Alle Jahre wieder - Mello in Stimmung von Annoia ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ein ereignisreicher Tag neigte sich dem Ende entgegen. Die letzten Sonnenstrahlen krochen über die Skyline, schlängelten sich zwischen den Gebäuden hindurch und legten sich auf den Platz inmitten der Großstadt, wo ein Weihnachtsmarkt emporragte wie die Kulisse eines Theaterstücks. Darsteller gab es zuhauf. Menschen, die sich vor Fahrgeschäften tummelten oder an diversen Buden anstanden, um sich mit Leckereien und Getränken einzudecken. Zucker süßte die Abendluft. Überall roch es nach Lebkuchen, kandierten Äpfeln und gebrannten Mandeln. Glühweinaroma wehte von einem besonders gut besuchten Stand über den gesamten Markt und lockte die Leute aus allen Winkeln zum fröhlichen Beisammensein. Angeheitertes Geschnatter vermischte sich mit dem Lachen herumtollender Kinder, dem Rufen ihrer Eltern und den Anpreisungen einiger Budenbesitzer, die zu einem Besuch bei sich einluden. Irgendwo läutete eine Glocke und verkündete den Hauptgewinn eines Loses.   Es war die Hölle.   Inmitten des Trubels ballte Mello die Hände. Fäuste bebten neben ihm und waren kaum davon abzuhalten denjenigen zu verprügeln, der die glorreiche Idee gehabt hatte, diesen Ort aufzusuchen. Matt. Ausgerechnet der, den man sonst nur mit mehr oder minder gutem Zureden und einer Kopfnuss aus seiner Wohnung scheuchen konnte, war heut nicht zu stoppen gewesen. Ganz recht. Matt, Mister "Warum soll ich raus, wenn ich es mir vor meiner Konsole gemütlich machen kann?", hatte regelrecht darauf bestanden den Tag vor der Haustür zu verbringen. Frühstück in einem Café. Stadtbesichtigung. Mittagessen in einem echten Restaurant, in dem es richtige Kellner, statt versiffter Gestalten gab. Schaufensterbummel!  Den ganzen Blödsinn hatte Mello über sich ergehen lassen, in der Hoffnung sein Kumpel würde spätestens bei Sonnenuntergang seine Y-Chromosomen wiederfinden, aber nein ... das grande finale der Zeitverschwendung fand jetzt erst statt. Der Höhepunkt. Das Feuerwerk zum Abschluss des Spektakels.   Mello explodierte. "Ist das dein scheiß Ernst?" Nach acht Stunden unnötigen Herumeierns glich sein Geduldsfaden tatsächlich einer Zündschnur. "Warum schleifst du mich nun auch noch auf einen verdammten Weihnachtsmarkt?"   Wie nicht anders zu erwarten, blieb Matt vollkommen gelassen. Einzig sein Feuerzeug loderte auf, mit dem er sich eine Zigarette anzündete. "Da ist ja wieder einer in Stimmung, hm?", nuschelte er.    "Provozier mich nicht, Jeevas!"   "Meine Güte", seufzte Matt. Qualm stieg auf und trieb mit dem Fahrtwind eines Autoscooters davon. "Reg dich ab. Wir sind hier, weil es lustig ist."   "Du verarschst mich, oder? Was ist daran", riss Mello die Arme demonstrativ beiseite und boxte dabei mindestens drei Passanten, "lustig? Hier sind Menschen. Du hasst Menschen! Der einzige, den du außer mir erträgst, ist dein verkappter Spielehändler!"   "Stimmt schon", nickte Matt. Sein Blick schweifte über die Masse, verrutschte kurz, stabilisierte sich jedoch wieder, ehe er zu Mello zurückfand. "Aber für dich spring ich heut mal über meinen Schatten."   Mellos Lider verengten sich. "Für mich? Hast du sie noch alle? Willst du dich einschleimen oder dich für irgendwas rächen, indem du mich hierher schleppst?"   Lichterketten warfen bunte Schemen auf Matts Gesicht, in dem sich ein Grinsen abzeichnete, das selbst den unschuldigsten Engel wie einen Teufel aussehen lassen würde. Der Zigarettenrauch milderte den Eindruck nicht ab.   "Es ist Rache", stellte Mello ernüchtert fest, warf die Hände in die Luft und wirbelte herum. "Fick dich. Wenn du dich rächen willst, dann mach das gefälligst woanders!" Er wollte davonstürmen, kam allerdings nur einen Schritt weit. Sein Stiefel rammte in den Betonboden, als Matt ihn an der Schulter packte.   "Nichts da. Du bleibst hier", bestimmte er und zog Mello so nah an seine Seite, dass er nicht mehr fliehen konnte. Jahrelanges Zocken hatte seinen Griff erstaunlich gefestigt. "Ich lass dich nicht einfach abhauen. Erstmal stürzen wir uns ins Getümmel."   Mellos Protest ging in dem Menschenfluss unter, der gerade an ihnen vorbeiströmte. Frauen umgackerten einen Mann, der stolzer als jeder Hahn eine Weihnachtsmannmütze spazieren führte, welche mit der Marktbeleuchtung um die Wette strahlte.   "Solltest du auf die Idee kommen, mir so ein Teil aufsetzen zu wollen", beäugte Mello die farbwechselnde Kopfbedeckung, "ramme ich dir das Ding in den Hals und hau ab."   "Schon klar." Matt verfolgte den Fremden mit hochgezogener Augenbraue. Seine zweite schoss ebenfalls unter seinen Haaransatz, als er etwas entdeckte. "Ich würde mir grad lieber was anderes in den Hals rammen. Komm mal mit." Ruckartig wirbelte er Mello herum, postierte ihn vor sich und steuerte ihn in die Richtung des bestbesuchten Standes. Als Zwei-Mann-Polonaise quetschten sie sich durch eine Traube Betrunkener, bis sie den Tresen erreichten.   "Glühwein?", knurrte Mello wie ein Hund, den man auf vegane Diät setzte.   "Logisch", grinste Matt, trat seine Zigarette aus und schob sich vor seinen Freund, "weil ich ja weiß, wie gern du das Zeug hast." Seine Hand rauschte in die Höhe, um eine der Bedienungen heranzuwinken. Eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz und Elfenohrhaarreif folgte seinem Ruf.   "Was kann ich euch bringen?", trällerte sie über das Gequatsche der umstehenden Leute hinweg.   "Glühwein", bestellte Matt, "und eine heiße Schokolade."   "Mit Schuss?"   Matt linste über seine Schulter zu Mello, der gerade von zwei Seiten gleichzeitig angerempelt wurde und mimisch keinen Hehl daraus machte, wie gern er zurückrempeln wollte. Vor seinem inneren Auge sah Matt bereits Köpfe zusammenschlagen. Daher wandte er sich schleunigst wieder der Bedienung zu. "Einen großen Schuss. Sehr groß. Am besten fifty-fifty."   "Im Glühwein auch?"   Matt überlegte nicht lang. "Klar."   Während die Elfe davonwuselte, um die Getränke einzuschenken, lauschte Matt dem Aufschrei zweier Männer. Mello rieb sich die Ellenbogen.   "Hier. Ein Glühwein und eine heiße Schokolade. Beides frisch erschossen", zwinkerte die Bedienung Sekunden später und platzierte die dampfenden Getränke auf dem Tresen. Einige Scheinchen samt Trinkgeld wechselten den Besitzer, bevor die Frau zum Abschied winkte und dann direkt zu den nächsten Ausgedursteten davonhuschte.   Matt schnappte die Plastikbecher und stellte sie sofort wieder zurück. Fluchend schüttelte er sich Glühwein und Schokolade aus den Handschuhen, pustete auf seine Gelenke und biss die Zähne zusammen, als Mello wissen wollte: "Heiß?"   Natürlich verzichtete Mello darauf, besorgt auszusehen. Grinsend griff er an Matt vorbei, packte seine heiße Schokolade am oberen Becherrand und stolzierte damit zu einem Stehtisch abseits des Standes hinüber. Niemand trat ihm in den Weg. Stattdessen schwankten Männer beiseite, die offenbar alle von ähnlichen Rippenbeschwerden geplagt waren.   "Bitte", meinte Matt, als er den Tisch ebenfalls erreichte.   Mello warf ihm von der anderen Seite einen fragenden Blick zu.   "Für die heiße Schokolade?"   "Das ist ja wohl das Mindeste, nachdem du mich hierher geschleift hast", schnaufte Mello in seinen Becher. Rumaroma quoll mit Dampf über den Rand und trieb in die Abendluft wie alkoholisierte Wolken.   Der Anblick verleitete Matt dazu, der Atmosphäre noch eine weitere Note zufügen zu wollen. Sein Glühwein parkte zum Abkühlen auf dem Tisch, während eine Zigarette aufglimmte und den Rumgeruch übertünchte. "Hah", seufzte er wohlig, "ist das nicht entspannend?"   Für Mello sah Entspannung anders aus. Er definierte das Gefühl mit Ruhe, absoluter Stille und sicher nicht dem akustischen Terror, dem er momentan ausgesetzt war. Musik schallte aus diversen Richtungen, übertönte sich gegenseitig und vermischte sich zu absurden Kombinationen à la "Last christmas I gave you - eine Muh, eine Mäh, eine Täterätätä".   "Mit der Fresse, die du ziehst, könntest du als Scrooge auftreten", lachte Matt, ehe er die Arme auf dem Tisch verschränkte, den Kopf schief legte und Mello eingehend musterte. "Zumindest bis zu dem Moment, als Scrooge in Weihnachtsstimmung kommt. Ab da würdest du voll versagen."   "Scrooge hatte auch das Glück von drei Geistern heimgesucht zu werden", lächelte Mello so eiskalt, dass sämtliche Heißgetränke im Umkreis von Hundert Metern eigentlich gefrieren mussten. "Ich hab hingegen das Pech, dich an der Backe zu haben."   "Autsch", spielte Matt den Getroffenen und fasste sich an die Brust, "du bist so gemein, Ebenezer." Er ignorierte die Eiszapfen, die Mellos Augen verschossen, und widmete sich lieber seinem Glühwein. Der war tatsächlich kalt. Matt schmollte in seinen Becher, trank einen Schluck, nahm anschließend einen tiefen Zug von seiner Zigarette und kippte dann den Rest des Frostweins hinunter.    Mello nippte an seiner lauwarmen Schokolade, während er überlegte, ob es womöglich hilfreich war, Matt abzufüllen, um schneller nachhause zu kommen. Seine Gedanken wurden jedoch von einem Geplärr abgelenkt, das hinter ihm aufjohlte wie die Sirene einer überdramatisierenden Feuerwehr. Genervt lugte Mello hinter sich und erspähte zwei Kinder in der Nähe eines Kettenkarussells. Die Sirene war ein blonder Junge von geschätzt fünf Jahren, den man in eine viel zu große Winterjacke gestopft hatte. Dort, wo sich vermutlich eine Hand im Ärmel befand, hing eine Schnur heraus, an dessen Ende die Überreste eines Ballons auf dem Boden lagen. Zwischen Schluchzen und Schniefen drangen Worte hindurch, die Mello zu "Du hast meinen Ballon kaputt gemacht!" zusammenpuzzelte. Vor der Heulboje baute sich ein anderer Junge auf, dessen weiße Haare aufgeregt wippten, während er über den Kleineren lachte. In seiner Hand hielt er einen Ballon, der im Wind des Karussells hin und her trieb. "Na und? Meiner ist eh viel toller als deiner, du Memme!"   "Mello?", nuschelte Matt an seiner Zigarette vorbei. "Ist was?"   Ohne zu antworten, zupfte Mello den Glimmstängel von Matts Lippen und stapfte damit auf die beiden Kinder zu.   "Hey", motzte der Weißhaarige, als Mello ihm den Ballon aus der Hand riss, "gib das her, Alter!"   Da es bereits einen Wattekopf gab, der Mellos Nerven überstrapazierte, ließ er sich von dem Jungen nicht provozieren. Stattdessen rammte er die Zigarette in den Ballon und wartete. Peng! Mit einem Knall verabschiedete sich der Ballon ins Nirwana. Übrig blieben Gummifetzen, die auf die Jungs hinabsegelten wie labbrige Konfetti.    "Mein -", jammerte der Weißschopf, wagte es jedoch nicht weiterzusprechen, als Eiseskälte ihn mahnend anstarrte.   "Und du", wandte sich Mello schließlich an den Blonden, "flenn nicht rum, sondern verteidige dich gefälligst, wenn dich jemand ärgert!" Tellergroße Augen blinzelten. Dann nickte der Junge.   Mit einer Wärme im Bauch, die er dem Rum zuschrieb, kehrte Mello zum Tisch zurück.   "Ich weiß endlich, was ich dir zu Weihnachten schenke", gluckste Matt, während er sich eine neue Zigarette anzündete. "Ein Cape."   "Schenk mir lieber einen Kumpel", zuckte Mello mit den Schultern. "Mein alter erstickt nämlich gleich an seiner Kippe, sollte er nicht die Klappe halten."   Matt hustete. Und hustete, bis seine Gesichtsfarbe annähernd die Nuance seiner Haare angenommen hatte.    "Ich lass dich was trinken, wenn wir dann endlich nachhause können", winkte Mello mit seiner kalten Schokolade.   Atemlos schnappte Matt den Becher und spülte den Inhalt herunter. Er schluckte gierig, knüllte das Plastik zusammen und klatschte es auf den Tisch. Sein Teint normalisierte sich, als er verkündete: "Vergiss es. Wir bleiben. Bevor wir nicht ein bisschen was erlebt haben, lass ich dich nicht abhauen."   "Meine Fresse", stöhnte Mello und warf den Kopf in den Nacken. Über ihm lichteten sich schwarze Wolken, um die Sicht auf einen Sternenhimmel freizugeben, den man in Großstädten selten zu sehen bekam. "Okay", murrte er dem Firmament entgegen, "und was nun?"   Matts Großzügigkeit war grenzenlos wie das Universum. "Weil ich kein Arsch bin, darfst du dir die Attraktion aussuchen, über die du dann meckern kannst."   "Und dann ist Schicht im Schacht? Eine Attraktion? Danach hauen wir ab und du lässt mich für die nächsten Jahre mit Weihnachtsmärkten in Ruhe?", raunte Mello einer Sternschnuppe hinterher.   "Ganz bestimmt", übertönte Matts Lachen das Gebrabbel vorbeitorkelnder Jugendlicher, "nicht."   Bei der Sternschnuppe handelte es sich wahrscheinlich bloß um einen abstürzenden Satelliten, dachte Mello, als er den Blick senkte und in seinen Kumpel bohrte. Der rauchte entweder rückwärts, oder hatte sich schon wieder eine neue Zigarette angezündet.   "Warum tu ich mir den Scheiß heut überhaupt an?" Mit einer Antwort rechnete Mello eh nicht, weshalb er dazu überging, seiner eigenen Angewohnheit nachzugehen, um die Zeit zu überbrücken. Gezielt griff er in die Innentasche seiner Lederjacke, zerrte eine Tafel Schokolade heraus, riss die Folie herunter und versenkte seine Zähne in kühlem Zartbitter, das bei weitem verlockender war als das Überangebot an Süßwaren, mit dem jeder dritte Verkaufsstand prahlte.   Matt, der Jahre lang darauf konditioniert worden war, Mellos Gedanken zu lesen, beäugte die entfernten Auslagen ebenfalls. An einem kunterbunten Stand blieb seine Aufmerksamkeit kleben. Er neigte sich vor und schob sogar seine Brille für einen Sekundenbruchteil von seiner Nase, um in der Lichterketten getränkten Dämmerung besser sehen zu können. Dann lachte er auf. "Das kauf ich dir", deutete er auf eine Wand aus Lebkuchenherzen.    "Hm?", folgte Mello dem Fingerzeig.   "Auf dem Herz da drüben steht 'Diva'. Soweit ich weiß, liebst du den Titel ja total."   "Solltest du dich dem Ding auch nur nähern, ramm ich dir so viele kandierte Äpfel in den Arsch, dass du Apfelmus kotzt."   Der Drohung schenkte Matt die gleiche Beachtung wie der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Straßen. Trotzdem verzichtete er heut darauf, seinen Freund ans Geduldslimit zu treiben, und winkte nur ab. "Fein. Was machen wir stattdessen?" Ein riesiges Schild, auf dem sich animierte Buchstaben zum Wort 'Spielhalle' zusammensetzten, stach ihm ins Auge. Münzen klimperten in weiter Ferne und schrien regelrecht danach eingesammelt zu werden.   "Schmink dir das sofort ab!", zerschmetterte Mello den Vorschlag, bevor Matt ihn überhaupt aussprechen konnte. "Ich steh garantiert nicht stundenlang in einer Ecke, während du dich von irgendwelchen Automaten hypnotisieren lässt. Den Quatsch können wir uns auch zuhause antun."   Wehmütig blendete Matt die klimpernden Münzen aus.   "Da hinten gibt's Lose", deutete Mello in die Richtung einer Bude, um die sich einige Familien rotteten wie Schafe um einen Trog. Drängelnd und blökend lauerten sie vor dem Budenbetreiber, der Lose auszählte und Preise verteilte.   Die Menschen hatten Spaß. Matt würde keinen haben. Das wusste er aus Erfahrung. "Vergiss es", pustete er Zigarettenqualm in Mellos Gesicht, um ihn von dem Stand abzulenken. "Als wir beim letzten Mal Lose gekauft haben, bist du total ausgerastet, weil du ständig Nieten gezogen hast."   Mellos Augenbrauen wuchsen zu der gleichen wütenden Linie zusammen wie bei besagtem Vorfall. "Statistisch betrachtet war es auch absolut unmöglich, dass ich nichts gewonnen habe. Die Wahrscheinlichkeit nur Nieten zu ziehen -"   "Keine Lose für dich!", bestimmte Matt.   "Dann geh ich nachhause!"   "Du bleibst hier!"   Ihre Blicke prallten aufeinander. Sekunden verstrichen, in denen die Geräuschkulisse des Weihnachtsmarkts bedrohlich anschwoll. Menschen grölten. Die Holzachterbahn ratterte. Das Kettenkarussell rasselte. Vom Autoscooter dröhnte Hupen über den Platz. Plötzlich echote ein Schuss.   Zeitgleich unterbrachen sie ihr Blickduell, um dorthin zu gaffen, von wo der Knall gekommen war. Manchmal ließen sich Probleme tatsächlich bloß mit Waffen beseitigen.   "Schießstand?", fragte Mello.   "Schießstand", antwortete Matt.   Gemeinsam wühlten sie sich durch die Leute, bis sie ihr Ziel erreichten. Die Bude befand sich am Rand des Marktplatzes und war glücklicherweise weniger besucht als die Attraktionen im Zentrum. Ein Vater überreichte seiner Tochter eine Kunststoffblume, von deren gammeligen Blütenblättern man 'Trostpreis' ablesen konnte. Trotzdem schien das Mädchen mehr als zufrieden und der Vater dadurch stolz wie ein Schütze nach der Großwildjagd.   Mello verdrehte die Augen, während Matt den Budenbetreiber heranpfiff. "Hey, wie sind die Regeln hier?"   Ein Hüne wälzte sich hinter dem Tresen entlang und nickte zur Begrüßung. Seine Glatze reflektierte die Lichterkette, die den Stand umflackerte; sein Hemd hingegen präsentierte sämtliche Mahlzeiten, die der Mann an diesem Tag in sich reingeschaufelt haben musste. Ketchup, Senf und Bratenfett malten ein unappetitliches Bild. "Regeln?", brummte seine Bassstimme. "Kommt drauf an. Wenn ihr den Hauptpreis haben wollt, müsst ihr mit einem Magazin zehn Sterne abschießen." Auffordernd wedelte er mit einer kleinen Plastikschachtel, in der Bleikügelchen durcheinander rollten und schließlich klapperten, als das Magazin auf den Tresen klatschte.   Matt und Mello spähten jeweils zu einer Seite an dem Hünen vorbei, um an der Rückwand des Standes eine Tafel auszumachen, an der Kunststoffsternchen an Nägeln baumelten.    "Ein Magazin hat zehn Schuss, nehme ich an?", murrte Mello.   "Ganz recht, Jungchen."   Aus den Tiefen seiner Gesäßtasche kramte Matt das Geld für ein gefülltes Magazin und schleuderte es ebenfalls auf den Holztresen. "Klingt fair", meinte er an Mello gerichtet. "Na, dann zeig mal, was du kannst, Jungchen." Obwohl er keinerlei Miene verzog, war eindeutig, wie sehr ihn Mellos neuester Kosename amüsierte.    Das Jungchen schnaufte. "Du gehst mir heut echt auf die Nerven und kannst von Glück reden, dass ich meine echte -"   "Schon klar", winkte Matt ab und Mello heran, "los jetzt, sonst halten wir den ganzen Verkehr auf."   Weit und breit war niemand auszumachen, der auch nur den Anschein erweckte, sich für den Schießstand zu begeistern. Trotzdem gab Mello nach. Er trat endgültig an den Tresen und musterte das Luftgewehr, welches sein geschultes Auge als Diana Modell 30 identifizierte. "Diana", murmelte er. "Sehr männlich."   "Immerhin Göttin der Jagd, du Macho", griente Matt und ging auf Abstand, um nicht versehentlich den Lauf auf die Nase geschmettert zu bekommen. "Stell dich nicht so an. Nimm die Lady und hab Spaß mit ihr."   Dem Hünen gefiel das Wortspiel. Er entließ ein dröhnendes Lachen und hob die Hand, in die Matt reflexartig einschlug, ehe er das bereute und sich die jetzt fettigen Finger an seiner Jeans abwischte.   Auch Mello hatte mit Schmierigkeiten zu kämpfen, da die Diana mehr als großzügig mit Öl behandelt worden war. Es dauerte einen Moment, bis er das Luftgewehr so zu greifen bekam, dass es nicht wie ein Aal über den Tresen flutschte. Dann, endlich, steckte er das kleine Magazin in den dafür vorgesehenen Schlitz.   "Bereit?", hakte der Hüne nach, ohne eine Antwort abzuwarten. Stattdessen trottete er an die Seite der Bude und lehnte sich gegen ein Regal, das gefährlich unter dem Gewicht ächzte. Trostpreise und anderer Tinnef rutschten auf dem gebogenen Brett dichter beisammen.    Mello verzichtete darauf, dem Kerl länger als nötig Beachtung zu schenken, und legte an. Der Geruch des Öls kribbelte ihm in der Nase, während er über Kimme und Korn den ersten Stern anvisierte.    Peng!    Ein Stern wackelte. Nämlich der, der drei Nägel neben dem ausgewählten hing.    Durchatmen. Ganz tief. Und ganz oft. "Ist die Waffe manipuliert?", knurrte Mello, während er die zweite Kugel in den Lauf lud.   "Red keinen Blödsinn, Jungchen", brummte der Hüne. "Gib der süßen Diana nicht die Schuld, wenn du nicht zielen kannst."   Aus dem Augenwinkel linste Mello zu Matt, der erst unauffällig erwiderte und dann zwinkerte. Stillschweigend waren sie sich einig, dass gleich jemand sein blaues Wunder erleben würde.   Peng!   Die Nichtmanipulation mit einzuberechnen war gar nicht so schwer. Einen Stern anvisieren, den Winkel anpassen, abdrücken und zusehen, wie ein anderes Sternchen vom Nagel purzelte. Anschließend durchladen.   Peng!    Stern Nummer zwei plumpste klimpernd hinunter.   Peng!    Stern Nummer drei.   Peng!   Vier.   Peng! Fünf. Peng! Sechs. Peng! Sieben. Peng! Acht. Peng! Neun.   Der Hüne glotzte als hätte man ihm soeben das Blei in die Weichteile gepumpt. "Aber? Wie?"   Matt half ihm auf die Sprünge. "Mein Freund hat ein Händchen für Ladys wie Diana", gluckste er. "Ist das so ein Wunder? Immerhin war doch nichts manipuliert, oder?"   Daran erinnerte sich auch der Hüne. Seine Gesichtszüge sortierten sich zu einem selbstgefälligen Grinsen, ehe er sich umwandte und ins Regal grabschte. Kurz darauf knallte er Mellos Preis auf den Tresen. Einen Schlüsselanhänger in Form eines Hasen. Weiß, flauschig, mit großen Kulleraugen, die fast von den Nähten platzten, als Mello den Hasen in seiner bebenden Faust quetschte. "Was soll ich damit?"   "Du hast nur neun von zehn Sternen erwischt, also gibt es einen Trostpreis", behauptete der Hüne und dachte scheinbar, damit davonzukommen. Kam er nicht.   Mello packte den Kerl am Kragen und rammte ihn schwungvoll auf den Tresen. Größenunterschied und Körperbau hatten Mello noch nie interessiert, wenn es darum ging, seine Meinung durchzusetzen.   Wuchtige Beine strampelten in der Luft, während sich der Rest des Betreibers auf dem Holz windete wie ein fettiger Fleischkloß in der Pfanne. "Okay, okay", ächzte er, "ich hab mich vertan, ja? Du bekommst den Hauptpreis. Warte. Lass mich einfach los."   Kurzzeitig war Mello verleitet, den Typen länger braten zu lassen, doch Matts gemurmeltes "Ich bin gespannt." hielt ihn zurück. Nach einem letzten, überzeugenden Ruck schubste er den Hünen wieder auf die Füße. Der torkelte einmal um die eigene Achse und stampfte anschließend auf das Regal mit den Hauptpreisen zu, aus dem er einen mannsgroßen Plüschhasen zerrte und über den Tresen hinweg direkt in Mellos Arme schleuderte. "Da", schnaufte der Betreiber, "und nun haut ab, bevor ich mich vergesse."   "Ich glaube eher, dass du schon was vergessen hast", erinnerte Matt im liebenswürdigen Singsang eines Erpressers. "Du wolltest mir doch noch den Minigameboy da drüben geben, oder?"   "Hä?"   "Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass du das versprochen hast", knurrte der Hase, hinter dessen Schlappohren ein Mello mit kampflustigem Blick auftauchte, "damit wir unsererseits vergessen zu erwähnen, welche Show du hier abziehst."   Der Hüne schnappte nach so viel Luft, dass er beinahe platzte, hielt jedoch den Mund und packte dem Hauptgewinn den gewünschten Bonus bei.   Zufrieden stopfte Matt den Gameboy in seine Jeanstasche. "Super! Man, das hat sich ja gelohnt."   Ein überdimensionaler Plüschhase zählte zwar nicht unbedingt zu den Dingen, die Mello als lohnenswert erachtete, aber immerhin handelte es sich um einen Hauptgewinn. Daher umklammerte er ihn wie einen gigantischen Pokal, als er davonstolzierte.   Dicht gefolgt von Matt, dessen Mundwinkel auffällig zuckten, während er scheinbar nebensächlich meinte: "Cooler Hase."   "Halt's Maul", giftete Mello. "Gewonnen ist gewonnen, also nehme ich das Vieh auch mit nachhause, ist das klar?"   "Natürlich."   "Apropos -" Inmitten des Weihnachtsmarktes blieb Mello stehen. Die Besuchermassen hatten sich merklich gelichtet und nur der hartgesottene Kern lungerte noch vor dem Glühweinstand, einigen Fressbuden und wenigen Fahrgeschäften. "- nachhause. Du wolltest, dass ich eine verdammte Attraktion mitmache. Das hab ich. Und damit wäre das Ding ja wohl durch."   "Schon", zog Matt verheißungsvoll in die Länge, "aber eine klitzekleine Kleinigkeit will ich trotzdem noch erledigen, bevor wir abhauen."   Wäre der Hase lebendig gewesen, hätte er nun sein Leben ausgehaucht. Mello zerquetschte ihn beinahe, bis ihm die Watte aus den Ohren quoll. "Was? Willst du mich verarschen?"   "Nö, ich hab bloß meinen Plan geändert", zuckte Matt mit den Schultern und mit dem Kopf in die Richtung des Riesenrads. "Was hältst du von einer Runde? Danach bist du für heut auch erlöst."   "Dir ist bewusst, dass die Gondeln offen sind und ich dich rauswerfen könnte?"   "Mir ist bewusst, dass du das nicht tun würdest, Ebenezer." Unbeeindruckt von dem Mann mit Plüschhasen, schlenderte Matt auf das Riesenrad zu.   Natürlich wetterte Mello. Er wetterte, während Matt die Tickets kaufte. Er wetterte, während sie vor dem Riesenrad warteten. Er wetterte, während sie einstiegen. Und er wetterte sogar noch auf dem Weg in luftige Höhen.  "Ich hab echt so die Schnauze voll von diesem Tag", schloss Mello im zweiten Viertel der Fahrt.   "Wie immer", schmunzelte Matt, als er seinen besten Freund beäugte, der auf der gegenüberliegenden Bank neben dem Hasen fläzte und stur in die Nacht hinaus stierte. Matt folgte seinem Blick. Obwohl die Stadt selbst zu dieser Stunde nicht schlief, schien sie doch zur Ruhe zu kommen. Reklametafeln änderten ihre Anzeigen gemächlicher. Das Rot, Gelb und Grün der Ampeln wechselte in einem hypnotischen Takt, der den Verkehr tatsächlich beruhigte. Autos hupten nicht, sondern rauschten wie Wellen am Horizont. Und über all dem glimmten Sterne, die man hier nur selten zu Gesicht bekam. Aber heut waren sie da.   "Was meinst du?", maulte Mello, nachdem die Kälte in der Gondel sein Gemüt etwas abgekühlt hatte.   "Dass du immer die Schnauze voll von diesem Tag hast."   "Red Klartext", entfachte das gewohnte Feuer schneller als erwartet. Allerdings glich es noch einem lodernden Kamin und keinem Flächenbrand.   Matt seufzte. "Wenn du nur ein mal den Adventskalender, den ich dir jedes Jahr besorge, normal öffnen und nicht komplett aufreißen und leerfressen würdest, wüsstest du, was ich meine."   Ein Ruck ging durch die Gondel, als sie den Höhepunkt des Riesenrades erreichte. Es stoppte, um neue Fahrgäste einsteigen zu lassen, aber von diesen bekamen die beiden Freunde nichts mit. Sie pendelten bloß im Nachtwind, starrten einander an und wägten ab, was der jeweils andere gleich sagen könnte. Matt rechnete damit, dass Mello ihm demnächst um die Ohren flog, falls er nicht allmählich begriff, welche Bedeutung der aktuelle Tag hatte. Daher gab er ihm lieber einen Tipp. "Als normaler Kalenderöffner hättest du heut das 13. Türchen aufgemacht."   "Was?", zischte Mello bereits wie eine Zündschnur.   "Heut ist der 13."   "Und?"   "Der 13. Dezember."   "Bist du die verfluchte Sphinx?", explodierte Mello. "Was zum Henker willst du mir verdammt nochmal - oh!"   "Jetzt hat er's", stieß Matt erleichtert aus und klatschte in die Hände.   Wie auf Kommando nahm das Riesenrad wieder Fahrt auf. Auch in Mello rotierte einiges. Zahnräder griffen ineinander. "Du hast mich nur deswegen den ganzen Tag auf Trab gehalten und sogar auf diesen scheußlichen Weihnachtsmarkt geschleppt?", stutzte er.   "Nun untertreibe mal nicht. Das ist ja wohl ein guter Grund, dir auf den Sack zu gehen. Zumal du heut sonst nichts anderes getan hättest, als dir den Kopf zu zermartern", fegte Matt mit einer lapidaren Bewegung seiner Hand beiseite, welche daraufhin in seiner Hosentasche landete. Auf der Suche nach Zigaretten und Feuerzeug kramte er an allerlei Firlefanz vorbei, dem Minigameboy und ... "Hups!", glotzte er dem Schlüsselanhänger hinterher, der ihm aus der Jeans geplumpst war. Da es sich so für einen Hasen gehörte, hoppelte er davon. Zwar schwankte die Gondel nicht sonderlich stark, aber stark genug, um einem winzigen Karnickel Beine zu machen.   "Du hast das scheiß Ding mitgenommen?", ätzte Mello und schnappte nach dem Anhänger. Der hüpfte jedoch knapp vor seinen Fingerkuppen durch den kleinen Spalt zwischen Gondeltür und Bodenblech.   "Was denn?", gluckste Matt. "Wolltest du den doch behalten? Siehst du, deshalb hab ich ihn mitgenommen. Für den Fall, dass -"   "Laber nicht", motzte Mello, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich wollte bloß nicht, dass das hässliche Teil aus dreißig Metern nach unten rauscht."   "Weil?"   Pure Gereiztheit blitzte auf. "Bist du bescheuert? Hast du vergessen, was mit einem Gegenstand passiert, der aus so einer Höhe aufprallt?"   Matt witterte Physik und rümpfte die Nase. "Er geht kaputt?" Da sich Mellos Miene allmählich zu einer Schlechtwetterfront verdunkelte, überwand Matt sich doch noch zu einer einigermaßen einleuchtenden Antwort. "Und er macht was kaputt, wenn dieses 'was' nicht stabil genug ist. Aber so ziemlich alles auf der Welt ist stabiler als ein Miniplüschhase, also bleib locker. Außerdem gibt's da unten extra eine Absperrung für solche Fälle. Seit wann bist du so ein Schisser?"    "Schisser?", donnerte Mello los. "Ich hab nur keinen Bock in einem Riesenrad zu verrecken, nachdem ein dämliches Karnickel in die Steuerkonsole gekracht ist. Wenn ich krepiere, dann mit Würde, und nicht, weil ich aus einem Karussell geschleudert werde. Zumal das dem ganzen Tag echt noch die Krone aufsetzen würde."   "Daher weht also der Wind." Es kostete Matt größte Selbstbeherrschung, nicht zu grinsen. Er schüttelte sich die zuckenden Mundwinkel aus dem Gesicht und seufzte. "Du glaubst nicht mal heute daran, dass dir einfach nur was Gutes passiert, hm? Man, Mello, vertrau doch mal darauf, dass sich nicht alles gegen dich verschworen hat."   Mello schnaufte Wölkchen in die kalte Luft, sagte aber nichts, sondern starrte schweigend in die Nacht hinaus.    Den letzten Moment, bevor die Gondel sie beide wieder in den Trubel scheuchen würde, nutzte Matt für die Worte, die er eigentlich nicht sagen wollte. Sie waren viel zu schnulzig, passten überhaupt nicht zu ihm, verrieten aber hoffentlich, dass Matt es heut aufrichtig gut gemeint hatte. "Happy Birthay, Mihael."                                                                                              ~   Am nächsten Tag war von Gefühlsduselei längst keine Rede mehr.   Wie gewohnt lümmelte Matt auf einem Sessel in den Schatten der Übergangsbehausung, die er sich mit Mello während des Kira-Falls teilte, und zockte auf seinem Minigameboy.   Mello lümmelte - nicht ganz wie gewohnt - auf dem Sofa. Als Lehne missbrauchte er den gigantischen Plüschhasen, von dem er steif und fest behauptete, dass er nun mal eine Trophäe sei, und zappte durch die TV-Kanäle, um Informationen aufzuschnappen. Bei NHN, dem Nachrichtensender, blieb er hängen und lauschte dem Bericht einer aufgetakelten Moderatorin.   "... gab es ein Unglück auf dem ortsansässigen Weihnachtsmarkt. Während der Recherche zum Thema 'Sicherheitsvorkehrungen im Schaustellerbetrieb' setzte unsere geschätzte Kollegin laut Augenzeugen kurzzeitig ihren Schutzhelm ab, was leider in genau dem Moment geschah, als ein Schlüsselanhänger vom Riesenrad stürzte. Dieser Anlass sollte uns alle lehren, immer vorsichtig zu sein. Auch in Gedenken unserer werten Kiyomi Takada."   "Bloß ungefährliches Plüsch, ja?", murrte Mello.   Ohne aufzusehen zuckte Matt mit den Schultern. "An den Schlüsselring hab ich nicht gedacht."   "Ich wusste doch, dass immer irgendein Scheiß passiert."   "Wenigstens ist er nicht dir passiert, Ebenezer." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)