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Nimm mein Herz und führe mich

von

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Unter der Frühlingssonne: Verstand und Gefühl

Der nächste Morgen brachte die Ernüchterung. Zumindest für Jako.

Als er erwachte, war es draußen noch dunkel. Er sah auf sein Handy. 3:42 Uhr.

Marti lag neben ihm, angekuschelt, und schlief. Er sah so friedlich aus, fast kindliches Vertrauen lag auf seinem Gesicht.

Jako genoss den Anblick, bis nach und nach die Erinnerungen an den gestrigen Nachmittag einsetzten. Eine Welle heißer Scham überrollte ihn.
 

Was hatte er da gestern getan? Jede Sekunde stand ihm quälend vor Augen. Der Eiswürfel. Marti, wie er hemmungslos lachend vor ihm stand. Und dann ... seine eigene Reaktion. Er hatte Marti gepackt und ... Nicht einmal in Gedanken schaffte er, es auszusprechen. Aber er musste doch ehrlich zu sich sein, musste es doch als das sehen, was es war. Er hatte ihn gepackt, und dann hatte er Marti, seinen Marti ... geschlagen. Ja. Jetzt war es raus.
 

Marti musste es ihm recht schnell verziehen haben, denn danach war der Kuss gefolgt, und dann ... sie hatten sich geliebt, immer wieder, gekuschelt, geküsst. Es war so schön gewesen, dass er sich hatte fallen lassen können. Martis Hingabe hatte bewirkt, dass auch er nur noch von Glück erfüllt gewesen war und das, was vorab geschehen war, irgendwie vergessen hatte.

Marti hatte ihm also verziehen, aber er verzieh sich nicht.
 

„Ich bin ein solcher Idiot“, flüsterte er.

„Du hat einen besseren verdient als mich. Jemanden, der dich besser behandelt.“

Marti murmelte irgendetwas im Schlaf, drehte sich um und legte dabei seinen Arm um Jako.

Vorsichtig schob dieser ihn wieder von sich. Er erhob sich, leise, vorsichtig, um den anderen nicht zu wecken. Er streifte Jeans und Shirt über und schlüpfte aus dem Zimmer. Ach Mist, er hatte die Socken vergessen ... egal. Er schlüpfte in seine Schuhe, warf die Jacke über und verließ die Wohnung.
 

Als Marti erwachte, war das Bett neben ihm leer. Vielleicht war Jako nur eben ins Bad gegangen. Er spähte durchs Zimmer ... nein. Seine Sachen waren auch nicht da. Vielleicht war er in der Küche und machte Frühstück? Marti beschloss, aufzustehen und nachzusehen. Im Flur schaute er unwillkürlich zur Garderobe. Jakos Jacke hing dort nicht mehr. Die Schuhe waren auch fort. Tiefe Enttäuschung breitete sich in ihm aus. Warum hatte Jako sich nicht verabschiedet?
 

In der Küche fand er nur einen völlig verschlafenen Dominik vor, seinen zweiten Mitbewohner.

„Du sag mal ...“, setzte er an.

„Ja?“

Dominik sah ihn aus verquollenen Augen über den Rand seiner Kaffeetasse an.

„Hast du mitbekommen, wann Jako gegangen ist?“

„Ne. Ich dachte, der ist noch bei dir und hat dich mit seinem Schnarchen aus dem Bett getrieben?“

Dominik grinste.

„Nein. Er ist gegangen. Und … er hat sich nicht verabschiedet...“

„Tja ...“

Dominik zuckte mit den Schultern. Er war noch sehr müde und hatte gerade noch keinen Nerv für die Probleme frisch Verliebter.

„Ich leg mich noch mal ein bisschen hin.“
 

So saß Marti nun allein in der Küche und fühlte sich ein wenig verloren. Na ja, vielleicht hatte Felix, der nicht nur Jakos Bandkollege, sondern auch sein guter Freund und Mitbewohner war, ihn bei irgendetwas gebraucht. Jako würde sich sicher bald melden. Wie spät war es eigentlich? 8:02 Uhr. Noch recht früh. Jako wollte ihn sicher nicht wecken. Daher hatte er noch nicht angerufen. Oder eine Nachricht geschickt. Aber das würde er schon bald tun. Ja. Marti war sich sicher.

Etwas zufriedener trank er seinen ersten Kaffee. Heiß und köstlich schmeckte das Getränk. Und es weckte ein wenig seine Lebensgeister.
 

Zwei Stunden später. Jako hatte sich noch immer nicht gemeldet. Marti saß inzwischen vor seinem Laptop, und versuchte, das Video zu schneiden. Es ging nicht. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er schaute im 5-Minuten-Rhythmus auf sein Handy. Nichts.
 

Wieder eine Stunde später. Er hielt es nicht mehr aus. Er nahm das Handy, wählte Jakos Nummer. Die Mailbox.

„Hey Jako, wie geht’s? Hast dich heute morgen einfach fortgeschlichen ... meld dich mal. Ich vermisse dich. Hab dich lieb.“

Was konnte er tun? Und wenn Jako nun etwas passiert war? Wenn er nach Hause gewollt hatte, in seiner WG aber nie angekommen war? Ein Unfall oder so ... Marti krampfte sich vor Angst das Herz zusammen. Er suchte in seinen Kontakten, bis er Felix' Nummer fand.

Felix nahm ab. „Ja?“

„Felix? Hier Marti. Du, ist Jako zu Hause?“

„Marti? Gut das du anrufst! Was ist bei euch vorgefallen? Was hast du mit Jako gemacht? Habt ihr euch gestritten?“

“Gestritten? Nein! Also ist er dort?“

„Ja, er ist hier. Er kam heute Morgen in aller Herrgottsfrühe, knallte die Tür, so dass die ganze WG wach wurde. Jetzt hört er schon seit Stunden laute Musik und ist nicht ansprechbar! Ich wollte zu ihm, um mit ihm zu reden, aber er hat das Zimmer abgeschlossen. Das macht er sonst nie! Marti, was ist geschehen? Was hast Du ihm angetan?“

Felix wurde immer wütender am Telefon.
 

Marti war wie vor den Kopf geschlagen.

„Felix, ich habe keine Ahnung! Wir hatten einen wunderbaren Nachmittag, wir haben herumgealbert, uns geküsst, und ... naja ... und sind schließlich Arm in Arm eingeschlafen. Alles war in Ordnung! Und heute Morgen war er einfach weg! Und ich hab die ganze Zeit auf einen Anruf gewartet, oder eine Nachricht.“

„Ach verdammt, Marti, schwing deinen Hintern hierher, vielleicht kannst du ja mit ihm reden!“

Felix hatte zornig aufgelegt.
 

Marti rannte in den Flur, sprang in die Sneakers, schnappte die Jacke und sauste los. Wenige Minuten später stellte er das Auto vor der Haustür der anderen WG ab und rannte die Treppen hoch. Oben klingelte er Sturm.

Felix öffnete. Marti wollte auf Jakos Zimmer zustürmen. Aber Felix hielt ihn fest und schob ihn in Richtung Küche.

„So Marti. Nun mal ehrlich. Was ist passiert?“

„Verdammt, Felix, ich weiß es nicht. Ich zermartere mir schon die ganze Zeit das Hirn. Ich weiß es einfach nicht!“

„Ich kann es nicht ertragen, Jako so zu sehen. Ich kenne ihn schon so lange, und ich fühle, das es ihm richtig mies geht. Das muss doch einen Grund haben!“

Marti schwieg hilflos.
 

Wenig später saß er mit einer dampfenden Tasse Tee am Küchentisch. Felix hatte gemeint, er solle erst einmal etwas runterkommen, bevor er versuchen würde, mit Jako zu reden. Nun saß er hier und grübelte.

Jede Szene des vorigen Tages lief vor ihm ab, von dem Moment an, wo Jako die Wohnung betreten hatte bis zum letzten Kuss vorm Einschlafen. Das Rumalbern. Die Musik. Die Ablenkversuche. Das gespielte übers Knie legen. Der Kuss. Das Bett, das Liebe machen, das Kuscheln. Alles. Und da war nichts, was für ihn erklärte, dass Jako sich so seltsam verhielt.
 

Langsam begann sich ein sehr unangenehmer Gedanke in Martis Kopf zu schleichen. Mein Freund, der so feinsinnige und feinfühlige Jako, ist zutiefst verletzt, und ich weiß noch nicht mal, warum. Ich muss ein absolut unsensibler Trampel sein.

Jako hat etwas besseres verdient. Jemanden, der ihn besser versteht. Und nicht so einen Vollhonk wie mich, der ihm weh tut und es nicht mal merkt.
 

Martis Verstand hatte keine Lust mehr. Das Grübeln wurde ihm zu viel. Ich schieb doch hier keine Sonderschichten, murrte er, dafür werde ich nicht bezahlt! Er schaltete sich ab und ließ nur zwei Gedanken zurück: Ich bin Schuld. Und: Ich habe Jako nicht verdient.

Abwechselnd und in Endlosschleife.
 

Eine halbe Stunde später war der Tee in der Tasse längst kalt geworden. Plötzlich öffnete sich die Küchentür. Felix musste es irgendwie gelungen sein, Jako aus seinem Zimmer zu locken, denn er schob ihn in die Küche, rief: „Nun redet endlich miteinander!“ und schlug die Tür hinter ihm zu.

Jako stand da wie erstarrt, und Marti fegte vor Schreck die Tasse vom Tisch. Laut scheppernd zerschellte sie auf dem Küchenboden.
 

Da standen sie nun und schauten sich an, irgendwie schüchtern, angstvoll, völlig durcheinander.

„Marti ...“

„Jako ...“

Schweigen.

Und dann, beide gleichzeitig:

„Es tut mir leid ...“ „Es tut mir leid ...“
 

Wieder Schweigen. Diesmal erstauntes Schweigen.

Und dann begann Marti:

„Jako, es tut mir leid. Was auch immer ich dir angetan habe, es tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, was es war, und das ist für mich das schlimmste. Dass ich dich so sehr verletze und nicht mal weiß, womit. Was immer es war, Jako, ich kann dich nur bitten, mir zu verzeihen. Ich verstehe ja, dass du mich nicht mehr lieben kannst, aber lass uns wieder Freunde sein, wie vorher, bevor alles begann. Okay?“
 

Jako glaubte, seine Ohren nicht zu trauen. Marti bat ihn um Verzeihung? Aber das war doch ganz falsch!

„Nein, nein, Marti, ich wollte dich um Verzeihung bitten, ich hab mich doch wie ein Arschloch verhalten ...“

„Du? Aber ich versteh überhaupt nicht, was du meinst ...“

„Gestern ...“

„Aber gestern war es doch so wunderschön! Ich hab es geschafft, dich abzulenken, wir haben uns geliebt ...“

„Ja, das war wunderbar. Aber davor, ich meine danach, also, nach dem Ablenken, bevor wir im Bett gelandet sind.“
 

Martis Verstand beendete in diesem Augenblick seinen Streik. Er wollte mal nachsehen, was so los war, und schaltete die Beleuchtung wieder ein.

Anders ausgedrückt, Marti ging ein Licht auf.

Also DAS meinte Jako!
 

„Jako, das ist jetzt nicht dein Ernst. Du redest von dem Klaps auf den Hintern? Dem gespielten übers Knie legen? Das ist dein Problem? Ernsthaft?“

Jako nickte und sah verlegen zu Boden.

„Aber Jako, das war nichts als eine kleine Balgerei, ein Herumalbern zwischen zwei Verliebten, wie immer man es nennen will!“

Jako schluckte.

„Und, Jako, es hat mir Spaß gemacht! Und deswegen machst du dir solche Gedanken?“

Jako schaute ihn verblüfft an.
 

„Und verdammt noch mal“, schrie Marti nun fast, „wenn du dir solche Sorgen machst, warum redest du dann nicht mit mir? Weißt du noch, wie es war, als wir schon verliebt ineinander waren, aber keiner von uns sich traute, es auszusprechen? Wir haben beide monatelang gelitten! Ein Wort hätte genügt, und wir wären schon viel eher ein Paar gewesen und hätten uns 'ne Menge Kummer erspart! Damals haben wir uns geschworen, nie wieder Dinge in uns reinzufressen, sondern zu reden, wenn uns was bedrückt! Verdammt, Jako, warum hast du das schon bei der ersten Gelegenheit vergessen?“
 

Er stürzte sich frustriert auf Jako, trommelte mit seinen Fäusten auf dessen Brust. Der hielt ihm stand, wehrte ihn mit den Armen ab, schließlich hielt er seine Hände fest.

Zwei Augenpaare trafen sich. Ein braunes und ein blaues. Versanken ineinander.

Dann trafen sich zwei Lippenpaare zu einem tiefen, innigen Kuss. Als sie sich wieder voneinander lösten, war alles leichter geworden, und die Sonne schien irgendwie heller durchs Küchenfenster.
 

„Wir müssen darüber noch mal in Ruhe reden“, sagte Marti. „Aber nicht jetzt.“

In seinem Gesicht erwachte der Schabernack.

„Ich schlage vor, wir schleichen zur Tür und erschrecken Felix, der ganz bestimmt lauscht. Und dann winken wir ihm fröhlich zu und verschwinden in dein Zimmer. Und egal, was dort noch geschieht heute, verlass dich drauf, dass ich dir schon sage, wenn ich etwas nicht mag, Okay?“

„Oh Marti, du hast ja keine Ahnung wie sehr ich dich liebe!“
 

Gesagt, getan. Später in Jakos Zimmer lachten beide immer noch über Felix' erschrockenen Sprung zur Seite, über sein erst verblüfftes und dann maßlos erleichtertes Gesicht.

„Ich liebe dich, du Nase.“

„Ich dich auch, du Pfosten.“

Und beide gaben sich ganz ihren überschäumenden Gefühlen hin. Der Verstand in Martis Kopf sprang entsetzt zur Seite und konnte gerade noch verhindern, von ihnen überrannt zu werden. Verdammt, dachte er, ich mache Feierabend. Und er schaltete sich erneut ab.
 

Die Frühlingssonne hatte an diesem Tag ganz interessante Einblicke, was zwei Menschen, die sich lieben, miteinander anstellen können. „Ach“, seufzte sie, „da scheine ich schon so warm und hell, und diese beiden da werden wohl heute wieder nicht nach draußen gehen.“

Doch sie schaute ihnen fasziniert zu, denn sie konnte die Augen nicht von ihnen lassen.



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