.“ Um die Uhrzeit und vor allem diese Zeit im Jahr war besagte Metrolinie gut gefüllt. Ramon und Genesis stiegen zusammen mit vielen Leuten ein, die mit einer Menge Tüten bepackt waren oder mit großen Koffern in Richtung Hauptbahnhof aufbrachen; sie fanden trotzdem nach ein paar Stationen eine Stelle in einer Ecke, in der sie sich relativ unbehelligt einander zuwenden konnten. Ramon beugte sich kurz zu ihm und küsste ihn flüchtig auf die Lippen. „Du weißt“, sprach Genesis endlich aus, was ihn umtrieb, „ich hatte noch nie mit Familie von Partnern zu tun.“ „Was, echt nicht?“, fragte Ramon verblüfft. „Nein, meine ersten beiden Partner waren von ihren Familien verstoßen und der dritte hat keine Familie.“ „Oh, wow.“ Ramons nachdenklich zur Seite gehender Blick verriet Genesis, dass er sich Sephiroth in Erinnerung rief. Dann runzelte er die Stirn. „Das ist tragisch.“ Als sie an der Endstation angekommen waren, führte Ramon Genesis aus dem Metrobahnhof heraus; Genesis fielen die künstlerischen Verzierungen an den Wänden auf. Sie fuhren mit einem Vorortszug weiter aufs Land hinaus. Der Tag war mittlerweile zu einem Großteil vergangen; die Schatten wurden länger, es kühlte ab, die Sonne war dabei, sich langsam zu verabschieden. „Wir sind schon wieder auf dem halben Weg nach Sintra, oder?“, fragte Genesis, dem die Strecke trotz spärlicher werdenden Lichts ungefähr bekannt vorkam. „Was meinst du, warum ich früher so oft da war?“, fragte Ramon grinsend zurück. „Von meinem Elternhaus ist es nicht weit.“ Den Rest des Weges legten sie in einem Taxi zurück. Als sie – mittlerweile in der Abenddämmerung – ausstiegen, fand sich Genesis vor einem großen Haus wieder, das seinem eigenen Elternhaus kaum in etwas nachstand. Weitere Bauten verteilten sich großzügig um das Haupthaus. In der Ferne war das Gelände weit und breit von Wiese und Feld umgeben; die nächsten Nachbarn waren weit entfernt. Ramon trat zu Genesis heran. „In der Familie gibt es Geld, ja?“, fragte Genesis. „Ein bisschen“, erwiderte Ramon bescheiden. „Kennst du ja selbst.“ Genesis nickte. Über einen knirschenden Kiesweg bewegten sie sich auf die Haustür zu, die sich am Ende zweier Stufen befand. Genesis erahnte, wie es dahinter aussah. Er spürte, dass die ruhige bäuerlich-ländliche Atmosphäre täuschte; man hatte sich einzig und allein aus dem Grund aufs Land zurückgezogen, um über mehr Platz und Raum zu verfügen, nicht aber um etwa ein einfacheres Leben zu führen oder gar auf Luxus zu verzichten. Ramon legte ihm liebevoll von hinten die Arme um die Brust. „Ich liebe dich“, flüsterte er Genesis ins Ohr. „Das ist alles, was zählt.“ Genesis konnte nicht behaupten, deswegen weniger gespannt zu sein. Ramon ließ ihn wieder los und wandte sich der Tür zu. „Und ich freu mich auf meine Eltern und sie werden dich auch lieben.“ Er klopfte. „Was, und du kommst gar nicht aus Portugal?“ „Nein.“ „Und du bist gar kein Muttersprachler?“ „Nein, auch nicht.“ „Unglaublich.“ Inês, Ramons Mutter, kam aus dem Staunen kaum heraus. „Man hört es nicht, absolut nicht. – Oder vielleicht höre ich einfach nicht mehr so gut?“ „Tja, was soll ich darauf jetzt antworten?“, fragte Genesis lachend, ein gut gefülltes Glas Rotwein in der Hand. Ramon kam ihm zu Hilfe. „Vielleicht kann ich darauf einfach einwenden, dass ich auch keinen Akzent wahrnehme.“ Genesis wandte sich auf dem großen Ecksofa im Wohnzimmer von Ramons Eltern dankbar um. Das Zimmer war vielmehr ein bereits festlich dekorierter, ungewöhnlich weiter, offener Bereich mit einer großen Kücheninsel am andern Ende des Raums, auf der ein Kranz aus Tannengrün mit vier Kerzen darauf lag. Warme Holztöne dominierten, ergänzt durch helle Details und Polster wie das cremeweiße Sofa, das trotz seines Eckcharakters mitten im Raum auf einem wertvollen Teppich stand. Inês, eine edle, schlanke Dame mit freundlichem Gesicht und einem angenehmen Schokoladenton in den Haaren, hatte ihnen die Tür geöffnet, ihren Sohn in überschwänglicher Freude in die Arme geschlossen und sie beide mit herzlicher Gebärde ins Haus gebeten. Während sie Genesis mit Ramon im Schlepptau durch das Haus mit all seinen Hinweisen auf das anstehende Weihnachtsfest führte, hörte sie Genesis mit subtilen Fragen auf dennoch irgendwie liebenswürdige Weise aus. Der war erleichtert, dass sie sich direkt gut verstanden. Sie bat die beiden in die Küche, wo sie ihnen verschiedene kleine Köstlichkeiten mit Brot vorsetzte. „Der Papa kommt heute etwas später?“, fragte Ramon. „Wie immer, wenn es auf ein paar freie Tage zugeht“, seufzte Inês. „Plötzlich fällt allen Leuten ein, dass noch was erledigt werden muss, bevor sie ihre Weihnachtseinkäufe machen.“ „Und Antónia kommt morgen?“ Antónia war Ramons jüngere Schwester. „Sie hat sich zum Mittagessen angemeldet.“ „Es gibt ein Mittagessen?“, fragte Ramon schelmisch. „Oh, du.“ Sie richtete ihren Blick auf Genesis. „Gibt es etwas, das du nicht isst?“, fragte sie ihn mit der unverkennbaren Liebenswürdigkeit einer fürsorglichen Mutter. Sie hatte ihm innerhalb der ersten Minuten das Du angeboten. Ramon musste lachen. „Nein“, antwortete Genesis wahrheitsgemäß. „Mit mir gibt es auf jeden Fall kein Problem mit Essensresten.“ Fürs erste nicht mehr hungrig, hatten sie sich mit Wein aufs Sofa zurückgezogen; schnell hatte sich das Gespräch Genesis‘ familiären Hintergrund und seiner Herkunft zugewandt. Genesis lehnte sich in Ramons Umarmung in den Kissen zurück, schaute über die Schulter zwischen Ramon und Inês, die ihn herzlich anlächelte, der kerzenerleuchteten Weihnachtsdekoration und dem guten Wein auf dem Tisch hin und her und fühlte sich bereits wie zu Hause. „Oh, ja, Mama besteht immer darauf, dass der Baum erst geschmückt wird, wenn wir alle da sind“, sagte Antónia am nächsten, etwas wolkenverhangenen Tag an einer leichten Mittagstafel. Jung, leicht blondiert und mit einem ähnlich edlen Stil wie ihre Mutter, strahlte sie frisch und fröhlich; ihr nicht unbedingt dezenter Goldschmuck schimmerte im Kerzenlicht, das den ansonsten etwas dunkel gewordenen Raum erleuchtete, besonders angenehm. Sie mochte sich wie eine verwöhnte wohlhabende Tochter gebärden, wie sie ihr Weinglas ganz beiläufig in der Hand hielt und jede Kostbarkeit wie selbstverständlich hinnahm, aber alles in allem war Genesis bezaubert von ihrer süßen Art. Marco, ihr und Ramons Vater, auf dem Stuhl daneben war ein wohlwollender, ruhiger großer Mann mit Brille und krausen Locken, die an den Schläfen bereits sehr grau waren. Er hatte ein einnehmendes Lächeln, das jeden im Handumdrehen davon überzeugte, ihm zu vertrauen. Gesicht und Körper verrieten, dass er im Leben viele Stunden gearbeitet hatte; Genesis ahnte, dass Ramons Angewohnheit, bis weit nach Mitternacht in seinem Arbeitszimmer zu sitzen, obwohl er früh aufstand, von den Eltern herrührte. Er zwinkerte. „Und wir tun hier, was Mama sagt. Mama ist der Chef.“ Genesis bekam so viel mit, dass die Familie ihr Geld aus Milch und Milchprodukten zog; er erzählte, dass er aus einer Äpfel anbauenden Familie stammte und erntete eine unheimlich große Faszination, wie man damit das große Geld machen konnte – eine Frage, die er sich bezüglich Milch und Käse ebenso stellte. Genesis lächelte. Er mochte Ramons Familie von ganzem Herzen. Als alles bis auf den letzten Krümel verspeist war – Genesis hatte nicht übertrieben –, stürzte sich Antónia begeistert darauf, den Tannenbaum, der bereits an einer Seite des Raums aufgestellt war, für Weihnachten zu schmücken, während Ramon das Geschirr spülte, mit Genesis, der so tat, als würde er helfen, tatenlos neben sich. „Und, lecker?“, fragte Ramon ihn grinsend. „Ja, zur Abwechslung mal was Selbstgekochtes“, sagte Genesis nickend. „Anstatt sich immer von dir was vom Lieferservice vorsetzen zu lassen.“ „Ich lade dich auch oft genug in Restaurants ein“, erinnerte ihn Ramon. „Trocknest du ab?“ Er bot Genesis ein Geschirrhandtuch an. Der nahm es nicht sofort zur Hand. Er schaute Ramon skeptisch an. „Jetzt mach schon, das ist höflich.“ Nach dem Abwasch setzte sich Genesis aufs Sofa und sah dem Rest der Familie, der das Radio eingeschaltet hatte, das lauter Weihnachtslieder spielte, beim Baumschmücken zu. Es hatte sich ihm nie ganz erschlossen, warum man einen Baum fällte, ihn ins Zimmer schleppte und ihn dort auch noch schmückte, zumal er den Zusammenhang mit Weihnachten, der angeblichen Geburt Jesu, einfach nicht verstand. Daheim feierte man eher die Wintersonnenwende und die Heiligen Drei Könige. Weihnachten bedeutete für ihn nur einen weiteren überflüssigen Kirchenbesuch und viel geschäftlichen Stillstand im Rest der Welt, während für ihn drei ganz gewöhnliche Tage abliefen. „Und?“, fragte ihn Ramon, der zu ihm gestoßen war. Man hatte das Projekt Baum wohl fürs erste für beendet erklärt; Antónia war suchend in die Küche zurückgekehrt, von wo ein herrlicher Duft ausging. „Ach, weißt du, so mit einem echten Weihnachtsbaum direkt vor meiner Nase beginne ich doch zu verstehen, warum man das macht“, räumte er anerkennend ein. Am Raumende stand nun eine doch sehr stattliche Tanne mit dunkelgrünen Nadeln. Auf die Spitze war ein goldener Weihnachtsstern aufgesetzt, unter dem die Familie eine ebenfalls goldene Schleife um den Baum gebunden hatte. Die Äste trugen das Gewicht von schimmernden goldenen und roten Kugeln, vergoldeten Zapfen, Engelsfiguren und – zu Genesis‘ Überraschung – winzigen Goldinstrumenten. Um die Tanne herum wickelten sich eine elektrische Lichterkette, die ein angenehm dunkles Flackern wie echte Kerzen von sich gab, und eine Art Golddraht in einer Nachahmung von Tannengrün. Genesis war durchaus beeindruckt. „Bilder bringen so was irgendwie nicht so ganz richtig rüber.“ „Wie wär’s jetzt?“, fragte Ramon unvermittelt. „Das musst du wissen“, sagte Genesis schulterzuckend. Das Mittagessen lag ihm plötzlich doch schwer im Magen. Ramon fuhr ihm beschwichtigend mit der rechten Hand durchs Haar; Genesis versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sich Ramons Ring für kurze Momente darin verhakte. Er setzte sich neben Genesis auf das ausladende Sofa seiner Eltern. Bald schon hatte sich Antónia zu ihnen gesellt, wieder ein Glas in der Hand, diesmal mit Sekt; bei ihrem Küchenaufenthalt hatte sie auch ganz nebenbei ein fertiges Blech Weihnachtskekse aus dem Ofen geholt und ein neues hineingeschoben. Ohne es wirklich zu merken, rückte Genesis näher an Ramon heran. Sie teilten ihre Nervosität, körperlich wie im Geiste. Ramon drückte ihm sanft die Lippen an den Hals. Genesis legte ihm eine Hand an die Wange. Ramon nickte, einen entschlossenen Ausdruck in den Augen. Er wandte sich um und sagte in den Raum hinein: „Mama, Papa, kommt ihr?“ Inês und Marco, eben noch damit beschäftigt, zu beratschlagen, ob der Baum mit der Last des Schmucks noch gerade stand oder nicht, merkten auf und kamen herüber. Sie setzten sich neben Antónia aufs Sofa, Ramon und Genesis gegenüber. In der Stille, die zwischen ihnen allen eintrat, hörte man noch deutlich aus dem Hintergrund die Weihnachtslieder im Radio. Genesis, bis eben in Ramons Umarmung eingeschlossen, rückte ein Stück nach vorn, richtete sich auf und drehte sich auf seinem Platz so, dass er beide Parteien im Blick hatte, wandte sich aber erwartungsvoll Ramon zu. Der schaute ihm lange in die Augen. „Hauptsache, wir sind zusammen“, schien er sagen zu wollen. Es war das erste Mal, dass Genesis daraufhin nicht wegschaute. Ramon richtete seine Konzentration auf seine Eltern und Schwester. Bestärkt, lächelte er selig. „Wir werden heiraten“, sagte er knapp, und doch schaffte er es, keinen Zweifel daran zu lassen, dass es eine glückliche Entscheidung war. Antónia ließ ihre aufgesetzte Art und ihr Sektglas sinken; sie schaute ihren Bruder mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund an. „Echt?“, fragte sie. Ihren Eltern schien es kurz die Sprache zu verschlagen; auch sie saßen wie vom Donner gerührt da. Dann, in einem Moment der Erlösung, klatschte Inês einmal in die Hände. „Das ist ja wunderbar!“, rief sie. „Das müssen wir feiern! Antónia, wo hast du den Sekt hingestellt?“ Während Antónia und ihre Mutter den Raum wieder in Richtung Küche durchquerten, um mehr Sekt und Gläser zu beschaffen, erhob sich Marco vom Sofa und kam auf Ramon zu, um ihm beglückwünschend auf die Schulter zu klopfen. „Gut gemacht, mein Sohn“, lobte er ihn. „Wunderbare Neuigkeiten. Und willkommen an unser neues Familienmitglied“, sagte er an Genesis gewandt. Von den Frauen, die wiedergekehrt waren, nahm er ein Glas entgegen, Ramon und Genesis ebenso. Würdevoll erhob er das Glas. „Auf die glückliche Zusammenführung zweier Familien.“ „Pragmatisch“, sagte Genesis. „Hat man mir beim Militär so eingebläut“, sagte Sephiroth. „Und alles so unkompliziert. Mein Mann der hoffnungslose Romantiker“, seufzte Genesis gespielt berührt. „Was, deine Eltern waren doch auch froh, dass wir geheiratet haben“, suchte sich Sephiroth zu verteidigen. „Mag sein, aber die kannten dich auch schon zehn Jahre lang.“ Genesis bedeutete Sephiroth mit einem überlegenen Seitenblick, dass er sich schon wieder begriffsstutzig aufführte. Sephiroth schmollte. „Apropos deine Eltern“, sagte er dann allerdings, um den Faden wieder aufzunehmen. „Oh Gott“, stieß Genesis nur hervor. „Sie wären nach der Logik der Geschichte die nächsten.“ „Himmelherrgottnocheins, das kannst du ihnen nicht antun, Seph, irgendwo muss auch mal Schluss sein.“ Sephiroth zuckte die Schultern. „Ich führe angefangene Dinge für gewöhnlich zu Ende.“ Kapitel 8: Und die andern III ----------------------------- „Ist dir irgendwie langweilig?“, fragte Ramon, nachdem Genesis ihn unvermittelt dreimal sanft auf die Lippen geküsst hatte. „Der Flug hat unabsehbare weitere Verspätung – also irgendwie schon“, erwiderte Genesis mit einem Ton, als wäre das selbstverständlich. „Ach komm, du übertreibst. Wir warten erst 20 Minuten.“ „Teure 20 Minuten.“ „Ist es denn dein Geld?“ „Wenn du vor mir stirbst, ist es genau das Geld, das ich nicht kriege.“ Ramon starrte ihn sprach- und fassungslos an. Genesis zuckte unbeeindruckt die Schultern. Ramon erwiderte die Geste nun lächelnd, zog Genesis nah an sich heran und begann nun seinerseits, ihn liebevoll zu küssen, doch Genesis entzog sich der Liebkosung. „Und ich hab kein Buch dabei.“ „Du lügst doch“, sagte Ramon trocken. „Na ja, gut – doch, hab ich, aber es hat sich als wirklich schlecht herausgestellt.“ Ramon hielt Genesis weiterhin fest umschlungen. „Und wie ich dich kenne, wirst du es trotzdem zu Ende lesen“, sagte er, während er Genesis sehr nah kam. „Höchstwahrscheinlich“, räumte Genesis augenrollend ein, ehe er auch schon wieder Ramons Lippen auf seinen spürte. Er legte Ramon die Arme um den Hals und erwiderte den Kuss mit Nachdruck; so standen sie, versunken in einen Kuss nach dem andern, am Rand der Wartehalle am Flughafen Lissabons. Genesis legte die eine oder andere Atempause ein, um zu schauen, ob seine Eltern, wegen deren Ankunft sie überhaupt zum Flughafen gefahren waren, schon eingetroffen waren. Irgendwann tauschten sie nur noch kurze Küsse aus, in einer sanften Umarmung miteinander verbunden; Genesis schmiegte gerade seinen Kopf an Ramons Hals, als er aus dem Augenwinkel etwas wahrnahm. Er wandte sich um. Da kamen seine Eltern endlich auf sie zu, als sie ihn und Ramon allerdings erblickten, blieben sie verdutzt stehen. Genesis drückte Ramon von sich. „Lass mich das kurz machen“, sagte er, löste sich aus der Umarmung und ging seinen Eltern allein entgegen. „Mama, Papa, es ist so lange her“, versuchte er es in einem unbeschwerten Anfang. Tatsächlich hatten sie sich das letzte Mal vor knapp einem Jahr gegenübergestanden. Nachdem er seine Eltern begrüßt hatte, fragte sein Vater in ruhig interessiertem Ton: „Wer ist der junge Mann?“, doch seine Mutter fiel direkt mit der Tür ins Haus. „Was ist mit Seph? Ich dachte, ihr wärt wieder zusammen“, sagte sie aufgebracht. Genesis versuchte Ruhe zu bewahren. Sein Temperament hatte er eindeutig von seiner Mutter geerbt. „Hat das irgendwer behauptet?“ „Was – nein“, gab sie defensiv zurück, „ich bin einfach davon ausgegangen. Er war doch hier, oder nicht?“, erkundigte sie sich. „Ja, im August. Und nein, wir sind nicht wieder zusammengekommen.“ Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Was er zu erzählen hatte, bot auch so genügend Zündstoff, ohne dass seine Eltern noch an Sephiroth hingen. „Warum auch? Es war aus.“ „Aber –“, setzte seine Mutter an, doch Genesis schnitt ihr das Wort ab. „Um deine Frage zu beantworten“, wandte er sich demonstrativ an seinen Vater, „ich hab einen neuen Freund.“ Er wandte sich um und bedeutete Ramon, zu ihnen zu stoßen. „Er spricht kein Deutsch, aber Englisch und Spanisch, ihr werdet euch schon verständigen. Das ist Ramon“, fügte er hinzu, als dieser zu ihnen aufgeschlossen hatte. Er begrüßte Genesis‘ Eltern und legte ihm dann liebevoll einen Arm um die Taille. „Sehr erfreut“, sagte er fröhlich. „Man sieht sofort die Familienähnlichkeit.“ Genesis wusste, was er meinte. Von seiner Mutter hatte er die Haarfarbe geerbt, auch wenn sie bei ihr mittlerweile stark ins Braune überging und kaum noch Kupfertöne aufwies; von seinem Vater hatte er die große, schlanke Statur; sein Gesicht war eine Mischung aus beiden. Genesis unterdrückte ein Seufzen. Er spürte Ramons vergeblichen Versuch, eine Verbindung zu schaffen. Er spürte auch die Zurückhaltung seiner Eltern gegenüber seinem neuen Partner. Wie sollte er ihnen auch noch beibringen, dass er sie verlassen und in Portugal bleiben würde, um einen Mann zu heiraten, den sie kaum kannten? „Deine Eltern wirkten ja begeistert“, seufzte Ramon, als sie wieder allein in der Wohnung waren. „Sie geben dir überhaupt keine Chance“, pflichtete ihm Genesis leidvoll bei. „Ich weiß nicht, warum sie noch so an meinem Ex hängen – es ist nun mittlerweile auch schon über ein Jahr lang vorbei.“ Ramon fasste nach Genesis‘ Hand, als würde er Unterstützung suchen. „Ich dachte schon, ich hab irgendwas falsch gemacht“, gestand er. „Es lag also nicht an mir?“ „Nein, Quatsch“, widersprach Genesis entschieden. Tröstend legte er seine Hände in Ramons. „Ich versteh es nicht. Nach einem ersten Schock hätten sie sich, was mich angeht, ruhig einkriegen können.“ Ramon warf ihm mit schief gelegtem Kopf einen kritischen Blick zu und entzog ihm seine Hände. Er setzte sich an den Küchentisch. „Soll das heißen, du hast ihnen vorher nichts von mir erzählt?“ „Nein.“ Genesis war etwas perplex. „Wie stellst du dir das Telephonat vor? ‚Übrigens, ich bin jetzt verlobt, ihr kennt ihn zwar nicht, aber ich werd für ihn alles zu Hause aufgeben.‘“ Ramons vorwurfsvoller Blick ruhte dennoch auf ihm. Er setzte sich mit an den Tisch. „Meine Eltern wussten auch, dass du kommst.“ „Mein Gott, Ramon, müssen wir das jetzt so besprechen? Im Nachhinein ist man immer schlauer.“ „Ich bin davon ausgegangen, dass deine Eltern von mir wissen“, beharrte Ramon leidenschaftlich. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir von vorn herein gesagt, dass du sie vorwarnen solltest.“ Außer einem geseufzten „Ja, sicher“ fiel Genesis darauf nicht mehr ein. „Du kannst nur keine Fehler zugeben, das ist alles.“ Genesis blockte ab. „Diese Diskussion führe ich nicht.“ Er erhob sich erzürnt von seinem Stuhl und war noch nicht einmal dazu gekommen, zu überlegen, wie er sich Ramon auf der Enge seiner Wohnung entziehen sollte, als auch schon sein Handy klingelte und die Nummer seiner Mutter angezeigt wurde. Sie klang deutlich entspannter als noch am Flughafen. „Wir haben uns etwas ausgeruht und vom Flug erholt und wir haben auch schon geschaut, wo das Restaurant ist, von dem ihr gesprochen habt, und wir wären dann jetzt bereit“, sagte sie recht fröhlich. „Gut, dann sind wir sofort da“, erwiderte Genesis und legte auf. Ramon trat von hinten an ihn heran und umschlang ihn sanft mit beiden Armen. Genesis war belustigt. Er legte seine eigenen auf Ramons Hände und schmiegte sich in die Umarmung. „Du glaubst auch jedes Mal, dass ich anfange dich zu hassen, wenn mal ein einziges böses Wort fällt, oder?“ „Nicht?“, fragte Ramon schelmisch und legte seinen Kopf auf Genesis‘ Schulter. „Wir gehen dann auch los“, teilte er Ramon mit. Es war weder vom Hotel, an dem sie seine Eltern abgesetzt hatten, noch von der Wohnung aus ein langer Weg. Als sie die Treppen herabgestiegen waren, griff Ramon geradezu schüchtern nach Genesis‘ Hand. Der ließ es zu und drückte wohlwollend Ramons Hand zurück, ehe er das Wort ergriff: „Du weißt, dass meine Eltern davon ausgehen, dass sie fürs Neujahr hier sind, für meinen Geburtstag und dass ich in ein paar Wochen nach Hause zurückkehre.“ „Ich versteh ja deine Situation“, sagte Ramon vorsichtig, „du hättest eine Sorge weniger, wenn du ihnen vorher was gesagt hättest.“ Genesis warf Ramon einen vernichtenden Blick zu. Er wollte nicht schon wieder darüber streiten, wer was wann hätte erfahren müssen. Um des Friedens willen grummelte er nur innerlich vor sich hin und lief fröhlich Hand in Hand mit Ramon die Straße entlang. Vor dem Restaurant mussten sie nicht lange auf Genesis‘ Eltern warten. Nach einer diesmal sehr viel herzlicher ausgefallenen Begrüßung gingen sie zunächst zu unverfänglichem Smalltalk über. Sie besprachen das Hotel, das Genesis‘ Eltern auf Empfehlung gebucht hatten, Ramons Arbeit und Familie, das Geschäft in Banora und was man in Lissabon und Umgebung alles so unternehmen konnte. Genesis war sehr erleichtert, dass es endlich zu laufen schien zwischen seinem zukünftigen Mann und seinen Eltern. Zwar war das Verhältnis immer noch sehr höflich und etwas distanziert, aber er wusste den guten Willen auf beiden Seiten zu würdigen. Wohlig seufzend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und nippte gelassen an seinem Rotwein. Er schaute Ramon mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue an. Der reagierte sofort. „Ihr kommt dann noch auf einen Kaffee mit zu uns, oder?“, fragte er an Genesis‘ Eltern gewandt. Während alle ihre Gläser leerten, beglich Ramon noch die Rechnung, ehe sie sich auf den Weg machten. In nun deutlich ausgelassenerer Stimmung legte Genesis seiner Mutter liebevoll einen Arm um die Schultern. „Ramons Wohnung ist vielleicht etwas kleiner, als ihr es erwarten könntet“, sagte er mit einem Augenzwinkern, als sie unten am Hauseingang angelangt waren. „Ach, wir sind doch ganz bescheiden“, entgegnete sein Vater großzügig. Oben in der Wohnung angekommen, staunten die beiden dennoch nicht schlecht. Um trotzdem ein diplomatisches Urteil zu geben, fügte er hinzu: „Dafür, dass so wenig Platz ist, ist es doch wenigstens schön ordentlich.“ „So sieht es aber auch nicht immer aus“, sagte Genesis mit einem süffisanten Blick in Ramons Richtung, ehe er seine Eltern weiter in die Wohnung hineinkomplimentierte. „Ich geb mir Mühe“, gab Ramon etwas pikiert zurück. „Setzt euch doch erst mal“, bat Genesis seine Eltern. Ramon ging an ihnen vorbei, um Kaffee aufzusetzen. „Braucht ihr was?“ „Nicht wirklich“, sagte seine Mutter schulterzuckend. „Also Wasser.“ Genesis gesellte sich zu Ramon, um Gläser und Wasser aufzutreiben. „Wie wär’s jetzt?“, sprach ihn Ramon leise auf Portugiesisch an. „Sie sind dabei, mich zu akzeptieren, sie sind satt und zufrieden, perfekter Zeitpunkt.“ „Ich weiß nicht“, gab Genesis ebenso leise zurück, „sie haben gerade erst aufgehört, daran zu knabbern.“ „Ja, richtig, sie haben den ersten Hammer verdaut, jetzt sind sie bereit für den zweiten.“ Ramon sah ihm beschwörend in die Augen. „Ich mach Kaffee, du übernimmst deine Eltern. Los jetzt.“ Genesis kehrte etwas unsicher mit den Gläsern an den Tisch zurück. „Das war ein wirklich fabelhaftes Essen“, lobte ihn seine Mutter sehr zufrieden, „und der Laden war ja wirklich nicht weit weg von hier.“ „Du hattest erzählt, dass du ein kleines Haus für dich angemietet hast, nicht?“, versicherte sich sein Vater. Genesis nickte ertappt. Das Gespräch ging für seinen Geschmack eindeutig zu schnell in eine bestimmte Richtung. „Das musst du uns dann auch noch zeigen.“ Genesis war wie gelähmt. Sein Herz begann schnell und laut zu pochen. Jetzt oder nie. Er holte tief Luft. „Ich bin da gar nicht mehr“, gab er zu. „Das macht doch nichts“, sagte sein Vater. Genesis runzelte kurz die Stirn. Dann wurde ihm klar, dass seine Eltern nicht verstanden hatten. „Nein, ich meine – ich hab den Mietvertrag gekündigt. Ich bin hier eingezogen.“ „Ach so.“ Er sah ihnen an den Gesichtern an, dass ihnen langsam zu dämmern begann, wie sich die Gesamtsituation darstellte. Sie mutmaßten wohl bereits, dass er nicht nach nur einem Jahr nach Hause zurückkehren würde. Mit offensichtlich böser Vorahnung fügte seine Mutter hinzu: „Und wie genau – wollt ihr das machen in ... Zukunft?“ Genesis war, als ob sich eine Hand fest um sein Herz schließen würde oder als würde etwas Schweres auf seiner Brust liegen. Zitternd atmete er ein paarmal durch. „Ich bleibe hier.“ Es war raus. Vielleicht hätte er es gefühlvoller vermitteln können, vielleicht auch nicht. Die Schockstarre war seinen Eltern anzusehen. Aber wenn er schon dabei war ... „Wir heiraten nämlich.“ Besonders seiner Mutter fiel bei diesen Worten die Kinnlade herunter. „Heiraten?“, wiederholte sie mit bereits erhitztem Gemüt. „Was ist mit Seph? Den hättest du doch auch heiraten können – zu Hause!“ „Jetzt fang doch nicht schon wieder davon an!“, entgegnete Genesis ebenso gereizt. „Das hat mit ihm überhaupt nichts zu tun! Hier geht’s doch nicht ums Heiraten, egal wen!“ „Dafür geht das jetzt aber ganz schön schnell, wie lange kennt ihr euch denn?“ „Wie lange kanntet ihr euch denn, als ihr geheiratet habt?“, fragte Genesis zurück. „Das war was ganz anderes“, widersprach ihm seine Mutter entschieden. „Natürlich war es das“, sagte Genesis augenverdrehend und mit einem tiefen Seufzer. „Deine Mutter hat da schon ganz recht“, warf sein Vater ein, wenn auch ruhiger als sie beide vorher. „Von uns beiden musste wenigstens keiner in ein anderes Land umziehen. Jetzt machst du dir diese ganzen Umstände in einem fremden Land – und dann trennt ihr euch vielleicht nach kurzer Zeit.“ „Ich glaub es nicht“, brauste Genesis auf, „ich hab euch eben erzählt, dass wir heiraten, und ihr redet schon von Trennung!“ „Das ist doch nur realistisch“, warf ihm seine Mutter hin, „statistisch gesehen gehen nun mal viele Beziehungen in die Brüche!“ „Darum geht’s doch jetzt überhaupt nicht!“ Genesis war fassungslos. Für ihn war ein Siedepunkt erreicht. „Mein Part ist hier vorüber, ich hab euch erzählt, was ich sagen wollte – ich führe diese Unterhaltung nicht weiter.“ „Du kannst doch nicht einfach –“ „Natürlich kann ich!“, schnitt Genesis seiner Mutter das Wort ab. „Für mich ist diese Diskussion beendet.“ Er verlieh seinen Worten mit einem festen Blick Nachdruck. Seine Mutter funkelte ebenso fest zurück. Sein Vater hingegen seufzte nachgebend. „Vielleicht ist das für den Moment vernünftiger.“ Er wandte sich an seine Frau. Sie schaute von einem Mann zum andern. Noch immer eindeutig erzürnt, zeigte sie sich dennoch einsichtig. Mit funkensprühenden Augen nippte sie an ihrem Wasser, sagte aber nichts weiter dazu. Genesis hingegen blieb fast das Herz vor Schreck stehen, als Ramon von hinten an den Tisch trat und Kaffeetassen verteilte; Genesis hatte ihn komplett vergessen. Er starrte Ramon an wie einen Geist. Der war ganz gelassen. „Nur, dass ich es richtig verstehe“, sagte er, während er seinen Kaffee mit einem Löffel umrührte, „das war doch eben ein veritabler Familienstreit, oder nicht?“ „Ja“, erwiderte Genesis matt, „ja, wir haben uns gestritten.“ Ramon nahm einen Schluck von dem Kaffee, als würde er sich überhaupt nicht daran stören. Er wechselte ins Spanische, damit ihn alle verstehen konnten. „Für mich klingt Deutsch immer wie Streit.“ Ein Lachen ging um den Tisch, das Genesis sagte, dass die schlechte Stimmung gebrochen war. In ihm regte sich leise Zuversicht, dass seine Eltern nicht nur Ramon, sondern auch ihre Ehe schon akzeptieren würden. „Und dann hätte es irgendwann die Hochzeit gegeben und Friede, Freude, Eierkuchen, alle sind glücklich. Ende“, schloss Sephiroth übereilt die Geschichte. „Etwas frustrierend, darüber nachzudenken.“ „Und weißt du, was noch viel frustrierender ist?“, fragte ihn Genesis mit einem verschmitzten Seitenblick. „Wenn ich Ramon geheiratet hätte, hättest du früher oder später auch einen neuen Partner gehabt.“ „Nein“, entgegnete Sephiroth bestimmt. Als er Genesis‘ immer noch auf ihm ruhenden Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Was, nein, wieso denn? Ich will überhaupt keinen andern.“ Sein Ton veränderte sich, als er unter der Decke näher an Genesis heranrückte. „Warum auch?“, raunte er Genesis ins Ohr, ehe er zärtlich mit der Zungenspitze darüberfuhr. Kapitel 9: Bonuskapitel: Thinking Of You I ------------------------------------------ ~ möglicherweise irgendwann im Winter 2001/2002 ~ Genesis streckte seine Hand im eisigen Wind weit nach oben aus; er musste sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, um den Apfel zu erreichen, nach dem er gegriffen hatte. Mit einem Geräusch des Triumphs auf den Lippen schloss er die Finger um den mitten im Winter gereiften Dummapfel, der ganz oben am Baum in Banora gewachsen war. Er pflückte ihn vom Ast und, nun wieder mit beiden Füßen fest auf dem Boden, drehte sich auf der Stelle um. Die klirrende Kälte, die Banora im Griff hatte, mochte vom klaren blauen Himmel herrühren, von dem die Sonne dafür umso heller herunterstrahlte. Sicherlich war sie aber nicht schuld an dem leichten Schauer, der Genesis‘ Rücken herunterlief. „Mir ist nie aufgefallen“, sprach er Sephiroth an, der liebevoll lächelnd vor ihm stand, als würde er in aller Ruhe meditieren, „wie hell deine Haare wirklich sind.“ Der ohnehin silberne Ton in Sephiroths langem, glattem Haar wurde von der Wintersonne nur noch weiter erhellt. „Ein schwerer Schlag“, erwiderte Sephiroth schalkhaft. Geschmeidig fügte er hinzu: „Ganz im Gegensatz dazu bildest du einen netten Kontrast zum weißen Schnee.“ „Pah“, machte Genesis, der die Anspielung auf seine dunkle Kleidung verstand. „Du musst reden. Ich hab dich noch nie in etwas anderem als Schwarz gesehen.“ Sephiroth erwiderte darauf nichts, sondern sah ihn zunächst nur weiter lächelnd an. Genesis bewunderte insgeheim Sephiroths Erscheinung in diesem hellen Winterlicht, eher der auf ihn zukam und ihn liebevoll um die Körpermitte fasste, um ihn vorsichtig an sich zu ziehen. So verharrten sie eine Weile aneinandergeschmiegt unter dem Apfelbaum. Genesis legte die Arme um Sephiroths Hals und seinen Kopf an Sephiroths starker Schulter ab. Er spürte, wie Sephiroths langes Haar in der Brise um seine Hände spielte. Wie oft er schon seine Finger in diesen sternenfarbenen Strähnen vergraben hatte, besonders nachts. Er schloss die Augen. Sephiroth hielt ihn weiter sanft fest. Der Wind frischte auf und trug einen herrlichen Duft von Genesis‘ Elternhaus heran, vor dem sie standen. Sie hatten sich entschieden, dem geschäftigen, sie jagenden Midgar für ein paar Tage den Rücken zu kehren und müßige Zeit in Banoras verschneiter Ruhe zu verbringen. Mit einem Blick verständigten sie sich darauf, die Kälte draußen gegen die Wärme drinnen einzutauschen. Sie ließen voneinander ab und machten sich langsam auf den Weg. „Du solltest dir nicht den Appetit verderben“, sagte Sephiroth und nickte in Richtung des Apfels, den Genesis noch immer in der Hand hielt. „Es gibt gleich Essen.“ Genesis schnaubte belustigt. „Ich und mir den Appetit verderben, du kennst mich wohl gar nicht.“ Sephiroth warf ihm einen Seitenblick zu und sparte sich eine Antwort. ~ Juli/August 2010 ~ Genesis hob die Hand, um an die Tür zu klopfen. Dahinter hörte er einiges an Herumgeräume, ehe ihm Sekunden später geöffnet wurde. Ramon erschien etwas außer Atem im Türspalt, die dunklen Locken fielen ihm unordentlich ins gebräunte Gesicht; er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. „Hast du mich vergessen?“, fragte Genesis belustigt. „Nein“, erwiderte Ramon bestimmt, „du hast nur ein unglaubliches Timing. Ich bin vor ungefähr einer Minute heimgekommen.“ „Ach, deswegen war der Fahrstuhl nicht unten“, meinte Genesis geistesgegenwärtig. Nach seinen weit geöffneten Augen zu urteilen, fiel Ramon daraufhin nichts ein. Eine ganze Weile wartete Genesis gespannt darauf, dass Ramon ihm irgendetwas sagte. „Hör mal“, sagte er tatsächlich irgendwann, „ich will dich nicht wegschicken, ich weiß, es ist Freitagabend und so weiter, aber hier drin sieht es wirklich aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen –“ „Das macht mir nichts“, unterbrach ihn Genesis, „ich mag Unordnung.“ Ramon warf ihm einen prüfenden Blick zu und schien eine Entscheidung zu treffen. „Auf deine Verantwortung“, warnte er Genesis vor und öffnete ihm die Tür zur Gänze. Genesis betrat Ramons Wohnung; sie lag nicht weit oben und ließ daher nicht viel Sonnenlicht herein, was Genesis bei dieser Sommerhitze allerdings als eindeutiges Plus verbuchte. Er ließ seinen Blick über Ramons etwas abgedunkeltes Wohnzimmer schweifen, das in der Tat auf eine chaotische Woche schließen ließ. Das Sofa zu seiner Linken war übersät mit Kleidung, auf dem Esstisch davor stapelten sich benutzte Teller und Tassen, weil die Spüle in der Ecke zu überfüllt war, um noch irgendetwas hineinzustellen. Knabbertüten, in denen statt Resten wohl Servietten oder Taschentücher steckten, lagen auf allen möglichen und unmöglichen Flächen; die Bücher waren das einzige, das Ramon ordentlich zu stapeln versucht zu haben schien, doch auch sie lagen dennoch überall herum – zumindest nicht geöffnet, mit Eselsohren oder durchgeknickten Rücken, dachte sich Genesis. Als er kurz durch die nur angelehnte Tür zur Rechten linste, die in Ramons kammerartiges Arbeitszimmer führte, erahnte er auch dort ein ähnliches Durcheinander. Genesis schloss die Wohnungstür hinter sich. „Wow“, fasste er seinen ersten Eindruck zusammen. „So sieht das hier also aus, bevor ich komme, ja?“ Ramon sah ihn höchst verlegen an. „Nicht immer“, sagte er entschuldigend. Genesis verstand, was er meinte. „Aber vermutlich immer freitags am Ende der Woche?“ Ramon sah nun noch schuldbewusster drein. „Ich nehm mir einfach nicht die Zeit, irgendwas wegzuräumen.“ „Du brauchst dich gar nicht so schlecht zu fühlen. Weißt du was, ich setz mich einfach“ – Bei seinem Blick aufs Sofa räumte Ramon es sofort eilfertig von seinen Hemden frei – „und schau dir beim Arbeiten zu.“ Sobald sie sich darauf geeinigt hatten, legte Genesis seinen Rucksack neben besagtem Sofa ab, nahm ein Buch heraus und machte es sich selbst gemütlich. Schadenfroh grinsend beobachtete er Ramon, der zunächst allen Müll zu beseitigen begann. „Ach“, sagte er dabei und wuselte zum Esstisch zurück, aus dessen Unordnung er eine neuer aussehende Tüte hervorzog. „Äpfel hab ich aber noch mitgebracht.“ Er zog einen prächtigen roten Apfel aus der Tüte und säuberte ihn ein wenig in der Spüle, um ihn anschließend Genesis zuzuwerfen. „Warum kommst du überhaupt so spät?“, fragte er mit einem nachdenklichen Blick auf den Apfel. „Ein unglückliche Kombination ungünstiger Umstände“, erwiderte Ramon, der sich nun an den Abwasch machte und aufzählte: „Erst hab ich im Büro doch länger gebraucht als gedacht, dann musste ich ewig beim Arzt warten und auf dem Heimweg bin ich in einen ziemlichen Stau geraten.“ Genesis konnte sich immer noch nicht so recht überwinden, in den Apfel zu beißen. „Du warst beim Arzt?“ Ramon warf ihm einen verständnislosen Blick über die Schulter zu. „Wieso das?“ „Hab ich das nie erzählt?“, fragte Ramon ratlos. „Ich hab’s chronisch an den Nebenhöhlen. Manchmal sind die Schmerzen bestialisch – jedenfalls muss ich mir regelmäßig Medikamente verschreiben lassen. Ich vertrag auch kein Kortison und würde eine Operation gerne vermeiden und ... das ist jetzt nicht sonderlich interessant. Aber bei der Hitze ist es besonders unangenehm.“ Er wandte sich wieder den schmutzigen Tellern zu. Nach diesen Informationen warf Genesis einen genaueren Blick auf den Apfel in seiner Hand. Der Rotton war hübsch und gesprenkelt mit kleinen grünen Stellen, er fasste sich auch fest an, sicher. Er seufzte. Hungrig war er nun einmal und er ahnte, dass es so bald nichts anderes zu essen geben würde. Schweren Herzens biss er in den roten Apfel. Er war nicht so süß und saftig wie die Dummäpfel aus Banora. Wenn es etwas gab, das er in Europa wirklich schmerzlich vermisste, dann waren es seine guten treuen Äpfel. Während Genesis den Apfel mehr oder weniger genüsslich verspeiste, spülte Ramon trotz Hitze im Akkord Teller, Tassen und Besteck und alles andere, was anfiel, räumte den Esstisch frei, entsorgte Tüten und Servietten, räumte die bunt verstreuten Hemden und Hosen ins Bad, wo er alles in die Waschmaschine stopfte, wischte die Flächen, fegte den Boden und fuhr mit seiner Arbeit im Schlaf- und dann im Arbeitszimmer fort. Währenddessen tauschten sie sporadische Bemerkungen über die nun hinter ihnen liegende Woche aus. Irgendwann verließ Genesis die Freude daran, Ramon beim Arbeiten zu beobachten, also schlug er sein Buch auf und ließ Ramon machen. Es war sicherlich über eine Stunde seit seiner Ankunft vergangen, als Ramon sich völlig geschafft zu ihm setzte. Genesis blickte von seinem Buch auf. Ramon war etwas außer Atem und sein weißes Hemd sichtlich verschwitzt. Er überlegte, dass Ramon durch die chronische Entzündung vielleicht schlechter Luft bekam. „Ganz ruhig“, sagte er daher, wenn auch vielleicht etwas verschmitzt. „Essen?“, war das einzige, das Ramon herausbrachte. Genesis sah ihn mehrere Momente schweigend an; er überlegte, was er sagen sollte, als es schon klingelte. Ramon schaute überrascht drein. „Ich bin dir meilenweit voraus“, sagte Genesis lässig und ohne eine Miene zu verziehen. Ramon verstand und ging zur Tür, um das Essen vom Lieferservice entgegenzunehmen, das Genesis bestellt hatte, als Ramon im Schlafzimmer beschäftigt war. Während Ramon sich kurz abduschte, wechselte Genesis schon langsam vom Sofa zum Esstisch, wo er darauf wartete, das Essen vorgesetzt zu bekommen. In ein frisches weißes Hemd und eine hellblaue Jeans gekleidet und aus dem Bad zurückgekehrt, schaute Ramon neugierig durch die Tüten, bevor er Geschirr zur Hand nahm und gekonnt das Abendessen servierte. „Und?“, fragte Genesis, als sie den letzten Krümel verputzt hatten. „Jetzt?“ „Ehrlich gesagt“, setzte Ramon mit einem erneuten schuldbewussten Blick an. Genesis seufzte. „Ich hätte da noch das eine oder andere zu erledigen.“ „Vielleicht ist es besser, wenn ich morgen wiederkomme“, sagte Genesis und machte schon halb Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben. „Nein“, bat Ramon ihn inständig und legte eine Hand auf Genesis‘. „Oder du könntest es Sonntagabend erledigen“, schlug der daraufhin vor. Ramon schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen. „Nein, jetzt ist es besser, dann ist es weg. Am Ende bin ich doch schneller durch als gedacht und dann ärger ich mich am Sonntag, dass du schon gegangen bist und ich –“ Er schaute Genesis mit großen traurigen Augen an. „– einsame Stunden verbringen muss.“ Genesis blieb unbeeindruckt. Ramon legte nach: „Komm, morgen und Sonntag hast du meine volle ungeteilte Aufmerksamkeit ganz allein für dich, versprochen.“ Genesis seufzte und verdrehte die Augen. Kapitel 10: Übergang -------------------- „Genug Revier markiert?“, fragte ihn Genesis, als sie sich voneinander gelöst hatten und sich Arm in Arm wieder unter die Decke legten. Sephiroth schaute ihn stumm überrascht an, Genesis hingegen grinste wieder einmal überlegen. „Willst du’s abstreiten?“ Doch Sephiroth hatte es weiterhin die Sprache verschlagen. Genesis richtete sich im Bett auf und streckte sich. „Komm, lass uns duschen.“ Nachdem sie alle Überbleibsel ihres Schäferstündchens abgewaschen und sich wieder angezogen hatten, war Sephiroth der erste, der die Treppe nach unten und ins Wohnzimmer ging. Seufzend sah er erneut aus dem Fenster. Am Wetter hatte sich nicht das Geringste geändert. Auf dem Tisch standen noch immer die Reste seines kargen Imbisses und auf dem Sofa lag noch das Buch, das Genesis gelesen hatte, ehe sie sich nach oben begeben hatten. Sephiroth ließ sich neugierig auf das Sofa fallen und schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf, nur um nach ein paar Wörtern doch weiterzublättern, bis er an einer vielversprechenden Wortgruppe hängen blieb. Er konnte nur zu dem Schluss kommen, dass dieses Buch keineswegs für ein jüngeres Publikum geeignet war. Nach ein paar weiteren Seiten hörte er Schritte auf der Treppe. Genesis war wohl fertig damit, sich wieder herzurichten, und erschien strahlend schön wie eh und je im Wohnzimmer. Sephiroth besah sich seinen Mann liebevoll lächelnd. „Es hat immer noch nicht aufgehört zu regnen“, sagte er dann. „Ja“, sagte Genesis seufzend mit einem Blick nach draußen, „ich weiß auch nicht, was das soll. Normal ist das für Banora um diese Jahreszeit nicht.“ Er setzte sich zu Sephiroth aufs Sofa und schnappte ihm das Buch aus der Hand, begann aber nicht zu lesen; stattdessen schaute er gedankenverloren aus dem Fenster und in den Regen. Sephiroth legte einen Arm auf die Sofalehne hinter Genesis. „Ich muss sagen“, begann er; Genesis warf ihm einen widerwilligen Blick aus den Augenwinkeln zu, „du hast mich neugierig auf den zweiten Teil der Geschichte gemacht.“ „Es war ein ganz interessantes Format, abwechslungsreich“, räumte Genesis tonlos ein, den starren Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet. Sephiroth ließ nicht locker. „Du hast davon angefangen, dass auch ich irgendwann einen neuen Partner gehabt hätte, wenn, und so weiter.“ „Ja, schon“, erwiderte Genesis lustlos. Sephiroth sah ihn gebannt an; er erwartete mit Spannung die andere Seite der Erzählung. Genesis seufzte. „Mein Gott, Seph.“ Oben auf dem Balkon im dreizehnten Stock des Shin-Ra-Hauptquartiers war der kalte Dezemberwind deutlich zu spüren. Die Sterne funkelten an einem wolkenlosen Himmel mit der Mondsichel um die Wette, was auch nur bedeutete, dass die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt fallen würden. Die Kälte biss an Genesis‘ Fingern, als er, über die Brüstung gebeugt, verzweifelt versuchte, der Nachrichtenflut auf seinem Handy gerechtzuwerden. Warum mussten sie es wieder und wieder durchkauen? Was hatte Ramon erwartet? Er war gerade drauf und dran, eine wirklich fiese Antwort zu geben, als sich von hinten zwei starke Arme um seine Brust schlossen und sich ein warmer Körper an seinen Rücken schmiegte. Genesis wunderte sich, dass er nicht mehr erschrak; die Berührung kam ihm ungemein vertraut vor. Einen Moment dachte er an Ramon, doch das konnte nicht sein. Er wandte den Kopf zur Seite. Es war Sephiroth, der ihn mit seinem wohlbekannten ruhigen und liebevollen Lächeln musterte, während er ihn in einer sanften Umarmung hielt. Genesis legte eine Hand auf Sephiroths. „Merkwürdig, wie richtig sich das immer noch anfühlt“, bemerkte er leise, um den Moment nicht vollends zu zerstören. Über Sephiroths Gesicht huschte ein seliger Ausdruck; er drückte kurz sein Stirn an Genesis‘, ehe er ihn losließ und sich mit der Brüstung im Rücken neben ihn stellte. Genesis hob sein Handy. „Das hätte aber auch schiefgehen können. – Wobei, wäre vielleicht besser gewesen“, fügte er seufzend hinzu. „Was ist das Problem?“, fragte Sephiroth unbekümmert. „Mein Mann macht Ärger“, sagte Genesis genervt. „Natürlich war geplant, dass wir beide anreisen, aber dann ist ihm in sozusagen letzter Sekunde was dazwischengekommen und anscheinend“, Genesis hob wieder das Handy, „ist er irgendwie davon ausgegangen, dass ich dann nicht ohne ihn herkomme oder was weiß ich. Besser, ich steck das weg.“ „Was machst du überhaupt hier?“, fragte ihn Sephiroth nun halb erstaunt, halb erfreut. „Was soll das heißen, was ich hier mache, ich bin eingeladen“, sagte Genesis mit einem Schulterzucken. Die Quartalsabschlussfeier im Dezember, die für gewöhnlich auf den Tag nach der Wintersonnenwende gelegt wurde, war eine prestigeträchtige Veranstaltung, an der nicht jeder teilnehmen konnte. „Klar, das bist du jedes Jahr“, wandte Sephiroth ein. „Aber für dich ist es ja nicht gerade ein Katzensprung, oder nicht?“ „Ich besuch hiernach noch meine Eltern“, erklärte Genesis. Sephiroth wirkte noch nicht ganz zufrieden, fragte aber nicht weiter, sondern erkundigte sich nach dem Befinden der Familie Rhapsodos. „Weißt du eigentlich“, erzählte Sephiroth dann fast schwelgerisch, als Genesis seine Auskunft gegeben hatte „dass deine Mutter damals zu mir gekommen ist, nachdem sie von eurer Verlobung erfahren hat? Wollte mich überzeugen, dich zu heiraten, um dich zurück nach Gaia zu holen.“ „Nein“, musste Genesis zugeben, „wusste ich nicht.“ Er wog ab, ob er deswegen nicht eigentlich wütend sein sollte, aber es war zu lange her, als dass es ihn groß scherte. „Was soll’s, das war jetzt auch schon vor über fünf Jahren. Bei mir hat sie ja eine ähnliche Schiene probiert – meine Eltern müssen dich wirklich mögen.“ „Den Eindruck hatte ich jedenfalls auch immer“, sagte Sephiroth nickend. „Und läuft es sonst in Lissabon?“ „Vielleicht solltest du mich das nicht fragen, wenn ich grad sauer auf meinen Mann bin“, gab Genesis zu bedenken. „Vielleicht“, sagte Sephiroth mit einem leisen Lachen, „komm, wir holen dir was zu essen, dann geht das ganz schnell vorbei.“ Als sie aus der Dunkelheit einer der längsten Nächte des Jahres zurück in den hell erleuchteten Saal traten, der genug Raum für einen mittelalterlichen Ball geboten hätte, war Genesis für eine Weile geblendet; von der hohen Decke hingen tatsächlich Kronleuchter herab, die allerdings nicht das einzige Licht auf die cremefarbenen und goldenen Wände warfen. Männer in eleganten Anzügen und Frauen in farbenfrohen Cocktailkleidern – doch eigentlich größtenteils Männer – waren über den gesamten Raum verteilt, zwischen ihnen Kellner mit Tabletts in der Hand, die Getränke und Häppchen servierten. Sephiroth und Genesis wandten sich vom Eingang ab, der geradezu lag, und schlängelten sich nach links durch die Menge zum Buffet durch. „Musst du nicht rumlaufen und wichtige Leute begrüßen?“, fragte Genesis, als er und Sephiroth sich mit jeweils reichlich beladenen Tellern in eine Ecke setzten, in der sie wenig Beachtung fanden. „Das kann auch Rufus übernehmen“, meinte Sephiroth leichthin. Genesis blieb skeptisch. „Er wird schon Verständnis aufbringen – er war derjenige, der mich überhaupt darauf aufmerksam gemacht hat, dass du hier bist. Selbst schuld also.“ Sie begannen ihre kleinen Speisen zu gabeln und nur noch gelegentliche Bemerkungen auszutauschen, als Sephiroth etwas einfiel. „Du weißt, dass Angeal nicht hier ist, oder?“ Genesis nickte. „Wir sehen uns dann in Banora. Neujahr und so.“ „Jetzt, wo ich weiß, dass du da bist, schick ich dir ‘ne Karte.“ Sephiroth machte ein nachdenkliches Gesicht. „Angeal ist in Junon. Wahrscheinlich bist du besser auf dem Laufenden als ich – was macht er so?“ Und so begannen sie sich über alles und jeden auszutauschen, eben über alles, was in den letzten Jahren angefallen war, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Es vergingen Stunden, in denen sie trotz des gut gefüllten Saals nur zu zweit zu existieren schienen, während es wirkte, als hätten sie sich erst am Tag zuvor das letzte Mal verabschiedet. Sephiroth hatte sich nicht im Geringsten verändert. Er war immer noch derselbe ordentliche, Regeln einhaltende, fleißige, Tee trinkende Frühaufsteher, der er so lange an Genesis‘ Seite gewesen war. Auch wenn sie das eine oder andere Mal von wichtigen Menschen und ihren Frauen oder solchen, die es gerne werden wollten, unterbrochen wurden, schaffte Sephiroth es immer wieder, sie nach kurzer Zeit abzuschütteln und sich wieder voll und ganz Genesis zu widmen. Der Streit mit Ramon war längst vergessen und Genesis‘ Laune hatte sich deutlich gehoben; er konnte ohne Schwierigkeiten sagen, dass sie besser war als die letzten Wochen zusammengenommen. Tatsächlich erreichte seine Laune ihren Höhepunkt, als sie auf Cloud trafen. „Strife“, sagte Genesis diabolisch vergnügt. Verunsichert, versteifte sich Cloud, der nicht wusste, was er erwarten sollte. „Dich gibt es hier immer noch? Ich bin überrascht, dass man dich dabehält.“ Sephiroth neben ihm schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre Feindschaft hatte er nie verstehen können. Cloud sah ihn einen Moment von unten an. „Klar, du bist ja gegangen.“ „Cloud“, seufzte Genesis, „du brauchst dir gar nicht einzubilden, dass du mich jemals ersetzen könntest.“ Cloud mochte in den Ersten Rang aufgestiegen sein, aber sein Dienstgrad war noch immer ein deutlich niedrigerer. Cloud versuchte zu einem Gegenschlag auszuholen. „Allein hier?“ Genesis ließ sich nicht anmerken, dass Cloud einen empfindlichen Treffer gelandet hatte. „Mein Mann konnte es nicht einrichten. Wir wohnen nicht um die Ecke, falls du dich erinnern kannst. Du weißt schon, Portugal ist ein Land im fernen Europa. Einmal von der Ostküste aus über den großen Teich.“ Cloud funkelte ihn an. Er mochte Späße auf Kosten seiner geringeren Intelligenz und Bildung gar nicht. „Tja, meine Frau hütet daheim die Kinder – du weißt schon, diese kleinen Menschen, für die man Weiblein und Männlein braucht.“ „Hey, hey, hey“, griff Sephiroth nun ein, der Genesis‘ wunden Punkt kannte und Schlimmeres verhindern wollte, „Jungs, Friede, ok?“ Er wandte sich nach einem vorbeikommenden Kellner um, nahm zwei Gläser von dessen Tablett herunter und reichte Cloud einen Weiß- und Genesis einen Rotwein. „Wir sind nicht hier, um uns an die Gurgel zu gehen, klar? Vertragt euch.“ Cloud und Genesis sahen demonstrativ in unterschiedliche Richtungen, als sie an ihren jeweiligen Gläsern nippten. Genesis warf einen Blick über den Glasrand und erblickte zwei altbekannte blonde Gestalten auf sie zukommen. Er ließ den Wein ein Stück sinken. „Lazard! Rufus! Welch Vergnügen, euch hier zu sehen.“ Lazard nickte erfreut. „Ganz meinerseits. Das letzte Lebenszeichen, das ich von dir bekommen habe, waren deine Kündigung und deine Adressänderung.“ „Eine wahrlich nette Begrüßung“, sagte Rufus. „Ich kann durchaus mit erfreulicheren letzten Erinnerungen aufwarten.“ Genesis musste lächeln. So kannte er die beiden Brüder: Lazard sehr direkt und Rufus rhetorisch immer eins drüber. Es war unglaublich, wie wenig sich verändert hatte. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er überhaupt weggewesen war und ob er die Episode mit Ramon vielleicht nur geträumt hatte, ehe sich das Gespräch doch geschäftlicheren Themen zuwandte, was Genesis eindrucksvoll vor Augen führte, dass er sehr wohl seit mehreren Jahren nicht mehr im Büro aufgetaucht war. Während Rufus und Lazard mit Cloud und Sephiroth Geschäftliches besprachen, musterte Genesis letzteren und ließ die letzten Stunden Revue passieren, während Sephiroth wiederholt seinen Blick auffing und erwiderte. Genesis dachte an die fortgeschrittene Uhrzeit. Vielleicht konnten sie ... Ramon musste es nie erfahren ... Doch da wandte sich Sephiroth in eine ganz andere Richtung um, gen Eingang, durch den soeben ein junger, sehr schlanker blondierter Mann mit mehr Charisma, als ihm guttat, getreten war; an seinem wohlgeformten Körper trug er dies gerade noch betonende Kleidung in einem derart dunklen Schwarzton, wie Genesis ihn nicht für möglich gehalten hätte. Sephiroths Gesicht wurde von einem breiten verliebten Lächeln erhellt, das Genesis gar nicht gefallen mochte. Ohne ein weiteres Wort verließ Sephiroth die Gruppe und ging auf diesen jungen Mann zu, der kokett einen Arm nach ihm ausstreckte. Genesis starrte Sephiroth hinterher, der, angekommen, das Gesicht des Jungen in beide Hände nahm und ihn mitten in diesem überlaufenen Raum leidenschaftlich zu küssen begann. Genesis wandte schnell den Blick ab; es gehörte sich nicht, einen so intimen Moment zu beobachten. Sephiroths plötzliches Verschwinden war auch bei seinen drei Mitstehenden nicht unbemerkt geblieben. Betreten warfen sie sich verschiedentlich Blicke zu. „Wer ist das?“, durchbrach Genesis gnadenlos die Stille, während er aus dem Augenwinkel beobachtete, wie der junge Mann Sephiroth an der Hand aus dem Raum zog. Lazard zuckte nur die Schultern, aber Rufus sagte: „Wir kennen den Jungen nicht wirklich, um ehrlich zu sein.“ Genesis wandte sich an Cloud. „Strife?“ Auch Cloud zog die Schultern nach oben. „Rufus hat schon recht, ich hab ihn auch vorher noch nicht gesehen, außer so aus der Ferne wie jetzt. Sie sind sehr privat“, sagte er sehr deutlich und mit Nachdruck; offensichtlich war er damit gar nicht einverstanden. „Ich dachte, ihr wärt beste Freunde“, wandte Genesis ein. Er konnte und wollte Cloud nicht glauben, dass er nichts über diesen Mann wusste. „Na ja“, setzte Cloud dann doch noch einmal an, „er heißt Natt, das ist fast schon alles, was ich weiß. Und dass er sehr jung ist. Und“, er senkte ein wenig die Stimme, „er soll einen recht zwielichtigen Beruf haben.“ „Zwielichtig?“, wiederholte Genesis ungläubig. Das musste von einem der vielen „Insider“ in der Klatschpresse herrühren. „Du weißt schon, so was, worüber man in Banora oder Nibelheim nicht reden würde.“ „Unmöglich“, sagte Genesis. „Das passt nicht zu Seph. Die ganze Geschichte ist doch merkwürdig.“ „Sie sind noch nicht lange zusammen“, sagte Cloud. Langsam ging es Genesis auf die Nerven, dass er ihm die Informationen nur tröpfchenweise gab. „Wann hat das angefangen? Vor nicht mal zwei Monaten? Aber es ist durch die Medien natürlich sofort bekannt geworden. Ich versteh ja, wenn er ihn erst mal für sich haben möchte, weil es noch so frisch ist, aber ... wie passt es dann zusammen, dass sie hier so öffentlich rummachen?“ Cloud sprach damit etwas aus, das auch Genesis aufgefallen war. Es sah Sephiroth nicht ähnlich, vor Kunden und Geschäftspartnern über seinen Partner herzufallen. Und da war noch die viel drängendere Frage ... „Warum hat er mir nicht von ihm erzählt?“ „Wie ich dich kenne“, sagte Cloud, „hast du denn gefragt?“ Cloud hatte schon wieder einen Treffer versenkt. Nein, das hatte er nicht. Er war von Sephiroths Interesse an seiner Person ausgegangen und davon, dass er schon etwas sagen würde, wenn es etwas Wichtiges gäbe. Wie immer hatte sich das Gespräch um ihn selbst gedreht. Um ihn und seine Eheprobleme. Und Sephiroth hatte ihn dabei die ganze Zeit selig gemustert, weil er selbst glücklich im Anfang einer neuen Beziehung steckte und gar nicht wusste wohin mit seiner ganzen Liebe. Die nicht mehr ihm galt. „Sie haben gestern jedenfalls die Wintersonnenwende zusammen verbracht“, fügte Cloud schließlich noch bedeutungsschwer hinzu, als wären damit alle Fragen geklärt. Genesis leerte zügig sein Weinglas. Er hatte nicht mehr vor, viel länger zu bleiben. Bei der nächsten Gelegenheit verabschiedete er sich von seiner kleinen Gruppe und stahl sich ansonsten unbemerkt davon. „Hey, ich bin froh, dass du noch hier bist.“ Genesis hob den Blick von seiner Kaffeetasse. Sephiroth stand im Türrahmen des Pausenraums und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Er wartete noch einen Moment, als Genesis aber keine Reaktion zeigte, betrat er einfach den Raum und ließ sich Genesis gegenüber auf einem der Sofas nieder. „Ich schätze, ich hab dich gestern so ziemlich stehen lassen, oder?“ „Kann man so sagen, ja“, erwiderte Genesis pikiert und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Hör mal, das tut mir leid“, sagte Sephiroth, und er klang auch so. „Es ist nur ... Es ist eben noch ziemlich frisch, weißt du? Ich hab ... ein bisschen den Kopf verloren.“ „Danke, ich konnte mir auch so ausmalen, wie die Nacht bei euch weitergelaufen ist.“ Sephiroth lachte ertappt. „Schuldig im Sinne der Anklage, schätze ich.“ Es entstand eine eher unangenehme Stille zwischen ihnen, in der Genesis angestrengt überlegte, was er sagen sollte. Schließlich platzte er mit der wichtigsten Frage heraus: „Wie alt ist der Junge?“ „Entschuldige mal, was heißt hier ,Junge‘?“, fragte Sephiroth ausweichend und hob ahnungslos beide Hände. Genesis warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Na gut ... er ist einundzwanzig. Zufrieden?“ „Seph“, sagte Genesis ungläubig, „er ist fast fünfzehn Jahre jünger als du.“ Sephiroth verdrehte seufzend die Augen. „Was du nicht sagst“, erwiderte er ungewöhnlich gereizt. Genesis kannte Sephiroth so kaum. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich wirklich durch einen Jüngeren ersetzt“, piesackte er ihn trotzdem weiter. „Ich hab dich nicht ersetzt“, sagte Sephiroth sehr direkt. „Schon gut, schon gut, es sollte lustig sein“, ruderte Genesis zurück. Bevor sich ein Schweigen wieder wie eine Kluft zwischen sie legen konnte, fragte er: „Und was macht er so?“ Sephiroth grinste darauf etwas verlegen. „Er ist Tänzer.“ „Was für eine Art Tänzer?“, fragte Genesis skeptisch. Sephiroth antwortete nicht sofort. „Die gute Art“, sagte er schließlich, ohne Genesis in die Augen zu schauen. „Seph, wo hast du so jemanden aufgegabelt?“ Genesis konnte sich denken, wie viel Kleidung bei diesem Tanzjob im Spiel war. „Oh, bei so einer repräsentativen Veranstaltung.“ Sephiroth hatte ein Glitzern in den Augen. „Ich wollte wie immer eigentlich gar nicht hin, du weißt schon, Kameras, roter Teppich, wichtige Leute und so weiter. Und er.“ Sephiroth zuckte mit den Schultern. „Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich wusste nicht, dass das wirklich existiert.“ „Warte ...“ Genesis fiel gerade etwas ein. „Ich nehme mal an, er arbeitet nachts ...“ Sephiroth nickte. „Ja, er ist gerade ins Bett gegangen, als ich aufgestanden bin.“ „Äußerst praktisch.“ „Es bleibt trotzdem genug Zeit.“ Sephiroth musterte ihn genau. „Und was machst du wirklich hier?“ Genesis seufzte. Er hätte wissen müssen, dass Sephiroth ihn durchschaute und nicht lockerlassen würde. „Holländer“, sagte er nur. „Ah, klar, hätte ich mir eigentlich denken sollen.“ „Vor fünf Jahren hatte er zufällig in Europa zu tun und konnte es einrichten, mich zu sehen“, erklärte Genesis. „Er meinte, am liebsten würde er mich jedes Jahr hierhaben, aber er sieht ein, dass das etwas schwierig ist, aber spätestens alle fünf Jahre will er mein Makolevel überprüfen und alles. Ich war vorhin da, fahre gleich zu meinen Eltern und wenn was ist, meldet er sich, wenn nicht, kann ich ganz unbehelligt zurück nach Portugal fliegen.“ „Also verbindest du das Schöne mit dem Nützlichen.“ „So ungefähr.“ Sephiroth hatte plötzlich einen kindlich-unschuldigen Ausdruck im Gesicht. „Wie lange hast du noch, bevor du fährst?“ Geschafft und tief seufzend schloss Genesis spätabends seine Wohnungstür auf. So schön sein Aufenthalt in der Heimat gewesen sein mochte, es war anstrengend gewesen. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank er erschöpft dagegen und sah sich im Raum nach seinem Mann um. Ramon lag der Länge nach ausgestreckt auf dem Sofa und las in einem alten Buch, während er demonstrativ keine Notiz von ihm nahm. Offensichtlich war er immer noch sauer. Genesis ließ seine Sachen stehen und setzte sich zu Ramon aufs Sofa, bekam jedoch immer noch keine Reaktion. Er war allerdings nicht gewillt, hinzunehmen, dass er ignoriert wurde. Er drückte Ramon das Buch aus der Hand und legte sich ihm auf die Brust, das Gesicht nur Zentimeter von Ramons entfernt. „Lass mich nie wieder allein um die halbe Welt fliegen“, sagte er leidend, „vor allem nicht für nur zehn Tage Aufenthalt.“ Ramon schenkte ihm ein aufrichtig liebevolles Lächeln und fuhr ihm sanft mit den Fingern durchs Haar. „Happy Birthday“, sagte er leise und schaute Genesis lange in die Augen. Es war ein friedlicher Moment der Zweisamkeit, wie sie ihn selten teilten. „Dein Geschenk steht auf dem Tisch, wenn du willst.“ „Du bringst mich mit einem Stripper zusammen?“, fragte Sephiroth stirnrunzelnd. „Einem Tänzer“, berichtigte ihn Genesis. „Und noch dazu 15 Jahre jünger?“ „Mein Gott, warum nicht?“, fragte Genesis frei heraus. „Ich will keinen andern Mann“, wiederholte Sephiroth schmollend, „vor allem nicht so einen.“ „Hey, du wolltest das hören“, erinnerte ihn Genesis leichthin. „Ja ... schätze schon ...“ Kapitel 11: Bonuskapitel: Thinking Of You II -------------------------------------------- Genesis stöhnte und öffnete die Augen. Er wusste, er hatte eben noch etwas geträumt, aber es war ihm schon entfleucht. Er wusste auch, dass es dunkel war im Zimmer, dennoch konnte er Ramon nicht nur schemenhaft, sondern ganz im Gegenteil sehr deutlich neben sich ausmachen. Er hatte sich neben ihm aufs Bett gesetzt. Genesis rieb sich mit einer Hand übers Gesicht und richtete sich aus seiner liegenden Position unter der Decke etwas auf. „Wie spät ist es?“, fragte er murmelnd. „Ach, das willst du lieber nicht wissen, glaub ich“, sagte Ramon, wobei er ihm nicht direkt in die Augen sah. „Bist du wenigstens fertig?“ „Noch nicht ganz“, sagte Ramon ausweichend. Genesis verstand nicht, warum Ramon ihn geweckt hatte und warum er überhaupt am Bett saß. Sein Blick wanderte umher und fand das Buch, das auf dem Nachttisch lag. „Hab ich dir eigentlich schon gezeigt, was ich gerade lese?“, fragte er etwas verschlafen, griff ungelenk nach dem Buch und drückte es Ramon in die Hand. Es waren antike kurzweilige Gedichte und Satiren, die ihm seit Jahren wiederholt empfohlen worden waren, aber er war der Empfehlung nie nachgekommen – bis jetzt. Ramon warf einen kurzen Blick auf das Buch und legte es dann zurück. Genesis fiel ein, dass Ramon in der Dunkelheit wohl kaum etwas erkennen, geschweige denn etwas lesen konnte. „Ich bin gleich fertig“, sagte Ramon, erhob sich vom Bett und durchquerte das Schlafzimmer. Genesis sah ihm durch die offen gebliebene Tür hinterher. Der Schmerz in seinem Gesicht brachte Ramon förmlich um. Seit einer Viertelstunde wartete er darauf, dass das Schmerzmittel endlich wirkte und dass die Tablette gegen seine angegriffenen Atemwege ihre Arbeit tat. Während er sich stöhnend die Stirn massierte, versuchte er sich auf den Aufsatz vor sich zu konzentrieren. Er stellte die Schreibtischlampe näher an das Buch heran und runzelte die Stirn bei dem Versuch, etwas zu entziffern. Ihm wurde schwindelig und die Buchstaben begannen zu tanzen, als er sich auf seine Lektüre konzentrierte. Es mochte nicht in seiner Natur liegen, aufzugeben, aber es war zwecklos; er konnte gegen Müdigkeit, Durst und Hunger ankämpfen, aber nicht gegen explodierende Kopfschmerzen. Seufzend lehnte sich Ramon in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er atmete ein paarmal so tief wie möglich durch und schloss dabei die Augen. So konnte er die Schmerzen deutlicher feststellen; sie zogen sich in etwa von der Stirn zwischen den Augenbrauen über sein Nasenbein zu den Wangen direkt unter den Augen. Wenn er so weitermachte, würden sie sich über die Wangenknochen und die Schläfen über den ganzen Kopf ausbreiten. Es war besser, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen, eine ganze Menge Wasser zu trinken und ins Bett zu gehen. Sicherlich würde ihm Genesis‘ Anwesenheit guttun; er wusste, dass sein Stresslevel die Schmerzen für gewöhnlich verschlimmerte. Mit einem Blick auf die Uhr hinter sich erhob sich Ramon von seinem Schreibtisch. Es war schon fast halb zwei morgens. Er räumte seine Dokumente möglichst ordentlich auf einen Stapel, schloss alle Bücher und fuhr seinen Computer herunter, ehe er den Stuhl an den Schreibtisch heranschob und sein Arbeitszimmer verließ. Er durchquerte das anschließende Wohnzimmer und öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer. Lächelnd blieb er stehen. Was Ramon anging, so hatte er im Leben noch keinen schöneren Menschen gesehen als Genesis. Diese helle Haut, immer stilsicher in dunkle Kleidung gehüllt, diese Statur, die blauen Augen, der jederzeit etwas zynische Blick, diese Haarfarbe. Genesis‘ Anblick bannte ihn jedes Mal aufs Neue und so konnte er, obwohl es ihm in der Dunkelheit nicht möglich war, mit den Augen wirklich etwas zu sehen, erahnen, wie sich Genesis‘ Körper unter der Decke gestaltete. Er lag auf der linken Seite und atmete ruhig und unbeschwert, den Kopf auf einem Arm gelegt, der andere hing beinahe über den Bettrand hinaus. Ramon wusste, dass er sich schon vor langer Zeit in Genesis verliebt hatte, auch wenn sie offiziell nicht mehr als eine Affäre unterhielten. Seit Wochen überlegte er, ob er Genesis nicht seine Liebe gestehen sollte. Allerdings war immer etwas dazwischengekommen. Ein Geständnis hätte Genesis nur unter Druck gesetzt und verjagt. Ramon ging auf Genesis zu und setzte sich vorsichtig zu ihm aufs Bett. Keine Reaktion. Er hatte Genesis‘ festen Schlaf schon häufig bewundert. Sanft legte er Genesis eine Hand auf die Seite. Der seufzte und bewegte sich unter der Berührung, allerdings schien er weiterhin zu schlafen. Ramon verstärkte den Druck seiner Hand. Genesis verzog im Schlaf das Gesicht und murmelte etwas. Ramon erstarrte. Genesis öffnete stöhnend die leuchtenden Augen und schaute ihn in der Dunkelheit an. „Wie spät ist es?“, fragte er leise. „Ach, das willst du lieber nicht wissen, glaub ich“, erwiderte Ramon tonlos. Er konnte Genesis nicht ansehen. „Bist du wenigstens fertig?“, fragte Genesis weiter. „Noch nicht ganz.“ Ramon wusste nicht, ob das eine halbe Lüge oder eine halbe Wahrheit war. Er konnte sich noch nicht zu Genesis ins Bett legen. Er brauchte Zeit. „Hab ich dir eigentlich schon gezeigt, was ich gerade lese?“, fragte Genesis nichts ahnend und reichte ihm das Buch, das auf dem Nachttisch lag. Genesis nannte ihm den Namen, der Ramon vage bekannt vorkam, aber mit dem Werk hatte er sich ziemlich sicher noch nie gesondert beschäftigt. Er legte das Buch, mit dem er im Dunkeln sowieso nichts weiter anfangen konnte, auf den Nachttisch zurück. „Ich bin gleich fertig“, sagte er dahin, stand wieder auf und ging zurück in sein Arbeitszimmer, dessen Tür er hinter sich schloss. Nun wieder ein Pochen in der Stirn, setzte er sich in seinen Schreibtischstuhl und versuchte sich zu beruhigen. Gut, er hatte ernsthaft vorgehabt, mit Genesis zu sprechen, auch wenn er wusste, dass der von „Gefühlsduselei“, wie er es sicher nennen würde, überhaupt nichts hielt. Er war bereit gewesen, sich emotional angreifbar zu machen. Vielleicht hatte er sich nur eingebildet, dass Genesis im Schlaf einen Namen murmelte. Und vielleicht trog ihn seine Erinnerung, die sich bei diesem Namen meldete. Sobald er vor Monaten erfahren hatte, dass mit Genesis ein bekanntes Gesicht eines anderen Landes vor ihm stand, hatte er seinen Namen natürlich bei der nächstbesten Gelegenheit in eine Suchmaschine eingegeben. Dabei war er auch auf andere Namen gestoßen. Ramon fasste einen Plan. Er fuhr seinen Computer wieder hoch und suchte erneut im Internet nach Ergebnissen für Genesis‘ Namen. Die Vorstellung, mit jemandem zu schlafen, der über einen eigenen Enzyklopädieartikel in zwei Sprachen verfügte, hatte Ramon damals ziemlich überwältigt, und auch jetzt, da er sich an den Gedanken eigentlich gewöhnt hatte, überkam ihn doch noch einmal dieses Gefühl, als er auf die englische Version des Artikels über Genesis klickte und ihn auf eine bestimmte Person absuchte. Es dauerte Sekundenbruchteile, bis seine Augen, die an solche Suchaufgaben gewöhnt waren, den Namen entdeckt hatten: Sephiroth Crescent. Genesis‘ langjähriger ehemaliger Partner. Ramon klickte auf den Namen. Der verlinkte Artikel war recht lang; Ramon überflog ein Stück der hinteren Partie, von der er ahnte, dass dort die Beziehung mit Genesis auftauchen musste. Er erfuhr, dass die beiden nicht ganz freiwillig geoutet worden waren und eine große Debatte in ihrer Heimat losgetreten hatten. Das war nun über neun Jahre her. Auch wenn Ramon es beeindruckend fand, mehr oder weniger direkt mit solch bedeutenden Personen verbunden zu sein, so hatte er eigentlich nur nach dem Namen gesucht, um das zugehörige Gesicht zu sehen. Dieser Sephiroth passte optisch, das musste er zugeben, sehr gut zu Genesis. In Gaia musste irgendwas im Wasser sein. Doch Genesis hatte sicherlich nicht einen dreisilbigen Namen gemurmelt. Er suchte den Namen mit einem anderen Dienst und lernte, dass sich Genesis‘ Exfreund wohl nie bei seinem vollen Namen, sondern immer nur „Seph“ nennen ließ – leider passte das genau auf das, was Genesis unbewusst von sich gegeben hatte. Ramon wandte den Blick vom Bildschirm ab. Konnte es sein? Während er nächtelang wach lag und überlegte, wann und wie er Genesis endlich seine Gefühle offenbaren sollte und konnte und was dann möglicherweise alles geschah – hing Genesis in dieser Zeit in Wahrheit heimlich noch an seinem Ex? Dachte an ihn? Träumte von ihm? Hielt ihn für ihn? Genesis, kurz angebunden, zynisch, gefühlsabgeneigt – verzehrte sich im Innern nach einem Mann, mit dem er selbst Schluss gemacht hatte? Für Ramon war das zu viel. Er schaltete den Computer wieder aus und ging in die Küche, wo er sich weitere Schmerztabletten einverleibte, weil die erste immer noch nicht zu wirken angefangen hatte. Er trank ein Glas Wasser hinterher, begab sich ins Bad und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück. Genesis war wieder eingeschlafen. Ramon legte sich auf die andere Seite des Bettes, möglichst weit entfernt. Zu seiner Verliebtheit, mit der er Genesis noch Minuten zuvor betrachtet hatte, mischte sich Bitterkeit. Er fühlte sich betrogen. Er wusste, er war nie der einzige in Genesis‘ momentanem Leben gewesen. Aber die andern hatten Genesis nichts bedeutet. Er verbrachte eine Nacht mit einem Mann und sah ihn nie wieder. Mit seinem Ex war das anders. Er ließ ihn nicht los. Genesis hatte Gefühle für diesen Mann. Für diesen andern. Und nicht für ihn. Kapitel 12: Natt ---------------- Da war er. Einfach da, mit seinen großen dunkelbraunen Augen. Zwischen all den Leuten in ihren teuren Anzügen und prächtigen Abendkleidern, zwischen all den Brillanten, dem Gold und dem Silber. Er stand einfach da, nicht weit entfernt, und fing zufällig seinen Blick auf. Überrascht schaute er zuerst kurz weg, um nicht zu starren, doch dann wandte er seinen Blick wieder zurück und sah ihn irgendwie schüchtern und irgendwie kokett an und brachte ihn in Sekundenbruchteilen um den Verstand. Ihm stockte der Atem, ja er vergaß völlig zu atmen, sein Mund war trocken, und doch, noch ehe er wusste, was er tat, bewegte er sich wie magnetisch angezogen herüber, beachtete nicht, ob er gerade noch in einem Gespräch gewesen war, ging hinüber zu diesem Wesen mit dem fesselnden Blick, stellte er sich eigentlich vor? Er musste ein Stück nach unten schauen, wurde mit einem Augenaufschlag von unten her angesehen, überwältigt, eingenommen, übernommen, besiegt, ohne einen Kampf angefangen zu haben ... Sie blieben nicht mehr lange, schwärmten durch die Nacht, er wusste nicht, wohin er geführt wurde, erkannte die Straßen seiner eigenen Stadt nicht mehr wieder, weil er dafür keine Augen hatte, was interessierte es ihn, wo er war, bei ihm, das war wichtig, wo es auch immer sein mochte, was es auch kosten mochte, Hauptsache bei ihm, mit ihm, in ihm ... Er wusste nicht, wo er sich hineinstürzte, als er schon in kürzester Zeit so vieles erfuhr, den Namen seines Angebeteten, dass diese Goldfarbe in seinen Haaren nur getönt war, dass er Kaffee trank, ein Nachtmensch war, wie er sich einrichtete, seine Lieblingsserien, seine Kindheitshelden, wie himmlisch seine Lippen schmeckten, wie lang seine Wimpern waren, wie der Schweiß auf seiner Haut schmeckte, wenn er ihn süß triezte, wie seine Schenkel ihn umschlossen, als er sich in ihm versenkte, wie seine Hände sich in seinen Haaren vergruben, und über allem diese liebliche Melodie der Nacht* ... „Guten Morgen ...“ Als Sephiroth den Blick zur Tür wandte, blieb ihm das Herz stehen. Natt lehnte im Türrahmen seiner eigenen Küche, in nichts gekleidet als eine Unterhose und ein von Sephiroth geliehenes Hemd, dessen Knöpfe er offen gelassen hatte. Sein goldblondes Haar, das ihm nicht ganz bis zu den Schultern reichte, hatte er anscheinend nur mit den Fingern etwas gebändigt, aber noch nicht ordentlich gekämmt. Sephiroths Blick schoss von einem Stück Haut, das Natt zeigte, zum nächsten. Ihm wurde warm, wie er seinen Geliebten in einer so lasziven Pose vor sich sah. Souverän sah Natt sich in seiner Küche um, in der ein halb fertiges Frühstück zu erkennen war. „Ich war so frei, mich ein wenig zu bedienen“, erklärte sich Sephiroth. Gelassen stieß sich Natt vom Türrahmen ab und kam langsam auf ihn zu. Dabei ließ er ihn nicht aus den verrucht dreinschauenden Augen. „Ich bitte darum“, schnurrte er, als er vor Sephiroth zum Stehen kam und mit einer Hand über seine Brust fuhr. „Nicht, dass du mir vom Fleisch fällst. Nach der letzten Nacht wäre das tragisch. Das muss unbedingt wiederholt werden ...“ Sephiroth schluckte schwer. Sein Gehirn versagte ihm den Dienst. Er konnte nur noch auf Natt vor sich starren, der ihn von unten verführerisch anblickte und ihm anscheinend zu sagen versuchte, dass sie das Frühstück wohl doch noch einmal kurz verschoben ... „Interessant. Ich hätte gedacht, so eine ... Wohnung ... wäre größer.“ Natt stand mitten in Sephiroths Wohneinheit im Shin-Ra-Hauptgebäude und schaute sich staunend in dem kleinen Wohnzimmer um, das nicht für viel mehr Platz bot als für den runden Küchentisch, die Küchenzeile daneben und einen Sessel nebst Bücherregal, die beide noch aus Genesis‘ Zeiten herrührten und seitdem wenig genutzt worden waren. Sephiroth trat von hinten an Natt heran und nahm ihn liebevoll in den Arm, wobei er seinen Kopf auf Natts Schulter herabsinken ließ. Natt wandte sich nach ihm um und sah ihm verliebt in die Augen, ehe er ihm eine Hand an die eine Wange legte und ihm einen sanften Kuss auf die andere gab, den sich Sephiroth zu erwidern beeilte. Sie waren schnell erneut im Schlafzimmer gelandet; dort erlebten sie ungeahnte Wonnen, die Sephiroth nun schon so lange entgangen waren. Sie schmiegten sich danach Arm in Arm dicht aneinander. „Und das ist auch schon die größte Wohneinheit“, sagte Sephiroth nach einer Weile wie aus dem Nichts. „Hm?“, machte Natt, den er offensichtlich aus seinen Tagträumen gerissen hatte. „Ach so. Ja, das passt ja auch zu dir.“ „Es war ursprünglich nicht mal meine“, verriet ihm Sephiroth. „Was, nicht? Oha.“ „Tja, ich schätze, sie wussten, dass Genesis ein bisschen mehr Luxus braucht, bei der Familie, aus der er stammt ...“ Es schien ihm keine gute Idee, schon so früh von seinem Ex anzufangen. „Wie spät ist es überhaupt?“ Er hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. „Es ist schon wieder seit Ewigkeiten dunkel.“ „Ich schätze, so ...“, sagte Natt nachdenklich, „halb neun.“ „Was?!“ Sephiroth wollte das nicht glauben. Zugegeben, sie hatten sich auf einer spätabendlichen Veranstaltung kennengelernt und es hatte ein wenig Zeit in Anspruch genommen, ehe sie zu so etwas wie Schlaf gekommen waren, aber sie waren doch gefühlt eben erst aufgestanden. Wie konnte es schon wieder so spät am Abend sein? „Doch, doch, ich denke schon“, bestätigte ihm Natt. „Ich schau mal nach.“ Und er machte Anstalten, aus dem Bett aufzustehen, aber Sephiroth schlang ihm sanft einen Arm um die Taille. „Gar nichts machst du“, raunte er Natt belustigt zu. „Du bleibst schön hier bei mir.“ Natt ließ sich zwar zurückziehen und schmiegte sich an seine Brust, schaute ihn aber auch an, als wäre da noch etwas. „Das wird etwas schwierig, denk ich“, rückte er schließlich mit der Sprache heraus. „Ich muss auch irgendwann zur Arbeit.“ „Um die Uhrzeit?“, wunderte sich Sephiroth etwas bestürzt. Natt grinste ihn verlegen an. Für Sephiroth fühlte sich die Situation unglaublich surreal an. Er hatte sich noch nie in einem solchen Etablissement aufgehalten, nicht einmal, als er Single gewesen war. Ja, er hatte sich schon einmal gegen seine sonstige Art in eine Bar begeben, nur mit dem Ziel, jemanden abzuschleppen – über seinen Erfolg hatte sich die Regenbogenpresse lang und breit ausgelassen –, aber eine normale, unverfängliche Bar war etwas anderes als das hier. Die Fenster waren verdunkelt oder abgeklebt – da es ohnehin finster war, konnte Sephiroth dieses Detail nicht genau ausmachen – und auch das Licht im Raum war gedimmt, in die Ecken, in denen sich schemenhafte Gestalten wälzten, drang kaum etwas davon. Die Farbe Rot dominierte den Raum, doch kein gedecktes, dunkles Rot wie bei einem guten Wein, sondern ein Rot so hell wie Blut, als Farbe der Leidenschaft. Und Sephiroth saß am einen Ende des Raums an der Bar gegenüber einem hübschen Barkeeper, dessen Augen ein dichter Kranz aus langen Wimpern umgab, und versuchte angestrengt, nicht daran zu denken, wo er sich aufhielt. Er wandte einer Szene den Rücken zu, die sich hinter ihm auf einem Tisch abspielte. Gäste hatten dafür bezahlt, dass sein Freund für sie tanzte. Er durfte nicht zu viel darüber nachdenken, dass Fremde seinen Freund anglotzten und sich an ihm aufgeilten. Wenn er diese Beziehung wollte, musste er auch Natts Job akzeptieren. Sein inneres Überkochen musste sich auch auf seinem Gesicht gezeigt haben, denn der Barkeeper stellte ihm ein kleines Glas mit eindeutigem Inhalt hin. „Geht aufs Haus“, sagte er sorglos. Sephiroth zögerte. „Alkohol ist eigentlich nicht meine Art“, sagte er, während er das Glas zwischen die Finger nahm und es nachdenklich schwenkte. Der Barkeeper schaute ihn skeptisch an. Sephiroth stürzte den starken Alkohol in einem Schluck hinunter. „Danke“, murmelte er. „Ich hab auch Limonaden, wenn dir Alkohol nicht zusagt“, bot er an, wenn er dabei auch etwas genervt wirkte. Sephiroth warf ihm einen nicht überzeugten Blick zu. Wenn er ehrlich war, hätte er am liebsten ein Glas kühles Wasser gehabt, um sein Gemüt herunterzufahren, aber so ganz konnte er sich nicht überwinden, nach so etwas Banalem wie Wasser zu fragen. Und wenn er die Wahl zwischen süßen Getränken und Alkohol hatte, war ihm doch eher nach Alkohol. „Hast du auch einen Weißwein?“, fragte er zaghaft. „Klar.“ Er goss ein großzügiges Glas ein. „Der Name ist übrigens Armağan.“ „Freut mich“, sagte Sephiroth mit einem ehrlichen Lächeln und nahm das Glas entgegen. Er hatte nicht das Gefühl, sich noch großartig vorstellen zu müssen. „Das ist nicht grad deine Art von Laden, oder?“, fragte Armağan sehr direkt. Sephiroth verneinte. „Ich bin hetero, also passen wir eigentlich beide nicht hierher“, sagte er verständnisvoll. „Aber das ist unwichtig, man gewöhnt sich dran, wenn man einen Grund hat, hier zu sein.“ Sephiroth nickte nur stumm. Diese fortgeschrittene Stunde war auch nicht gerade seine Art von Uhrzeit. Während er an seinem Weißwein nippte, gab ihm Applaus irgendwo im Raum hinter ihm darüber Auskunft, dass Natt den Tisch erfolgreich verlassen hatte. Armağan sah an Sephiroth vorbei in den Raum hinein. „Ehrlich gesagt ist er nicht der beste Table Dancer, den die Welt je gesehen hat“, sagte er ungefragt. „Aber an der Stange macht ihm so schnell keiner was vor, das ist mal sicher.“ „Glaub ich dir aufs Wort“, sagte Sephiroth tonlos. Vorstellen wollte er es sich nicht. Als sein Glas ein deutliches Stück geleert war, stieß Natt zu ihnen, nun wieder angezogen, wenn man es so nennen wollte. Sephiroth fand diese gewollt aufreizende Art unheimlich unerotisch im Vergleich dazu, wie Natt vorher in seiner Küche aufgetaucht war. Natt schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als er sich zu ihm setzte, und küsste ihn flüchtig zur Begrüßung. Sephiroth erwiderte das Lächeln etwas weniger strahlend; er war wirklich müde. „Spendierst du mir einen Champagner?“, fragte ihn Natt neckend. „Was?“, fragte Sephiroth planlos. Natt gab ein belustigtes Geräusch von sich und wandte sich Armağan zu. „Einmal Champagner“, sagte er gut gelaunt. „Kommt sofort“, erwiderte Armağan routiniert. Natt nippte einmal kurz an dem Champagnerglas, das ihm Armağan hinstellte, und drehte sich dann wieder zu Sephiroth um, dem er zärtlich mit den Fingerspitzen einer ausgestreckten Hand über die Wange streichelte. Sephiroth nahm Natts Finger sanft in seine eigenen und hauchte einen Kuss darauf. Als wären sie die einzigen beiden Menschen im Raum oder vielleicht auf der ganzen Welt, schauten sie sich verliebt in die Augen – bis Armağan sie unterbrach. „Der Chef sieht das bestimmt nicht gerne“, bemerkte er an Natt gewandt. „Pah“, machte Natt in seiner jugendlichen Überschwänglichkeit, „soll er mich doch rausschmeißen, wenn’s ihm nicht passt, dass ich nicht nur für den Job hier lebe.“ Armağan warf ihm einen etwas verbissenen Blick zu. „Du musst wissen, du bist nicht halb so unersetzbar, wie du glaubst.“ Sephiroth war damit nicht einverstanden. „Doch“, widersprach er zu Armağans Missfallen; er nahm Natt mit einem gewinnenden Blick wieder für sich ein, „doch, ich glaube schon.“ Sephiroth saß Genesis immer noch wie vom Donner gerührt auf dem Sofa gegenüber. „Ich verliebe mich also Hals über Kopf in ...“ „Einen Tänzer“, ergänzte ihn Genesis. Sephiroth schüttelte den Kopf. „Darüber komm ich nicht hinweg.“ „Vielleicht mit Alkohol?“ Genesis sah ihn fragend an. „Ist es dafür nicht etwas früh?“, fragte Sephiroth stirnrunzelnd. Genesis zuckte die Schultern. „Wem gegenüber willst du dich rechtfertigen? Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Sephiroth warf ihm noch lange einen nachdenklichen Blick zu, ehe er sagte: „Na gut, aber dann nur einen leichten Weißwein.“ Kapitel 13: ... Liebe --------------------- Sephiroth besuchte Natt noch einige wenige Male auf seiner Arbeit und versuchte zu ignorieren, dass dieser manchmal für eine Weile spurlos zu verschwinden schien, ehe er und irgendein – meist älterer – Mann wie zufällig aus derselben Richtung wieder auftauchten. Für Natt war es nur ein Job und für Sephiroth war es so weit akzeptabel; solange dieser Beruf existierte, musste es nun einmal auch Menschen geben, die ihn ausübten. Es waren nur Körper und vor allem waren es nur einige Minuten. Was er und Natt hatten, war viel mehr, es ging viel tiefer, und es war langanhaltend. Sie trafen sich meist nachmittags, nachdem Natt aufgestanden war und bevor Sephiroth seine Abendschicht, wie er es gern nannte, begann. Wenn er im Büro fertig war, verbrachten sie Zeit in seiner Wohnung, er kochte für Natt und Natt brachte ihm aktuelle Musik, Filme und Serien mit, auch wenn sie nie dazu kamen, ein ganzes Album anzuhören oder einen ganzen Film zu Ende zu schauen. Natt brach zur Arbeit auf, wenn Sephiroth gerade ins Bett ging und kehrte zurück, wenn Sephiroth aufgestanden und mit seinem ersten Training des Tages fertig war; an trainingsfreien Tagen ließ er sich sanft von Natt und einer Tasse starken Schwarztees wecken. Und wenn er gefrühstückt und im Büro angefangen hatte, wusste er, dass Natt jetzt im Bett lag und friedlich schlummerte – ehe er ihn wieder am Nachmittag auf eine wohlverdiente Pause entführte. Natt behielt seinen Nachtrhythmus die ganze Woche über bei, auch wenn er nicht fünf Tage die Woche arbeitete wie andere Menschen. Er sagte, es sei sein angeborener Biorhythmus und dass er einen Nachtjob gefunden hatte, sei sein Glück. Wenn er nicht zur Arbeit ging, stieß er zu Sephiroths morgendlichem Training dazu, um sich auch fitzuhalten. Für Sephiroth war der Grund ein Rätsel, aber immer, wenn Natt dabei war, brauchte er für eine geringere Anzahl an Übungen deutlich mehr Zeit als sonst ... So vergingen Tage, Wochen und Monate. Natt hatte sich bereits in einem Maße bei ihm eingerichtet, dass er fast nicht mehr in seine eigene Wohnung zurückkehren musste und beinahe seine gesamte Zeit bei Sephiroth im Hauptquartier verbrachte. Trotzdem mied es Sephiroth, Natt in die Teeküche, das Café im Foyer oder in die Cafeteria mitzunehmen. Er konnte es sich nicht genau erklären, aber irgendwie war ihm nicht danach, seinen neuen Partner mit seinen Freunden zu teilen. Vielleicht lag es daran, dass sie noch nicht lange zusammen waren; vielleicht daran, dass sie am Tag nicht viel Zeit füreinander hatten; vielleicht lag es auch daran, dass er Natt bereits – wenn auch nur flüchtig – mit so vielen Männern teilte, dass er ihn, wenn er schon bei ihm war, auch wirklich für sich haben wollte. Es war leicht für Natt, all seine freie Zeit nur für Sephiroth einzuplanen: Kontakt zu seinen Eltern oder anderen Teilen der Familie gab es nicht mehr. „Ich hatte in der Schule heimlich einen Freund“, erklärte er eines Abends beim Essen, „also, ich sage ‚heimlich‘, ich konnte ihn meinen Eltern nicht vorstellen, einfach weil – na ja, ich war nicht sicher, was sie sagen würden. Es war ganz nett mit ihm, aber es war nun mal irgendwann aus, es gab aber kein böses Blut zwischen uns. Und dann sind wir irgendwann mal in einen Club gegangen, wo ich durch ihn, du weißt schon, jemanden kennen gelernt habe, der ganz interessant war, aber weil ich frisch getrennt war, wollte ich nichts Festes mit ihm anfangen, also hatten wir im Grunde so was wie ‘ne Affäre. Ähm, ja, und er hatte Kontakte in solche Läden und eines führte zum andern und im Endeffekt war ich dann dort, wo ich jetzt bin.“ Er hielt kurz inne und schien zu überlegen, was es noch gleich gewesen war, was er hatte erklären wollen. „Und natürlich musste ich meinen Eltern irgendwie sagen, dass ich mein eigenes Geld verdiene und was das ist und wieso ich da bin und dass ich schwul bin, und ich glaube, das war alles etwas viel für die beiden und ich glaub jetzt nicht, dass sie mich hassen oder so, aber der Kontakt ist eben etwas untern Radar gefallen seit – ja, jetzt seit zwei Jahren, aber ich denke, dass sie es irgendwann verkraften werden und ich hoffe, dass sie sich dann wieder melden, also ich für meinen Teil werd mich auf jeden Fall nicht versperren. Sie sind ja meine Eltern und ohne sie wär ich ja nicht hier“, schloss er und sah bei diesen Worten tatsächlich besonders jung aus. „Was?“, fragte er auf Sephiroths unterdrückt belustigten Blick. „Du bist echt süß“, antwortete dieser. Dass Natt glaubte, seine Eltern könnten sich wieder bei ihm melden, hielt er für äußerst naiv. „Danke, weiß ich“, sagte Natt kokett; er streckte Sephiroth eine Wange hin. „Süße Jungs werden geküsst.“ Sephiroth gluckste. „Mit deiner Wange werden wir da nicht weit kommen.“ Kennengelernt hatten sie sich Anfang Oktober auf der Eröffnung irgendeines Festspiels, für das Natt über Kontakte, die er nicht näher beschreiben wollte, an Karten gekommen war und auf das Sephiroth überhaupt nicht hatte gehen wollen. Wenn er sich überlegte, dass man es ihm beinahe tatsächlich erlassen hatte, weil er sich ständig beklagte, dass eine musikalische Veranstaltung nun wirklich nicht zu ihm passte, war er froh, dass sein ihn hassender PR-Mensch sich durchgesetzt hatte. Diese Veranstaltung war nun zwei Monate her. „Zwei Monate“, sagte ihm Natt mit leuchtenden Augen, „das ist wichtig.“ „Hör mal“, sagte Sephiroth, der den Tisch abräumte, an dem sie eben noch gegessen hatten, „ich hab wie immer am Jahresende viel zu tun. Wie wär’s, wenn wir das auf die Wintersonnenwende verlegen? Da kann ich früher Schluss machen, weil ich am nächsten Tag“, Sephiroth runzelte die Stirn bei seinen Überlegungen, „mehr Stunden auf diesem Empfang verbringen muss, als ich an diesem Tag früher Schluss machen darf. Das ist doch Betrug, oder?“ Ihm fiel wieder ein, dass er mit Natt ein ganz anderes Thema besprach. „Was sagst du?“, fragte er. Natt hatte einen träumerischen Ausdruck im Gesicht. Das Gesicht auf eine Hand gestützt, lächelte er Sephiroth verliebt an. „Das klingt romantisch“, sagte er mit sanfter Stimme, „die längste Nacht des Jahres zusammen zu verbringen.“ „Ich koch dir was Schönes“, sagte er leicht dahin, während er Wasser in die Spüle laufen ließ. „Etwas, das lange braucht und das ich nicht jeden Tag machen kann, einen Braten vielleicht, oder einen ganzen Vogel für uns – oder ist das zu früh?“, fiel ihm mit Entsetzen ein. Vielleicht war ihre Beziehung noch nicht so weit. „Nein, nein“, beruhigte ihn Natt weiterhin mit diesem sanften Ton in seiner Stimme. „Ich freu mich – auch wenn es noch zwei Wochen hin ist.“ Natt mochte angedeutet haben, dass die zwei Wochen, die er noch bis zur Sonnenwende warten musste, ihm lang vorkamen, aber so, wie Sephiroth in seine Arbeit eingespannt wurde, sodass er erst nach Hause kam, wenn Natt sich zu seiner Arbeit aufmachte, war er überrascht, als die Jahresendgrüße bereits per Mail herumgeschickt wurden; auch erinnerten sie einen freundlicherweise daran, alle Erledigungen rechtzeitig zu machen, um nicht vor verschlossener Ladentüre zu stehen. So entschied Sephiroth, die Akte, die vor ihm lag, zu schließen, und sich stattdessen um den Feiertag – beziehungsweise in seinem Falle ja nur einen „Feierabend“ – zu kümmern. Das einzige, was er bisher erledigt hatte, war, sich für Schwein und gegen Geflügel zu entscheiden. Alles andere musste er sich noch überlegen und besorgen. Auch wenn er einiges – oder eigentlich fast alles – auf die letzte Minute hatte ankommen lassen, hatte doch alles ganz gut geklappt, sodass Natt, als er am nächsten Tag mit ungekämmtem Haar und niedlich verschlafener Miene aus dem Schlafzimmer kam, anerkennend den Geruch einatmete und sagte: „Hm, wie lecker riecht das denn?“ Sephiroth wandte sich zufrieden zu ihm um. „Du bist gerade aufgestanden, für dich sollte das noch gar nicht lecker riechen.“ „Hey, ich bin Anfang zwanzig“, sagte Natt schulterzuckend, während er einen Gähnen unterdrückte, „ich esse Pizza und chinesisches Essen vom Vortag zum Frühstück.“ Sephiroth lachte. „Keine Sorge, das kriegst du nicht zum Frühstück“, sagte er und deutete mit dem Kochlöffel in seiner Hand auf den Braten, der noch auf dem Herd stand und darauf wartete, in den Ofen verfrachtet zu werden, „das dauert noch ‘ne Weile.“ „Ok“, sagte Natt, streckte sich ausgiebig und ging ins Bad davon. Nachdem Sephiroth den Braten in den Ofen komplimentiert hatte, entschied er, Fleisch Fleisch sein zu lassen und Lazard einen Besuch abzustatten. Sie hatten noch einiges für den kommenden Tag zu besprechen und Sephiroth wollte es nicht ganz auf sich sitzen lassen, dass man ihm weniger Stunden zur freien Verfügung stellte, als er später auf der Quartalsabschlussfeier verbringen würde. Natürlich vertröstete ihn Lazard, erzählte ihm etwas davon, dass er nicht zu entbehren sei, dass ihm die Überstunden doch bezahlt würden und dergleichen mehr. Nicht wirklich zufrieden, aber immerhin schlauer, was den Ablauf der Feier anging, kehrte Sephiroth in sein Quartier zurück. Als er gerade die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Natt stand, ihm den Rücken zukehrend, vor dem Spiegel und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, offensichtlich, um ihr Styling zu vollenden. Sephiroth konnte nicht sagen, was an dem schmeichelnden, weichen Pullover und der wirklich gut sitzenden Hose es war, das ihn direkt bannte, aber Natt kam ihm plötzlich vor wie von einem wirklich anziehenden Duft umgeben. Als nächstes tauschte er seinen für gewöhnlich schwarzen Ohrschmuck gegen silbernen aus. „Wie die Sterne“, sagte er zum Spiegel gewandt, als er Sephiroth bemerkte. Er drehte sich um. Irgendetwas war anders als sonst. „Du siehst toll aus“, brachte Sephiroth gerade noch hervor. Sein Hirn arbeitete deutlich langsamer als sonst. „Toll“ war gar kein Ausdruck. Natt war bezaubernd, schöner noch als die Sterne oder irgendetwas auf der Welt oder im Universum. „Danke“, sagte Natt mit einem verführerischen Augenaufschlag lächelnd. Er streckte die Arme nach Sephiroth aus und der ließ sich nicht zweimal bitten, sondern schritt unverzüglich auf Natt zu und schloss ihn in seine Arme, betrachtete ihn aber nur. War sein Blick schon immer so intensiv gewesen? Und war er nicht größer als sonst? Natt kam ihm näher und küsste ihn sanft, ohne Hast, ein ums andere Mal auf die Lippen. Sephiroth ließ es geschehen und schloss nach ein paar Küssen die Augen. In einer Atempause legte Natt seine Stirn an Sephiroths. Da fiel es ihm ein: „Bist du geschminkt?“, fragte er. „Shhh“, machte Natt und begann ihn wieder zu küssen. Nun, da Natt die Augen wieder geschlossen hatte, erkannte es Sephiroth ganz genau: die schwarzen Wimpern, ein schwarzer Strich am Ansatz, ein warmer Schimmer auf den Augenlidern und auf den Wangen. Es gab Natt eine andere Schönheit, fast als wäre er ein anderer Mensch. Sephiroth unterbrach den Kuss. „Was?“, fragte Natt. „Ich dachte, in der längsten Nacht des Jahres kann man das mal machen. Du hast gesagt, ich seh toll aus.“ „Ja, tust du auch“, sagte Sephiroth schnell. Er hatte Natt nicht verletzen wollen. „Hör mal“, sagte Natt selbstbewusst, „in meinem Job sind die Geschlechtergrenzen fließend – und man beginnt anzuzweifeln, dass Dinge, die als männlich oder weiblich gelten, wirklich männlich oder weiblich sind. Warum sollten nur Frauen das Recht haben, sich zu schminken? Am Ende des Tages ist es nur Farbe in meinem Gesicht, die ich wieder abwasche. Macht mich das weniger männlich?“ „Nein, gar nicht“, sagte Sephiroth wahrheitsgemäß. Er fuhr mit einem Daumen über Natts Wange, um zu prüfen, ob etwas daran haften blieb. Nichts. „Ich bleib dabei, du siehst toll aus.“ Natt lächelte zufrieden. „Wie lange dauert das mit dem Essen?“, fragte er unvermittelt. „Soll ich dir nicht erst mal ein Frühstück machen?“, fragte Sephiroth verwirrt. „Darauf leg ich nicht so viel Wert“, sagte Natt mit einem kokett schmollenden Gesichtsausdruck. „Das dauert noch ein paar Stunden“, setzte Sephiroth nach. „Wie wär’s dann erst mal mit einem Kaffee irgendwo in der Nähe?“, fragte Natt mit einem Blick, dem Sephiroth nicht widersprechen konnte. Er überlegte. „Wenn es nur bei einem bleibt, wird das gehen. Ich muss ja auch noch andere Sachen vorbereiten.“ Natt schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Sephiroth kannte in der direkten Umgebung des Hauptquartiers nur ein Café, von dem er sich vorstellen konnte, dass es noch geöffnet hatte. Er steckte ein wenig Geld ein und folgte Natt durch die Tür, die er zufallen ließ. Im Fahrstuhl standen sie sich gegenüber. Sephiroth betrachtete Natt eingehend; keine Frage, er sah umwerfend aus. Aber neben ihm fühlte sich Sephiroth beinahe so etwas wie underdressed, auch wenn er selbst auch ganz vorzeigbar war. Das Café befand sich zwei Straßen weiter; sie erreichten es innerhalb von fünf Minuten. Erleichtert stellte Sephiroth fest, dass es tatsächlich noch offen war. Er hielt Natt die Tür auf und sie ließen sich einen Tisch für zwei geben. Die Bedienung kannte sich mit prominenten Gästen aus und wusste, dass Tische in einer ruhigen Lage bevorzugt wurden, auch wenn um diese Zeit im Jahr ohnehin nicht viel los war. Sie ließen sich einander gegenüber am Tisch nieder und bestellten einen Cappuccino und einen grünen Tee. Sephiroth musterte Natt weiter eingehend; er konnte seinen Blick einfach nicht abwenden. „Du bist so elegant“, war sein Schluss. Natt klimperte ein wenig mit seinen schwarzen Wimpern. „Vielen Dank.“ Sephiroth legte den Kopf schief und sah Natt weiter an. „Du siehst älter aus.“ Natt lächelte immer noch. „Danke.“ Sephiroth war verwundert. „Weißt du, mit einundzwanzig möchte man noch älter aussehen. Ich denke, so ab ... fünfundzwanzig wird sich das wohl ins Gegenteil verkehren.“ „Ich komm nicht drüber hinweg, wie großartig du aussiehst.“ „Seph.“ Natt beugte sich diskret über den Tisch. „Ich schlaf auch so mit dir, auch wenn du mir nicht am laufenden Band Komplimente machst.“ Sephiroth lachte. „Das freut mich.“ Sie bekamen ihre Getränke. Als die Rechnung kam, fragte ihre Bedienung, wer sie übernehmen würde. „Der Gentleman zahlt“, sagte Natt süffisant lächelnd in Sephiroths Richtung. Der ließ sich tatsächlich die Rechnung geben. „Darüber reden wir noch mal“, sagte er dabei aber amüsiert. Sie erhoben sich und machten sich auf den Rückweg. Sephiroth war froh, seinen umwerfenden Natt kurz ausgeführt zu haben, aber nun wollte er sich um sein kleines Festessen kümmern. Die Nacht war längst hereingebrochen, doch anstatt das große Deckenlicht einzuschalten, entzündete er ein paar Kerzen und stellte eine Ecklampe an, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Natt setzte sich an den Tisch und beobachtete ihn, wie er sich um die Beilagen zum Braten kümmerte, der langsam Gestalt annahm. Sephiroth durfte sich nicht von Natt ablenken lassen. Sein goldenes Haar war im flackernden Kerzenschein das eines Engels; sein Gesicht war makellos; der glitzernde Silberschmuck unterstrich seine Schönheit; seine zierliche Figur kam bei seiner Kleidung gut zur Geltung. Sephiroth bemühte sich stattdessen, dass das Essen dem Anlass entsprechend köstlich wurde; er war es Natts Aufmachung schuldig. Als er den Braten endlich auftischen konnte, war er sehr stolz auf sich; zumindest das, was er zum Abschmecken bisher probiert hatte, war ausnehmend gut gelungen. Zum Braten goss er einen Weißwein ein. Er setzte sich endlich Natt gegenüber und seufzte erleichtert. Natt lächelte ihn liebevoll an. „Deiner Hände Arbeit der letzten Stunden.“ Er erhob sein Glas. „Auf dich, Schatz.“ Sephiroth erwiderte die Geste. „Auf uns“, entgegnete er. Zwei Portionen später war er zu erschöpft, um noch großartig etwas zu tun. Er ließ alles stehen und setzte sich am runden Tisch einen Stuhl weiter, neben Natt. Er legte ihm einen Arm um die Schulter und zog ihn an sich. „Es war sehr gut, Schatz“, sagte Natt sanft, als er sich an Sephiroth schmiegte. „Danke“, sagte Sephiroth etwas schläfrig. Er küsste Natt auf die Stirn. Ihm stieg ein Duft in die Nase. Was immer Natt für seine Haare benutzt hatte, musste gut riechen; zuordnen konnte Sephiroth den Duft aber beim besten Willen nicht. Sie dösten beide etwas vor sich hin. Sephiroth wusste aber, dass es alles keinen Zweck hatte; nach einer Weile raffte er sich auf und begann, den Tisch abzuräumen, Geschirr abzuwaschen und ein bisschen Ordnung zu schaffen. Schließlich setzte er eine Schale für ein Tischfeuer dorthin, wo eben noch der Braten und ihre Teller gestanden hatten. „Willst du schon anfangen?“, fragte er. „Das macht man doch erst Mitternacht“, sagte Natt. „Schatz, ich bin schon ein bisschen länger wach“, rief Sephiroth ihm in Erinnerung. Natt schmollte. „Lass uns noch ein bisschen warten“, bat er. Sephiroth gab sich geschlagen. Er goss sich noch einen Wein ein und setzte sich in den Sessel, während Natt seine Zettel erst noch verfasste; er selbst hatte seine schon längst fertig. Sephiroth fielen bei dem wenigen Licht fast die Augen zu. Er beobachtete Natt, wie er in Seelenruhe seine Sonnenwendewünsche zu Papier brachte. Er schien noch kurz zu überlegen, ob ihm noch etwas einfiel, dann signalisierte er Sephiroth, dass er bereit war. Langsam und vorsichtig entfachten sie ein kleines Feuer in der Schale. Sie setzten sich nebeneinander und betrachteten für eine Weile die tanzenden Flammen; sie schienen das einzige Licht im Raum zu sein und warfen flackernde Schatten an die Wände. Sephiroth ergriff Natts Hand. Hier waren sie. Zusammen. In der möglicherweise wichtigsten Nacht des Jahres. Er fühlte sich Natt unglaublich verbunden in diesem Moment. So musste es sein, sie beide und niemand sonst. Wen brauchten sie schon? Sorgfältig und behutsam verbrannten sie abwechselnd ihre Wünsche, wobei sie vorschriftsgemäß schwiegen; die Wünsche zu verraten brachte schlimmes Unglück. Als Natt seinen letzten Wunsch ins Feuer geworfen hatte, schaute er Sephiroth aus seinen großen Augen von unten an. Er sah unwiderstehlich aus in diesem Licht. Er blinzelte. „Soll ich dir sagen, was ich mir gewünscht hab?“, fragte er mit geheimnisvoll gedämpfter Stimme. „Nein, natürlich nicht“, sagte Sephiroth ebenso leise. Es war ein magischer Moment. „Ich denke, du weißt es auch so“, hauchte Natt und überbrückte die Distanz zwischen ihnen. Sephiroth schloss die Augen. Die Schatten der Flamme tanzten über seine Augenlider. Er spürte ihre Wärme auf seinem Gesicht und Natts Lippen sanft auf seinen. Sie lösten sich voneinander, als das Feuer beinahe heruntergebrannt war. Sie betrachteten es wieder mit ineinander verschränkten Händen. Natts Lippen bewegten sich erneut in seine Richtung, diesmal allerdings zu seinem Ohr. Das küssten sie jedoch nicht, sondern flüsterten etwas hinein. In Sephiroth breitete sich eine Wärme aus, die nichts mit dem Feuer und dem Kerzenlicht zu tun hatte. Er wusste es. Wusste es in diesem Moment. „Ich liebe dich“, hatte Natt ihm ins Ohr gehaucht. Sephiroth war durchaus beeindruckt von Genesis‘ Erzählkunst. Vielleicht sollte er selbst anfangen, Bücher zu schreiben, anstatt sie ständig nur zu lesen. „Du würdest sofort jedem Mann zu Füßen liegen, der dir sagt, dass er dich liebt“, sagte Genesis mit einem gemeinen Grinsen. „Weißt du“, sagte Sephiroth, „du könntest das ruhig auch mal sagen. Wenigstens so ein- oder zweimal – im Jahr.“ Genesis tat, als würde er sich das durch den Kopf gehen lassen. „Nein“, sagte er dann. Sephiroth seufzte. „Also, wir lieben einander – was nun?“ Kapitel 14: Frühling -------------------- Also hatten sie die Wintersonnenwende und auch die Quartalsabschlussfeier, Silvester und Neujahr und sogar den Valentinstag gut überstanden; mittlerweile ging es auf den St. Patrick’s Day zu, dessen Natur Sephiroth noch nie verstanden hatte. Das bisschen Schnee, das in Midgar lag, schmolz langsam und nach immer mehr Nächten gab es keinen Bodenfrost mehr. Tagsüber streckten bereits die ersten Pflanzen ihre Knospen der Sonne entgegen und man hatte auch schon die ersten Frühblüher entdeckt. Sogar Sephiroth ließ sich in diesem beginnenden Frühling dazu hinreißen, Natt einen großen Strauß der besten roten Rosen mitzubringen, die man in Midgar für Geld auftreiben konnte. Der St. Patrick’s Day fiel auf einen Freitag. Alle Welt war im Stadtzentrum zusammengekommen oder traf sich in Kneipen, Bars oder zu Hause mit Freunden und Familie. Sephiroth hingegen schnappte sich Natt und lud ihn zu einem Spaziergang in einem ruhigeren Viertel in Richtung Stadtrand ein, in dem eher Familien mit kleinen Kindern und dynamische ältere Leute wohnten. Es gab Spielplätze, Läden für Kinderbekleidung und Schulbedarf, Treffpunkte, helle, moderne Lokale mit handgemachten Spezialitäten und alle möglichen Angebote für Klein und Groß, aber das alles eher für großes als für kleines Geld. Die Hauptstraße war erwartungsgemäß überlaufen; irgendwo schien es ein Familienfest zu geben. Natt schaute sich erstaunt um. Er stammte nicht aus Midgar, war als Teenager in die Stadt gekommen, und kannte sich in abgelegeneren Stadtteilen nicht aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass Midgar so eine Seite hat“, sagte er über den Kinderlärm hinweg. „Vielleicht sollten wir uns hier auch eine Wohnung nehmen.“ Sephiroth war verwundert; offensichtlich war Natt in Gedanken schon weiter als er selbst. „Wir haben eine Wohnung. Du bist grad erst eingezogen.“ „Na ja, wenn du das Wohnung nennen willst“, sagte Natt, „auf Dauer ist das doch keine Lösung. Es funktioniert nur, weil du dein Büro, in dem du auch halb lebst, ein paar Etagen unter dir hast. Aber willst du den Job bei Shin-Ra ewig behalten? Und will ich ewig auf so wenig Raum wohnen? Eine Zweitwohnung zumindest fürs Wochenende wär doch nicht schlecht, meinst du nicht?“ Sephiroth hatte andere Dinge im Kopf. Was Natt sagte, klang fürs erste ganz plausibel, mehr konnte er dazu nicht sagen. Er konzentrierte sich darauf, dass sie die Abzweigung, die sie nehmen mussten, nicht verpassten. Natürlich kannte Natt ihr Ziel nicht. „Ja, vielleicht“, sagte er schließlich zu Natts Plänen einer Zweitwohnung in einem der teuersten Pflaster Midgars. „Ich kann mir das mal durch den Kopf gehen lassen.“ Natt nahm seine Hand. Augenblicklich spürte Sephiroth die vorwurfsvollen Blicke der umstehenden Eltern auf sich, die von schwulen Beziehungen nichts hielten und wahrscheinlich Angst hatten, ihre Kinder könnten sich durch den bloßen Anblick anstecken. Glücklicherweise konnten sie endlich in eine Seitenstraße abbiegen. Natt merkte nicht, dass Sephiroth ein Ziel verfolgte; vermutlich interpretierte er es als spontane Flucht. Unbeschwert drückte er weiter Sephiroths Hand und sah sich um. „Es ist wirklich schön hier“, sagte er. „Aber kaum ist man von der Hauptstraße weg, ist tote Hose – oder liegt das nur am Feiertag?“ „Mir ist ganz lieb, wenn in den Straßen nicht so viel los ist“, sagte Sephiroth mit einem Blick über die Schulter. Ein paar vereinzelte Bewohner begegneten ihnen noch immer. „Wieso, willst du nicht mit mir gesehen werden?“, neckte ihn Natt. Er senkte seine Stimme gespielt geheimnisvoll. „Oder haben wir was Geheimes vor?“ Natt hatte mit seiner zweiten scherzhaft gemeinten Bemerkung voll ins Schwarze getroffen. Sephiroth versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Doch offensichtlich merkte man das. „Uh, was haben wir vor?“, fragte Natt vergnügt. Sephiroths Aufregung steigerte sich, nun, da Natt Bescheid wusste. Aufgeregt sah sich Natt nach Hinweisen um, worin ihr Ziel bestehen könnte. „Der Eisladen da? Ach nein, du magst nichts Süßes.“ Natt überlegte. „Was könnte so unangenehm sein, dass du dabei nicht gesehen werden willst? Immerhin weiß ganz Midgar, was ich arbeite, und man weiß auch, dass du mich dort besuchst.“ Natt machte sich nichts weiter aus den Artikeln der Klatschpresse, wusste aber im Groben, was geschrieben wurde. „Es ist nicht unangenehm, ich brauch nur keine Zeugen oder gar Artikel.“ Sephiroth bog ein weiteres Mal ab und stellte erleichtert fest, dass hier niemand mehr zu sehen war. Noch eine Biegung und sie würden ankommen. Sein Herz schlug schneller. Natt freute sich auf die Überraschung; den Versuch, herauszufinden, worum es sich handelte, hatte er bereits aufgegeben. Als sie um die Ecke gingen, konnte Sephiroth es schon erkennen. Irgendetwas drückte auf seinen Magen; seine Atmung wollte sich nicht mehr so recht beruhigen. Als sie vor dem Schaufenster ankamen, blieb Sephiroth keine Wahl, als stehen zu bleiben und Natt zu bedeuten, dass sie angekommen waren. Natt warf einen Blick ins Schaufenster und schien in Sekundenbruchteilen zu begreifen, worum es ging. Mit großen, etwas feuchten Augen und leicht offenem Mund starrte er Sephiroth an. „Natt, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, sagte Sephiroth planlos. Er war in seinem Kopf mindestens eine Millionen Szenarien durchgegangen, wie er es formulieren könnte, was er tun könnte, wie er es Natt erklären könnte, aber in all seiner Aufregung hatte er es nicht geschafft, sich für eine Version bindend zu entscheiden. Er wagte einfach die Flucht nach vorn, ohne zu wissen, worauf es hinauslaufen würde. „Du siehst ja, worum es geht. – Ich liebe dich. Ich bin glücklich mit dir. Ich will es für immer sein. Was sagst du?“ Er holte noch einmal tief Luft. „Wills du mich heiraten?“ Natt sah aus, als wäre er kurz davor zu weinen. Mit gerunzelter Stirn und Tränen in den Augenwinkeln stand er vor Sephiroth und brachte kein Wort heraus. Er schniefte leise und murmelte: „Ja.“ Er schluckte und sagte mit festerer Stimme: „Ja. Ja, ja!“ Er schlang Sephiroth die Arme um den Hals und drückte ihm einen intensiven Kuss auf die Lippen. Sie lösten sich und Natt schmiegte sich an Sephiroth, den Blick in Richtung des Juweliers gerichtet, vor dem sie standen. „Ja, natürlich, was für eine Frage.“ „Ist das nicht etwas früh?“, fragte Sephiroth ehrlich interessiert. „Es sind erst fünf Monate vergangen, oder? Oktober bis März.“ Mit einem guten Glas Wein in der Hand fand er die Vorstellung, mit einem deutlich jüngeren Tänzer zusammenzusein, schon erträglicher. „Wir gehen hier davon aus, was passiert wäre, wenn ich Ramon geheiratet hätte – den kannte ich auch erst ein halbes Jahr und wir haben ja nicht mal sofort was miteinander angefangen“, entgegnete Genesis beinahe geschäftsmäßig. Sephiroth monierte nicht weiter. Ihm fiel etwas anderes ein. „So nimmst du unser Viertel wahr?“ Genesis hatte eindeutig ihre Wohnlage in Midgar beschrieben, in dem sie tatsächlich eine Zweitwohnung hatten. „Unsere Wohnung liegt in einem überteuerten, gentrifizierten Hipsterviertel – willst du das abstreiten?“ „Nein, nein“, sagte Sephiroth, „aber es wäre nicht das erste, was mir einfällt.“ Genesis sah ihm mit einem kennenden Blick direkt in die Seele. „Dir würden zuerst deine veganen Ökoeinkaufsmöglichkeiten einfallen, nein?“ Sephiroth stimmte zu. „Du weißt, dass die zu den Zeichen von Gentrifizierung gehören, nein?“ Sephiroth ging nicht weiter darauf ein, sondern schwenkte das Glas in seiner Hand. „Das ist ein wirklich leckerer Wein“, sagte er schließlich.* Genesis schnaubte. „Den hab ja auch ich ausgesucht.“ Als sie mit ihren neuen Verlobungsringen zurückgekehrt waren, steckten sie sie sich in einer feierlichen Zeremonie gegenseitig an die Finger. Natt ging schnell wieder zum Wichtigen über. „Ich finde, jetzt, wo wir verlobt sind, ist das mit der Zweitwohnung doch eine noch bessere Idee.“ Sephiroth setzte sich ihm mit einer Tasse Tee gegenüber an den Tisch. „Liebling, ich bin froh, dass du Ja gesagt hast, lass uns doch an den Rest später denken.“ Natt wirkte belustigt. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Dachtest du echt, ich könnte ablehnen?“ „Na ja“, sagte Sephiroth und nippte an seiner Tasse, „du bist sehr jung, wir sind noch nicht lange zusammen, wir haben völlig unterschiedliche Lebensrhythmen – logisch betrachtet gibt es viele Gründe, aus denen du hättest ablehnen können.“ „Schatz, du redest Unsinn“, sagte Natt liebevoll. „Aber was die Lebensrhythmen angeht ... Ich denke, wenn wir heiraten, will ich den Job kündigen.“ „Was?“, machte Sephiroth erstaunt. „Willst du dich von mir abhängig machen?“ „Nein“, beschwichtigte ihn Natt, „ich will nur nicht der Ehemann sein, der sich, na ja, von anderen Männern bezahlen lässt.“ Sephiroth nickte anerkennend. Da das nun geklärt war, betrachtete Natt seinen silbernen Verlobungsring mit den kleinen eingelassenen Steinen. „Ich bin froh, dass sie dieses Modell hatten, ich hab mich sofort verliebt.“ „Ich beginne ein Muster zu erkennen“, sagte Sephiroth, der sich auch sofort und auf den ersten Blick in Natt verliebt hatte. „Verlobt?“, fragte Cloud, als Sephiroth es ihm am nächsten Montag in der Kantine erzählte. „Mir war nicht bewusst, dass das mit euch ernst ist.“ „Was?“, fragte Sephiroth. „Nichts, nichts“, sagte Cloud schnell. Er nahm einen Schluck Kaffee, um die Situation zu überspielen, und sah sich suchend um. Ungläubig in eine Richtung hinter Sephiroth blickend setzte er die Tasse ab. Sephiroth wandte sich um. „Rufus, du hier?“, fragte er. „Ja, ich hab auch nicht immer Geschäftsessen“, sagte Rufus und setzte sich wie ein normaler Angestellter mit einem Tablett zu ihnen. „Ab und an ist mir nach etwas Einfachem.“ „Seph hat sich verlobt“, sagte Cloud ohne jeden Zusammenhang. Rufus sah verwundert von seinem Teller auf. „Echt?“, fragte er, und von dieser einzelnen Silbe triefte der Zweifel. „Wie lange seid ihr jetzt zusammen?“ „Fünf Monate“, sagte Sephiroth angriffslustig. Er würde seine Entscheidung bis aufs Letzte verteidigen, wenn es nötig war. Rufus widmete sich wieder seinem Mittagessen. Als er Sephiroths herausfordernden Blick auf sich spürte, fügte er an: „Das ist doch eine gute Zeit, oder nicht?“ „Na ja“, warf Cloud ein, „wir haben nach dem ersten Kind geheiratet. Und vor dem zweiten.“ „Und den wievielten Hochzeitstag werdet ihr gefeiert haben, wenn das dritte kommt?“, fragte Sephiroth freundschaftlich. „Tifa lässt sich da nicht so richtig in die Karten gucken“, gab Cloud seufzend zu. „Immer wenn ich frage, was sie glaubt, wann wir dazu bereit sein könnten, blockt sie ab.“ „Ihr habt Sorgen“, kommentierte Rufus. „Rufus“, sagte Sephiroth und deutete mit der Gabel in der Hand auf seinen Präsidenten, „irgendwann wird die Frau kommen, die auch dir den Kopf verdreht. Und wenn es so weit ist – lachen wir über dich.“ Rufus antwortete nicht. Offensichtlich war die Unterhaltung unter seinem Niveau. Cloud aber fragte: „Wann ist es denn bei euch so weit?“ „Natt erkundigt sich nach einem Termin im Mai“, erwiderte Sephiroth. „Und sind wir eingeladen?“, erkundigte sich Rufus mit einem spöttischen Unterton. „Kannst du mehr als zwanzig Minuten erübrigen?“ „Nein.“ „Dann bist du herzlich eingeladen und wir werden im Hinterkopf behalten, dass du es nicht schaffen wirst.“ Schon zu Beginn der Hochzeitsvorbereitungen wurde Natt und Sephiroth klar, dass sie beide weder über Familie noch über viele Bekannte verfügten, die sie einladen wollten. Natt war von der Oberschule direkt ins Berufsleben gewechselt und hatte nicht viele dieser alten Bekanntschaften, die man für gewöhnlich in verschiedenen Lebensphasen machte. Sephiroth war innerhalb Shin-Ras aufgewachsen und hatte außerhalb nicht viele Freundschaften geschlossen. Es würde also reichen, nach der Trauung in ein Restaurant einzukehren; sie brauchten keinen Saal. Ihre Vorbereitungen beliefen sich folglich im Grunde auf die Trauung, den Weg dorthin und ins Lokal ihres Vertrauens. Der Monat Mai kam, sie wurden getraut, steckten sich goldene Eheringe an und feierten den herrlichen Tag mit ihren Freunden. Sephiroth kümmerte sich größtenteils um seine Freunde und Natt um die seinen; Natts Eltern waren trotz Einladung nicht erschienen, ob sie die Einladung nun erhalten hatten oder nicht – vielleicht waren sie ja umgezogen. Sie ließen sich davon ihre gute Laune allerdings nicht verderben. Sephiroth schwebte vor Glück wie in einer anderen Sphäre. Die Stunden vergingen, die Nacht brach an, ein Freund nach dem andern verabschiedete sich und als die Feier wirklich vorbei und die Rechnung beglichen war, kehrten sie in ihre Wohnung in dem teuren Familienviertel zurück, die sie in der Tat als Zweitwohnung angemietet hatten. Natt, der Anfang der Woche seinen letzten Arbeitstag gehabt hatte, verbrachte seine nun freie Zeit damit, sie einzurichten; sie hatten sie zwar möbliert gemietet, aber dennoch mutete alles noch etwas provisorisch an. Das Schlafzimmer aber war bereit für das neue Ehepaar ... Kapitel 15: Freunde ... ----------------------- Sephiroth hatte sich den Rest der Woche freigenommen und ging auch weder am Samstag noch am Sonntag ins Büro, doch am nächsten Montag wachte er früh durch das Weckerklingeln auf; Natt lag um diese Uhrzeit noch nicht wieder neben ihm. Sephiroth rieb sich die Augen, richtete sich im Bett allmählich auf und streckte sich gähnend. Mit einem noch etwas müden Seufzer rollte er sich widerwillig aus dem Bett und schleppte sich ins Bad. Anschließend zog er sich an und ging, nun schon ein wenig wacher, in die Küche, wo Natt am Tisch saß und auf seinen Laptop schaute. Als Sephiroth die Küche betrat, sah er verwundert auf. „Du bist früh wach“, begrüßte er ihn. Sephiroth setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen. „Gehst du wirklich schon wieder zur Arbeit?“ Sephiroth ging schmunzelnd auf Natt zu und blieb neben ihm stehen. „Ich weiß ja nicht, wie das bei dir üblich war ...“, sagte er neckend, ohne den Satz zu beenden. Natt lächelte souverän. „Wenn ich dem Chef gegeben hab, was er wollte, durfte ich dafür tun, was ich wollte.“ Liebevoll lächelnd beugte sich Sephiroth zu seinem Mann herunter und küsste ihn kurz auf die Lippen. „Was schaust du?“, fragte er interessiert. Natt zeigte ihm die britische Serie, die er zurzeit verfolgte, wobei Sephiroth sich mit einer Schüssel Müsli und seinem Tee zu Natt an den Tisch setzte. Während seine Lebensgeister zunehmend erwachten, musste Natt immer häufiger gähnen. „Meinetwegen musst du nicht wachbleiben; ich ess das hier noch auf und dann geh ich zum Training und danach zur Arbeit.“ „Noch vor einer Woche bin ich um die Uhrzeit gerade mal nach Hause gekommen“, wandte Natt ein. „Es ist überhaupt nicht möglich, dass ich schon müde bin.“ „Vielleicht gewöhnst du dir ja einfach einen normalen Tagesrhythmus an“, schlug Sephiroth unschuldig vor. „Aber will ich das?“, widersprach ihm Natt. „Es ist doch ganz praktisch, dass ich schlafe, wenn du arbeitest, dann sehen wir mehr voneinander.“ „Aber ich schlafe auch, wenn du wach bist“, gab Sephiroth zu bedenken. „Vertraust du mir denn nicht?“, gab Natt geschmeidig zurück. „Was?“ Sephiroth brauchte eine Weile, um das zu verstehen. „Das mein ich doch gar nicht. Es ist nur – ist es nicht praktischer, wenn wir gleichzeitig schlafen und gleichzeitig arbeiten und folglich zur gleichen Zeit freihaben?“ Natt reagierte darauf kaum. „Willst du denn gar keinem Job mehr nachgehen?“ Natt zuckte zurückhaltend die Schultern. „Eigentlich nicht, nein.“ „Und erneut frage ich mich – willst du dich finanziell von mir abhängig machen? Es ist ja kein Problem für mich, uns beide zu versorgen, aber wenn mal was ist und du ohne mich dastehst – ich meine ja nicht mal, dass wir uns trennen, ich hab aber einen relativ gefährlichen Beruf. Und was willst du überhaupt den ganzen Tag machen?“ „Seph, ich bin nachts wach“, erinnerte ihn Natt. Das Wort „Tag“ hatte Sephiroth wohl nur aus Gewohnheit benutzt. „Was soll ich da schon groß machen? Was trinken gehen, Serien schauen, Musik hören, die Nacht rumkriegen, mit dir frühstücken. Alles, wie es bisher auch gelaufen ist. Es verändert sich doch nichts.“ „Und willst du dann zu Hause am Herd stehen und putzen und so weiter, oder was?“, fragte Sephiroth skeptisch nach. „Wenn du auf der Arbeit bist und ich hier in der Wohnung, werd ich mich wohl irgendwie versorgen müssen, ja. Ich hab auch vorher nicht viel Zeit auf der Arbeit verbracht. Es wird mir schon nicht so schwer fallen, drei Wochentage mehr als sonst zu füllen.“ Sephiroth war nicht ganz überzeugt zur Arbeit aufgebrochen, während Natt eine weitere Folge seiner Serie angefangen hatte. Er hielt es für keine gute Idee, dass Natt nicht einmal mehr einem kleinen Gelderwerb nachgehen wollte; sicherlich hatte er noch gespartes Geld zur Verfügung und Sephiroth verdiente genug für sie beide, aber im Falle eines Falls sah er Natts Versorgung nicht mehr gesichert. Sephiroth kam es sehr unvernünftig vor, auch dass Natt nicht vorher mit ihm darüber geredet hatte, mutete ihm seltsam an. Bisher hatte es für ihn geklungen, als ob sich Natt nach seiner Kündigung durchaus nach anderer Arbeit umsehen wollte. Diese und andere Gedanken beschäftigten Sephiroth bei seinem ersten Training seit einer Woche; sie waren ein guter Antrieb, um seine Übungen durchzuhalten. Nach abgeschlossenem Training und einer ausgiebigen Dusche kehrte er in seiner Uniform auf die SOLDAT-Etage zurück. An der Poststelle traf er auf Cloud. „Na, frisch Vermählter“, begrüßte der ihn. „Du siehst nicht begeistert aus. Hast du deine ... Flittertage nicht genossen?“ „Oh, doch, doch“, sagte Sephiroth schnell. „Wir haben nur heute Morgen ...“ „Gestritten?“ „Nein, wir haben uns nicht gestritten.“ „Komm, mir kannst du’s sagen, ich bin auch nicht perfekt.“ Sephiroth funkelte Cloud an. „Ok, dann nicht.“ „Wir haben uns nicht gestritten“, wiederholte Sephiroth mit Bestimmtheit. „Schon gut, schon gut“, beschwichtigte ihn Cloud. „Kann ich ja nicht wissen. Hör mal, auf der Hochzeitsfeier ist mir aufgefallen, wie wenig ich ihn eigentlich kenne. Und selbst auf der Feier hatten wir ja nicht gerade viel miteinander zu tun.“ „Halb so wild, denk ich“, sagte Sephiroth. „Sag mal, willst du diese Beziehung irgendwie geheim halten oder so?“ „Was willst du eigentlich von mir?“ Sephiroth reichte es langsam. „Ich bin fünf Tage verheiratet und schon willst du’s mir madig reden.“ Cloud ging einen Schritt zurück. „So war das überhaupt nicht gemeint“, sagte er schnell. „Mir ist nur aufgefallen, dass ich deinen Mann kaum kenne, wir haben ja keine fünf Worte miteinander gewechselt, das ist alles.“ Sephiroth schwelte immer noch. „Vielleicht ist das auch besser so.“ Sephiroth mied Cloud die ganze restliche Woche, was ihm nicht schwerfiel, da er in ganz Midgar und Umgebung zu tun hatte. Am Freitag kehrte er geschafft zu Natt in die Wohnung zurück. Sein Mann war gerade mit seinem Frühstück fertig und spülte das Geschirr, das er dabei verwendet hatte. „Na, alles gut?“, wurde er begrüßt. Sephiroth gab ein bejahendes Geräusch von sich und ließ sich erschöpft am Küchentisch nieder. Ihm war danach, irgendwo etwas außerhalb zu essen, aber da Natt gerade erst gefrühstückt hatte, mussten sie das wohl verschieben. Natt schaute ihn besorgt an. „Sicher, dass alles ok ist?“ „Ja“, sagte Sephiroth matt. „Die Woche war nur anstrengend. Eine ordentliche Mahlzeit und eine Mütze Schlaf und ich bin wieder fit.“ Natt setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. „Oder du tankst von mir etwas Kraft.“ „Normalerweise kostest du mich Energie“, sagte Sephiroth schmunzelnd. Natt lächelte ihn kokett an. Dann wurde er ernst. „Wir haben uns die ganze Woche nicht gesehen“, stellte er traurig fest. „Ich war unterwegs“, sagte Sephiroth. „Ich hab dich immer auf dem Laufenden gehalten.“ „Ja, schon“, stimmte Natt seufzend zu. „Ich hätte nur gerne ab und an gerne einen Ansprechpartner gehabt, der mir sagt, ob du nicht doch mal fünf Minuten irgendwo bist, wo ich dich abfangen kann. Du hast all deine Freunde, die so was wissen, auf der Arbeit, aber ich konnte keinen fragen, weil ich sie nicht kenne.“ „Du kannst mich fragen“, wandte Sephiroth ein. Er fand es nur logisch. „Ja, und dann heißt es: ‚Ist es was Wichtiges? Ich bin gleich in ‘ner Besprechung, ich ruf dich heute Abend zurück.‘“ Sephiroth fuhr sich seufzend mit der Hand übers Gesicht. Natt hatte voll ins Schwarze getroffen. Er wusste nicht, was er erwidern sollte; er war wirklich müde. „Schatz“, sagte Natt und beugte sich zu ihm vor, „das sollte keine Kritik sein. Ich wollte nur sagen, dass ich deine Freunde nicht kenne. Wir sind verheiratet, ich dachte, da sollte man gemeinsame Freunde haben oder die des Ehepartners zumindest kennen.“ Sephiroth konnte nicht die Kraft aufbringen, ihm zu widersprechen. In seinem trägen Zustand klang das halbwegs plausibel. „Du kannst ja das nächste Mal mitkommen, wenn wir in der Gruppe Mittag essen gehen“, schlug er halbherzig vor. „Ach was, nein, mittags bist du gar nicht wach“, fiel ihm dann ein. Sein Hirn funktionierte nicht mehr richtig. „Ach“, sagte Natt etwas geschmeichelt, während er anfing, Sephiroth am Knie zu streicheln, „ich kann durchaus früher ins Bett gehen und früher aufstehen. Ist ja nur ein einziges Mal.“ Sephiroth schaute ihn skeptisch an. „Noch mal, ich bin Anfang zwanzig, mal ein bisschen weniger Schlaf macht mir nichts aus. Jetzt lass uns dir was zu essen holen, ich lad dich ein – die fünf Gil bist du mir gerade noch wert.“ Sephiroth hatte gehofft, dass Natt seine Bitte, seinen Freunden vorgestellt zu werden, einfach wieder vergessen würde; wie flatterhaft war doch ein junger Geist, redete er sich ein. Doch am Sonntagabend, nachdem sie gegessen hatten, kam Natt wieder darauf zurück. „Wie sieht deine Woche aus?“, fragte er unschuldig. „Puh“, machte Sephiroth nachdenklich. Er ging im Kopf durch, was in der kommenden Woche alles für ihn anstand. Auch wenn einiges feststand, so blieb vieles doch vage. Und es konnte immer etwas dazukommen. „Ich werd wohl in Midgar sein“, sagte er daher diplomatisch. „Dann klappt es ja vielleicht schon diese Woche mit deinen Freunden“, sagte Natt wimpernklimpernd. „Vielleicht“, stimmte Sephiroth zu. Wie es aussah, war es Natt wohl nicht auszureden. Bis es allerdings wirklich zu einem Gruppenmittagessen mit allen Freunden und Kollegen kam – denn nichts anderes wollte Natt zufriedenstellen –, vergingen doch ein paar Wochen, da ständig jemand im Urlaub oder an anderer Stelle beschäftigt war. Sephiroth hatte Natt mehrmals ein einfaches Essen zu dritt mit Cloud vorgeschlagen, aber davon hatte er nichts hören wollen. „Ganz oder gar nicht“, pflegte er in seinem jugendlichen Elan zu sagen. So blieb Sephiroth nichts anderes übrig, als zur nächsten großen Verabredung zum Mittagessen zuzusagen und ein Plus Eins anzugeben. Sephiroth mochte es für gewöhnlich ohnehin nicht, an diesen Essen teilzunehmen. Zwar waren so alle Menschen an einem Tisch versammelt, die er gut leiden mochte – aber auch einige, die er kaum ausstehen konnte. Trotzdem fand er sich an verabredetem Ort ein. Er blieb noch kurz vor dem Eingang stehen, um auf Natt zu warten. Cloud kam noch einmal zu ihm vor die Tür. „Alles klar?“, fragte er. „Ja, schon gut“, sagte Sephiroth ausweichend. „Ich, ähm ... warte auf meinen Mann.“ „Ach“, sagte Cloud langgezogen und warf ihm einen überlegenen Blick zu. Da Sephiroth ihn aber mit etwa einem Kopf überragte, konnte er das leicht ignorieren, auch wenn das Wissen darüber ihm ein Loch in den Magen brannte. „Ja“, sagte er nur knapp. Er schaute ans Ende der Straße. „Und da kommt er auch schon.“ Cloud folgte seinem Blick. Er schien nicht unbeeindruckt. Natt kam unsicher lächelnd die Straße entlang auf sie zu. Angekommen, fasste Sephiroth ihn an der Hüfte und zog ihn zur Begrüßung sanft an sich. Natt legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn ein paarmal kurz, bevor sie sich voneinander lösten und sich Cloud zuwandten. „Niedliche Turteltäubchen seid ihr“, sagte der. Natt schmiegte sich seitlich an Sephiroth, als wollte er sich an ihm stützen. Sephiroth legte ihm einen Arm um die Taille. „Natt wollte sich mit Freunden und Kollegen bekanntmachen“, sagte er. „Ach“, wiederholte Cloud, und musste ein Lachen unterdrücken. „Wir haben festgestellt, dass wir gar keinen gemeinsamen Freundeskreis haben“, sagte Natt beinahe zurückhaltend. „Was du nicht sagst“, sagte Cloud etwas sarkastisch, wobei seine Augen allerdings auf Sephiroth ruhten. „Als ich das angemerkt hab, wurde ich mit einer vollen Woche Nicht-beachtet-Werden gestraft.“ „Was soll das heißen?“, wandte sich Natt an Sephiroth. „Nichts weiter“, sagte der mit Bestimmtheit. „Cloud redet Unsinn.“ Cloud grinste ihn nur weiter an und öffnete die Tür zum Lokal. „Die guten Plätze sind bestimmt schon alle weg“, sagte er auffordernd, aber Sephiroth bedeutete ihm, dass sie noch einen Moment brauchten. Cloud ging schon hinein. Sephiroth wandte sich Natt zu. „Bist du irgendwie aufgeregt oder so?“, fragte er seinen Mann, der ihn nervös musterte. Der nickte nur schüchtern. „Brauchst du doch nicht. Du siehst übrigens wieder toll aus, mein Schatz.“ Sephiroth hielt Natt die Tür auf und der trat zögernd ein. Drinnen richteten sich einige Augen auf sie; der Geräuschpegel nahm plötzlich ab. Sephiroth komplimentierte Natt hinter Cloud, der auf sie gewartet hatte, hinterher zum richtigen Tisch. Drei Plätze nebeneinander waren nicht mehr frei. Während Cloud sich verabschiedete und zum anderen Ende der Tafel in der Nähe von Lazard durchging, blieb Sephiroth nichts anderes übrig, als Natt einen Stuhl neben Amber anzubieten, die, häufig schlecht gelaunt, das Geschäftszimmer ihrer Etage führte. Genesis pausierte seine Erzählung gedankenverloren. „Ich kann Amber nicht leiden.“ Sephiroth musste sich gewaltig bemühen, nicht in sein Weinglas zu prusten. „Was, wer, du und sie nicht mögen? Hättest du mir das mal früher gesagt.“ „Ich konnte sie noch nie leiden“, sagte Genesis. „Diese Art. Als ob ihr der Laden gehören würde. Sie ist ja so wichtig.“ „Wo hab ich das nur schon mal gehört?“, fragte Sephiroth grinsend. „Und diese Haare. Diese Klamotten.“ „Komm, jetzt wirst du fies.“ „Als ob man ihr nicht genug bezahlen würde.“ Sephiroth grinste. „Ich glaube, das reicht jetzt.“ Es dauerte ein paar Minuten, bis sich die allgemeine Aufmerksamkeit Sephiroth und Natt zuwandte. Sephiroth nutzte die Gelegenheit, um das Wort zu ergreifen. „Ich hab heute mal meinen Mann Natt mitgebracht“, verkündete er fröhlich. „Ach, ist das Versteckspiel endlich vorbei?“, fragte Will, ein Kollege aus dem vierten Stock. „Wir haben uns nicht versteckt“, widersprach Sephiroth, noch gut gelaunt. Er wusste, dass dieser Kollege es nicht böse meinte. Bei anderen war er sich da nicht sicher. „Gesehen haben wir ihn vorher aber auch nicht“, mischte sich Heather, eine von besagten anderen, ein. „Vielleicht sollte dir das zu denken geben“, konterte Sephiroth geschmeidig. Calvin, ein Kollege, der Sephiroth lieb war und im Büro eine Etage unter ihm saß, wandte sich wohlwollend direkt an Natt: „Wie gefällt dir die Ehe bisher denn so?“ Natt wich dem Blick aus. „Es ist schön“, brachte er heraus. Sephiroth gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Das ist doch alles, was man hören will“, sagte Calvin. Das Gesicht immer noch an Natts, flüsterte ihm Sephiroth ins Ohr: „So schüchtern kenn ich dich ja gar nicht“ und küsste ihn noch einmal liebevoll aufs Haar. Sie sahen sich in die Augen. Natt zuckte leicht eine Schulter, als ob er auch nicht wüsste, was mit ihm los war. Auf Sephiroths ermunternden Blick hin lächelte er allerdings etwas. Bis Amber das Wort an Natt richtete: „Was machst du noch mal?“, fragte sie spitz und eine Spur lauter als nötig. Schlagartig war es still am ganzen Tisch. Die Spannung war förmlich greifbar. Natt starrte Amber nur geschockt und hilflos an. Ein paar gebannte Herzschläge lang sagte niemand etwas. Niemand wagte einzugreifen; alles wartete darauf, dass Natt etwas sagte. Sephiroth, mit schnell schlagendem Herz und einem sauren Gefühl im Magen, wies Amber schließlich in ihre Schranken: „Tu doch nicht so, als ob du dir nicht jedes Klatschblatt unter den Nagel reißt, an das du rankommen kannst.“ Er konnte es nicht fassen, dass sie seinen Mann absichtlich vorführen wollte. Amber hob die Hände, als wüsste sie überhaupt nicht, wovon er redete: „Ich hab ja nur gefragt, das wird man ja wohl noch dürfen.“ „Ach, mach doch den Kopf zu“, erwiderte Sephiroth erhitzt. In die peinliche Stille hinein entstanden wieder die ersten leisen Unterhaltungen. Man wandte sich wieder einander zu und Natt war fürs erste aus dem Scheinwerferlicht entlassen. Still starrte er vor sich hin auf die Tischplatte. Sephiroth legte ihm eine Hand aufs Knie und küsste ihn auf die Stirn, wobei er an Natts Kopf vorbei wütend Amber anfunkelte, die weiterhin tat, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst. „Mach dir nichts draus“, flüsterte er Natt ins Ohr. Der sah ihn verloren an. Ihr Mittagessen war nur ein Businesslunch, der nicht lange dauerte. Sephiroth und Natt, beide hatten nicht viel herunterbekommen können, gehörten zu den ersten, die daraufhin den Laden verließen. Vor der Tür nahm Sephiroth seinen Mann beiseite. Ihm fiel allerdings nicht mehr ein als das, was er schon drinnen am Tisch gesagt hatte. Es entstand eine Pause, in der Sephiroth nicht wusste, was Natt, der mit verschränkten Armen und abgewandtem Blick vor ihm stand, hören wollte. Dann aber sprach Natt selbst: „Ich war da drin bei Weitem der Jüngste, kann das sein?“ „Ach was“, stritt Sephiroth ab. Natt schaute ihn zweifelnd an. „Na ja, es kommt drauf an, was du mit ‚bei Weitem‘ meinst, ich denke, ein paar sind noch unter dreißig ... oder zumindest um die dreißig.“ Wieder schwiegen sie sich an. Sephiroth suchte fieberhaft nach etwas, mit dem er Natt aufmuntern konnte, um wieder sein strahlendes Lächeln zu sehen. Aber ihm wollte nichts einfallen. Da ging hinter ihnen die Tür des Lokals auf; Cloud, in Begleitung von Lazard, kam heraus. Er bedeutete Lazard, dass er kurz einen Moment brauchte, und kam auf sie zu. „Hey“, sagte er ohne Umschweife zu Natt, „das, was Amber da gemacht hat, war blöd, nimm dir das nicht zu Herzen. Sie wollte dich fertigmachen, aber für so eine Tour ist sie viel zu alt. Du hast gut reagiert, einfach gar nichts sagen. Denk nicht mehr dran, ok? Es kann sie eh niemand leiden“, schloss er. „Stimmt“, pflichtete ihm Sephiroth bei. Sie wandten sich Natt zu. Der wirkte etwas beruhigt; man konnte schon wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht vermuten. Cloud verabschiedete sich und sie waren wieder zu zweit. Die Stimmung zwischen ihnen war deutlich weniger zum Schneiden als vorher. „Ich denke, jetzt geht’s mir besser“, sagte Natt schließlich vorsichtig. Er klang, als würde er nach einer schweren Grippe langsam wieder zu Kräften kommen. „Ich war nur so hilflos, weil auch niemand was gesagt hat.“ „Ich hab was gesagt“, erinnerte ihn Sephiroth. „Ja“, stimmte ihm Natt zu und schenkte ihm nun wieder ein Lächeln, „mein Held.“ Er nahm Sephiroths Hände und verschränkte ihre Finger miteinander. „Ich entlasse dich dann jetzt wieder zu deiner Arbeit. Und denk dran – ich weiß jetzt, was du für schreckliche Kollegen hast.“ „Es tut mir so leid, was da passiert ist“, sagte Sephiroth. Endlich fühlte er sich leichter. „Und versprich mir, dass du nicht mehr daran denkst, ok?“ „Versprochen“, sagte ihm Natt mit einem bezaubernden Lächeln. „Nicht weinen“, ermahnte ihn Sephiroth sicherheitshalber. „Nicht weinen“, echote Natt liebevoll. „Nicht mehr dran denken“, sagte Sephiroth weiter. „Nicht mehr dran denken“, bestätigte ihm Natt. Sephiroth nahm Natt fest in den Arm und drückte seinen Kopf an seine Schulter. „Es war trotzdem schön, dass du hier warst“, sagte er. „Ich liebe dich.“ Natt löste sich aus seiner Umarmung und sagte ihm mit seinem Blick, dass auch er ihn liebte. „Und ich verhau Amber nachher, wenn ich sie noch mal in die Finger kriege.“ Natt lachte. Als Sephiroth am Freitag zu Natt nach Hause kam, fand er ihn wieder beim Geschirrspülen in der Küche vor. „Na, hast du dich erholt?“, fragte er Natt und küsste ihn zur Begrüßung. „Klar“, sagte der sorglos. „Cloud hatte schon recht, die Frau ist ein bisschen alt, um mich als ihr Opfer auszusuchen.“ „Sie ist bestimmt nur neidisch“, pflichtete ihm Sephiroth bei. „Wahrscheinlich steht sie selbst auf dich“, sagte Natt augenzwinkernd. „Das hör ich nicht zum ersten Mal ...“, sagte Sephiroth leise. „Ich bin ja froh, dass du so unbeschwert bist.“ „Pff, so weit kommt’s noch, dass ich mir von der was verderben lasse“, machte Natt leichthin und legte ein Tuch über das gespülte Geschirr. Er wandte sich um und zog Sephiroth mit den Armen um seinen Nacken näher an sich heran. „Da das ja nun so doof gelaufen ist, dachte ich, dass es vielleicht besser funktioniert, wenn ich dir meine Freunde vorstelle.“ Sephiroth war davon wenig begeistert. „Dieses Wochenende etwa?“ „Ja, wieso nicht?“ Sephiroth versuchte es mit einem mitleiderregenden Blick. „Ich dachte, das hätten wir vielleicht nur für uns.“ „Seph“, sagte Natt vorwurfsvoll, „es sind ein paar Stunden.“ Sephiroth stimmte seufzend zu. Er hatte wenig Lust auf Besuch. „Du musst ihnen auch nichts kredenzen, sie bringen wahrscheinlich einfach Pizza mit.“ Sephiroth runzelte die Stirn. „Ich kann doch keine Gäste empfangen, ohne ihnen was anzubieten“, widersprach er. „Wieso nicht? Du stellst deine Wohnung zur Verfügung, sie bringen was zu essen mit. Ist doch nur fair.“ „Eine komische Einstellung hast du da“, sagte Sephiroth immer noch stirnrunzelnd. Natt musterte ihn nachdenklich. „Wie alt genau bist du noch mal? Vielleicht kommen daher unsere unterschiedlichen Ansichten.“ „Das ist doch tatsächlich eine interessante Frage“, warf Sephiroth ein. „Ich hab da auch komplett den Überblick verloren.“ Genesis sah amüsiert von Sephiroth zu dessen geleertem Weinglas. „Auch den über deinen Weinkonsum?“ „Hör mal, das war erst das zweite Glas!“, verteidigte sich Sephiroth. „Das mag sein, aber es kommt ja auch drauf an, wie voll besagte Gläser waren“, wandte Genesis ein. „Und hattest du heute Mittag mehr als das bisschen trocken Brot?“ „Nein, hatte ich nicht“, gab Sephiroth kleinlaut zu. „Um zu deiner Frage zurückzukommen“, sagte Genesis, nahm sein eigenes Weinglas zur Hand und schwenkte es nachdenklich ein wenig, „wenn der Antrag 2010 war und dann das ... und noch mal fünf Jahre ... und dann im Juni ... summa summarum müsstest du in der Erzählung schon sechsunddreißig sein, wir befinden uns also längst in der Zukunft“, schloss Genesis mit einem leicht verschmitzten Grinsen. „Oh wow“, staunte Sephiroth. „Und dann einen einundzwanzigjährigen Mann, nicht schlecht.“ „Lassen wir ihn doch in der Zwischenzeit zweiundzwanzig geworden sein“, schlug Genesis vor. „Vielleicht im April oder so.“ „Einverstanden.“ Sephiroth nickte. Er goss sich den letzten Rest aus der Weinflasche ins Glas. „Du weißt genau, wie alt ich bin, frag nicht so fies“, sagte Sephiroth augenzwinkernd zu Natt. Der zwinkerte etwas verlegen zurück und küsste Sephiroth entschuldigend kurz auf die Lippen. „Also ist es abgemacht, ja? Ich lad sie am besten für morgen Abend ein.“ Sephiroth konnte Natt nicht mehr widersprechen. Im Handumdrehen hatte er per Handy allen Freunden Bescheid gesagt, ein paar sagten zu, andere nicht, weil sie anderweitig verplant waren. Sephiroth, der die Wohnung auf Vordermann brachte, war froh, dass Natt nicht darauf bestand, dass alle auf einmal kamen oder dass die, die am Samstag nicht konnten, eben an einem anderen Tag vorbeischauten. Am Ende hatte sich eine Auswahl von vier oder fünf Freunden angekündigt. Sephiroth hatte Natts Anweisung, nichts für sie vorzubereiten, nicht vergessen. Da er allerdings auch nicht aus seiner Haut konnte, entschied er sich für ein paar kleine Dinge, die er bei Bedarf zur Pizza auftischen konnte. Der Samstag kam, Natt stand am Nachmittag auf, machte sich fertig und ehe sie sich’s versahen, stand eine bunte Truppe junger Leute vor ihrer Tür, und zwar, wie Natt vorausgesagt hatte, mit Pizzen von einem Italiener in ihrer Gegend, Wein und Bier. Sephiroth argwöhnte, dass Natt sie vorgewarnt hatte, dass sie stärkeren Alkohol nicht mitbringen sollten; wie die typischen Weintrinker kamen sie ihm jedenfalls nicht vor mit ihren bunten Haaren, Piercings, Tätowierungen, abgewetzten Schuhen und den Klamotten, die zwar sauber waren, aber sicherlich gepflegter hätten sein können. So schnell, wie sie nach einem kurzen Gruß sein Wohnzimmer in Beschlag nahmen, die Kartons öffneten, sich mit ihren Getränken auf dem Sofa und auch dem Boden niederließen und so etwas wie eine kleine Party begannen, kam Sephiroth überhaupt nicht hinterher. Er zählte vier junge Männer und eine junge Frau, die so klein war, dass er befürchtete, sie im Laufe des Abends noch einmal zu übersehen. Von irgendwoher zauberten sie einen Lautsprecher und nach kurzer Zeit dudelte irgendein melodiebefreiter Beat zwischen den Freunden vor sich hin. Sephiroth lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete die Szene amüsiert; ein wenig hatte er das Gefühl, einen nicht ganz jugendfreien Kindergeburtstag zu geben. Natt, der zwischen seinen Leuten auf dem Sofa saß und schon voll in sich aufgegangen war, wandte sich freudestrahlend an Sephiroth. „Es gibt auch Wein“, sagte er mit einem entschuldigenden Unterton, der ihn wohl in die Runde einladen sollte. „Wie wär’s mit ein paar Gläsern?“, schlug er mit einem belustigten Lächeln vor. „Jo, gerne“, tönte es von irgendwo auf dem Boden. Mit einem leisen Lachen wandte Sephiroth sich um und ging in die Küche; er hatte eine ungefähre Ahnung, dass seine Gäste nicht auf Weingläsern bestanden und nahm ein paar normale Wassergläser aus dem Schrank, die er, ins Wohnzimmer zurückgekehrt, einfach zwischen Natts Freunde auf den Boden stellte, damit sie sie selbst verteilen konnten. Er goss sich einen Schluck Rotwein in sein eigenes Glas und nahm neben Natt auf dem Sofa Platz. „Auch Pizza?“, fragte ihn Natts Freundin liebenswürdig und etwas schüchtern. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in Midgar über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügte. „Ja, gerne, was habt ihr denn?“, fragte er in einem Versuch, die Unsicherheit zu überspielen. Er musste sagen, dass er den Abend wirklich sehr genoss. Natts Freunde mochten zwar etwas laut sein und sicherlich auch ziemlich ungehobelt, aber sie kamen ihm wie herzensgute Leute vor, die sich einfach eine gute Zeit machten und dafür nicht viel brauchten. Die Pizza war zwar merkbar billig, aber in der Gruppe schmeckte sie trotzdem hervorragend. Das Bier floss reichlich und manchmal auch auf seinen Boden, aber die Flecken ließen sich beseitigen, also wollte Sephiroth keine schlechte Stimmung verbreiten, indem er direkt jedem Schwappen hinterherwischte, auch wenn das seine normale Art gewesen wäre. Großes Staunen löste er allerdings aus, als er doch ein paar kulinarische Kleinigkeiten hereinreichte. Alles machte große Augen und stürzte sich sofort auf das Tablett mit diesen merkwürdigen kleinen Speisen, die innerhalb von Minuten vernichtet waren. Natt, ein Bier in der Hand, schenkte Sephiroth ein liebevolles Lächeln. „Ich hab dir gesagt, dass du das nicht brauchst.“ „Ja, und ich hab dir gesagt, dass ich Gästen nicht nichts auftischen kann.“ Natt warf ihm einen verständnisvollen Blick zu, ehe er sich wieder der Unterhaltung mit seinen Freunden zuwandte. Was Sephiroth anging, besprachen sie nichts Weltbewegendes: Lieder, Filme, Konsumprodukte, Stars und Sternchen, Sport, Ernährung; als es in Richtung Wohnen und Stadtviertel ging, wurde die Konversation kurz politisch, nur um dann wieder zu einem berühmten Internetvideo zurückzukehren. Alles in allem lauschte Sephiroth dem Gesagten ganz gerne, es war recht seicht, zumindest von dem, was er verstand, und das war immerhin die Hälfte; der Jugendslang war ihm in großen Teilen zu hoch. Die geschilderten Ansichten erschienen ihm naiv und einseitig, aber er war nicht gewillt, Natts Freunden eine andere Sicht auf die Dinge zu erklären. Also beschränkte er sich darauf, glücklich zu lächeln und ab und an ein Stück Pizza zu nehmen. Gegen zehn Uhr stellte sich heraus, dass Natts Freunde den Zwischenstopp als Vorglühen genutzt hatten, weil sie noch in ein paar Clubs weiterziehen wollten. Also tranken sie die letzten Tropfen Bier leer, aßen die letzten Krümel Pizza auf und machten sich langsam zum Aufbruch bereit, der sich allerdings in die Länge zog, da doch immer wieder Gesprächsfäden angefangen wurden. Als sich die fünf schließlich davongemacht hatten, schloss Sephiroth etwas erschöpft die Tür hinter ihnen. Er räumte ihre Überreste aus dem Wohnzimmer, wischte die Bierflecken vom Boden und zog sich dann an den Tisch in seiner Küche zurück, wo er sich seinen eigenen guten Rotwein in ein richtiges Weinglass eingoss. Natt setzte sich zu ihm. „Na, müde?“, fragte er. Sephiroth nickte und nahm einen Schluck von dem Wein. Genießend schloss er für einen Moment die Augen. „Ah, guter Wein. Dieses Billigzeug – wahrscheinlich hab ich alles auf den Zähnen.“ Natts Blick zeigte eine zurückhaltende Zustimmung. „Wenn das alles ist, worüber du dich beschweren kannst.“ „Nein, nein, alles gut, ich mag deine Freunde“, sagte Sephiroth wahrheitsgemäß. „Ja, ehrlich?“, fragte Natt freudestrahlend nach. „Natürlich ehrlich“, bestätigte ihm Sephiroth mit einer leichten Verwunderung darüber, dass Natt überhaupt nachfragen musste. „Na ja“, sagte der, „du hast ja kaum mal was zu ihnen gesagt oder so.“ „Ja, ok, ich mag deine Freunde – aber ich würde sie mir jetzt nicht selbst als solche aussuchen, weißt du?“ Natts Lächeln gefror auf seinem Gesicht. „Wieso denn nicht?“ Sephiroth überlegte, wie er es in Worte fassen sollte, ohne Natt zu kränken. „Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass wir irgendwas gemeinsam haben, das ist alles. Sie sind nett.“ Natt sah ihn ungläubig an. „Nett?“ „Ja, ich mein das überhaupt nicht böse“, sagte Sephiroth, dem klar war, wie das Wort „nett“ klingen musste. „Liebling, sie sind deine Freunde, nicht meine, es reicht doch, wenn ich sie nett finde, oder nicht?“ Natt stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. „Deine Freunde können mich nicht leiden“, beklagte er sich, „und du kannst mit meinen Freunden nichts anfangen – was ist das bitte für eine Ehe?“ „Natt, jetzt mach aber bitte mal einen Punkt.“ Sephiroth war schockiert von dem, was Natt da sagte. „Unsere Ehe, das sind immer noch wir zwei, und niemand sonst.“ „Aber eine Ehe bedeutet auch die Zusammenführung zweier Leben“, wandte Natt ein, „und zu einem Leben gehören auch Freunde.“ „Und wenn ich dich erinnern darf, verstehst du dich mit Cloud seit Neuestem blendend, und das ist doch wohl das Wichtigste. Und ich sag dir doch, ich mag deine Freunde.“ „Sie sind solche Rüpel“, fuhr Natt unbeirrt fort, als hätte er Sephiroth nicht gehört. „Das kann ich schlecht abstreiten“, gab Sephiroth zu, „aber ich nehme an, so sind sie nun mal, sie meinen es nicht böse und das ist völlig ok.“ „Sie waren auch so undankbar, ich meine, da hast du ihnen extra was zu essen gegeben –“ „Wovon redest du?“, unterbrach ihn Sephiroth. „Sie haben sich doch gefreut wie die Schneekönige, mehr will ich doch nicht.“ Natt sah ihn an und schien ihm endlich zuzuhören. „Echt?“ „Ja“, bestätigte ihm Sephiroth mit Bestimmtheit. „Und jetzt versuch ich seit Stunden, dir zu erklären, dass ich deine Freunde völlig ok finde, und ich würde es sehr schätzen, wenn du das einfach so akzeptieren würdest. Sie sind ok, ich mag sie, du darfst sie gerne wieder einladen oder was auch immer dir einfällt, nur bitte mach kein Drama draus, das ertrag ich nicht, wenn du traurig bist.“ Natt lächelte ihn liebevoll an. „Vielleicht hast du recht.“ „Natürlich hab ich das.“ Sephiroth fasste über den Tisch und nahm Natts Hand in seine. „Diese Ehe, das sind wir beide, du und ich, und dein Leben passt zu meinem und meins zu deinem und wir finden uns sehr gut darin zurecht. Ok?“ Natt sah ihn voller Rührung an. „Ok.“ „Lass uns hier einen Zeitsprung machen“, philosophierte Genesis mit dem Weinglas auf halbem Weg zum Mund. „Von mir aus“, murmelte Sephiroth. Er schaute in sein eigenes Glas; sie waren von Weiß- auf Rotwein umgestiegen. Er musste schon sagen, Genesis hatte ein wahres Händchen bei der Weinauswahl. „Erste Ehejahre sind doch langweilig“, sagte Genesis, als hätte er Sephiroth überhört. Der blickte auf. „Wir befinden uns in den ersten Ehejahren.“ „Und ist irgendwas Spannendes passiert?“, fragte ihn Genesis direkt. Sephiroth überlegte angestrengt, ihm wollte tatsächlich nichts einfallen. Er schmollte stumm. Kapitel 16: ... Und andere Probleme I ------------------------------------- Ramon sah sich in dem riesigen Saal mit den Kronleuchtern um. Er war überwältigt von so viel Reichtum und Dekadenz, die an jedem Zentimeter der Wand sichtbar waren. Kellner in sehr aufrechter Haltung gingen durch die Menge und reichten Wein und Häppchen. Einer davon näherte sich ihm und bot ihm Wein auf einem Tablett an. Ramon ließ sich dankend ein Glas geben, als er hinter sich Schritte hörte und sich umdrehte. Es war Sephiroth, der gut gelaunt auf ihn zukam. Ramon grinste ihm entgegen. „Hi, schön dich zu sehen“, grüßte er ihn. „Sind schon wieder fünf Jahre vergangen?“, fragte ihn Sephiroth freudig. Er musste die Feier meinen, die Genesis vor fünf Jahren – allerdings ohne ihn – besucht hatte. „Ja, tatsächlich – und ich bin zum ersten Mal hier in Midgar, hab’s endlich geschafft.“ „Und wie gefällt’s dir?“ Sie verfielen in harmlosen Smalltalk über Midgar und Lissabon. Schließlich fragte Sephiroth: „Und wo ist Genesis?“ Ramon nickte in eine Richtung schräg hinter Sephiroths rechter Schulter. „Angeal hat’s auch hergeschafft und ich bin jetzt abgeschrieben.“ Sephiroth wandte sich um und erblickte die beiden in einer Ecke, in der sie wie erwähnt ins Gespräch vertieft standen und keine Notiz vom Rest der Welt zu nehmen schienen. „Ja, das kenn ich auch noch von früher. Die ganze Welt muss sich hinten anstellen, wenn Angeal auftaucht.“ „Oh ja“, stimmte ihm Ramon lachend zu. „Und dein Mann?“ Sephiroths Gesicht verfinsterte sich. „Er würde mir einen großen Gefallen tun, wenn er nicht auftaucht“, sagte er nur. Ramon hatte einen solchen Gesprächsverlauf nicht beabsichtigt. „Oh, ähm ... Da scheint was im Argen zu liegen.“ Sephiroth schwieg stirnrunzelnd. Ramon versuchte hilflos, Genesis‘ Blick am andern Ende des Saals aufzufangen. Es dauerte kurz, bis Genesis in seine Richtung schaute; Ramon ruckte mit dem Kopf als Zeichen, dass Genesis zu ihm kommen sollte. Genesis nickte Angeal zu und gemeinsam trotteten sie herüber. Sephiroth wandte sich um. „Seph“, sagte Genesis, „mein Gott, schon wieder sind es fünf Jahre.“ „Und wir sehen uns an alter Stelle wieder“, entgegnete Sephiroth, etwas weniger finster als zuvor. „Wie läuft’s?“ „Oh, super“, sagte Genesis gut gelaunt; sein Blick heftete sich auf Ramon. „Wir haben jetzt schon volle zwei Tage nicht gestritten.“ Ramon sah ihn liebevoll-genervt an. Sephiroth seufzte. „Klingt himmlisch.“ Es mochte wie eine beiläufige Bemerkung klingen, aber sein Ton war eine Spur zu nachdenklich. Angeal und Genesis sahen Sephiroth besorgt von der Seite an. „Alles ok?“ „Ja, ja“, sagte Sephiroth schnell, klang dabei aber eher abwesend. „Ja, alles bestens.“ Ramon bemerkte, wie sich Genesis‘ Augen kaum sichtbar verengten und aufmerksam auf Sephiroth hefteten, fest entschlossen, den Grund für sein Verhalten herauszufinden. Das Gespräch wandte sich den vergangenen fünf Jahren zu, allerdings entging auch Ramon nicht, dass Sephiroth sich sehr bedeckt hielt. Während Genesis‘ nachwievor wachsamer Blick auf Sephiroth ruhte, huschten dessen Augen wiederholt unruhig zum Eingang. Fast jedes Mal sah auch Ramon in dieselbe Richtung und so bemerkte er nach einer Weile, dass ein junger, sehr attraktiver, sehr schlanker blonder Mann hereinkam und sich kurz umsah. Sephiroth wandte sich um und sagte dann etwas widerwillig: „Ihr entschuldigt mich?“ „Das ist er also, ja?“, fragte Ramon. „Nicht schlecht.“ Genesis‘ Blick wurde vorwurfsvoll. „Natürlich nicht schlecht für andere“, fügte Ramon schnell hinzu. Er zwinkerte seinem Mann vergnügt zu. „Er ist auch locker zwanzig Jahre jünger“, warf Angeal ein. Ramon war beeindruckt, auch wenn Genesis ihm natürlich schon längst erzählt hatte, wie jung Sephiroths Mann war. Er folgte dem Paar mit den Augen, wie sie langsam in den Saal hinein schlenderten. Sie schienen etwas angespannt, soweit er das sagen konnte; ihre Unterhaltung wirkte etwas hitzig. Auch Genesis und Angeal schauten den beiden aufmerksam nach, bis jemand, den Ramon natürlich nicht kannte, auf sie zukam und etwas von Angeal wollte. Der verabschiedete sich und Genesis wandte sich fragend an Ramon. Als der ihm erzählte, was Sephiroth gesagt hatte, schaute Genesis ihn ungläubig und geschockt an. „Was?“, fragte er bestürzt. „Das hat er so gesagt?“ „Ja“, bestätigte ihm Ramon, „aber mehr auch nicht.“ „Seltsam“, sagte Genesis. „Denkst du –“ Doch Genesis kam nicht dazu, seine Frage zu beenden. Mit vor Schock geweiteten Augen schaute er zu Sephiroth und seinem Mann herüber, deren offenbar eben entflammter Streit lautstark an ihre Ohren drang. Wutentbrannt schleuderte der junge Mann Sephiroth Vorwürfe entgegen, die Ramon nicht verstand. Unter Schockstarre beobachtete Ramon das Geschehen vor sich. Mit saurer Miene stand Sephiroth vor seinem Mann und entgegnete kein Wort, sondern schien sich unter großem Druck zurückzuhalten. So schnell, wie der Streit begonnen hatte, war er auch beendet. Nach ein paar gewechselten bösen Blicken stürmte der junge Mann an Sephiroth vorbei aus dem Saal. Sephiroth sah ihm nicht einmal hinterher, sondern schaute mit einem – wie es für Ramon auf die Distanz wirkte – angestrengten und auch etwas traurigen Blick in Richtung Boden. Erst jetzt fiel Ramon auf, dass fast der ganze Saal den Streit beobachtete hatte. Aus einer größeren Ansammlung löste sich ein weiterer blonder Mann, älter als Sephiroths Gatte, und ging mit strengem Blick auf ihn zu. Er schien ihn unnachgiebig zurechtzuweisen; Sephiroth starrte ihn mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Wut und Hilflosigkeit an. „Wer ist das?“, fragte Ramon Genesis. „Rufus“, antwortete Genesis mit Mitleid in der Stimme. „Unser Präsident. Vermutlich muss er Seph so stutzen, ob er will oder nicht. Schadensbegrenzung.“ Rufus schien mit Sephiroth fertig zu sein. Der sagte auch zu Rufus kein Wort, sondern schien alles, was ihm durch den Kopf gehen mochte, herunterzuschlucken. Nach einigen Momenten, in denen sich die beiden anfunkelten, machte Sephiroth kehrt und ging langsam aus dem Saal. Als Reaktion darauf kam allmählich das Leben in die Feier zurück. Ramon war etwas überfordert damit, das eben Geschehene zu verarbeiten. Er hatte Sephiroth bisher für einen ganz umgänglichen Kerl gehalten; dass jemand ihn so anging, überraschte ihn. Er ahnte, dass etwas sehr Schwerwiegendes dahinterstecken musste, wenn sie sogar mitten auf einer solchen Veranstaltung Streit anfingen. Während Ramon sich nachdenklich umschaute, bemerkte er einen dritten blonden Mann, der langsam auf sie zukam. „Sind hier denn alle blond*?“, fragte er Genesis verwundert. Genesis drehte sich in die Richtung um, in die Ramon blickte. „Das ist Cloud.“ „Na, wenn das so ist“, sagte Ramon etwas verständnislos. Als Cloud bei ihnen angekommen war, wurden sie einander vorgestellt. Genesis ergriff daraufhin das Wort. „Cloud, was ist da los?“ Cloud zog mit einem Ahnungslosigkeit bedeutenden Gesichtsausdruck die Schultern hoch und schüttelte dabei noch den Kopf. „Sag bloß, ihr kennt ihn immer noch nicht richtig.“ „Nein, nein, das hat sich gebessert“, erwiderte Cloud. „Wir haben uns zwischenzeitlich sogar richtig gut verstanden. Aber irgendwann kam da einfach nichts mehr zurück. Und dann hab ich eigentlich nur noch gemerkt, dass Seph meist auch total fertig ist. Es hat ewig gedauert, bis ich rausgekriegt hab, dass sie ständig – na ja, du hast es ja gesehen – nur noch streiten. Das geht jetzt seit Jahren so.“ „Und worum geht’s da?“, fragte Genesis ratlos. „Das ist ja gerade das Rätsel, Seph redet auch nicht darüber. Aus ihm ist absolut nichts rauszukriegen. Aber ehrlich gesagt glaub ich, dass da schon von Anfang an irgendwas schief läuft. Sie hatten gerade geheiratet, Seph hat sich gerade mal zwei Tage oder so freigenommen und kam dann wieder, schlecht gelaunt, Geduldsfaden kürzer, als ich es je bei ihm erlebt hab, und als ich frage, ob sie sich gestritten haben: ‚Nein, nein, wir haben uns doch nicht gestritten, wir streiten nicht.‘ Er gibt nie zu, dass sie sich streiten, und will es ständig runterspielen.“ „Ich geb wenigstens zu, dass wir uns Tag und Nacht streiten“, kommentierte Genesis. Ramon warf ihm einen Blick zu, der in etwa seine Frage „Musste das jetzt sein?“ ausdrücken sollte. Es stimmte, dass sie beinahe täglich aneinander gerieten. Aber Genesis war ihm nie lange böse. Meist beruhigte er sich ebenso schnell wieder, wie er sich erbost hatte. „Tifa und ich sagen uns auch nicht immer nur liebe Worte“, stimmte Cloud zu. „Ach, Cloud, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Cloud lächelte verlegen. „Und du hast wirklich keine Idee? Könnte eine dritte Person im Spiel sein?“ Cloud schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Selbst wenn ein Liebhaber im Spiel wäre, ... wie lange kann man sich darüber streiten?“ Ramon warf Genesis einen Blick zu. „Haben die beiden Kinder?“, fragte er. „Was, nein“, sagte Cloud sofort. Ihn schien der bloße Gedanke zu überfordern. Genesis richtete einen nachdenklichen Blick erst auf Ramon, dann auf Cloud. „Weißt du da was?“ Cloud wirkte wieder verlegen, diesmal aber auf ganz andere Art und Weise; er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er beugte sich zu Genesis vor und sagte mit gedämpfter Stimme: „Ihr dürft hier keine Kinder haben, das weißt du.“ Ramon spürte förmlich die Hitze der Wut, die in Genesis hochkochte; allerdings schaffte er es zu Ramons Überraschung, sie relativ unbemerkt herunterzuschlucken. „Ich werde mich zu dieser Formulierung jetzt einfach mal nicht äußern“, sagte er äußerst kontrolliert; vielleicht auch zu kontrolliert. Dann kehrte er wieder zum Thema zurück. „Wie kann man sich so lange so konstant streiten – ohne vielleicht irgendwann einfach ehrlich zu sein und sich einzugestehen, dass es das war?“ „Na ja“, sagte Cloud, der nicht verstanden zu haben schien, was Genesis aufgeregt hatte, „nach eurer Trennung hat er wirklich lange gebraucht, um jemanden zu finden.“ „Weil er aber auch nicht sucht“, stellte Genesis richtig. Ramon wusste, dass Genesis Sephiroth nicht für die Art von Person hielt, die aus einem Einsamkeitsgefühl heraus dringend einen Partner sucht. „Ich denke auch nicht unbedingt, dass es mit über 40 leichter wird, sich zu trennen und jemand Neues zu suchen“, sagte Cloud. Sie hatten alles ausgetauscht, niemandem fiel mehr etwas zu sagen ein. „Ich werd ihm also mal auf den Zahn fühlen, wenn ich ihn erwische“, schloss Genesis. „Viel Glück, das versuch ich seit Jahren“, schnaubte Cloud. „Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du es sonderlich klug angestellt hast“, entgegnete ihm Genesis mit einem zauberhaften falschen Lächeln. Cloud warf ihm einen gehässigen Blick zu und verabschiedete sich unter abfälligem Gemurmel. „Was sollte das vorhin heißen“, fragte Ramon, kaum dass Cloud außer Hörweite war, „darüber, was ‚wir‘ dürfen und was nicht?“ „Cloud denkt, schwule Männer sind anders als andere Männer“, erklärte Genesis knapp, „er ist ja ein herzensguter Mensch, aber einfach dumm wie Stroh.“ „Ich muss sagen, ich bin wirklich gespannt, worauf du damit noch hinaus willst“, lobte Sephiroth Genesis. „Aber hab ich das richtig verstanden – wir sind jetzt zehn Jahre zusammen und seit Jahren nur noch am Streiten?“ Genesis zählte kurz durch. „Nein, fünf Jahre.“ Sephiroth rief sich die Geschichte noch einmal in Erinnerung. „Oh, richtig. – Und warum?“ Genesis setzte einen gewichtigen Gesichtsausdruck auf. Sephiroths Aufmerksamkeit und Neugierde schienen ihm zu gefallen. „Dazu müssen wir uns zusammenfassend noch mal die letzten fünf Jahre anschauen.“ Kapitel 17: ... Und andere Probleme II -------------------------------------- Entgegen seiner sonstigen Art hatte Sephiroth den Sommer sehr genossen; zwar war er für die wärmeren Temperaturen der Jahresmitte einfach nicht geschaffen, aber in diesem Jahr waren die Sommermonate mit ein paar eher freizügigen Outfits seines neuerdings angetrauten Ehegatten einhergegangen und so war er doch sehr viel mehr bereit, die Existenzberechtigung der warmen Jahreszeit einzusehen. Natt und seine Freunde hatten die lauen Sommernächte noch öfter zum gemeinsamen Feiern genutzt und Sephiroth war so frei gewesen, Cloud auch einzuladen, der ihm ständig amüsierte Blicke zuwarf, die „noch einmal jung sein ...“ zu sagen schienen. Doch im Allgemeinen war Sephiroth froh, als die Temperaturen sich wieder abkühlten und sich der Herbst ankündigte – auch weil das bedeutete, dass sich zum ersten Mal der Tag jährte, an dem er Natt kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Sephiroth zauberte seinem Mann und sich ein recht aufwändiges Abendessen, zu dem sie eine gute Flasche Wein genossen. Natt wirkte glücklich, als er Messer und Gabel beiseitelegte und sein Glas zur Hand nahm. „Es war köstlich, Schatz“, sagte er mit seinem bezaubernden Lächeln. „Freut mich“, sagte Sephiroth erfreut. „Aber an unserem Hochzeitstag gehen wir schon aus, oder?“, fragte Natt. Sephiroth warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Was? Ist ja schön und gut, heute ist nur unser Kennenlerntag, da geht auch was Selbstgekochtes, aber entschuldige bitte, ich möchte ausgeführt werden, wozu bin ich so hübsch?“ Sephiroth grinste seinen Mann liebevoll an. „Nach einem Jahr merke ich jetzt, wie unverschämt du bist“, neckte er Natt. „Ich bin es ja wohl wert, dass du dein Geld für mich ausgibst“, sagte Natt mit einem koketten Augenklimpern. „Jetzt wird er aber ein bisschen wie du“, unterbrach Sephiroth die Erzählung. „Du magst recht haben“, stimmte Genesis stirnrunzelnd. „Ich schätze, mein ‚Kreiere einen bezaubernden Mann‘-Akku ist aufgebraucht. Ich bin nun mal nicht bezaubernd.“ „Ach, da würde ich dir widersprechen“, sagte Sephiroth. Genesis sah ihn entsetzt an. „Wobei, nein, stimmt“, korrigierte sich Sephiroth nach einer Bedenksekunde. „Ich fing gerade an mich zu fragen, wer du bist“, sagte Genesis sarkastisch. „Kannst du tanzen?“, wechselte Natt plötzlich das Thema. „Ähm – nein“, gestand Sephiroth. „Was?“, fragte Natt entsetzt. „Du hast einen Tänzer geheiratet und kannst selbst überhaupt nicht tanzen?“ „Du hast auf Tischen und an Stangen getanzt“, erinnerte ihn Sephiroth. „Getanzt ist getanzt“, beharrte Natt. „Nicht mal irgendeinen Standardtanz?“ „Nein“, sagte Sephiroth noch einmal. „Walzer?“ „Nein, Schatz“, wiederholte Sephiroth. „Oder Cha-Cha-Cha?“ „Wie oft muss ich dir noch antworten, bis du mein Nein akzeptierst?“, fragte Sephiroth ratlos. „Ich könnte dir was beibringen“, sagte Natt. „Oder – ich weiß nicht, ich würd es auch nicht ganz ungerne sehen, wenn du einfach für mich tanzt, weißt du, du allein nur für mich?“ Natt warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Ich steck dir auch ein paar Scheine zu, wenn du dich dann wohler dabei fühlst“, schlug er unschuldig vor. Natts Blick sagte ihm, dass er diese Vorstellung vergessen konnte. Natt erhob sich von seinem Stuhl und streckte Sephiroth eine Hand entgegen. „Komm, ich zeig dir was ganz einfaches“, redete er auf ihn ein. Sephiroth seufzte unwillig; aber wie konnte er Natt einen Wunsch abschlagen? So ließ er sich ins Wohnzimmer ziehen, wo Natt langsame Musik einstellte. „Du bist größer als ich, also ist es einfacher, wenn du führst. Deine linke Hand hier ... deine rechte in meine ...“ Und so bekam Sephiroth die erste Tanzstunde in seinem Leben. Dumm stellte er sich nicht an, aber sein Hobby würde das langsame Tanzen nicht werden; er bevorzugte eindeutig eine andere Art, mit Natt zu tanzen ... Aber wie sie sich nah aneinander zur langsamen Musik wiegten, wurde Natts Gesicht nachdenklich. „Glaubst du, nach einem Jahr kennt man jemanden?“, fragte er ungewohnt ernst. „Was willst du mir damit sagen?“, fragte Sephiroth alarmiert. Natt schien aus seinen tiefen Gedanken zu erwachen. „Nichts“, sagte er dann schnell, „nichts, nichts. Ehrlich.“ Sie ließen einander los und Natt stellte die langsame Hintergrundmusik leiser, auch wenn es Sephiroth lieber gewesen wäre, er hätte sie ganz ausgeschaltet. Sie setzten sich gemeinsam aufs Sofa. „Was?“, fragte Sephiroth. Natt hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen. „Ich hab da“, setzte Natt langsam an, „seit längerem einen Gedanken.“ „Ich bin ganz Ohr“, sagte Sephiroth ernst. Natt zögerte noch immer. „Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll ... Ich ... hab nachgedacht ...“ „Und du kannst mir sagen, was immer du denkst, also raus mit der Sprache.“ „Na ja, ich dachte ..., da wir ja jetzt verheiratet sind ...“ Sephiroth rutschte ein Eisklumpen in die Magengegend. Er hatte eine Idee, worauf Natt hinauswollte. „Und ich ja jetzt auch keiner Arbeit mehr nachgehe ...“ Sephiroth begann innerlich zu beten, dass Natt ihm nur vorschlagen würde, einen Hund anzuschaffen. Doch als sie sich in die Augen sahen, wusste er, dass Natt etwas anderes sagen würde. „Was, wenn wir’s mit ... du weißt schon ... Adoption probieren würden?“ Sephiroth erstarrte. Natt hatte ausgesprochen, wovor es ihm gegraut hatte. „Du weißt, das wird schwierig“, sagte er steif; er hörte seine eigene mechanische Stimme wie aus weiter Entfernung. „Schon“, räumte Natt ein; er rückte sich auf seinem Platz zurecht. „Aber vielleicht ... mit deinem Namen ... nicht.“ „Ah“, machte Sephiroth darauf nur. Natt mochte der Illusion erlegen sein, dass ein berühmter Name Türen öffnete, doch Sephiroth wusste, dass in vielen Bereichen Türen sofort zugeschlagen wurden, sobald er sich nur vorsichtig näherte. „Na ja, ob es möglich sein wird oder nicht, wird sich ja noch rausstellen“, sagte Natt, plötzlich sehr aufgeräumt. „Aber was sagst du? So ganz prinzipiell?“ Sephiroth wusste nicht sofort, was er antworten sollte. In ihm ging einiges vor. Zunächst einmal hatte er es nicht wirklich mit Kindern. Er konnte nichts mit ihnen anfangen, für ihn waren sie in den meisten Fällen nur laut und unlogisch. Jede Situation mit Kindern bedeutete für ihn Stress; Freunde mit Kindern wussten, dass sie sie ihm nie allein anvertrauen sollten. Allerdings wollte er natürlich Natt nicht unglücklich machen. Nie würde er pauschal Nein zu etwas sagen, was er sich sehnlich wünschte. Er liebte Natt und war bereit, für ihn weiter zu gehen als für irgendjemanden sonst, um ihm zu geben, was er wollte. Jedoch ahnte er, dass es diesmal, egal, wie weit er gehen würde, keinen Weg geben würde, um Natts Wunsch zu erfüllen. Egal, was sie anstellen würden, die Behörden würden ihnen in jedem Fall einen Strich durch die Rechnung machen. Sie hatten zwar heiraten – beziehungsweise sich offiziell „verpartnern“ – dürfen, doch Adoptieren war für sie nicht vorgesehen. Auch Schlupflöcher waren mit Gesetzen geschlossen worden, bevor jemand davon hatte profitieren können. Sephiroth sah keine Möglichkeit ... In seinem Kopf setzte sich ein Bild zusammen. Natt wollte sich um Nachwuchs bemühen. Sephiroth wollte ihn unterstützen, doch er mochte Kinder überhaupt nicht. So oder so war allerdings ohnehin sicher, dass Natts Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen war. Was bedeutete, selbst wenn Sephiroth Natt zustimmte, würde er wahrscheinlich nie tatsächlich in die Situation kommen, mit Natt ein Kind zu adoptieren. Was wiederum bedeutete, dass er so tun konnte, als ob er Natt unterstützte, ohne Gefahr zu laufen, die tatsächlichen Konsequenzen am Ende tragen zu müssen. Und immerhin – wie konnte er seinem Mann etwas abschlagen? Sephiroth starrte Genesis mit offenem Mund an. „Hältst du mich für so verschlagen?“, fragte er erschüttert. Genesis zuckte sorglos die Schultern, als sei der Verlauf der Erzählung nicht seine Schuld. „Hast du irgendwie einen Kinderwunsch?“ „Fragst du mich das grad wirklich?“ „Stimmt, blöde Frage.“ Die Frage, ob Genesis, sehr kinderlieb, sich in der Gesellschaft, in der er lebte, wirklich Kinder wünschte, war nur sehr kompliziert zu beantworten. „Das heißt, mein Mann will Kinder, ich kann aber Kinder nicht leiden, und anstatt ihm das zu sagen, tu ich so, als wollte ich auch Kinder, wohl wissend, dass das nicht möglich ist, um ihn nicht zu kränken?“ „So ungefähr“, sagte Genesis langsam nickend. Sephiroth runzelte die Stirn. „Das ist bizarr.“ Und so begannen die Jahre genau so zu vergehen, wie Sephiroth es vorhergesehen hatte. Natt stellte Antrag über Antrag, lief von Stelle zu Stelle, holte Informationen hier und dort ein, reiste durch das ganze Land, um jemanden, irgendjemanden zu finden, der ihm half, seinen Traum zu verwirklichen. Und er wurde wieder und wieder enttäuscht, weggeschickt, abgelehnt. Kaum, dass er eine neue Möglichkeit gefunden hatte, die erfolgsversprechend aussah, kaum, dass er sich wieder Hoffnungen gemacht hatte, kam doch nur wieder eine Absage. Sephiroth versuchte seinen zunehmend verzweifelnden Mann zu trösten, so gut es ging, hielt ihm den Rücken frei und begleitete ihn, wann immer es ihm möglich war. Doch insgeheim sah er jeden negativen Bescheid kommen und er konnte nicht behaupten, sich daran zu stören, wenn da nicht Natts Zustand wäre ... Sephiroth war gerade dabei, frisch gewaschene Wäsche aufzuhängen, als Natt niedergeschlagen heimkehrte und zu ihm ins Wohnzimmer kam; seufzend lehnte er sich in den Türrahmen. „Wieder eine Absage?“, fragte Sephiroth im Versuch, nicht allzu unbeschwert zu klingen. Natt nickte nur mit einem Blick in Richtung Boden. Sephiroth ließ seine Wäsche stehen und nahm seinen Mann in den Arm, wobei er ihm liebevoll und tröstend über den Rücken strich; Natt seufzte an seiner Brust. Als sie sich voneinander gelöst hatten, lehnte sich Sephiroth Natt gegenüber an die andere Seite des Türrahmens. Er musterte seinen Mann genauestens. Seine dunkle Haarfarbe war für seine Verhältnisse ungewöhnlich stark nachgewachsen, ohne dass Natt sich die geringste Mühe zu geben schien, sie nachzublondieren; unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die denen Sephiroths bereits deutliche Konkurrenz machten; und er sah Natt an, dass er schlichtweg nicht glücklich war. Sephiroth versuchte sich zum ersten Mal seit Natts Vorschlag in Schadensbegrenzung. „Weißt du, wenn es dich so fertig macht ... Vielleicht sollten wir es nach all der Zeit doch einfach aufgeben.“ Natts Blick heftete sich auf ihn; er wirkte streng. „‘Einfach aufgeben‘?“, fragte er ungläubig. „Nach allem, was ich investiert habe?“ „Schatz, du rennst jetzt seit zwei Jahren hierhin und dorthin – glaubst du nicht, dass du mittlerweile alle Möglichkeiten ausgeschöpft hast?“ Natt sah ihn ganz genau an. „Warum willst du mir das plötzlich ausreden?“ „Ich ...“ Sephiroth sah sich dünnes Eis betreten; er musste behutsam vorgehen. „Ich weiß, dass wir uns dafür entschieden haben –“ „Wir?“, unterbrach ihn Natt kalt. „Du wolltest das doch von Anfang an nicht. Jedenfalls nicht wirklich.“ Sephiroth starrte Natt an. Meinte er, was er sagte? Hatte er ihn wirklich von Anfang an durchschaut? „Was soll das heißen?“, fragte er deshalb. „Ich hab dich immer unterstützt – oder etwas nicht?“ „Ich weiß nicht, hast du?“, gab Natt zurück. „Ich merk davon nichts.“ Sephiroth wollte nicht glauben, was er hörte. Kümmerte er sich denn nicht um Natts Versorgung? Um die Wäsche, um die Wohnung? Um alle möglichen Besorgungen, um Natts Leben so angenehm wie möglich zu gestalten? Und das alles neben seiner regulären Arbeit, die beinahe zwei normalen Jobs gleichkam? Doch Sephiroth schluckte runter, was ihm durch den Kopf ging, um keinen ausgewachsenen Streit zu provozieren. Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich und wusste, dass auch Natts Nerven blank lagen. Da der ihn aber weiter herausfordernd anschaute, sah er sich dennoch zu einer Antwort gezwungen, also sagte er zwar mit gerunzelter Stirn, aber dennoch ruhig: „Ich denke schon, dass ich dafür, dass ich hier derjenige bin, der immer noch einer geregelten Arbeit nachgeht, doch eine Menge erledige und auch für dich tue.“ Er sah Natt an, dass er das Falsche gesagt hatte. Er fasste Natt sanft an die Seiten und fügte hinzu: „Für uns tue.“ Natt wirkte nicht besänftigt. Er wandte den Blick ab und schob Sephiroths Hände beiseite. „So siehst du das also ...“, murmelte er. „Das schon wieder. Glaubst du, ich sitz die ganze Zeit rum und tue gar nichts und warte nur darauf, dass du nach Hause kommst?“ „Nein, natürlich nicht“, erwiderte Sephiroth; der Gesprächsverlauf gefiel ihm überhaupt nicht. „Das glaube ich nicht und das hab ich auch nicht gesagt.“ „Natürlich nicht“, echote Natt, „das würdest du auch nie sagen. Wann immer ich mit dir rede, hab ich das Gefühl, dass du nur einen Bruchteil von dem sagst, was du denkst.“ Sein Blick heftete sich auf Sephiroth und schien durch ihn durch zu gehen. Sephiroth selbst war erschrocken, geradezu geschockt. Doch während er seinen Mann anstarrte und nicht wusste, was er zur Antwort geben sollte, fiel ihm etwas ein, was Natt vor zwei Jahren gesagt hatte. Ob man jemanden nach einem Jahr kennen könne, hatte er gefragt. „Deswegen ...“, murmelte Sephiroth, ohne seinen Satz zu beenden. Doch Natt wusste anscheinend auch so, was er meinte. „Ja, deswegen“, bestätigte er ihm, nun wütend. „Was ist los mit dir?“, fragte Sephiroth ehrlich besorgt. „Mit mir?“, fragte Natt erzürnt. „Ich weiß nicht, ich schätze, ich befinde mich in einer sehr belastenden Situation und reagiere entsprechend emotional – die Frage ist doch viel eher, was ist los mit dir? Wie kannst du so ruhig bleiben? Und ich kann nur zu dem Schluss kommen, dass du das Ganze von Anfang an nicht wolltest. Und jetzt sieh mir ins Gesicht und sag mir, dass das nicht stimmt.“ Natt reckte herausfordernd das Kinn und nagelte ihn mit seinem Blick fest. Sephiroth wusste nicht, was er sagen sollte. Natt war ganz offensichtlich unglücklich und Sephiroth wollte das ändern; doch wie sollte er seinen Mann anlügen? Natt schien zu erraten, was in ihm vorging und was sein Schweigen bedeutete. Schwer getroffen wandte er erst den Blick ab, in dem Sephiroth Tränen zu erkennen meinte, dann entfernte er sich und verließ schließlich die Wohnung. Sephiroth sah ihm hinterher und wusste nicht, was von dem, das er gesagt und getan hatte, richtig und falsch gewesen war. Ihre erste Auseinandersetzung, das lernte Sephiroth bald, war noch zahm gewesen; immerhin waren kaum böse Worte gefallen und Ton und Lautstärke waren recht zivilisiert geblieben. Da nun aber einmal sozusagen das Eis gebrochen war, war Natt in den folgenden Monaten schnell dabei, an allem ihm die Schuld zu geben und das auch lautstark zu bekunden. Hatte Sephiroth bisher die Abende und Wochenenden mit Natt als Ruhepol empfunden und zum Energieaufladen genutzt, wenn er ausgelaugt von der Arbeit kam, so war diese Zeit nun ebenso kraftraubend wie sein eigentlicher Job. Er ertrug es, sich von seinem Mann beschimpfen zu lassen, da er das Gefühl hatte, dass alles seine eigene Schuld war; wäre er von Anfang an ehrlich zu ihm gewesen, wären sie nun nicht in dieser Situation. Er schlief unglaublich schlecht. So müde, wie er war, hätte er im Grunde einen ganzen Tag durchschlafen können, aber anscheinend wollte ihm sein Körper keinen angenehmen Schlaf gönnen; ständig wachte er nachts auf und blieb Stunde um Stunde mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrend liegen, bis er es zumindest kurz vor dem Weckerklingeln schaffte, ein wenig zu dösen. Häufig wünschte er sich, dass sich sein Leben, wie es sich im Moment darstellte, nur als ein schlechter Traum herausstellte, aus dem er eines Nachts aufwachte, weil Natt, liebevoll, niedlich, sanft, ihm mit einem seiner bezauberndsten Lächeln eine Tasse Tee ans Bett brachte und ihn nach einem herzzerreißenden Abschied gezwungenermaßen zur Arbeit schickte. Aber ein solcher Morgen kam nicht. Natürlich dauerte es nicht lange, bis auch andere etwas merkten. Sephiroth hatte sich in einer Arbeitspause in der Teeküche gerade mit einer Tasse auf einem der Sofas niedergelassen und nur kurz die Augen schließen wollen, nur ein paar Sekunden, als er eine Hand an seiner Schulter spürte. Überrascht von dem gleißenden Licht, das plötzlich zum Fenster hinter ihm hereinfiel, brauchte Sephiroth ein paar Sekunden, um seine Augen öffnen zu können und Cloud vor sich zu erkennen, der ihn, selbst eine Tasse in der Hand, belustigt angrinste. „Na, schon lange hier?“, fragte ihn Cloud unbeschwert. „Nein, nein, gar nicht“, stöhnte Sephiroth und richtete sich mit schmerzendem Rücken auf. Er streckte seine steifen Glieder und setzte sich ordentlich vor seine Tasse Tee, während sich Cloud gegenüber niederließ. Sephiroth nahm seine Tasse zur Hand, nippte am Tee und verzog das Gesicht. „Zu heiß?“, fragte Cloud. „Nein, eiskalt“, erwiderte Sephiroth. Er musste wohl doch länger gedöst haben, als er gedacht hatte. „Ach“, sagte Cloud verständnisvoll, „Tifa und ich haben auch schon die eine oder andere Nacht durchgemacht.“ Er zwinkerte ihm zu. „Ja, so ungefähr ist das bei uns auch“, scherzte Sephiroth mit einem ehrlichen Lachen zurück. Mit einem Blick auf den abgekühlten Tee wurde er jedoch nachdenklich. „Alles ok?“, fragte Cloud. „Ja, ja“, antwortete Sephiroth schnell. Cloud schien das Problem sofort zu riechen. „Seid ihr verstritten?“ „Was, nein“, stritt Sephiroth sofort ab. „Wir streiten nicht.“ „Ah, klar“, machte Cloud nur. „Hör mal, ich hab seit Längerem gar keine Rückmeldung mehr von deinem Mann bekommen, hab ich was falsch gemacht?“ Sephiroth wusste von nichts. „Nein, bestimmt nicht“, sagte er daher, auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, ob das stimmte. „Er hat nur ... Er, ähm ... ist viel beschäftigt.“ „Ach, echt?“, fragte Cloud verwundert. „Womit denn?“ „Na ja ...“, setzte Sephiroth an, ohne seinen Satz zu beenden. Es stimmte. Nun waren schon über zwei Jahre ins Land gegangen und er hatte Cloud noch kein Wort davon gesagt, dass Natt sich verzweifelt Nachwuchs wünschte und alles Menschenmögliche auf sich nahm, um seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen; dass er Sephiroth aus ständiger Enttäuschung mit Streit überhäufte, den der nicht wollte; dass Sephiroth selbst kaum noch wusste, wie er in dieser Ehe zurechtkommen sollte, die nur noch aus Angespanntheit und Vorwürfen zu bestehen schien. Ihre Ehe hatte doch gerade erst begonnen; wo war die Zeit hin, in der sie ein gemeinsames Leben führten? Sephiroths Gedanken kreisten regelmäßig in solchen und ähnlichen Bahnen. Er war müde. Unheimlich müde. Er schaute in die Tasse vor sich und entschied, dass der Tee immer noch gut war. Auf Clouds fragenden Blick sagte er nur: „Kalt macht er auch noch wach.“ Cloud blinzelte ein paarmal überrascht. Er schien zu überlegen. „Ich weiß, du hattest keine Kindheit und alles, aber kennst du diese Murmelspiele, in die man oben eine Murmel reinschiebt und die löst alle möglichen Mechanismen auf ihrem Weg nach unten aus und unten kommt dann eine ganz andere Murmel raus?“ „Ich denke, ich hab schon mal ein Bild gesehen“, gab Sephiroth trocken zurück. „So ungefähr stell ich mir gerade deine Gedanken vor“, sagte Cloud. Sephiroth versuchte sich einen Reim auf Clouds Worte zu machen, doch er hatte schon nach kurzer Zeit vergessen, worüber sie überhaupt gesprochen hatten. Seine Nerven waren wirklich am Ende. Und doch war nichts anders, als er an diesem Wochenende zu Natt in ihre gemeinsame Wohnung zurückkehrte. Er setzte sich an den Küchentisch, während Natt sich einen Kaffee kochte, und hörte sich die Zusammenfassung einer neuerlichen Woche an, die darauf hinauslief, dass es wieder nicht geklappt hatte – und natürlich darauf, dass alles seine Schuld war. Während Sephiroth versuchte, Natts Tiraden zu lauschen, ruhte sein leerer Blick auf dem Tisch. Er entdeckte einen Fleck, der von seiner Müslischüssel herzurühren schien. Das letzte Mal hatte er an diesem Tisch am Montagmorgen Müsli gegessen. Er musste vergessen haben, den Fleck wegzuwischen, bevor er am Montag zur Arbeit aufgebrochen war. Er erinnerte sich sogar dunkel daran. Er konnte den Tisch jetzt abwischen. Aber dazu musste er aufstehen. Er war sich nicht sicher, ob er noch die Kraft dazu hatte. Er sah auf. Natt stand vor ihm. „Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er mit vorwurfsvoll verschränkten Armen. „Ja“, sagte Sephiroth; zumindest bis vor ein paar Sekunden hatte das gestimmt. „Ach, echt?“, fragte Natt zweifelnd. Sein Blick wurde sanfter. „Ja“, bestätigte ihm Sephiroth. In einer plötzlichen Anwandlung streckte er eine Hand nach Natt aus und nahm dessen Finger zärtlich in seine. Natt ließ es geschehen. „Komm, setz dich doch zu mir“, sagte Sephiroth müde, aber mit einem Lächeln. Langsam, zögerlich setzte Natt sich Sephiroth gegenüber an den Tisch. Schweigend musterte er ihn, während Sephiroth seinen Mann liebevoll anlächelte. Dieser stille, geborgene Moment machte so vieles der letzten Monate wett. Sephiroth hatte das Gefühl, das erste Mal seit langer Zeit wieder richtig Luft zu bekommen; das schwere Gewicht, das sonst auf seinen Magen zu drücken pflegte, war verschwunden, behoben von dieser friedlichen Zweisamkeit zwischen ihnen. Sephiroth streichelte noch für ein paar Momente Natts Finger, ehe er seine eigene Hand hob und sanft über Natts immer dunkler werdendes Haar strich. „Du hast eine schöne Haarfarbe“, sagte er zu dem Braun, das sich über der Blondierung zeigte. „Eigentlich könntest du das auch so lassen.“ Natt schaute ihn irritiert bis wütend an. Sephiroth beeilte sich hinzuzufügen: „Das Blond steht dir natürlich auch toll. Ich meinte nur, falls du vielleicht nicht mehr blondieren möchtest, ... das sieht auch gut aus.“ Natts Blick wandelte sich in blanke Empörung. Wutentbrannt sprang er auf und stürmte aus der Küche, ohne seinen Kaffee auch nur angerührt zu haben. Sephiroth seufzte. Da war er wieder, der Druck auf seinem Magen. Er schaute sich in der Küche um, die auf einmal wieder luftleer schien. Sein Blick fiel wieder auf den Tisch. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als den Fleck wegzuwischen. „Also Streit gegen Harmoniebedürfnis“, fasste Sephiroth Genesis‘ Erzählung zusammen, wobei er beide Hände hob und sie wie Teile einer Waage gegeneinander abwog. „Exakt“, bestätigte ihm Genesis. „Bis es dann in öffentlichem Streit eskaliert“, fügte Sephiroth an. „Genau das.“ „Vier ziemlich miserable Jahre“, gab Sephiroth zu bedenken; Genesis stimmte ihm nickend zu. „Dann könnte es ja jetzt auch wieder besser werden, oder?“ Genesis verdrehte murrend die Augen. „Mal schauen, was mir so einfällt.“ Kapitel 18: ... Und andere Probleme III --------------------------------------- Diesmal versuchte Sephiroth es gar nicht erst mit Schlaf. Nachdem er seinen Teil erst von Natt und dann von Rufus hatte einstecken müssen, ohne etwas dazu sagen zu können, hatte er die Feier verlassen, ohne sich bei jemandem zu verabschieden. Er war in seine kleine, dunkle Wohnung zurückgekehrt, wo er allein sein konnte. Ohne Licht einzuschalten, sah er vom Fenster aus in die Dunkelheit Midgars herab und versuchte, an nichts zu denken, nichts zu fühlen, nicht daran zu denken, wie sie an diesen Punkt geraten waren. Stunde um Stunde verging, doch der Himmel blieb dunkel; die Nacht war lang. Tief in seinem Gedankenmorast versunken, fuhr Sephiroth zusammen, als plötzlich das Licht in der Wohnung anging; er wirbelte alarmiert herum, das Herz schlug ihm bis zum Hals – doch es war nur Natt. Er war frisch bis zur Haarwurzel erblondet und er sah schuldbewusst drein. Sephiroth war überrascht, dass Natt ihn aufsuchte. Er sah seinen Mann fragend an. Der sagte nach ein paar Momenten der Stille: „Können wir reden?“ Sephiroth wies mit der Hand auf den Tisch zwischen ihnen. Sie setzten sich nebeneinander. Sephiroth wartete. Natt biss sich auf die Lippe und seufzte. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, fing er an. Sephiroth wunderte das. Er hatte doch vorgeschlagen zu reden. Zögerlich fuhr Natt fort: „Es ist nur ... Ich kann überhaupt nicht glauben, dass ich das vorhin war. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“ „Es ist ok“, erwiderte Sephiroth reflexartig. Er hatte schon längst sein Mantra entwickelt, um mit Natts Wut umzugehen. „Sag das nicht immer“, widersprach ihm Natt; es war eine Bitte. „Es ist nicht ok. Gerade ich sollte ausgerechnet zu dir nicht so sein.“ Sephiroth schaute seinen Mann ausdruckslos an. „Das läuft jetzt seit zwei Jahren so.“ „Ja, ich weiß“, sagte Natt; seine Stimme brach und er vergrub das Gesicht in den Händen. Sephiroth sah ihm zu, tat aber nichts. Er konnte nicht mehr. Es dauerte, bis Natt die Hände wieder vom Gesicht nahm und Sephiroth mit einem verzweifelten Blick fixierte. „Kann ich mich irgendwie bei dir entschuldigen?“ Es entstand eine Stille, in der Sephiroth auf den Tisch zwischen ihnen starrte. Er wusste keine Antwort. Ihm fielen fast die Augen zu. „Sag doch bitte was“, sagte Natt und holte ihn aus seinen Gedanken. Sephiroth sah Natt in die großen braunen Augen, in denen Schuld und Tränen glitzerten; einen solchen Blick hatten sie schon lange nicht mehr geteilt. Natts Gesicht war fahl; Sephiroth mochte es sich einbilden, doch es kam ihm vor, als würden sich bereits die ersten Falten abzeichnen; doch die Lippen erinnerten ihn doch an etwas ... und diese Augen ... sie waren es gewesen, was er vor fünf Jahren zuerst an Natt bemerkt, was ihn zuerst an ihm gefesselt hatte. Wenn er sich seinen Mann anschaute, konnte er nicht anders, als zu lächeln. „Ich liebe dich“ war alles, was ihm zu sagen einfiel. Natts Augen weiteten sich vor Überraschung. „Nach allem“, sagte er mit erneut brüchiger Stimme, „nach allem, was ... passiert ist, ... sagst du ... das?“ In dankbarer Ungläubigkeit traten ihm Tränen in die großen Augen. „Wenn es nun mal die Wahrheit ist“, sagte Sephiroth schulterzuckend. Natt lächelte ihn in endloser Liebe an, während ihm stille Tränen des Glücks die Wangen herabliefen. Auch Sephiroth war gerührt. Er nahm Natts Hand sanft in seine und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Finger. In der gelösten Stimmung ihrer Versöhnung spürte er die bleierne Müdigkeit auf seiner Brust zurückkehren. „Und wie wär’s, wenn du mich jetzt schlafen gehen lässt? Am besten nehm ich mir morgen frei und dann ... schauen wir weiter ...“ Natt nickte in seinem stummen Glück. Selig lächelnd ließ sich Sephiroth von seinem Mann zu Bett bringen und innerhalb kürzester Zeit war er, Natt fest im Arm haltend, in einen friedlichen Schlummer hinübergeglitten. Als Sephiroth aufwachte und nach draußen schaute, war die Sonne schon deutlich in Richtung Westen unterwegs. Verwundert stand er auf und verließ das Schlafzimmer; am Küchentisch saß, noch nicht ganz angezogen, Natt mit einer Tasse Kaffee. Er schmunzelte ihn an. „Das waren jetzt locker über zwölf Stunden“, sagte er. Sephiroth fuhr sich durchs Haar. „Das werd ich dann wohl auch gebraucht haben“, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. „Und du wirst es nicht glauben, ich fühl mich immer noch wie gerädert.“ „Ich mach dir ‘nen Tee?“, fragte Natt. „Und ich geh ins Bad“, sagte Sephiroth mit einem Nicken. Als er später vor einer dampfenden Tasse Tee und einer großen Schüssel Müsli saß, wurde Natt plötzlich wieder ernst. „Ich bin froh, dass du wieder mit mir redest“, sagte er. „Was, ich mit dir?“, fragte Sephiroth und nahm den Löffel zur Hand. „Ich bin froh, dass du wieder mit mir redest – ohne mich gleich anzumaulen.“ Natt blickte schuldbewusst drein. „Das mit gestern tut mir leid.“ „Ist ok“, beschwichtigte ihn Sephiroth. „Ich sag doch, du sollst das nicht sagen“, widersprach ihm Natt, der offenbar nicht aus seiner Schuld entlassen werden wollte. „Ich hoffe, das hatte keine Konsequenzen.“ Sephiroth seufzte. „Nach dir hat mich auch noch Rufus zusammengefaltet.“ „Oh.“ Natt sah aus, als ob es ihm wirklich arg leidtun würde. Er runzelte die Stirn. „Mir ist klar, ich hätte mich von Anfang an nicht so verhalten sollen, aber vielleicht brauchte es diesen Tiefpunkt gestern, damit es ... aufhört ... Es tut mir wirklich leid.“ „Schatz, wenn du nicht willst, dass ich sage, dass es ok ist, solltest du vielleicht aufhören zu sagen, wie leid es dir tut. Wir sind verheiratet, du musst dich doch bei mir nicht entschuldigen.“ Er nahm einen Schluck Tee und musterte Natt über den Rand der Tasse. „Aber es kann ja wohl auch nicht einfach so alles wieder gut sein“, warf Natt ein. Sephiroth seufzte und setzte die Tasse auf dem Tisch ab; er fuhr mit dem Finger über den Rand, während er überlegte, was er sagen sollte. „Was ich mir wünschen würde“, setzte er langsam an, nachdenklich, „wäre, dass wir das zusammen durchstehen. Nicht du leidest und ich bin schuld daran – wir leiden beide. Wir sitzen beide im selben Boot und keiner ist schuld daran, aber wir müssen zusammenhalten. Das ist alles. Wir haben uns dazu entschieden, und zwar zusammen, und jetzt ziehen wir das auch durch, zusammen.“ „Ich bin froh, dass du das sagst“, sagte Natt und Sephiroth ahnte, dass mehr dahintersteckte. „Ach ja?“, fragte er daher. „Ja, ich hab heute Morgen Neuigkeiten bekommen“, sagte Natt lächelnd. „Es gibt ein Schlupfloch.“ Sephiroth schnaubte. „Wie es schon Hunderte Schlupflöcher gab.“ „Ich vertraue meinem Informanten“, protestierte Natt. „Dir würde ich auch sofort vertrauen, aber irgendeinem ‚Informanten‘, der irgendwo irgendwas gehört hat ...“ „Mein Informant“, sagte Natt und verschränkte selbstsicher die Arme, „ist sehr zuverlässig, weil er selbst Erfahrung hat.“ Damit hatte Sephiroth nun nicht gerechnet. „Ach ja?“, fragte er. „Was soll das also für ein Schlupfloch sein?“ „Na ja, es geht im Grunde um so eine Art Notfallpflege.“ „Was soll das sein?“ Sephiroth verstand eher Bahnhof. „Ich weiß nicht, ob das ein Fachbegriff ist, aber es gibt Kinder, die in ihren Familien als akut gefährdet eingestuft werden, und die werden schnellst möglich aus dem Umfeld entfernt und dann in Notfallpflege gegeben, normalerweise nur für Wochen oder mal Monate, bis eine dauerhafte Pflegefamilie gefunden ist. Aber wenn man ein Kind im Notfall zur temporären Pflege übernommen hat, kann man es auch zur dauerhaften Pflege dabehalten und wenn es erst mal so weit ist, kann man es auch relativ leicht adoptieren.“ „Und was hat das mit uns zu tun?“, fragte Sephiroth, dem noch nicht ganz klar war, worauf Natt hinauswollte. „Na ja, die Richtlinien, was Kinder in Pflege angeht, sind ganz andere als die zur Adoption – das heißt, auch wir sind berechtigt, ein Kind in Pflege zu nehmen.“ „Was, wirklich?“, fragte Sephiroth erstaunt. „Ja“, bestätigte ihm Natt. „Siehst du, das hast du auch nicht gewusst. Und der Punkt, um den es am Ende geht, ist, ein Kind von Eltern, die es normalerweise zur Adoption freigeben würden, offiziell als Notfall als Pflegekind zu übernehmen. Dafür braucht man natürlich auch die richtigen Behörden, die mitspielen, und mein Informant hat mir Adressen von Behörden geschickt, die da eher kooperativ sind.“ „Ich mag deinen Informanten“, sagte Sephiroth anerkennend. „So was ist wirklich möglich?“, fragte Sephiroth Genesis. „Ja, das ist das bekannteste Schlupfloch, das zurzeit existiert“, bestätigte ihm Genesis. „Es gibt einen inoffiziellen Deal zwischen den biologischen und den künftigen Adoptiveltern, die Behörden bescheinigen offiziell einen Notfall, das Kind geht in temporäre Pflege über, dann in dauerhafte und zum Schluss können viele Paare ihr Kind adoptieren.“ „Ich hab noch nie davon gehört“, sagte Sephiroth erstaunt. „Tja, Seph“, sagte Genesis, wie so häufig in einem überlegenen Tonfall, „seit wann interessierst du dich auch für Adoption?“ „Ähm“, machte Sephiroth ratlos. „Schon gut“, beschwichtigte ihn Genesis und tätschelte ihm die Hand. „Trink du mal deinen Wein.“ Sephiroth verzog das Gesicht. „Vielleicht ist es besser, wenn nicht. Ich glaube, ein bisschen Brot ist noch übrig ...“ „Fehlen nur noch Eltern, die ihr Kind auf diese Weise in Pflege geben wollen“, gab Sephiroth zu bedenken, „die sind bestimmt nicht so einfach zu finden.“ „Ach, da bin ich mir nicht sicher“, winkte Natt ab. „Wenn man die richtigen Leute fragt, findet sich alles an.“ „Du bist ziemlich zuversichtlich“, staunte Sephiroth. „Na ja, findest du das nicht auch einen ziemlichen Zufall?“, fragte Natt. „Wir vertragen uns, die Nachricht trifft ein. Vielleicht soll es jetzt endlich funktionieren.“ „Schatz“, sagte Sephiroth seufzend und legte seine Hand auf Natts, „bitte mach dir nicht schon wieder so große Hoffnungen. Ich kann es nicht ertragen, wenn sie schon wieder enttäuscht werden.“ Trotzdem bemühte Natt sich umgehend um Termine bei den ihm genannten Behörden, während Sephiroth sich bis zum Anfang des folgenden Jahres freinahm. Er begleitete Natt zu mehreren Beratungen, in denen ihnen im Grunde das Gleiche erzählt wurde, was auch schon Natt ihm gesagt hatte; daraufhin wurden sie vertröstet, man werde sie im Hinterkopf behalten, wenn sich etwas ergeben würde. Sie waren bereits bei ihrem sechsten Termin und der Umgang mit Natt war wieder deutlich schwieriger geworden, als sie zum ersten Mal eine interessante Information erhielten. „Wir hätten da tatsächlich ein junges Mädchen“, sagte die Sachbearbeiterin. „Sie hat sich gerade gestern gemeldet.“ „Ein Mädchen? Armes Ding“, sagte Natt mitfühlend. „Ja, sie ist gerade erst 16 und recht verzweifelt, aber auch ziemlich stur, von dem, was ich mitbekommen habe. Vielleicht könnte ich mit ihrem Einverständnis ein privates Treffen für Sie vereinbaren, aber Sie werden sicher verstehen, dass ich das Mädchen zuerst fragen muss. Wären Sie bereit, Kontaktdaten zu hinterlassen?“ Und plötzlich ging alles ziemlich schnell. Es war der Vater des Mädchens, der sich bei ihnen meldete, um ein Treffen zu vereinbaren, das bei Natt und Sephiroth stattfinden sollte; das Mädchen, Juno, und ihr Vater erschienen und Natt, so aufgeregt er gewesen sein mochte, entwickelte sofort einen Draht zur ziemlich taffen Juno. Während Natt ihr erklärte, dass sie es seit über vier Jahren erfolglos versuchten, machte Juno es sich auf ihrem Sofa gemütlich, als wäre sie bei sich zu Hause. Die Schwangerschaft sah man ihr noch nicht an, aber Sephiroth spürte, dass sie versuchte, erwachsen zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Das Mädchen war ihm sympathisch und Sephiroth bot ihr alles Mögliche an, um ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. „Du bist schlimmer als meine Mutter“, sagte sie irgendwann gelöst lachend. Auch Natt gluckste. „Beste Voraussetzungen, oder?“ Sephiroth verabschiedete sich in die Küche, um mehr Tee zu kochen. Er hatte das Gefühl, das Treffen verlief gut. Natt und Juno verstanden sich gut, Junos Vater wirkte auch ganz zufrieden. Man hatte sich aber darauf geeinigt, dass nicht alles sofort entschieden werden müsse. Beim Abschied wirkte Juno aber ganz positiv. „Ich denke, ihr seid ganz cool“, sagte sie anerkennend nickend. „Von mir aus steht nichts im Weg, ich will einfach dieses Ding in meinem Bauch loswerden.“ „Schön, wie liebevoll du von deinem Kind sprichst“, scherzte Natt. Juno warf ihrem Vater einen Blick zu. „Wenn alles glatt läuft, ist es euer Kind.“ Sephiroth spürte, wie Natt neben ihm erstarrte. Er legte ihm einen Arm um die Taille und sagte zu Juno: „Das musst du alles noch nicht heute festlegen. Schlaf noch mal drüber, aber wenn du dich entschieden hast, sind wir hier.“ „Jo, dann“, sagte Juno, „bis spätestens zur Geburt, denk ich.“ Sie und ihr Vater wandten sich zum Gehen und Sephiroth schloss leise die Tür hinter ihnen. Er wandte sich Natt zu. „Hast du das gehört?“, hauchte der. „‚Unser Kind‘?“ Sephiroth nahm Natt sanft in den Arm. „Ja, hab ich. Zum ersten Mal.“ Natt standen Tränen in den Augen. „Ich wünsche mir so sehr, dass es klappt.“ „Ich mir komischerweise auch“, gab Sephiroth zu. „Hätte ich nicht gedacht.“ Natt boxte ihm liebevoll gegen die Brust. Es vergingen ein paar Wochen, in denen sich Natt noch ein paarmal mit Juno traf, bevor endgültig feststand, dass sie Junos Kind, sollte es einmal auf der Welt sein, in mehreren Schritten adoptieren würden. Natt überraschte Sephiroth mit der Nachricht, als er erneut eines Freitags nach Hause kam und endlich gingen sie wieder dazu über, etwas nach ihrer Art zu feiern. Als Sephiroth aus seinem dösigen Zustand erwachte, lag Natts Kopf ruhend auf seiner Brust und seine Finger spielten mit Sephiroths Haar. „Darf ich dann jetzt eigentlich endlich meinen Leuten was davon erzählen, dass wir adoptieren?“, fragte er. „Noch hat sie das Kind nicht bekommen“, sagte Natt streng. „Und noch befindet es sich auch nicht in unserer Obhut.“ „Also nein?“ Natt nickte ihm bestätigend zu. „Seit über vier Jahren belüge ich Freunde und Kollegen, du weißt, du verlangst viel von mir.“ Natt richtete sich auf und schaute ihn direkt an. „Wenn alles klappt, sind es noch ein paar Monate, gedulde dich.“ „Also geh ich einfach eines Tages zur Arbeit und erzähle: ‚Ach, übrigens, mein Mann und ich, wir haben jetzt ein Kind.‘ Oder was?“ „Ja, exakt“, sagte Natt. „Das hast du sehr gut verstanden.“ Natürlich kam Cloud trotzdem nicht umhin, etwas zu merken. „Du bist ja wieder so gut gelaunt“, stellte er eines Tages in der Teeküche fest. „Was ist los?“ „Ja, wir verstehen uns zu Hause endlich wieder gut“, gab Sephiroth zu, „aber ich darf dazu nichts weiter sagen.“ Cloud machte große Augen. „Wovon nichts sagen?“ „Cloud, das ist gerade der Sinn daran, dass ich nichts sage“, erinnerte ihn Sephiroth etwas genervt. „Ich dachte, wir sind beste Freunde!“, entrüstete sich Cloud. „Schon, aber ich komm aus einer sehr stressigen Zeit. Ich will’s mir nicht schon wieder verscherzen, es läuft so gut.“ „Dafür“, sagte Cloud mit allem Ernst, den er aufbringen konnte, „wirst du in der Hölle schmoren, das weißt du.“ „Ich glaube, ich schmore schon für meinen ganzen Lebensstil in der Hölle.“ Als Sephiroth an diesem Freitag recht spät nach Hause kam, fand er Natt bereits mit einem Glas Wein auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend vor; er wirkte etwas verstimmt. „Juno hat Ultraschallbilder geschickt“, sagte Natt auf Nachfrage, was nicht stimme. „Aber das macht dich doch nicht niedergeschlagen.“ „Nein, das natürlich nicht“, räumte Natt ein. „Es ist ein Mädchen und Juno will sie Léa nennen, wenn wir einverstanden sind.“ „Léa“, wiederholte Sephiroth. „Ist doch ein ganz netter Name, oder nicht?“ „Ja ...“, sagte Natt langsam. „Ich hab nur Angst, dass sie doch eine Bindung zu dem Kind aufbaut und es am Ende behalten will.“ „Dann ist das so“, sagte Sephiroth, „du kannst rechtmäßigen Eltern nicht das Kind wegnehmen.“ „Nein, natürlich nicht“, stimmte Natt zu. Es entstand eine Pause, in der Natt an seinem Wein nippte und Sephiroth musterte. „Wie kannst du da nur so ruhig bleiben?“, fragte er. „Das macht das Alter“, sagte Sephiroth leichthin. „Hör mal, und wenn sie doch eine Bindung zu ihrer Tochter aufbaut und sie behält, dann ist das ok, dann stehen wir immer noch ohne Kind da, ja, aber dann kennst du zumindest einen recht zuverlässigen Weg, ok?“ Sephiroth sah Natt an, dass er unter der Ungewissheit litt. „Wir sind so nah dran.“ „Richtig, das sind wir. Es sind noch ein paar Monate, also gedulde dich.“ Léa kam etwas später als erwartet im August. Junos Vater sagte ihnen Bescheid, als es nach beinahe einem Tag Wehen bei Juno fast so weit war. Nachdem Juno Léa tatsächlich gesund und munter zur Welt gebracht hatte und auf ein Zimmer gebracht worden war, warteten Natt und Sephiroth, mit ihr sprechen zu können; offiziell hatten sie noch kein Recht auf Léa. Sephiroth spürte Natts Anspannung, als sie auf Junos Zimmer gelassen wurden; jetzt entschied sich, ob sein Plan aufgehen würde oder nicht. Juno sah furchtbar mitgenommen aus; ihr verschwitztes Haar war noch nicht ganz getrocknet und sie war immer noch von der Anstrengung gezeichnet. Und doch schenkte sie ihnen ein schwaches Lächeln, als sie zu ihr kamen. „Wie geht’s dir, Juno?“, fragte Natt mit einem mitfühlenden Lächeln. Juno stöhnte zur Antwort. „Ich will nie wieder ein Kind bekommen“, sagte sie dann noch. Sie nahm Natts Hand. „Ich glaube, sie haben sie zu den andern Babys gebracht.“ „Heißt das“, fragte Natt und Angst und Freude schwangen in jeder Silbe mit, „der Deal steht noch?“ Juno wirkte überrascht. „Ja, klar. Die Frau vom Jugendamt hat gesagt, wir machen das mit der Geburtsurkunde zusammen.“ Natt war erstarrt vor all den Emotionen, die auf ihn einstürmten. Alles, was er herausbrachte, war ein ehrliches: „Danke, Juno.“ „Ich danke euch“, sagte Juno, immer noch verwundert. Sephiroth legte seinem Mann eine Hand auf die Schulter. „Komm, wir gehen sie mal suchen; du weißt doch bestimmt schon ganz genau, wo die Neugeborenenstation ist.“ Er zwinkerte Juno zu und gemeinsame mit Natt verließ er das Zimmer. Sie wechselten die Etage und betraten den Gang der Station, die sie anpeilten. Ein paar Schritte den Gang entlang fanden sie das Zimmer mit den Neugeborenen. Sephiroth warf einen Blick durch die Glasscheibe und entdeckte seine Léa fast sofort; sie war noch ganz verschrumpelt und rot und er hätte selbst ein ganz neugeborenes Kind nie für so klein gehalten, aber sie war wirklich winzig. Eine Schwester sprach sie an; sie wusste offenbar Bescheid und ließ sie zu ihrer Tochter durch. Sephiroth sah Natt an, wie vollkommen und endgültig überwältigt er war, als er ihre Tochter nach beinahe fünf Jahren zum ersten Mal auf den Arm nehmen konnte. Er sprühte förmlich über vor Liebe und hielt Léa ganz nah an sich. Und auch Sephiroth konnte es kaum fassen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, jemals auf ein Wesen zu treffen, bei dem er in Sekundenbruchteilen spürte, dass er bereitwillig einen Arm hergeben würde – ach was, beide Arme, wenn es nur für sie war. Für Léa. Seine Tochter. „Du warst gestern übrigens sehr plötzlich weg“, bemerkte Lazard am nächsten Tag beim Mittagessen in der Kantine. „Ich konnte dich überhaupt nicht mehr erreichen.“ „Oh ja, das – ähm ...“ Gerade, als Sephiroth endlich loswerden wollte, was ihn seit Jahren beschäftigte, überkam ihn beim bloßen Gedanken an seine kleine Tochter ein unbändiges Grinsen über beide Ohren, das ihn unfähig machte zu sprechen. „Was hast du genommen und ist noch was für mich übrig?“, fragte Rufus auf sein Glucksen hin. „Nein, ist es nicht“, sagte Sephiroth, immer noch grinsend, indem er sich stark zusammenriss. „Es ist nur so ...“ „Erfahren wir jetzt endlich, was du niemandem erzählen durftest?“, half ihm Cloud auf die Sprünge. Sephiroth nickte. „Schieß los.“ „Also ... Seit heute Morgen ist es offiziell ... Wir sind Eltern geworden.“ Cloud stand der Mund offen. „Was, du?!“ Rufus schien sich zur Abwechslung mal aufrichtig zu freuen. „Wow, Seph, Glückwunsch!“ „Das ist großartig“, sagte auch Lazard. „Warte kurz“, warf Rufus dann aber doch ein, „wie habt ihr das gemacht? Ist das legal? Ich beschäftige keine Kriminellen in so hohen Positionen.“ „Wovon redest du?“, fragte Sephiroth ratlos. „Ist ja auch egal“, unterbrach ihn Lazard. „Wie alt ist denn das Kind?“ „Oh“, sagte Sephiroth, „keine 24 Stunden.“ „Ach, deshalb seid ihr umgezogen“, schloss Cloud. „Ihr macht das also über Pflege und dann Adoption?“, fragte er interessiert. „Du wusstest von dieser Möglichkeit?“, fragte Sephiroth völlig entgeistert. „Klar“, sagte Cloud nur. „Ich hab Kinder, die Kinder haben Freunde – und diese Freunde haben Eltern. Na ja, oder eben auch nicht ...“ „Cloud, tu mir und vor allem dir, wenn dir dein Leben lieb ist, einen Gefallen“, sagte Sephiroth, „und sag Natt niemals, dass du von dieser Option wusstest und es ihm nie erzählt hast.“ Kapitel 19: Wiedervereint I --------------------------- Sephiroth blinzelte gegen die Sonne und hielt Léa fest an der Hand, als sie die Flughafenhalle verließen; mit der anderen Hand zog er einen Koffer, während an seiner Schulter noch eine Tasche hing. Er musste den Platz vor dem Flughafen nicht lange absuchen, um Genesis mit seinen roten Haaren und seiner langen, schwarzen Kleidung zu entdecken. Er lächelte, nahm Léa zu sich auf den Arm und steuerte Genesis direkt an. „Ist er das?“, quiekte Léa und zeigte mit ihrer kleinen Hand auf Genesis, den sie vorher noch nie gesehen hatte. „Ja, Schatz“, sagte Sephiroth geduldig, „aber man zeigt nicht auf Leute.“ Etwas stutzig ließ Léa die Hand sinken. „Willkommen in Porto“, sagte Genesis unbestimmt lächelnd, als sie zu ihm aufgeschlossen hatten. Er streckte Léa eine Hand hin und sie legte ihre in seine; belustigt beobachtete Sephiroth seine Tochter beim völlig ratlosen Händeschütteln. „Du musst Léa sein“, sagte Genesis freundlich zu ihr. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ Völlig perplex zog Léa ihre Hand zurück und umschlang Sephiroths Hals; er hatte so etwas befürchtet und sie deshalb auf den Arm genommen. „Alles ist gut, Spatz, niemand tut dir was“, sagte er. „Das ist Genesis, wir –“ Für einen Moment sprachlos schaute er Genesis an. Wie sollte er seiner fünfjährigen Tochter ihr Verhältnis zueinander erklären? „ – wir kennen uns von ganz, ganz früher.“ Genesis gluckste amüsiert. „Mit Kindern in dem Alter hab ich die Erfahrung, dass sie Schwierigkeiten mit meinem Namen haben“, sagte er und richtete seinen Blick auf Léa. „‚Onkel‘ reicht auch.“ „Mir würden in dem Fall noch ganz andere Namen einfallen“, sagte Sephiroth und entließ Léa von seinem Arm auf ihre eigenen zwei Beine. „Das“, sagte Genesis, „ist ganz tiefe Vergangenheit. Komm, der Wagen steht da drüben.“ Gemeinsam überquerten sie den Parkplatz, Léa sicher an Sephiroths Hand, und gingen auf ein silbernes Auto zu, dessen Kofferraum Genesis öffnete, um Sephiroths Gepäck zu verstauen, während der Léa auf dem Rücksitz platzierte und darauf achtete, dass der Sicherheitsgurt richtig saß. „Alles gut, Maus?“, fragte er sie. Léa, ganz aufgeregt, strahlte. „Wie lange fahren wir?“, fragte er an Genesis gewandt. „Kommt auf den Verkehr an“, sagte er und schloss den Kofferraum, „aber sicher unter einer halben Stunde.“ „Hörst du?“, fragte Sephiroth Léa, die Autofahrten nicht sonderlich mochte. „Wir sind bald da. Du kannst ja aus dem Fenster gucken, vielleicht entdeckst du irgendwelche Tiere.“ Mit einem ermunternden Lächeln für seine Tochter und einem letzten Kuss auf die Stirn schloss er die Autotür. Genesis kam um das Heck des Wagens herum auf ihn zu, während Sephiroth sich aufrichtete. „Seph, ich weiß, es ist nicht der schönste Anlass“, sagte Genesis mit einem mitfühlenden Unterton, „aber ich bin froh, dass ihr hier seid.“ Sephiroth schenkte Genesis ein trauriges Lächeln. „Ich bin froh, dass wir hier sein können“, entgegnete er dankbar. Die Fahrt war ganz angenehm; sie führte vorbei an Wiesen und Feldern, Léa war ganz aufgeregt, als sie ein paar Kuhherden entdeckte, und als sie sich der Stadt näherten, wusste er, dass ihre Ankunft nur noch eine Sachen von Minuten war. Genesis fuhr den Wagen auf ein hübsches kleines Grundstück mit einem mehrstöckigen Haus darauf; es hatte einen südlichen Charme und verfügte über Fensterläden sowie eine Sonnenterrasse im ersten Stock. „Nett, so für zwei Leute“, kommentierte Sephiroth. „Drinnen ist es recht eng“, antwortete Genesis, „da sind drei Stockwerke ganz praktisch.“ Sie stiegen aus und Sephiroth nahm Léa wieder sicher an seine Hand; Genesis war so freundlich, sein Gepäck für ihn nach drinnen zu bringen. Als er den Kofferraum wieder geschlossen hatte, schien ihm etwas einzufallen. „Wie steht’s eigentlich mit Hunden?“ „Ihr habt einen Hund?“, fragte Sephiroth mit einem drohenden Ton in der Stimme. „Schlimm?“, fragte Genesis. „Du hättest schon einen Ton sagen können – wenn sie jetzt panische Angst vor Hunden gehabt hätte?“ „Hat sie also nicht?“, fragte Genesis. „Darum geht’s hier nicht“, sagte Sephiroth. „Aber Papa“, unterbrach sie Léa, „ich mag Hunde doch gerne.“ Sephiroth sah Genesis immer noch etwas wütend an. „Dein Glück.“ „Der Hund bleibt eh draußen“, erklärte ihm Genesis. „Und scheint sowieso grad auf Spaziergang zu sein, sonst wär er schon längst angerannt.“ Innen war das Haus tatsächlich kleiner, als es von außen wirkte; als erstes kam links vom Flur eine Küche ab, geradezu war das Wohnzimmer und rechts führte bereits eine Treppe nach oben. Während sich Sephiroth ein wenig im Erdgeschoss umschaute, hielt sich Léa nah an ihn. Er streichelte ihr liebevoll über den blonden Haarschopf. „Soll ich euch zeigen, wo ihr untergebracht seid?“, fragte Genesis hinter ihnen. „Na, Spatz, was sagst du?“, fragte Sephiroth an Léa weiter, die nur verschüchtert große Augen machte und sich hinter ihm zu verstecken suchte. Amüsiert sagte Sephiroth zu Genesis: „Ja, gerne.“ Sie erklommen die Treppe in den ersten Stock, wo Genesis ihnen ein helles Südzimmer mit Doppelbett zeigte, dessen Fensterläden nach außen geöffnet waren. „Es war diese Woche nicht mehr so warm, da mussten wir die Fensterläden tagsüber nicht schließen“, erklärte Genesis, während er Koffer und Tasche abstellte. Er wandte sich direkt an Sephiroth. „Ich kann euch kurz allein lassen und ihr kommt dann einfach runter, wenn ihr so weit seid“, schlug er vor. Sephiroth nickte. Genesis verließ den Raum und ging nach unten; Sephiroth platzierte Léa auf dem Bett und hockte sich vor sie. „Alles ok?“, fragte er sie. „Brauchst du was?“ Léa schüttelte den Kopf. „Hast du Hunger?“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Durst?“ Léa verneinte. „Besser, wir trinken gleich trotzdem noch mal was. Oder ist dir kalt?“ Auch darauf war die Antwort Nein. „Wenn du irgendwas brauchst, kannst du mir das sofort sagen“, versicherte Sephiroth seiner Tochter. „Du kannst mir alles sagen, wenn was ist.“ „Papa?“ „Ja?“ „Kommt Papa gar nicht?“ Sie meinte ihren anderen Papa. „Nein, Spatz“, sagte Sephiroth. „Er bleibt in Midgar.“ „Und wann gehen wir wieder zurück zu Papa?“ Sephiroth seufzte. Am liebsten würde er nie zurückkehren. „Wir bleiben erst mal eine Woche, vielleicht zwei. Wir werden sehen.“ Er hörte unten die Haustür aufgehen. „Komm, lass uns runtergehen, dann stell ich dich Ramon vor und vielleicht kannst du mit dem Hund spielen, wenn du brav bist.“ Und vor allem, wenn der Hund brav ist, fügte Sephiroth in Gedanken hinzu, doch er wollte Léa nicht jetzt schon Angst einjagen. Gemeinsam stiegen sie die Treppe herab. Ramon war vom Spaziergang mit dem Hund zurückgekehrt und dabei, seinen Mann zu begrüßen. Genesis bemerkte sie beide und gab Ramon ein Zeichen; der drehte sich freudestrahlend um. Er war deutlich gealtert; das Haar war kürzer und an den Schläfen grau und auf dem Gesicht zeichneten sich die Falten ab, die sich bei ihm selbst und Genesis einfach nicht einstellen wollten. „Seph, wie schön, dich schon wieder zu sehen“, sagte er. Ihr letztes Treffen auf der letzten Shin-Ra-Feier war gerade zehn Monate her. Er richtete seinen Blick weiter nach unten auf Léa. „Und die gute Léa, schön dich kennenzulernen.“ Sephiroth scheuchte Léa mit ein wenig sanfter Gewalt auf Ramon zu, um ihn zu begrüßen. „Sie spricht noch nicht so gut Englisch“, informierte er Ramon. „Macht nichts“, sagte der unbekümmert, „dann bring ich ihr Portugiesisch bei.“ Daraufhin musste Sephiroth, wenn auch bisher etwas niedergeschlagen, ernsthaft lachen. „Viel Spaß dabei, du hast aber nicht lange Zeit.“ „Wie wär’s, Léa“, schaltete sich Genesis ein, „wenn ich dich unserem Hund vorstelle? Bestimmt hat er Lust, mit dir zu spielen.“ Sephiroth warf Genesis einen stummen Blick zu, der „Pass bloß auf“ sagte. Genesis antwortete ebenso mit einem Blick. „Wofür hältst du mich?“, fragte er. Mit der Aussicht, mit einem süßen Hund spielen zu dürfen, war Léa plötzlich gar nicht mehr so schüchtern. Freudig ging sie mit Genesis nach draußen, sodass Sephiroth und Ramon nun allein waren. Um gar nicht erst eine peinliche Stille aufkommen zu lassen, sprach Sephiroth das erste an, was ihm einfiel: „Also, Professor, ja?“ „Oh ja“, grinste Ramon, wodurch er sofort zehn Jahre jünger wirkte, „Montag beginnt meine erste richtige Woche, ich bin – was soll ich sagen, ich freu mich einfach so sehr. Endlich da, wo ich seit ... ungefähr fünfundzwanzig Jahren hin wollte.“ „Wow“, sagte Sephiroth, „Glückwunsch jedenfalls.“ Ramon schien etwas durch den Kopf zu gehen; es dauerte ein paar Sekunden, bis er es ansprach. „Hör mal, ich hatte damals eine Beziehung, die unter meinem aufkommenden Ehrgeiz wirklich gelitten hat und langsam in die Brüche ging, bis er irgendwann gesagt hat, dass er das nicht mehr aushält, dass ich für die Forschung lebe, und damals kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass ich vielleicht ... weißt du ... alleine bleibe.“ Sephiroth hatte eine Idee, wo Ramon mit seiner Geschichte hin wollte. „Als auch die nächste Beziehung nach kurzer Zeit an derselben Sache scheiterte, hab ich einfach akzeptiert, dass es niemanden für mich gibt. Und was soll ich sagen – hier bin ich nun, über fünfzehn Jahre verheiratet und ich hab mein Karriereziel erreicht. ... Es mag etwas früh sein, dir das zu sagen, aber was ich damit ausdrücken wollte, ist – dass man keine Kompromisse machen muss.“ Sephiroth nickte und versuchte dabei so auszusehen, als würde er verstehen, was Ramon meinte. Was er gesagt hatte, schien nicht annähernd auf seine, Sephiroths, Situation zu passen. Ramon lächelte ihn mitfühlend an, doch Sephiroth fühlte sich nicht verstanden. Sie gingen nach draußen, um zu sehen, wie Léa mit dem Hund zurechtkam. Sephiroth war erleichtert zu sehen, dass es sich zumindest um keinen riesigen Hund handelte, wenn auch trotzdem um einen recht großen; aber er schien gut erzogen zu sein, bellte, knurrte und schnappte nicht und wirkte auch sonst ganz umgänglich. Sephiroth ließ sich auf den Stufen an der Terrassentür nieder. „Traust du mir nicht?“, fragte Genesis, als er ihn dort hocken sah. „Ich traue niemandem genug, wenn es um meine Tochter geht“, sagte Sephiroth. Genesis staunte nicht schlecht. „Wer hätte gedacht, dass du mal so ein Vater wirst?“, fragte er verblüfft. „Wer hätte gedacht, dass ich überhaupt jemals Vater werde?“, gab Sephiroth zurück. Er ließ Léa nicht aus den Augen, während sie vergnügt mit dem Hund tobte. „Hat er eigentlich auch einen Namen, der Hund?“ Genesis seufzte genervt, sagte aber nichts. „Er heißt Tobie*“, antwortete nach ein paar Momenten stattdessen Ramon. „Echt, warum das?“, fragte Sephiroth verwundert. „Weil Ramon für die Namenswahl verantwortlich war und sich dachte, dass er mir mit einem deutschen Namen sicher eine Freude macht“, sagte Genesis entnervt. „Und ich bin immer noch überzeugt, dass du mich nur ärgern willst und dich in Wirklichkeit sehr wohl freust“, sagte Ramon gelassen. „Wenigstens einer von uns“, seufzte Genesis, bevor er die Spur wechselte. „Musst du nicht noch irgendwas besorgen oder so?“ „Ähm, nein?“, antwortete Ramon. „Oder irgendwas erledigen?“, fragte Genesis weiter, diesmal mit Nachdruck. „Was denn zum Beispiel?“, fragte Ramon vollkommen ratlos. „Weiß nicht, irgendwas, wobei du vielleicht auch die Kleine mitnehmen kannst“, sagte Genesis; mittlerweile konnte nicht offensichtlicher sein, was er wollte. „Du weißt schon, damit die großen Jungs allein spielen können?“ Ramon schien es zu dämmern. „Und was zum Beispiel?“ „Willst du vielleicht Brot am andern Ende der Stadt holen?“ „Vielleicht nicht unbedingt am andern Ende der Stadt ...“ „Dann am andern Ende der Nachbarschaft?“ „Ja, von mir aus – ok ...“, stimmte Ramon langsam zu. „Und zu Fuß“, fügte Sephiroth an, „sie fährt nicht so gerne Auto.“ „Schon klar“, sagte Ramon. Sephiroth rief Léa heran und übergab sie in Ramons Obhut. „Und wenn du ihr vorher noch ein kleines Glas Wasser zu trinken geben könntest“, fiel ihm dann noch ein. Ramon schien sich langsam etwas verkohlt vorzukommen. „Sonst noch was, das ich für die Herren erledigen kann?“, fragte er sarkastisch. „Wir schreiben dir eine Liste“, sagte Genesis mit einem breiten Lächeln. Ramon nahm Léa an die Hand und zog mit ihr in Richtung Küche. Beim Weggehen konnten sie ihn etwas wie „Jetzt hab ich auch noch zwei von der Sorte hier ...“ murmeln hören. Sobald Léa außer Sichtweite war, ließ Sephiroth seinen Kopf erschöpft auf Genesis‘ Schulter sinken. „Ich mag es, ihn zu ärgern“, sagte Genesis leise. „Ich hätte dich sofort verstanden“, murmelte Sephiroth. „Siehst du, Seph, dafür kennen wir uns jetzt auch seit fast dreißig Jahren.“ Sephiroth lächelte nur müde und seufzte. Genesis tat nun etwas, das Sephiroth in all den Jahren mit ihm nie erlebt hatte: Er legte ihm eine Hand an die Wange und streichelte gefühlvoll mit dem Daumen darüber. So sanft kannte Sephiroth ihn überhaupt nicht. „Wie wär’s, wenn ich dir ein Glas Wein gebe und dann setzen wir uns mal auf die Couch und du erzählst mir ein bisschen was?“ Sephiroth konnte nicht behaupten, sonderlich erpicht auf den letzten Teil zu sein, aber ein gutes Glas Wein wirkte fürs erste gar nicht so verkehrt. Also erhoben sie sich, schlossen die Terrassentür, bevor der Hund ihnen nachlaufen konnte, Sephiroth sank auf dem Sofa zusammen und Genesis holte eine Flasche und zwei Gläser aus der Küche. Er stellte alles auf dem Couchtisch ab, goss den dunkelroten Wein großzügig in die Gläser und gab eines davon Sephiroth. Der nippte fürs erste nur vorsichtig daran. Kapitel 20: Wiedervereint II ---------------------------- „Seph“, sagte Genesis seufzend, „komm, setz mich ein bisschen ins Bild – was ist passiert? Was ist da los?“ Sephiroth antwortete nicht sofort. Wie sollte er das erklären? Er schüttelte den Kopf. „Seph“, sagte Genesis noch mal; Sephiroth schaute ihm direkt in die Augen. Es graute ihm davor, was er sagen würde. „Eine Scheidung kommt doch nicht aus heiterem Himmel.“ Da. Er hatte es gesagt. Das böse Wort. Es schmerzte; Sephiroth verzog es das Gesicht. Er fiel ins Schwarze, ins Bodenlose. Und er fiel. Und schrie innerlich. Immer nur innerlich. Es zog ihn herab, immer tiefer, in einen Morast aus Schmerz und Leid, zu dicht, um herauszukommen, zu schwer, um vollends zu versinken. Es nahm ihm die Sicht ... den Atem ... alles ... „Hey, Seph ...“ Er spürte eine Hand an seinem Arm. Genesis saß noch immer neben ihm. „Seph, es ist alles gut“, sagte er beschwichtigend. Sephiroth sah ihn zweifelnd an. „Na ja, du weißt, was ich meine. Hier ist alles gut, hier bist du sicher. Du kannst mir alles erzählen. Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Du hast nie irgendwas angedeutet.“ Sephiroth holte zitternd tief Luft. Vielleicht war das eine Frage, die er beantworten konnte. Sonst fragten ihn die Leute, was los sei, was passiert sei. Diese Fragen waren so groß – was sollte er darauf antworten? Aber Genesis forderte ihn im Grunde auf, seine Ehe nachzuvollziehen. Wie oft hatte er selbst das in den letzten Tagen versucht ... „Wir hatten Léa“, begann er, leise, unsicher. „Und es war so eine gute Zeit, er war so glücklich – natürlich auch rund um die Uhr mit ihr beschäftigt, aber das war es ja, was er wollte. Er war ... müde und fertig mit den Nerven und sicherlich nicht immer fröhlich, aber er hat sich nicht beschwert, immerhin hat er über vier Jahre zugebracht mit dem Versuch, endlich ein Kind zu bekommen. Und dann war sie da und er hat sich immer so gut um sie gekümmert ... Aber dann wurde sie größer und kam in den Kindergarten ... Und ich glaube ... er hatte dann einfach zu viel Zeit. Und ...“ Er stockte. Wieder stellte er sich die Frage, ob schon in dieser Zeit alles schief gelaufen war. „Irgendwie wurde er unglücklich, ich glaube, das hab ich irgendwo tief drinnen auch gespürt, aber ich hatte Angst, es zuzugeben. Es ist nicht mal so, dass wir wieder angefangen hätten, uns ständig zu streiten, da war ... einfach gar nichts. Ich meine“, korrigierte er sich, „versteh mich nicht falsch, wir haben schon gestritten.“ „So wie damals, meinst du?“, fragte Genesis. „Er schreit dich an und du sagst gar nichts?“ Sephiroth seufzte. „Ja, so ungefähr. Aber den Großteil der Zeit haben wir außer ... ‚Elternsachen‘, wenn du so willst ... fast nichts geredet. Und wenn doch, dann war da eben viel Streit dabei ... Und ... ich hab’s hingenommen.“ „Mit dir konnte man noch nie streiten“, pflichtete ihm Genesis mitfühlend bei. „Ich seh es einfach nicht ein, irgendwas zu sagen, wenn ich wirklich wütend bin“, verteidigte sich Sephiroth. „Das ist doch gar nicht das, was man wirklich meint, und fünf Minuten später tut es einem schon leid.“ Genesis schüttelte den Kopf. „Seph, du hast den Punkt des Streits einfach nicht verstanden.“ Sephiroth funkelte Genesis an. „Du kannst von Glück reden, dass du es bist, der das gesagt hat – sonst würde ich mich jetzt vielleicht fragen, ob du meinst, dass ich schuld bin?“ „Oh Gott, Seph, nein“, stöhnte Genesis. „An einer gescheiterten Ehe sind immer noch zwei beteiligt – oder es waren die Umstände oder – ach, ich weiß doch auch nicht. Seit wann bist du so empfindlich?“ Sephiroth verstummte. Etwas schien nicht zu stimmen. Er überlegte. „Vielleicht gibt es da etwas, das ich dir ... noch erzählen muss ...“ Genesis schaute ihn aufmerksam an. „Letzte Woche ...“ Sephiroth hatte gerade sein Abendessen allein in seiner kleinen Wohneinheit im Shin-Ra-Hauptgebäude beendet und wollte noch für zwei, drei Stunden ins Büro gehen, als sich plötzlich die Tür öffnete und Natt unangemeldet hereinkam. „Hey, na, was macht ihr denn hier?“, fragte Sephiroth in der Annahme, Natt hätte auch ihre Tochter dabei – doch sie war nirgends zu sehen. „Wo ist Léa?“, fragte er daher alarmiert. „Bei einer Freundin zum Spielen“, erwiderte Natt ruhig, „ich hol sie gleich ab.“ Sephiroth bemerkte Natts abgeklärte Stimmung; sie beunruhigte ihn etwas. „Kaffee?“, bot er seinem Mann an. Der lehnte ab. Als ob sie beide demselben stummen Befehl folgen würden, setzten sie sich beinahe zeitgleich an den Küchentisch. Sephiroth wartete gespannt darauf, dass Natt etwas sagen würde; denn er hatte das Gefühl, dass er ihm etwas zu erzählen hatte. Er schluckte. „Seph“, begann Natt zögernd, „ich ... war in den letzten Stunden nicht allein.“ Sephiroth blinzelte. „Was meinst du?“ Natts Blick heftete sich auf ihn. „Ich glaube, du weißt, was ich meine.“ Die Botschaft brauchte einige Momente, um in Sephiroths Hirn einzutröpfeln. Er erstarrte. Das konnte doch nicht ... „Um ehrlich zu sein, ich war in den letzten Jahren häufig nicht allein“, fügte Natt hinzu. Sephiroth starrte angestrengt auf den Tisch vor sich, um sich zu beherrschen. Sein Denken war blockiert. Etwas stieg in ihm auf und er versuchte es niederzukämpfen. Er schluckte erneut. Natt schien noch etwas sagen zu wollen. Er wappnete sich. Etwas in ihm brach. „Und ich will die Scheidung“, sagte Natt mit einem festen Blick auf ihn. Sephiroths Atem setzte aus. Seine Sicht schwand. Seine Hände waren taub. Jede Spannung war von seinem Körper abgefallen. So war das ... Natt hatte ihn ... seit Jahren schon ... Wo er doch auf Léa hätte aufpassen sollen ... Mit dem Gedanken an seine Tochter richtete Sephiroth sich wieder auf, das Gefühl kehrte in seinen Körper zurück und Sicht und Atem setzten wieder ein. Natt sah ihn noch immer erwartungsvoll ein. Aber Sephiroth konnte diese Nähe nicht aushalten, nicht mit dem Wissen ... Er sprang auf und stürmte aus dem Raum. „Oh, Seph ...“, sagte Genesis, „das tut mir so leid ...“ „Ich weiß“, sagte Sephiroth, „dass du schon in einer ähnlichen Situation warst ...“ „Oh ja“, stimmte Genesis zu, „und umso mehr kann ich dir sagen, dass es nicht deine Schuld ist. Er ist das Charakterschwein.“ „Ich frage mich nur ...“, sagte Sephiroth, nun, da er seine Geschichte losgeworden war, wieder vollkommen in sich zusammengesunken, „wie ausgerechnet er ...“ „Oh, Seph, ich kenn all diese Fragen“, sagte Genesis besänftigend. „Ausgerechnet der Mann, der angeblich ... ich weiß nicht ... sich angeblich am meisten um mich scheren sollte?“ „Seph, es sind immer die, die uns am nächsten stehen, die uns am meisten wehtun“, sagte Genesis, selbst aus Schaden klug. „Deswegen lassen wir sie ja so nah ran, in dem Glauben, dass sie es eben nicht tun ...“ Sephiroth musterte Genesis mit einem leidenden Gesichtsausdruck. „Ich hab einfach seit Tagen das Gefühl, irgendwie krank zu sein“, sagte er. „Gerade jetzt fühl ich mich so krank ... wie mit Grippe ... Vielleicht, weil ich es endlich zulassen kann, sonst ist immer Léa da und vor ihr kann ich doch nicht ...“ Er beendete den Satz nicht, doch er sah Genesis an, dass er trotzdem verstand. Er konnte seine schwachen Momente nicht zulassen, nicht vor Léa. Doch sie würde sicher bald zurückkehren, also musste er sich langsam zusammenreißen und an etwas anderes denken. Er sah sich um. „Es ist schon ziemlich nett hier.“ Genesis nippte an seinem Wein. „Ja, man kann sich schon ganz gut dran gewöhnen.“ Sephiroth schaute ihn an und wartete darauf, dass er weitersprach; einfach irgendetwas sagte. „Wir müssen ungefähr jede freie Wohnung und jedes freie Haus hier in Porto besucht haben, bis Ramon endlich gesagt hat, dass es das richtige ist. Er ist so anstrengend, deswegen haben wir ja auch so lange in Lissabon in diesem winzigen Loch gewohnt, wo es nicht mal irgendwelche Ausweichmöglichkeiten gab – bis er den Ruf an die Uni hier gekriegt hat. Und hier haben wir jetzt einen Garten, Küche und Wohnzimmer sind getrennt, es gibt mehrere Etagen, eine Dachterrasse ... Aber eigentlich streiten wir auch so nicht mehr so oft, vielleicht weil er weniger ... fanatisch arbeitet und selbst viel entspannter ist. Jedenfalls ist es sehr viel angenehmer so, wie es jetzt ist.“ „Heißt das, ihr habt jetzt fünfzehn Jahre diese angespannte Beziehung ausgehalten, in der ihr ständig gestritten habt?“, fragte Sephiroth. „Na ja, ja, sonst hätte ich ja wieder in Midgar antanzen können“, sagte Genesis, als wäre das selbstverständlich. „Und ich weiß auch nicht, wie ‚angespannt‘ die Beziehung war, denn ich denke, wenn du in einer angespannten Beziehung streitest, ist das nicht einfach so nach Sekunden verflogen. Wir haben uns in der einen Sekunde gestritten und in der nächsten war alles wieder ok – vielleicht ist auch einfach Streit das falsche Wort, ich weiß es nicht.“ „Du meinst, man soll sich durch schwierige Zeiten einfach durchbeißen?“ „Seph, nein, das mein ich nicht, wo nimmst du das her?“, wies ihn Genesis zurecht. „Ich hab gesagt, dass meine Ehe ständigen Streit gut überlebt hat. Das kannst du nicht einfach als Modell anwenden.“ Sephiroth konnte nicht verstehen, was Genesis ihm sagen wollte. Alles, was er vor sich sah, war jemand, dem er vertrauen konnte und der ihn verstand, worum auch immer es gehen mochte. Es waren nun annähernd dreißig Jahre, die sie sich kannten, und es fühlte sich überhaupt nicht an, als ob sie über fünfzehn davon getrennt gewesen waren, nur um jetzt wieder hier zusammen zu sitzen. Sephiroth fühlte mit einer Hand nach seinem Puls, während er tonlos sagte: „Vielleicht hätten wir uns einfach nie trennen sollen ...“ „Seph, sag das nicht ...“, bat ihn Genesis, wobei er die Augen niederschlug. „Du trägst ja noch deinen Ehering“, stellte Genesis mit einem Blick auf seine linke Hand fest. Auch Sephiroth schaute auf seinen Ring. „Noch bin ich ja auch verheiratet“, sagte er schlicht. „Und du machst das nicht zufällig, um Léa zu schützen?“ Sephiroth richtete sich auf und sein Blick bohrte sich in Genesis hinein. „Ich tue alles, um meine Tochter zu schützen.“ Genesis war wohl etwas überrascht von Sephiroths plötzlicher Reaktion und versuchte zurückzurudern. „Das war ja gar nicht, was ich meinte ...“ Die Haustür öffnete sich glücklicherweise gerade in diesem Moment. „Ach, wenn man doch gerade von ihr spricht.“ Sie blieben zwei Wochen in Porto; Léa lernte sehr schnell ein wenig Portugiesisch, genug jedenfalls, um sich zurechtzufinden. Sephiroth ließ seine Seele etwas heilen, indem er seine Zeit mit Léa und Genesis auf Erkundungstour verbrachte, bis er die Gegend in- und auswendig kannte und gelernt hatte, wie man die regionalen Spezialitäten aussprach. Die Abende verbrachte er, wenn er Léa und ihren Stoffbären zu Bett gebracht hatte, mit Ramon und Genesis bei gutem Wein; sie zwangen ihn nicht, über das zu sprechen, was ihn bedrückte, aber sie ließen ihm Gelegenheit, ein paar Worte über seinen Gemütszustand zu verlieren. Sie gaben ihm eine Chance, sich besser zu fühlen. Und er war dankbar. Doch sie mussten auch wieder zurück. So sehr sie Léa beschäftigten und ablenkten, sie vermisste ihren Vater in Midgar. So blieb Sephiroth nichts anderes übrig, als wieder zu packen. Ramon und Genesis verabschiedeten sich am Flughafen sehr liebevoll von Léa, die in den zwei Wochen ein unbrechbares Vertrauensverhältnis zu beiden aufgebaut hatte. Sie weinte ein paar Tränen, als Sephiroth mit ihr in den Untiefen des Flughafens verschwand, doch als er ihr sagte, dass sie zurück zu Papa nach Midgar flogen, war sie wieder bester Laune; dass es beinahe vierundzwanzig Stunden dauern würde, musste Sephiroth ihr ja nicht gerade aufs Auge drücken. Und so schloss er fast einen Tag später die heimische Wohnungstür auf und Léa stürmte laut rufend hinein, während Sephiroth Koffer und Tasche durch die Tür bugsierte. Natt kam mit Léa auf dem Arm durch den Flur auf ihn zu und setzte sie dann auf dem Boden ab; er wirkte fuchsteufelswild. „Nach zwei Wochen tauchst du hier auf?“, fragte er durch zusammengebissene Zähne, damit Léa nichts mitbekam; doch sie schien nicht zuzuhören. „Ohne mir ein Sterbenswörtchen zu sagen, wo ihr hin seid? Ich hätte das nicht ungerne als Kindesentführung an die entsprechenden Behörden gemeldet.“ „Sie ist genauso mein Kind wie deins“, entgegnete Sephiroth bestimmt und ruhig. „Außerdem dachte ich nicht, dass es dich kümmert, solange du nur nicht ... allein bist.“ Natt starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Ungläubigkeit an. „Spatz, möchtest du deinen Bären vielleicht schon in dein Zimmer bringen?“, fragte Sephiroth Léa ohne den Blick von Natt zu wenden. Léa ging den Flur entlang in ihr Zimmer, um ihren Bären mit dem Rest ihrer Stofftiersammlung wiederzuvereinen. Sephiroth knöpfte sich Natt vor. „Schlimm genug, dass du mich jahrelang betrogen hast – aber du hast es auch noch getan, als du dich eigentlich um unsere Töchter hättest kümmern sollen und das ist wirklich unverzeihlich.“ „Wow, eine Emotion von dir“, sagte Natt ironisch-erstaunt. „Das hätte ich von dir gar nicht erwartet. Sonst ist doch alles immer ‚ok‘, oder nicht?“ „Das ist dein größtes Problem?“, fragte Sephiroth. „Ich fass es nicht.“ „Nun ja, du hattest sie ja jetzt zwei Wochen für dich“, sagte Natt hinterlistig und ehe Sephiroth verstand, was Natt da tat, hatte er seinen Schlüssel aus dem Schloss gezogen. „Und du hast ja deine eigene Wohnung. Ich sag ihr Gute Nacht von dir.“ Kapitel 21: Wiedervereint III ----------------------------- „Und dann nimmt er einfach meinen Schlüssel und schlägt mir die Tür vor der Nase zu“, erzählte Sephiroth Cloud am nächsten Montag in der Teeküche; sie hatten sich beide jeweils auf einem der Sofas ausgebreitet. „Seph, wir wissen doch beide ganz genau, wie man eine Tür auch ohne Schlüssel öffnet“, sagte Cloud relativ unbeeindruckt. „Cloud“, sagte Sephiroth vorwurfsvoll. „Du hast auch Kinder. Würdest du so was vor den beiden abziehen wollen?“ „Na ja, nein, hast recht.“ Cloud schien zu überlegen. „Er wird schnell feststellen, was ein Leben ohne dich und dein Geld bedeutet – Unterhalt ist nicht viel. Und ein Kind ist schon zu zweit als Herausforderung groß genug. Vielleicht solltest du einfach das alleinige Sorgerecht beantragen.“ „Cloud, so weit denke ich überhaupt noch nicht“, sagte Sephiroth. „Eigentlich will ich diese Scheidung auch überhaupt nicht ...“ „Seph“, sagte Cloud ungläubig, „dieser Mann hat dich jahrelang betrogen.“ „Wir haben uns auch jahrelang gestritten“, wandte Sephiroth ein. „Es gibt Grenzen“, sagte Cloud. „Und wir hatten noch gar keine Zeit, darüber zu reden.“ „Ich glaube nicht, dass es da noch viel zu besprechen gibt.“ „Die Dinge konnten sich jetzt fast drei Wochen abkühlen. Ich geh am Freitag hin und nur ganz vielleicht kriegen wir ein Gespräch hin.“ Cloud starrte ihn immer noch ungläubig an. „Ich fass es nicht.“ Trotzdem setzte Sephiroth seinen Plan in die Tat um. Er machte am Freitag deutlich früher Schluss, holte Léa vom Kindergarten ab und brachte sie nach Hause, als wäre alles normal. Ohne Schlüssel allerdings musste an der Wohnungstür klingeln. Natt öffnete und Sephiroth sah ihm an, wie überrumpelt er war. Léa auf dem Arm, ließ sich Sephiroth hereinbitten. In einem ruhigen Moment zu zweit bat ihn Natt missgelaunt zum Gespräch. „Es gibt ein Problem“, sagte er. „Sonst hätte ich dich überhaupt nicht reingelassen. Ich hab mit Scheidungsanwälten gesprochen – wenn wir uns scheiden lassen, verlieren wir Léa.“ Sephiroth hatte augenblicklich eintausend Fragen auf einmal, eine Millionen Emotionen stürmten auf ihn ein und er konnte sich nicht entscheiden, was er denken oder fühlen sollte. Doch eines war ihm klar. „Das heißt, wir können uns nicht scheiden lassen.“ „Richtig.“ Natt wirkte nicht begeistert. „Ich sag dir, wie das abläuft. Du kannst morgens herkommen und sie fertigmachen und zum Kindergarten bringen beziehungsweise ab nächstem Jahr zur Schule. Am Nachmittag hole ich sie ab und abends bringe ich sie ins Bett. Am nächsten Morgen kannst du sie wieder übernehmen. Am Wochenende kannst du auch hier bleiben, aber nur zwei Nächte – am Sonntagabend kehrst du wieder ins Hauptquartier zurück. Offiziell bleiben wir verheiratet. Aber in Wahrheit hab ich keinerlei Interesse an dieser Beziehung. Klar so weit?“ „Also seid ihr wieder zusammen?“, fragte Genesis bestürzt, als Sephiroth ihm über einen Videochat von den neuesten Entwicklungen erzählte. „Na ja, so ungefähr“, gab Sephiroth zu. Eigentlich hatte er es nicht so klingen lassen wollen. Immerhin gab es nichts, was sie noch „zusammen“ hatten – außer Léa. „Seph, nein!“, empörte sich Genesis. „Du kannst nicht zu einem Mann zurückkehren, der dich so behandelt hat! Was ist los mit dir?“ „Du verstehst das nicht“, versuchte sich Sephiroth zu wehren. „Ich glaube, ich verstehe das sehr gut“, unterbrach ihn Genesis. „Ich wär auch beinahe zu einem Mann zurückgekehrt, der mich am laufenden Band betrogen hat, aber eben nur beinahe! Seph, nein, hast du keinen Selbstrespekt? Du darfst das einfach nicht tun!“ „Ob ich keinen ...“, echote Sephiroth. „Vielleicht seh ich einfach in meinem Leben nicht nur mich selbst.“ „Ich hab schon kapiert, du hast ein Kind und ich nicht“, rief Genesis. „Du brauchst nicht so drauf rumzureiten. Trotzdem kannst du das einfach nicht tun. Seph, trenn dich!“ „Wer bestimmt das?“, fragte Sephiroth erzürnt. „Keine Frage, du“, räumte Genesis ein, „aber –“ „Noch letzte Woche hast du mir was erzählt, von wegen, wie sehr du mich unterstützt und alles ...“ „Da bin ich noch davon ausgegangen, dass du leidest, weil ihr euch trennt!“ „Heißt, ich bin dir nur wichtig, wenn ich leide?“ „Oh mein Gott, Seph!“ Genesis war perplex. „Wo ist bloß deine Einstellung hin, nichts zu sagen, wenn du wütend bist? Du redest Unsinn!“ Sie funkelten sich gegenseitig an. „Vielleicht ist es besser, wenn wir eine Weile nicht reden“, stellte Sephiroth schließlich fest. Genesis wirkte bestürzt, doch da hatte Sephiroth das Fenster schon geschlossen. Er kannte seine Aufgabe: seine Tochter beschützen. Und er wusste, auf wen er sich verlassen konnte. Auf sich selbst. ~ Jahre später ~ Genesis schaute auf die Uhr; Ramon neben ihm schaute ihn interessiert an. „Es müsste sich um Sekunden handeln“, sagte er selbstsicher. Sie wandten sich auf den weißen Stühlen im Foyer des Shin-Ra-Hauptquartiers um, zwischen ihnen zwei Tassen Kaffee und eine Tasse Grüntee. Innerlich zählte Genesis von drei herunter und gerade als er bei „jetzt“ angekommen war, tauchte durch eine Tür im hinteren Bereich des Foyers der Mann auf, auf den sie gewartet hatten. Ungläubig, aber freudig entdeckte er sie und steuerte überrascht auf sie zu. „Sephiroth Crescent, der Mann, nach dem man nach so vielen Jahren immer noch die Uhr stellen kann“, kommentierte Genesis. „Was macht ihr hier?“, fragte Sephiroth mit einem breiten Lächeln. „Gestern war Wintersonnenwende, du solltest wissen, was das heißt“, sagte Genesis. „Mir ist schon klar, warum ihr hier seid“, sagte Sephiroth augenrollend, „aber ihr wart noch nie so früh da.“ Genesis schwieg daraufhin und wich Sephiroths Blick aus. „Ich glaube, mein Mann hatte so seine Befürchtungen“, sagte daraufhin Ramon. „Ach das“, sagte Sephiroth etwas peinlich berührt. „Das ist doch jetzt Jahre her.“ „Und du hast dich trotzdem nicht noch mal gemeldet“, sagte Genesis. „Du dich doch auch nicht, oder?“ „Mag sein“, räumte Genesis ein. „Wie geht’s Léa?“ „Oh, sehr gut“, sagte Sephiroth mit einem Leuchten in den Augen, „sie ist jetzt in der vierten Klasse und hat Freundinnen und geht raus zum Spielen und alles. Gutes Alter.“ Sie begannen, sich über die letzten vier Jahre auszutauschen, über Léa, Sephiroths Job, Genesis‘ Hund, Ramons Professur, die Zeit in Porto, sie verglichen Lissabon mit Porto und besprachen alles Mögliche sonst. Sephiroth wirkte auf Genesis ausgeglichen, ruhig und vor allem glücklich, kein Vergleich zu ihrem letzten Treffen in Porto, als er über seine anstehende Scheidung und die Untreue seines Mannes verzweifelte. Sie saßen lange an dem Tisch und redeten, sicherlich länger, als Sephiroth beabsichtigt hatte. Leute kamen und gingen durch die automatischen Eingangstüren, so auch ein Mann ungefähr in ihrer aller Alter, dunkelhaarig, hoch gewachsen, ansonsten unauffällig; er blieb im Eingang stehen und sah sich um. Auch Sephiroth sah auf. „Entschuldigt ihr mich kurz?“, fragte er und erhob sich, um auf eben jenen Mann zuzugehen. Genesis und Ramon beobachteten das Schauspiel gespannt. Sephiroth mochte ihnen den Rücken zukehren, doch sie konnten das Lächeln auf dem Gesicht des anderen Mannes erkennen, das glücklich und liebevoll wirkte. Sie unterhielten sich ruhig und aufmerksam; Genesis wurde die Natur der Beziehung der beiden vollends klar, als der ihm unbekannte Mann Sephiroth beruhigend eine Hand auf die Brust legte, was „Nicht so schnell“ zu bedeuten schien. Sie verabschiedeten sich und Sephiroths offensichtlicher Geliebter verschwand zu den Aufzügen, die unter anderem zu den Wohnetagen führten und zu denen nur ausgewiesene Personen überhaupt Zutritt hatten. Sephiroth kehrte an den Tisch zurück und setzte sich. „Seph, wie läuft eigentlich deine Ehe?“, fiel es Genesis zu fragen ein. „Sie existiert“, sagte Sephiroth knapp. „Du weißt schon, auf dem Papier.“ Genesis lächelte wissend. Er nickte in Richtung der Aufzüge. „Und er ist der Mann, mit dem du wirklich zusammen bist?“ Sephiroth zögerte, ehe er es zugab. „Es hat sich so ergeben, es ist – nicht die große Liebe, keine großen Gesten, wir – passen einfach gut zusammen und, ähm ... so ist das entstanden. Er ist geschieden, ich bin nur offiziell verheiratet, um meine Tochter nicht zu verlieren, wir erwarten beide nicht mehr das große Herzklopfen.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Aber wir sind sehr zufrieden.“ „Also doch noch ein Happy End“, schloss Genesis. „Dann“, bemerkte Ramon und schaute von einem Mann zum andern, „ist doch ... alles gut?“ „Was für ein Drama“, bemerkte Sephiroth, der vor Spannung seit Minuten an demselben Stück Brot mümmelte. „Und damit sind wir endlich am Ende deiner Frage angelangt“, sagte Genesis und leerte sein Glas Rotwein in einem letzten Schluck. „Hm?“, machte Sephiroth. „Ach ja, das hatte ich schon ganz vergessen. Es macht Spaß, sich Geschichten zu erzählen. Oder – vielleicht mag ich es einfach, dir zuzuhören.“ Genesis lächelte geschmeichelt und hob den Blick gen Fenster. „Ich glaube, der Regen ist weniger geworden. Vielleicht hört es bald auf.“ Auch Sephiroth hob den Kopf, wobei ihm etwas schwindelig wurde. „Da hinten ist doch der Himmel auch schon viel heller.“ Genesis seufzte. „Endlich ist dieser Regen vorbei. Ich kann es kaum erwarten, dich endlich wieder loszuwerden.“ Kapitel 22: Später ------------------ „Oh, Angeal, dieser ewige Regen war so schlimm“, klagte Genesis, „ich war die ganze Zeit mit Seph eingesperrt, es war kaum auszuhalten.“ Angeal, der neben Genesis in der Terrassentür bei Genesis‘ Eltern in Banora saß, legte einen Arm um ihm; Genesis schmiegte sich an ihn. „Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das für euch beide war, aufeinanderhocken zu müssen“, stimmte er mit stark ironischem Unterton zu. „Ich weiß ja, wie wenig ihr euch leiden könnt.“ „Und dann hatte er so schlechte Laune“, fügte Genesis noch hinzu. „Was, echt? Seph?“, fragte Angeal verwundert. „Ja, und kam auf die blöde Idee, mich zu fragen, warum ich nicht stattdessen Ramon geheiratet habe, und in diesem Regen kam mir das gar nicht so blöd vor ...“ In Angeals Gesicht regte sich etwas. „Ach, dieser ... dein Freund in Lissabon?“ Genesis warf ihm einen Blick zu, der hätte töten können. „Er war nicht mein Freund.“ „Ich hatte damals schon das Gefühl, dass ihr euch gut versteht, als ich dich besucht hab“, sagte Angeal locker. „Er ist extra zu dir gefahren und alles. Der stand doch auf dich.“ „Angeal“, sagte Genesis vorwurfsvoll, „wenn jeder Mann, der mich gut findet, in meinen Augen direkt Heiratsmaterial wäre ...“ „Ich meinte schon, dass ihr euch miteinander gut verstanden habt“, sagte Angeal augenzwinkernd. „Ich will nur sagen, dass ich die Frage nicht so abwegig finde.“ „Was, wieso“, sagte Genesis bestürzt. „Ich hätte niemals mit Ramon zusammen sein können.“ „Echt nicht?“, fragte Angeal ehrlich verwundert. „Wieso denn nicht?“ Genesis zögerte, doch Angeal schaute ihn weiterhin neugierig an. „Na gut, wenn du’s genau wissen willst ...“, setzte Genesis schließlich an. Er rückte ein Stück von Angeal weg, um ihn ansehen zu können. „Er kränkelt einfach ständig, das ist nicht auszuhalten.“ „Was?“, fragte Angeal völlig baff. „Ist das dein Ernst?“ „Ja“, sagte Genesis und er klang fast, als würde es ihm leidtun. „Weißt du, er hat chronische Probleme mit den Nebenhöhlen, das kann ich ja verstehen, aber er hat einfach ständig irgendwas, und an einem Tag sind es vielleicht die Nebenhöhlen und Kopfschmerzen, aber weißt du, dann ist es was an den Augen, an den Ohren, oder am Hals, am Magen, der Rücken, irgendwas ist immer und du weißt, wir werden dank des Makos nicht krank und ich bin einfach nicht mehr daran gewöhnt.“ Angeal schaute Genesis immer noch ungläubig an. „Und ich weiß ja, dass das größtenteils Stresssymptome sind, weil er vor mir aufsteht und trotzdem nach mir ins Bett geht, um zu arbeiten, und das ist einfach unglaublich belastend, aber ich ertrage das einfach nicht und ich glaube, er braucht einen anderen Mann, der das mit ihm durchmacht, und nicht mich.“ Angeal schien auf dieses Geständnis hin nichts mehr einzufallen. Doch Genesis erschien etwas merkwürdig. „Seph, lauschst du?“, rief er ins Haus hinein. Zunächst herrschte ein paar Momente Stille, doch dann: „Er hat’s chronisch an den Nebenhöhlen, ja? Dann kenn ich ja endlich seine Schwäche ...“ Genesis und Angeal schauten sich ungläubig an, ehe sie beide in Gelächter ausbrachen. Epilog: Bonuskapitel: Thinking Of You III ----------------------------------------- ~ mindestens ein Jahr später ~ Seufzend schloss Ramon seine Wohnungstür auf. Es war wieder ein langer Tag gewesen und er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich ins Bett zu kommen. Genesis hatte ihm das kleine Licht über der Küchentheke angelassen. Es war weit nach Mitternacht. Wahrscheinlich schlief sein Mann längst. Ramon legte nur schnell seine Sachen in seinem Arbeitszimmer ab, machte einen Abstecher ins Bad und ging dann ins Schlafzimmer. Er hatte recht gehabt – Genesis war bereits eingeschlafen und hatte nicht mehr auf ihn gewartet. Ramon konnte es ihm nicht verübeln. In letzter Zeit war er zu oft erst nach Mitternacht nach Hause gekommen. Ramon legte sich auf seine Bettseite und richtete den Blick gen Zimmerdecke. Er hörte für eine Weile nur seinen Atem und seinen eigenen Herzschlag, bis dieser sich nach ein paar tiefen Atemzügen beruhigt hatte, sodass er nun auch Genesis leise neben sich atmen hörte. Er wandte sich zu seinem Mann um. Genesis lag von ihm abgewandt auf der anderen Seite. Ramon empfand ihren Abstand als eindeutig zu weit. Vorsichtig, um Genesis nicht zu wecken, rückte er heran und legte liebevoll einen Arm um seinen Mann. Wenn es einen Moment gab, für den er sich durch den Tag arbeitete, dann war es ein solcher. Erleichtert seufzend schmiegte er sein Gesicht an Genesis‘ Schulter. Der rührte sich in einem halbwachen Moment. Und murmelte wieder diesen Namen. Diesen anderen Namen. Ramon zuckte wie von einem Skorpion gestochen zurück. Das konnte nicht sein. Nicht nach allem ... Nachdem doch er gewonnen hatte, Genesis hatte doch ihn geheiratet, nicht diesen anderen. Er hatte sein komplettes Leben in Midgar aufgegeben, um hier bei ihm in Lissabon zu bleiben. Er konnte unmöglich immer noch an einen Partner denken, dessen Zeit mittlerweile so lange her war. Seine Augen brannten; er war den Tränen nahe. Er verstand es einfach nicht. Genesis war doch Sein, nur Sein. Sie hatten es sich geschworen. Er wollte nicht teilen; das konnte er nicht. Aber gehörte Genesis überhaupt zu ihm? Hatte er das je? War er je von seinem Ex losgekommen? Was bedeutete er ihm? Was bin ich für dich?, schoss es Ramon durch den Kopf, als er einen Blick zur Seite auf Genesis warf. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. Doch dort saß der Schmerz diesmal nicht. Er saß im Herzen. Es schüttelte ihn. In dieser Nacht fand er lange keinen Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)