Alpha EINS - Game 0n von Puppenprinzessin ================================================================================ Prolog: Log in -------------- „Es funktioniert!“ „Natürlich funktioniert es, was hast du denn gedacht?!“ Die beiden Geschwister sahen sich an, nur um nach kurzer ungläubiger Stille in haltloses, überglückliches Lachen auszubrechen. „Es funktioniert tatsächlich!“ „Stell dir vor, was für Wellen das hier schlagen wird! Wir werden die Rekorde der Gaming-Charts sprengen und allen Irdischen die beste Möglichkeit zum Eskapismus bieten, die es je gab!“ Der ältere der beiden hob triumphierend eine Faust in die Luft, noch immer bis über beide Ohren grinsend. „Du klingst schon genauso abgedreht, wie das hier ist, Matt. Im Ernst. Wir sind nicht einmal in der Beta-Phase. Nur, weil es für uns beide funktioniert, heißt es nicht, dass wir Alpha EINS kommerziell verfügbar machen können!“ „Komm schon Pidge. Wenn wir es nicht können – wer dann?“ Kapitel 1: Capture the Flag --------------------------- || Zwei Jahre später ||   „Willkommen zu einer neuen Runde ‚Capture the Flag‘! Für die Newbies unter euch: Alle angemeldeten Player werden ihrem Level nach in Teams sortiert – rot oder blau. Ihr spawnt mit eurem Team in einer Höhle voller Mobs, die ihr besser schnell erledigt. Sobald ihr das getan habt, öffnet sich euer Gebiet und ihr habt Zugang zur Höhle des anderen Teams. Stehlt deren Flagge und bringt sie zu eurer Base zurück. Und zwar ohne dabei durch das gegnerische Team drauf zu gehen! Schafft ihr das, tragt ihr den Sieg nach Haus. Alles klar? Auf die Plätze – fertig – “ „Hau rein, Pidgey. Friss Staub!“ „Nur über deine virtuelle Leiche!“ „LOS!“ Für einen kurzen Moment erhellte gleißende Helligkeit ihr Sichtfeld, bis sie in komplette Dunkelheit getaucht wurde. Aus kurzer Entfernung kam sie auf einem Knie auf, hörte, wie die Axt, die sie für diese Runde gewählt hatte, sich in den steinernen Boden trieb. Pidge blieb nicht viel Zeit, sich umzusehen, auszumachen, wo ihre Teamkollegen waren und welche Art von Monster das System für sie ausgesucht hatte. „The Fuck?!“ Ein irritierter Schrei ließ sie nach rechts sehen, wo ein weiterer Spieler gerade sein Schwert gegen einen überdimensional großen Pinguin erhob. Pinguin?? Pidges Blick schoss zurück, nur um das erneut aufkeimende Grinsen auf ihr Gesicht zu treiben. Pinguine. Ungefähr zwanzig von ihnen. Das bedeutete, dass das Durchschnittslevel ihres Teams in etwa bei 25 lag und sie leichtes Spiel haben würde. Ihr Bruder… allerdings auch, was sie dazu bewegte, sich direkt mit ins Getümmel zu stürzen. Mit einem Kampfschrei riss sie ihre Axt aus dem Boden, um sich aus vollem Laufe auf den nächstbesten Gegner zur stürzen. Ein heftiger Streich ließ den Pinguin vor ihr zusammenfahren, ehe er im Nichts verpuffte. An seiner Stelle schwebten einige Goldmünzen in der Luft, durch die sie hindurchlief, um sie ihrem Geldbeutel hinzuzufügen. Da nun kein Gegner in unmittelbarer Nähe war, beschloss sie, einige Buffs anzuwenden, um ihre Angriffsstärke und Defensive zu erhöhen. „Hey, Zwerg, war das ‘n Level 30 Buff!?“ Aus dem Nichts tauchte ein Spieler neben ihr auf, dem sie gerade mal bis zur Schulter reichte. Nargh, wieso musste sie einen so winzigen Charakter designen, wenn sie mal die Chance hatte, größer zu sein? Nun durfte sie zu dem Kerl hochsehen, der sich scheinbar lieber auf sie konzentrierte, als auf die wildgewordenen Pinguine, die ihre Teammitglieder umtackelten, um sie zu attackieren. „War es. Allerdings nicht auf andere Player anwendbar, sorry.“ „Nich deswegen – müsstest du nicht eigentlich ein Team höher eingestuft werden?“ „Das ist jetzt dein Problem?“ Reflexartig zog sie ihn zur Seite, als einer der Pinguine versuchte, sich auf ihn zu stürzen. Pidge wich aus, drehte sich um sich selbst und sprang, um dem Monster ihre Axt über den Schädel zu ziehen. Leichtfüßig landete sie und sah zu dem Kerl hoch, der sie nun skeptisch mit hochgezogener Augenbraue musterte. „Du machst die Viecher Onehit. Das ist irgendwie gleichzeitig beeindruckend und deprimierend.“ Pidge schenkte ihm ein Augenrollen und scannte erneut ihre Umgebung. Die Hälfte ihrer Gegner war mittlerweile verpufft und sie versuchte, auszumachen, wie viele Player ihr Team umfasste. „Wir sind zu fünft“, stellte sie fest. Zwei Spieler schlugen sich auf der Südseite der Höhle sehr effektiv zusammen durch eine Gruppe Pinguine, während der fünfte… „UAAARGH“ … ganz klar in Bedrängnis geriet. Wieder lief sie los, so schnell sie ihre kurzen Beine trugen. Scheinbar war es ein Barde, dem sie da zu Hilfe eilte; eine defensive Kaste. Noch hielt er drei Pinguine mit Abwehrsprüchen von sich fern, allerdings konnte sie ahnen, wie sehr das an seinen Magiepunkten zehrte. Gerade wollte sie ihm zurufen, dass er durchhalten sollte, als auf dem Rücken des linken Pinguins der Typ auftauchte, der gerade noch hinter ihr gewesen war. Teleportationsfähigkeiten? Spannend. Zumindest war er nicht dumm, die Monster von hinten anzugreifen. Kurz nachdem er angefangen hatte, auf den Kopf des Pinguins einzuprügeln, umrundete sie einen anderen, um ihn ebenfalls von hinten anzugreifen. Der dritte nutzte derweil die Chance, den Barden endgültig umzutackeln und ihn mit strangulierender Stärke an seine Brust zu drücken. Was sie sich bei diesen Kuschelattacken gedacht hatte, wusste sie auch nicht mehr… „Halt durch!“ Wieder fiel sie durch einige schwebende Goldmünzen, bevor sie auch den letzten Pinguin erledigte. Die Gesundheitsanzeige dessen, auf den noch immer eingeprügelt wurde, befand sich mittlerweile auch im roten Bereich und Pidge nutzte die Gelegenheit, um dem Barden aufzuhelfen und ihm einen ihrer Heiltränke zuzustecken. „Danke! Die hätte ich echt nicht allein geschafft. Sehen gar nicht so fies aus, die Biester.“ „Schätze, die sind so konzipiert. Alles gut?“ „Jop. Wieder. Ihr kamt im richtigen Augenblick.“ „YEAH!“ Mit einem Siegesschrei wurde der letzte ihrer momentanen Gegner besiegt und sie kamen einen Moment zur Ruhe. Ein Blick in die entgegengesetzte Hälfte der Höhle sagte, dass die beiden anderen Spieler keinerlei Probleme mit ihrem Anteil der Riesenpinguine hatten. Pidge atmete auf. „Wir sollten eine Party gründen, um alle im Blick zu haben“, schlug sie vor und erntete Nicken. Der Typ mit den Fuchsohren – wieso hatte sie die vorher nicht bemerkt? – förderte einen Kommunikator zutage und ließ eine Programmschablone laufen. „Hier.“ Einwilligend hielten der Barde und sie ihre Handgelenktransmitter über den Kommunikator, um ihre Daten weiterzugeben. „‘Ladykiller‘?! Was bist du denn für ein wandelndes Klischee?“ Mit hochgezogener Augenbraue sah sie den Fuchsjungen an. Ein besserer Nickname war ihm wohl nicht eingefallen. „Wer macht sich jetzt hier über unwichtige Dinge Gedanken?“ Herausfordernd sah er sie an, was sie nur dazu bewegte, die Hände in die Hüften zu stemmen und zu einer Erwiderung anzusetzen – „Jungs, wir haben besseres zu tun. Gehen wir die anderen beiden einsammeln und dann los!“ ‚_HUNK_‘, der Barde, wies sie mit einem Kopfdeut zu den anderen und setzte sich in Bewegung. Noch auf dem Weg zu ihren Teammitgliedern konnte Pidge erkennen, dass die zwei ein eingespieltes Team waren. Die letzten zwei Monster waren schnell von ihnen besiegt und auch sie loggten sich in ihre Party ein. „Hi zusammen“, grüßte der größere von ihnen. ‚Paladin_Shiro‘ – sie waren alle so kreativ. Pidge schätzte, dass hier jemand zum ersten Mal ein MMO spielte. ‚ThunderstormDarkness‘, der neben ihm stand und seine Sicheln an der Halterung an seinem Rücken befestigte, nickte nur. „Hi. Der Durchgang sollte sich öffnen, da wir alle Mobs erledigt haben. Lasst uns kurzen Prozess mit Team Blau machen!“ Kollektives Kampfgeschrei begleitete ihren Weg durch den sich nun offenbarenden Tunnel in die gegnerische Höhle. Scheinbar kamen sie im richtigen Moment. Das andere Team wurde gerade mit ihrem letzten Pinguin fertig, als Pidges Party ankam. „Drei sollten sie ablenken, Hunk bufft uns und einer stiehlt die Fahne“ schlug sie nur von ihrem Team hörbar vor. Hunk stimmte direkt zu und begann, Schutzzauber um sie zu weben. „Hol du die Flagge, du bist am kleinsten“, koordinierte der Sicheljunge. Der Paladin neben ihm stimmte zu und da sie damit eine demokratische Mehrheit bildeten, machte sie sich auf den Weg; möglichst unauffällig an der Wand entlang, auf die gegnerische Flagge zu. Alarm schellte durch die Höhle, als ihre Hände den Stab umfassten und kurz wurde das Waffengeklirr in ihrem Rücken übertönt. Die Zähne zusammenbeißend rannte sie los, zurück auf den Durchgang zu. „He, Gremlin!“ Ein Feuerzauber traf sie seitlich und schleuderte sie ein Stück durch die Luft. Pidge war gezwungen, sich abzurollen, verlor dabei aber die Flagge. War ja klar, dass sie gefunden wurde. Der Charakter ihres Bruders stand ihr Gegenüber, den zepterartigen Stab erhoben und grinsend. Wahrscheinlich war er hier der Einzige, der ihr leveltechnisch das Wasser reichen konnte und genau dieser Umstand gestaltete die Situation schwierig. „Glaub nicht, dass ich dich einfach so davonkommen lasse!“ Ein weiterer Zauber kam auf sie zugerast, diesmal begleitet von gleißend grünem Licht. „Hab ich nicht gedacht!“ Pidge hob ihre Axt, wehrte den Zauber ab. Eigentlich sollte sie das nicht können, aber – „Du hast ein Upgrade einprogrammiert? An den Abwehreigenschaften rumzuwerkeln, ist Cheating, Pidge!“ „Beschwer dich nicht, ich weiß, wie gern du Herausforderungen magst!“ Außerdem war sie mit ihren Äxten, die nunmal auf Nahkampf ausgerichtet waren, unterlegen. Zwei weitere Zauber wehrte sie ab, ehe sie dem dritten auswich. Nur einen kurzen Blick zu ihren anderen Teammitgliedern erlaubte sie sich, um herauszufinden, wie es um ihre Situation stand. Scheinbar hielt Hunk sie alle sehr effektiv am Leben. Dank ihrer Unachtsamkeit erwischte sie Matts nächster Zauber und ließ ihren Körper unsanft mit er Wand kollidieren. Ihr Gegenüber trat näher und hob die Flagge auf. „Die hier nehme ich. Und nachdem ich sie zurückgebracht habe, werde ich mir eure schnappen ~“ „Das… glaubst auch nur du!“ Leichtes Keuchen untermalte Pidges gequälte Worte. Vielleicht sollten sie an den Empfindungsparametern schrauben? Das war doch schon ziemlich unangenehm. Dennoch hielt es sie nicht davon ab, eine Rauchbombe aus einer ihrer Taschen zu klauben und sie Matt entgegen zu schmeißen. Nur einen Moment später wurden sie von dichtem Smog eingehüllt. Pidge hoffte, sie hatte die Entfernung richtig eingeschätzt, als sie loshechtete und dorthin sprang, wo sie den Charakter ihres Bruders vermutete. Hart traf sie auf einen Körper, bekam beide Stäbe zu fassen und entriss sie ihm. Scheinbar war Matt noch ausreichend überrumpelt von ihrer Finte, um nicht direkt mitzuschneiden, was vor sich ging. „Arrivederci!“ Sagte sie zumindest – wurde aber Lügen gestraft, als sich eine Hand um ihren Knöchel schloss und sie unsanft auf dem Boden aufkommen ließ. Beide Stäbe entglitten ihr und schlitterten im Rauch davon. „Du kämpfst heute echt mit allen Mitteln, was?“ „Bist du was anderes von mir gewohnt?!“ Pidge strampelte, ihr Fuß traf auf etwas Hartes und der eiserne Griff lockerte sich ausreichend, um davon kriechen zu können. Inzwischen konnte sie weitere Mitspieler um sich herum husten hören; scheinbar vertrugen den Rauch nicht alle so gut. Orientierungslos tapste sie einige Schritte durch die Höhle, bis ein heftiger Luftzug den Rauch beiseite blies. Zirkulär wurde er weggetragen, in der Mitte der Böen eine Magierin, die wohl für den Wind verantwortlich war. Dummerweise lenkte sie somit auch die Aufmerksamkeit auf sich, was der Sicheljunge aus Pidges Team als Anstoß nahm, sie anzugreifen. Der Wind verebbte und vereinzelte Rauchschwaden blieben zurück. Fasziniert verfolgte Pidge, wie Matt sich aufrappelte und mit bloßen Händen zwischen die hübsche Magierin und ihren neuen Gegner hechtete. Prioritäten musste man haben. Zumindest ermöglichte ihr dieses Aufmerksamkeitsdefizit ihres Bruders, die Flagge erneut einzusammeln und ihren Weg fortzusetzen. Weit kam sie allerdings nicht, da sich ihr zwei ihrer Gegenspieler in den Weg stellten. Einer von ihnen richtete seinen Bogen auf sie, während der andere seine Wurfmesser zückte. „Im Ernst? Besteht das Team nur aus Distanzkämpfern?!“ Fakt war, dass sie Schwierigkeiten bekommen würde, beide abzuwehren, wenn sie die Flagge weiterhin in Händen hielt. Einen Moment zu lang überlegte sie, war dann gezwungen, dem ersten Pfeil auszuweichen… Und dann fiel ihr Blick auf den Durchgang, der sie zurück in ihre eigene Höhle führen würde. Mr. Ladykiller stand dort, fuchtelte wild mit den Armen und zeigte schließlich auf sich. Na wenn das mal gutging. Einem weiteren Pfeil sowie zwei Wurfmessern entging sie knapp, wickelte dann das Fahnentuch um die zugehörige Stange und schleuderte sie kurzerhand mit allem was sie hatte über die Köpfe ihrer Feinde hinweg und in Richtung des Fuchsjungen… der sie fing und auf der Stelle mit ihr verschwand. Nur Sekunden später ertönte die Siegesfanfare des roten Teams. Sie hatten gewonnen. Die Höhle um sie herum löste sich auf und wieder wurde alles in helles Licht getaucht. Zurück war sie in der Stadt, in der sie sich für das Event angemeldet hatte. Reges Treiben umfing sie und weit und breit war keins ihrer Teammitglieder zu sehen. Scheinbar hatten sie sich alle an unterschiedlichen Punkten auf der Weltkarte registriert. Pidge checkte die Erfolge auf ihrem Kommunikator. Sie war dreihundert Goldstücke schwerer und hatte ein Rüstungsteil gefunden, das magische und defensive Eigenschaften enorm aufrüstete. Eine Nachricht im Chat poppte auf. [Party] Ladykiller: Ich hab ‘nen Bogen gefunden, wie cool ist das denn! [Party] ThunderstormDarkness: GZ, jetzt hast du auch eine Waffe. War ja nicht mit anzusehen. [Party] Ladykiller: He, ich hab für unser Team gewonnen, okay?! [Party] ThunderstormDarkness: Mit bloßen Händen. [Party] _HUNK_: Ganz ruhig, Jungs! Ist doch alles gut gelaufen! [Party] Paladin_Shiro: Er hat recht. Das Ende kam ziemlich schnell. [Party] Ladykiller: Seht ihr? Ich bin ein Held. [Party] ThunderstormDarkness: Ohne den Zwerg wäre das nichts geworden. [Party] _HUNK_: Die Rauchbombenaktion war ziemlich cool. Wusste nichtmal, dass das geht. [Party] Pidge: War ein Item, das ich im letzten Event gewonnen hab. :D [Party] Ladykiller: Wir waren ein echt gutes Team! Gerne wieder. [Party] ThunderstormDarkness: Jo. Kann nur besser werden. [Party] Ladykiller: D: [Party] _HUNK_: Gern wieder! Pidge schloss den Chat. Sprachkommunikation war sehr viel angenehmer, funktionierte allerdings nur, wenn Partymember in der unmittelbaren Umgebung waren. Momentan befand sie sich in einer Wüstenstadt, Arcalia. Neue Spieler hatten die Wahl, ob sie hier oder in einer der anderen größeren Städte starten wollten. Dementsprechend war viel los, die Straßen waren voll. NPCs boten an jeder dritten Ecke Nebenquests an und Spieler, die ihr Hab und Gut versetzen wollten, hatten Stände aufgestellt, an denen sie die Waren anboten. Große Sandsteingebäude säumten die Straßen und alle zwei Stunden wurde das nächste Event angekündigt. Pidge schlenderte durch einige Gassen, um einen kleinen Shop zu finden, der Roben verkaufte. Verschiedene Stoffe hatten unterschiedliche Attribute, unterstützten verschiedene Fähigkeiten oder erhöhten Resistenzen gegen gewisse Gefahren. Sie genoss es, die virtuellen Details anzusehen und zu erleben und auszuprobieren. Seit sie mit ihrem Bruder Alpha EINS entwickelt hatte, hatte sich viel verändert. Zuerst hatten sie nur an einer Stadt gearbeitet, dann an einer ganzen Welt. Und je größer das Interesse an dem Spiel wurde, desto weiter bauten sie es aus und erweiterten seine Möglichkeiten. Es war harte Arbeit, aber in Momenten wie diesen, in denen das Fantastische so greifbar war, lohnte es sich umso mehr. Pidge entschied sich für eine enge Lederrüstung, auf die das zusätzliche Schulterteil, das sie soeben gewonnen hatte, sehr gut passen würde. Die Eigenschaften ergänzten sich und der Goldgewinn konnte hierfür ausgezeichnet eingesetzt werden. Sie zahlte und legte die neuen Items durch gezieltes Klicken in ihrem Inventar an. Definitiv angenehmer, als das Kettenhemd, das sie zuvor getragen hatte. Als sie aus dem Geschäft trat, piepte ihr Kommunikator. Es war Matt. [Privat] Rebell: Schön hast du das eingefädelt vorhin. Bin fast ein bisschen stolz auf dich ;p Ich werd mich jetzt ausloggen und an dem Paper arbeiten. Denk dran, dass wir in T-1,5 zum Pizzaessen verabredet sind. [Privat] Pidge: Alles klar. Den letzten Final Destination zum Essen? Ich checke dann bis dahin die neue Gegend, einige Mobs haben gelaggt. [Privat] Pidge: [Privat] Pidge: Neue Rüstung sponsored by Aufmerksamkeitsdefizit meines Bruders für hübsche weibliche Charaktere [Privat] Rebell: IHU. Bis gleich. Grinsend steckte Pidge den Kommunikator weg. Zeit, ein paar Monster zu töten. Kapitel 2: Offline ------------------ Seufzend setzte Katie die VR-Brille ab und legte die beiden Controller zur Seite. Mit zusammengepressten Lidern streckte sie sich, blickte dann kurz orientierungslos durch die Dunkelheit. Es war spät geworden und dank des eintreffenden Herbstes sank die Sonne immer schneller. Schon wieder hatte sie zu viele Stunden in Alpha EINS verbracht und schon wieder landeten mehrere Gedanken auf der Liste der Punkte, die sie noch einmal würde überarbeiten müssen. Sie fuhr sich durch die Haare, als sie aufstand. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Glas bereits, welches sie füllte und in einem Zug leerte, nachdem sie die danebenstehende Lampe angeknipst hatte. Eine Angewohnheit, die sie unterbinden wollte; sie sollte zumindest zwischendurch an ihre Hydration denken. Ihr Handy sagte ihr, dass sie noch zwanzig Minuten Zeit hatte, bis Matt sie erwartete, was sie dazu brachte, noch kurzerhand unter die Dusche zu steigen. Katies Kopf beschäftigte sich damit, was in-game passiert war und schmunzelte über die Defensiv-Modifikation ihrer Axt. Matt hatte Recht, wenn er sagte, es war Cheating – allerdings konnte man sich als Erfinder und Programmierer des Spiels so einiges erlauben. Da sie sich in erster Linie mit ihm maß, ging das irgendwie klar. Heißes Wasser strömte bald schon über ihre Schultern und ergeben legte sie den Kopf in den Nacken, um ihre Haare ebenfalls zu durchnässen. Mittlerweile reichten sie ihr bis auf die Rückenmitte und auch, wenn sie dringend wieder zum Friseur müsste, schaffte sie es zwischen Masterarbeit, Spielinstanthaltung und -weiterentwicklung und restlichem Leben nicht. Es reichte, dass Matt und sie mindestens drei Mal die Woche Essen bestellten. T-0,05 tapste Kathleen Holt in Jogginghose, einem von Matts Pullis und Handtuchturban in ihr gemeinsames Wohnzimmer und studierte im Laufen bereits die Speisekarte ihrer Lieblingspizzeria. Fast wäre sie über die Füße ihres Bruders gestolpert, der auf dem Sofa so weit nach unten gerutscht war, dass sein Steißbein kaum noch von der Kante des Möbelstücks getragen wurde. „Die Mobs in der Oase haben irgendeine Art von Fehler im Coding. Bleiben ständig hängen. Wir sollten nochmal drüber gucken, bevor wir den Bereich eröffnen.“ „Hmmmmmm“, kam die unhilfreiche Antwort in Form eines Murmelns. Scheinbar war jemand sehr aufmerksam auf sein Handy fokussiert. Katie zog nur ihre Augenbrauen hoch, stieg über seine Beine und setzte sich in die gegenüberliegende Ecke der Couch. Als noch immer keine weitere Reaktion folgte, warf sie ihm die Speisekarte in den Schoß. „Matthew.“ „Jaaah, Moment.“ Er richtete sich auf und tippte noch schneller. Neugierig geworden krabbelte Katie wieder zu ihm hinüber und sah über seine Schulter. „Ist das… Wart mal, ist das die Windmagierin aus dem CTF heute?“ „Hhmhmmmmm.“ „Maaaaatt, wir stalken doch keine Player! Du machst dich strafbar, wenn du die IP zurückverfolgst. Das ist Datenmissbrauch~“ Mit gespielt kritischer Intonation maßregelte sie ihn und musste dann darüber lachen, dass ihrem Bruder scheinbar jemand den Kopf verdreht hatte. „Ich wollte nur wissen, ob sie tatsächlich ein Mädchen ist!“ „Die Statistik hat dich fertig gemacht, hm? Nur, weil siebzig Prozent der Spieler männlich ist und sich Kerle gern mal weibliche Avatare basteln, trifft das noch nicht auf jeden Player zu.“ „Du hast gut reden! Dein Ava ist ein Kerl!“ „How to survive in a realm ruled by guys, a guide by Katie.“ „Jaja, du willst die Jungs nur nicht ablenken. So… wie Allura mich.“ Katie verdrehte die Augen, nahm Matt schließlich das Handy aus der Hand und ersetzte es einmal mehr dringlich durch die Speisekarte. „Ich kann nicht fassen, dass du dich in ihr Konto geschaltet hast. Such jetzt was aus, ich hab‘ Hunger.“   Eine Stunde später saßen die Geschwister einträchtig Pizza kauend zusammen und beobachteten, wie die Protagonisten des Filmes darüber rätselten, wie sie dem Tod entgehen konnten. Ihre Argumentationsstruktur hatte schon die ein oder andere hochgezogene Augenbraue zur Folge gehabt. „Sie hätten sich vielleicht ihrem Schicksal ergeben sollen, als die Rakete sie in den Weltraum schießen sollte. Dann wäre das Ding explodiert und es wäre Ruhe.“ „Und es würde sich nicht lohnen, einen Film darüber zu drehen“, entgegnete Matt trocken, nachdem er geschluckt hatte. Verstohlen sah er immer wieder zu seinem Smartphone. Katie ließ ihm noch zwanzig Sekunden Zeit, bis sie beschloss, dass sie besser nicht wieder von der ominösen Allura – die Magierin, die in dem Event am Mittag den Rauch ihrer Bombe weggefegt hatte – anfangen wollte. Scheinbar hatte ihr Bruder sich an seinen Vorsatz gehalten und den Datensatz nicht tiefergehend überprüft. Abgesehen davon gab es andere Dinge, die wahrscheinlich Priorität haben sollten. „Kannst du mich morgen eventuell an der Uni einsammeln? Ich hätte ansonsten fünfundzwanzig Minuten, um in die Stadt zu kommen und ich will den Termin bei Krolia nicht verpassen.“ Sie selbst hasste es, unpünktlich zu sein; etwas, das sie mit ihrer Agentin gemeinsam hatte. Matt nickte. „Ich werde mich ihr sicherlich nicht allein ausliefern. Sie klang, als hätte sie Gutes zu berichten, wobei es ein Wunder wäre, könnte man es ihr anhören. Sie ist achtzig Prozent der Zeit gruslig.“ „Du klingst, als wären Struktur und Durchsetzungsvermögen etwas Schlechtes.“ „Ich meine nur, dass ich manchmal daran zweifle, dass sie menschlich ist. Niemand ist so… effizient.“ „Sie schon“, entgegnete Katie mit einem Schulterzucken und einem Biss in ein neues Stück Peperonipizza. „Weißt du, worum es geht?“ Die Antwort blieb einige Sekunden aus, in denen sie gebannt dabei zusahen, wie eines der Mädchen aus der Gruppe dem Tode Geweihter von einem Stalaktit aufgespießt wurde. Ein Teil der Höhle, in der sie sich hatten verstecken wollen, war zusammengebrochen. „Nur, dass es Neuigkeiten gibt. Nicht genau, welcher Natur diese Neuigkeiten sind.“ Seufzend legte Matt den leeren Pizzakarton auf dem Couchtisch ab, ehe er sich zurücklehnte. „Allerdings klang sie nicht, als hätten wir uns etwas zu Schulden kommen lassen, also…“ Er ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen. Nun war es an Katie, zu nicken. „Okay. Ich denke, ich bin gegen zwei fertig. Eigentlich muss ich nur was abgeben. Ich warte an der Ecke mit dem Campuscafé.“ Wieder wollte sie abbeißen, entschied sich dann aber dafür, das angebissene Pizzastück zurück in die Packung zu legen und verzog beim Blick auf den Fernseher letztendlich doch angewidert das Gesicht. Ein Protagonist wurde gevierteilt und der Zuschauer konnte genauestens beobachten, wie Muskelfasern und Sehnen rissen. „Den Rest gibt es scheinbar zum Frühstück.“   Der nächste Morgen kam früher als erwartet. Da Matt scheinbar genug Disziplin besaß, sich nach dem Film tatsächlich noch mit seinem Paper auseinanderzusetzen, blieb es an ihr hängen, sich die fehlerhaften Stellen von Alpha EINS noch einmal genauer anzusehen. Es war nicht so, als hätten sie eine Deadline, bis zu der der neue Bereich fertig gestellt sein sollte, aber da das Spiel ein Herzensprojekt war, steckten sie viel Zeit in die direkte Instanthaltung. Beide Holt-Geschwister wurden außerdem von dem Drang getrieben, sich und ihr Baby weiterzuentwickeln, was unweigerlich zu vielen in Spiel verbrachten Stunden führte. Folglich hatte Katie fast bis zum Sonnenaufgang Zeit damit verbracht, Fehler in Quellcodes und Programmierungen zu finden und auszubessern, um danach noch gut eine Stunde zu investieren, ihren Avatar durch die Oase zu jagen und die Umgebung sowie ihre Monster auf Funktionstüchtigkeit zu prüfen. Es war keine Seltenheit, dass ihr Schlaf-Wach-Rhythmus ausreichend durcheinanderkam, dass sie gegen Mittag beim fünften Weckerklingeln aufgescheucht aus dem Bett fiel. Nach der üblichen Morgenroutine schmiss sie sich in Bluse und Bleistiftrock, band sich einen hohen Zopf und hoffte darauf, einen präsentablen Eindruck zu vermitteln. Wenig später war sie mit gepackter Tasche aus der Tür gefallen, um sich auf den Weg zur Uni zu machen, wo sie ihrem Professor die ersten thematisch gegliederten Entwürfe für ihre Abschlussarbeit präsentieren wollte. „Der Termin ist um halb zwei. Das passt. Ich habe genug Zeit und wenn der Bus pünktlich ist, kann ich Kaffee dazwischen schieben…“ Katies Worte entwickelten sich zu einem Mantra und obwohl sie nichts zu befürchten hatte – etwas, das ihre Prüfungsnoten und ihr Ehrgeiz belegten – ließ sich der Gedanke, dass ihr Prüfer mit ihrer Arbeit nicht zufrieden sein könnte, nicht abschütteln. Nervosität machte sich während der Fahrt breit und sobald sie ankam, war sie nicht mehr ganz so sicher, ob zusätzliches Koffein wirklich eine gute Idee war. Dennoch. Routine beruhigte. Was außerdem beruhigte, war Musik. Musik, die die lärmenden Studenten ausblendete, als sie ins Unicafé trat und sehr zielsicher auf die Theke zusteuerte, um als dritte in der Reihe einen einfachen schwarzen Kaffee zu bestellen. Heute mal nicht extrastark. Die Verwunderung des Baristas nahm sie in Kauf, steckte dann ihren Ohrhörer wieder ein, um sich erneut auf den Refrain ihres momentanen Lieblingsliedes zu konzentrieren und am anderen Ende der Theke auf ihr Getränk zu warten. Alles lief gut. Alles lief wie immer, die Routine war entspannend. So lang, bis sie jemand am Arm antippte und ihre Aufmerksamkeit zu einem rapiden Fokus zwang. Dass sie scharf durch ihre Zähne eingeatmet hatte, bemerkte sie erst, als ihr Gegenüber zu einer entschuldigenden Geste ansetzte. Etwas verwirrt entstöpselte Katie erneut ihre Musik und ließ die Hörer in ihrem Schal verschwinden. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich, uhm… Ich war nicht schnell genug, dich auf den Kaffee einzuladen, den du gerade gekauft hast und scheinbar bist du in Eile, aber… Also, falls du mal… Zeit hast, würde ich dich gern auf einen Kaffee einladen. So – zu einem Kaffee inklusive Gespräch. Falls du Lust hast.“ Katies Kinnlade hatte sich einige Millimeter verabschiedet, was in Kombination mit leicht geweiteten Augen wohl einen Eindruck mäßiger Verwirrung auslöste. Der Typ der vor ihr stand kam ihr bekannt vor, auch wenn sie nicht einordnen konnte, woher. Dunkelbraunes Haar fiel ihm einseitig in die Augen, war auf der anderen Seite, den ansonsten relativ kurz gehaltenen Schnitt komplimentierend, hinter sein Ohr geschoben. Braune Augen sahen sie freundlich an und ein minimaler Rosaschimmer auf seinen Wangen sagte ihr, dass das Interesse wahrscheinlich ernst gemeint war. Hatte sie Zeit hierfür? Eigentlich überhaupt nicht. Wenn sie es objektiv betrachtete, hatte sie bereits ein relativ turbulentes Leben. Andererseits blieb das reale Sozialleben gern mal hinter dem virtuellen zurück und an ihr letztes… date-ähnliches Treffen konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern. „Also?“ Scheinbar etwas unsicher ob ihres Schweigens neigte er fragend den Kopf. Was sollte schon schief gehen? „Ehm. Also – ja? Entschuldige, ich bin tatsächlich etwas spät dran, aber… warum nicht.“ Das Pochen in ihren Ohren sagte ihr, dass ihr selbst die Hitze ins Gesicht stieg und ihre Antwort klang so überrumpelt, wie sie sich fühlte. „Ich… bin übermorgen ungefähr um dieselbe Zeit hier, dann –“ „Das passt“, fiel ihr ihr Gegenüber fast schon etwas übermotiviert ins Wort, rieb sich dann etwas verlegen den Nacken. „Ich bin dann auch hier.“ Dieser Moment war es, den der Barista nutzte, um ihren Namen auszurufen und ihr ihren Kaffeebecher zu übergeben. Sie verschloss ihn mit einem Deckel, ehe sie ihre Tasche auf ihrer Schulter zurecht zupfte und dann erst wieder zu dem Braunhaarigen hochsah. „Okay, dann bis übermorgen?“ Die fragende Intonation deutete an, dass sie losmusste. „Bis übermorgen“, bestätigte und entsann sich wohl erst, als sie sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, dass er ihr vielleicht zumindest noch seinen Namen nennen sollte. „Ich bin übrigens James!“ Sie musste schmunzeln, ließ die Regung dann zu einem Lächeln wachsen und sah beim Rausgehen noch einmal kurz über ihre Schulter. „Bye, James.“ Sobald die Tür hinter ihr zu fiel, frage sie sich, was sie da gerade eigentlich angestellt hatte. Seufzend nahm sie einen Schluck Kaffee, verbrannte sich prompt die Zunge und stapfte mit einem Augenrollen in Richtung des Campusgebäudes, zu dem sie musste. Unnachgiebig wehte ihr der kühle Herbstwind die Strähnen ihres Ponys in die Augen und mit einem Stoßgebet gen Himmel hoffte sie, dass sie nicht gänzlich zerstruppt im Büro ihres Professors ankommen würde. Mit ihren Zweifeln bezüglich der Zusage zu diesem Treffen würde sie sich später beschäftigen müssen.   „Es sind gute Ansätze vorhanden, Ms. Holt, aber in diesem, diesem und diesem Punkt verstricken Sie sich zu tief in die Materie. Denken Sie daran, dass das keine Doktorarbeit ist.“ Gerade hatte Katie die Beifahrertür von Matts Auto hinter sich zugeschlagen und sich angeschnallt, als sie gänzlich ohne Präambel begann, ihren Professor nachzuäffen. Das Treffen war suboptimal gelaufen und sie fühlte sich in ihrer Kompetenz infrage gestellt. „‘Gute Ansätze‘ – das klingt als hätte ich eine Hausarbeit über Molekularteilchen geschrieben.“ „Freut mich auch, dich zu sehen, Schwesterherz.“ „Tag.“ „Kaffee?“ Mit großen Augen sah sie zu ihm rüber, woraufhin er einen der To-Go-Becher aus dem Getränkehalter zog. Sie waren ihr in ihrer Tirade nicht aufgefallen und der Geruch des schwarzen Goldes milderte ihre schlechte Laune rapide. „Danke“, schob sie leiser hinterher und genoss den ersten Schluck mit geschlossenen Augen. „Madison kommt nicht damit klar, dass du mehr Ahnung von dem Thema hast als er. Jede Wette. Er hat sich bei meiner Abschlussarbeit genauso aufgeführt.“ Schmunzelnd zog der Ältere aus der Parklücke und machte sich auf in die Stadt. Die öffentliche Verkehrsanbindung war schrecklich, aber mit dem Auto würde es im Bestfall nur einige Minuten dauern, bis sie an ihrem Ziel angelangt waren. „Dann ist es pure Schikane“, schlussfolgerte Katie und zog ihre Augenbrauen zusammen. Ein weiterer Schluck wirkte dem etwas entgegen. „Möglicherweise. Du weißt doch, männlichen Stolz anzugreifen, ist ein heikles Thema.“ Sie konnte hören, wie er vor sich hin grinste. De facto war es mit seinem Stolz genauso, aber er war lieb zu ihr, also wies sie ihn nicht darauf hin. Katie lehnte sich zurück, als sie antwortete. „Dann schraube ich wohl einen Gang zurück, halte mich an das Einmaleins und spare mir den Rest für mein Lebenswerk auf.“ Missmutig sah sie aus dem Fenster. Schon häufiger hatte sie darüber nachgedacht, ob sie mit zu viel Motivation an die universitären Voraussetzungen ging, ob sie zu viel investierte. Welcher Student fragte sich bitte sowas? Und dann war da sie, die einfach den Anspruch an sich selbst hatte, die Sachen die sie sich vornahm so gut wie nur möglich zu erledigen. „Hat Krolia sich noch einmal gemeldet?“ „Bisher nicht.“ Und da noch fünfzehn Minuten bis zu ihrem Termin verstreichen würden, würde sich das wohl nicht ändern.   „SONY hat eine Zusammenarbeit angeboten. Sie wollen eine Adaption von Alpha EINS für die Playstation 6 konzipieren. Virtual Reality Prinzipien sollten bis daher kommerziell ausreichend zugänglich sein, dass eine zusätzliche Vermarktung des Zubehörs sowie des Spiels selbst eine lukrative Einnahmequelle darstellen.“ Die hochgewachsene Frau stand mit gegen ihren Schreibtisch gelehnter Hüfte vor ihnen und unterstrich ihre Worte klar gestikulierend. Sie hatte beiden Holt-Geschwistern ein Handout überlassen, auf dem die wichtigsten Fakten deklariert und schlüssig dargestellt waren. Momentan ließ sie ihnen einen Moment Zeit, die Information einsickern zu lassen, bevor sie fortfuhr. Matt wie auch Katie trugen schockierte Überforderung in ihrer Mimik zur Schau. „Abgesehen von einer vermeintlichen Anpassung des Spiels auf eine andere Konsole würde die Alpha BOX nicht mehr als alleinig verfügbare Hardware fungieren. Dennoch wäre es eine Diskussion wert, da man mit Playstation-Publikum eine breitere Masse anspricht und das Spiel mehreren Leuten zugänglich macht. Besonders denen, die sich die Alpha BOX nicht zulegen möchten, da sie nur für ein einziges Spiel genutzt werden kann. Es sieht aus wie die Wahl zwischen Monopol und Popularisierung.“ „Die Gefahr der Alpha BOX war immer, dass die Tatsache, exklusiv Alpha EINS zu spielen, Leute davon abhält, sich die Konsole anzuschaffen. Die medialen und technischen Möglichkeiten des Marktes vor zwei Jahren haben nicht hergegeben, auf ein bereits bestehendes System zurückzugreifen.“ Matt saß im linken von zwei Stühlen vor Krolias Schreibtisch. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, da er seine Hände nun mehrfach in ihnen vergraben hatte. Noch immer war Unglaube auf sein Gesicht gepflastert. Katie schaltete sich ein. Ihr Blick war noch auf das Handout gerichtet, blieb kurz am stilisierten ‚HOLT‘ in Form einer Rundglasbrille hängen, das am oberen Rand des Papers als Logo prangte. „Eine einfache Umkonzipierung auf eine Playstation wird nicht machbar sein. Wir müssten den Grundcode neu aufsetzen. Es ist möglich, aber im Grunde würden wir die Spieldatei komplett neu schreiben.“ „Naja, wir könnten es Alpha ZWEI nennen und auf die Grundfeatures reduzieren, um mit verstreichender Zeit zu updaten. Wäre nicht das erste Mal, dass es so passiert.“ Die Geschwister sahen sich an, simultan auf ihren Unterlippen kauend. „Damit würden wir SONY einen Haufen von Rechten einräumen. Und mit einer reduzierten Version des Spiels würden sie sich sicher nicht zufriedengeben. Wir könnten höchstens eine Art weiteren Planeten erschaffen, der nur mit der PS spielbar ist.“ „Und wenn man die Alpha BOX und Alpha ZWEI für die Playstation besitzt, gäbe es die Möglichkeit, Bonusfeatures freizuschalten? Das wäre denkbar… Allerdings müssten die Systeme kombiniert werden und –“ Der Ältere stockte, als Krolia sich räusperte und damit die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zog. „Ich entnehme euren Worten, dass es durchaus möglich ist. Ebenfalls scheint klar zu sein, dass es einen enormen Arbeitsaufwand bedeuten würde“, brachte sie die Quintessenz auf den Punkt. Sie stieß sich vom Schreibtisch ab und umrundete ihn, um ihren Platz im zugehörigen Sessel einzunehmen. „Wie steht ihr zu der Grundsatzfrage, der Alpha BOX das Monopol zu entziehen?“ Für einen Moment kehrte nachdenkliche Stille ein. „Die Alpha BOX ist mit keiner anderen bisher existierenden Konsole direkt vergleichbar“, eröffnete Katie. „Das Zubehör ist so konzipiert, dass es exakt auf das System abgestimmt ist und nicht beliebig mit einer anderen Hardware verwendet werden kann. Für mich persönlich wäre vom Tisch, ein komplett neues Zubehörsystem zu programmieren und zusammenzustellen, das mit der Playstation 6 kompatibel ist und dasselbe Gameplay ermöglicht.“ Für eine Einschätzung der Meinung ihres Bruders sah sie kurz zu ihm, wurde aber mit einem Nicken gebeten, fortzufahren. „Ich kann mir vorstellen, eine Version zu programmieren, die mit den Gegebenheiten der Playstation harmoniert. In Kombination mit einer – sagen wir – handelsüblichen VR-Brille kann ein ähnlicher Effekt erzeugt werden, der allerdings nicht identisch ist mit dem der Alpha BOX. Dementsprechend würde ich darauf verzichten, ganz Alpha EINS umzucodieren und nur die nötigsten geographischen Punkte übernehmen, um eine PS-Version, Alpha ZWEI meinetwegen, darum herum aufzubauen. Es mag erscheinen, wie eine abgespeckte Version, wäre aber eher als eine Erweiterung zu sehen, die möglicherweise in Kombination mit Alpha EINS zusätzliche Möglichkeiten für die Spieler ausspuckt.“ „Damit würde die Alpha BOX ihr Alleinstellungsmerkmal behalten und eine zweite Version für die Playstation gleichermaßen einen Vorgeschmack auf Alpha EINS bieten, wie auch eine Erweiterung für die Spieler, die Alpha EINS bereits kennen.“ Krolia nickte und schrieb sich einige Notizen hierzu auf. „Abgesehen davon bringen wir damit nicht zweimal das gleiche Spiel auf den Markt“, ergänzte Matt. „Wir könnten darüber nachdenken, die SONY-Software zur Alpha BOX kompatibel zu schreiben, aber… Wenn ich ehrlich bin, habe ich die nächsten dreißig Jahre noch etwas anderes vor.“ Ein gequältes Lächeln unterstrich die Worte. Katie stimmte brummend zu. Es dauerte noch mehrere Momente, bis ihre Agentin den Stift niederlegte und sie ansah. „Darf ich diese Informationen so an SONY weitergeben? Sollten sie sich mit der Basisidee anfreunden können, würden wir in weitere Verhandlungen treten und das Projekt konkretisieren.“ Beide Holts nickten. Zwei Paar Schultern sanken nun etwas entspannter und tiefes Ausatmen war zu hören. Dass ausgerechnet ein Riesenkonzern wie SONY an ihrem Projekt Interesse haben würde, war… unerwartet. Einerseits zumindest. Andererseits hatten sie mit Alpha EINS die ganze Welt begeistert und für viele war es sicherlich nur eine Frage der Zeit gewesen, wann der Hype um das Spiel weiter ausgebaut werden würde. „Danke für euer Vertrauen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Gespräche zu euren Gunsten zu führen.“ Das Lächeln, das folgte, zeigte eine eher ungewohnt weiche Seite ihrer Agentin. Es war eine ehrlich anmutende Regung und in Katie wallte Dankbarkeit hoch, dass sie sie bereits während der letzten Jahre sehr tatkräftig unterstützt hatte. „Der Dank ist auf unserer Seite“, ließ die Jüngere sie das Lächeln erwidernd wissen und verließ nach abschließendem Händeschütteln mit ihrem Bruder das Büro. Kapitel 3: Into the Ruby Hell ----------------------------- Katie loggte sich an diesem Abend erneut in Alpha EINS ein. Ihr Avatar erschien am Rande der Stadt Arcalia, in einem der riesigen Torbögen, die Einlass gewährten. In der Ferne war zu sehen, wie ein Sandsturm die Wüste aufwühlte und sie machte sich eine gedankliche Notiz, ihr Inventar neu zu organisieren und sich anders auszurüsten, sobald sie die Stadt verlassen würde. Erst einmal checkte sie aber ihren Kommunikator darauf, ob neue Fehlermeldungen eingegangen waren. Sie und Matt arbeiteten mit einem kleinen Support-Team zusammen, das Feedback über das Spiel filterte und kondensierte. So bekam sie auf dem schnellsten Weg mit, sollte es zu irgendwelchen Programmierungsfehlern innerhalb ihres Projektes kommen. Fehlermeldungen lagen keine vor. Was allerdings Pidges Aufmerksamkeit auf sich zog was das Symbol, das anzeigte, dass sie ungelesene Nachrichten im Chat ihrer Party hatte. Nach der kurzen Verwirrung – sie hatte vergessen, dass sie sie nicht verlassen hatte – überflog sie den Chat. Es war nicht viel. Scheinbar waren zwei der Mitglieder zum Mobhunting aufgebrochen und nun eine Stadt weiter gelandet. Ein Gebiet, das von Monstern mit niedrigerem Level frequentiert wurde als die, die um die Wüstenstadt herum auftauchten. Offensichtlich waren sie noch online, den grünen Punkten neben ihren Namen zufolge. Pidge schloss den Chat und kümmerte sich um ihre Ausrüstung. Die Axt wurde gegen eines der Magierzepter getauscht, die auch Matt in dem Event am Vortag benutzt hatte. Es folgte außerdem ein Set aus Roben, die besonders gut gegen magische Angriffe schützten. Sie war zuversichtlich, dass ihre Schutzzauber ausreichten, um keinen ernstzunehmenden physischen Schaden davon zu tragen. Die Stoffe schimmerten in hellblau und weiß, während ihre neue Waffe von einem mysteriösen Lichtschein umgeben war. Er fiel zwar kaum auf, deutete aber an, dass sie einige Aufwertungen durch Alchemie mitgemacht hatte. „Werte Spieler von Alpha EINS“, schallte nur eine Sekunde später durch ganz Arcalia. Matts verzerrte Stimme hallte von den Sandsteinwänden wider und Pidge konnte nicht anders, als in skeptischer Erwartung eine Augenbraue zu heben. „Es ist ein wahrlich wunderbarer Tag – wie jeder Tag in Alpha EINS, wenn wir ehrlich sind – und es ist Zeit, euch eine Kleinigkeit für euer Engagement und eure Motivation zurück zu geben. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden erhaltet ihr doppelt so viel Erfahrungspunkte wie es der Regel entspricht. Die Gewinnchancen auf El Harrida erhöhen sich um fünf Prozent und jede Art von Robe wird zwanzig Goldstücke günstiger angeboten. Nutzt die Zeit und habt weiterhin viel Spaß.“ „Ughhhh“, grummelnd ließ Pidge sich gegen den Steinbogen in ihrem Rücken sinken und fuhr sich durch die nicht einmal schulterlangen Haare. Es war ja nett, dass Matt ihren Sieg feiern wollte, aber… [Privat] Pidge: Das schreit nach Serverüberlastung. [Privat] Rebell: Möööööglicherweise. Aber wir hatten keinen Sekt daheim, also musste ich Abhilfe schaffen :D Außerdem haben wir so alle was davon! [Privat] Pidge: Stimmt. ‘nen Arsch voll Arbeit    -___- [Privat] Rebell: Freust du dich nicht? [Privat] Pidge: Natürlich freue ich mich. Irgendwie. [Privat] Pidge: Es ist nur… eine Menge. Außerdem wissen wir nicht, wie es ausgeht, also freuen wir uns womöglich über ungelegte Eier. Und selbst w e n n es klappt – das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es gut läuft. [Privat] Rebell: Ich verstehe, was du meinst. Lass uns später nochmal drüber reden, ja? Ich wollte noch was erledigen. [Privat] Pidge: Deiner Windmagierin ein Set neuer Roben kaufen? :D [Privat] Rebell: Du solltest dich wirklich in Gremlin umbenennen, Kitkat. [Privat] Pidge: ♥ Um sie herum schien langsam die Aufregung zu steigen. Mehrere Spieler trabten in Gruppen an ihr vorbei, um sich in die Wüste zu begeben und dort den Erfahrungsbonus beim Leveln zu nutzen. Pidge sah ihnen nach, überlegte, ob sie des Spaßes halber mitziehen wollte. Es wäre perfekt, um noch ein paar Skillpoints für die magische Ausrichtung ihres Avatars zu sammeln und an ein paar Fähigkeiten zu feilen. Dummerweise wäre es allein eine zähe Angelegenheit und da Matt scheinbar mit Shopping beschäftigt war… Ihr Kommunikator piepte und wieder öffnete sie den Chat ihrer Party vom Vortag. [Party] Ladykiller: He, Zwerg. Bist du da? Was hältst du davon, uns ein bisschen unter die Arme zu greifen, huh? [Party] _HUNK_: Er meint ‚bitte‘. Bitte greif uns ein wenig unter die Arme? [Party] Ladykiller: Mit dir könnten wir sogar Mobs killen, die +5 sind! Da würden wir allein nur draufgehen… [Party] Ladykiller: Komm schoooooon, du hast sicher nichts Besseres zu tun, oder? [Party] Pidge: -_____- [Party] Pidge: Ich hole euch in Alexandria ab. Gebt Kniegas.   Wenige Minuten später hatte Pidge sich mittels Zentraltransportes in Alexandria eingefunden. Eine Stadt, deren Aussehen weniger an Ägypten erinnerte, als an Welten, wie man sie von TRON kannte: Riesige Gebäude reihten sich aneinander, Glasfassaden und Metall kämpften um die Vorherrschaft des reflektierenden Glanzes unzähliger Lichter. In einigen Teilen der Stadt war die Schwerkraft außer Kraft gesetzt und Hoverbikes, -trains und -cars brachten Spieler von A nach B. Alexandria war fast gänzlich nach Matts Vorstellungen entstanden, auch wenn Katie bei der Konstruktion und Programmierung Feuer und Flamme gewesen war. Es war eines der Herzstücke Alpha EINS‘. Und egal, wie häufig Pidge die Straßen der Stadt frequentierte, sie konnte sich selbst den faszinierten Ausdruck nicht vom Gesicht wischen. Hier lagen so viele Geheimnisse geborgen und irgendetwas veränderte sich immer. Alexandria wuchs mit ihren Besuchern und ein kleiner Teil der Essenz eines jeden Spielers würde nie mehr von ihrem Zauber entlassen. Die Stadt lebte und je weiter ihr Blick über die schimmernden Fassaden nach oben glitt, desto mehr schien es, als würde sie atmen – obwohl sie aus so starren Materialien bestand. Pidge erlaubte dem Grinsen, das an ihren Mundwinkeln zupfte, sich zu entwickeln. Jeder der Knotenpunkte von Alpha EINS hatte seine eigenen Vorteile. Alexandrias war definitiv Rover III: Ein Gleiter, der sich nur hier und in den direkt anschließenden Gebieten nutzen ließ. Mit viel Quetschen würden sie möglicherweise zu dritt darauf passen und konnten sich gemeinsam auf den Weg machen. Doch zuerst… musste sie sie wohl finden. Der Zentraltransport spuckte sie auf einer Plattform in mehreren hundert Metern Höhe aus, wo kühler Wind ihr die Haare ins Gesicht blies. Die Sicht war atemberaubend und tiefes Luftholen machte Lust auf die bevorstehende Runde Hunting. Es brauchte einige Momente, bis Pidge sich losreißen konnte und auf ihrem Kommunikator nach den kleinen Punkten suchte, die den Standort der anderen beiden Partymitglieder anzeigten. Es dauerte, aber da sie scheinbar ebenfalls über den Zentraltransport anreisten, ploppten sie irgendwann unweit von ihr auf. Rover schwebte hinter ihr her, sobald sie sich zu Fuß zu den beiden gesellte. Nun, da sie nicht inmitten eines Gefechtes steckten, konnte sie sich auch einen Moment Zeit nehmen, die Avatare der anderen in Augenschein zu nehmen. Sie waren beide relativ groß, was aus Pidges Perspektive nicht allzu schwierig war. Hunks Charakter war bullig und nach den Geschöpfen einer Erdrasse designt. Hellgrüne, gräulich Schimmernde Haut wurde von robusten Hornschichten ergänzt, die sich über die verletzlicheren Stellen seines Körpers zogen. Ausgeprägte hörnerartige Strukturen brachen aus Kiefer und Schädel hervor, während freundliche Augen in einem warmen Gelb leuchteten. Hunk war in dunkelgrüne und braune Roben gehüllt, während sich seine Harfe in einer Halterung an seiner Hüfte befand. Alles in allem ein ziemlich imposantes Bild – wenn auch nicht so einschüchternd, wie sie vielleicht erwartet hätte. Ihr zweites Partymitglied, Ladykiller, war zwar in etwa ebenso groß, jedoch um einiges schlaksiger. Im Gesamten mutete er sehr menschlich an, was Pidge glauben ließ, er hätte vielleicht einen Scan seiner menschlichen Statur ins Spiel hochgeladen und modifiziert. Nur die Ohren, die ihr bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen waren und ein unter einem Umhang versteckter Fuchsschwanz deuteten auf besagte Modifikation hin. Ladykillers Haut war von einem warmen Braunton und unter einem breiten Schal lugte ein vorwitziges Grinsen hervor. Den im Spiel gewonnenen Bogen trug er auf dem Rücken und unter dem Umhang war eine leichte Lederrüstung erkennbar. „Ihr seid spät dran“, kommentierte sie die Ankunft der beiden gespielt kritisch. Ihr eigener Umhang wehte hinter ihr her, als sie nähertrat. „Ich war noch nie hier“, grüßte Hunk sie, sah aber über sie hinweg in die Weiten Alexandrias. „Dieses Spiel hat echt ‘ne Menge zu bieten. Das ist der Wahnsinn…“ Faszination zog sich über seine Züge und Pidge konnte nicht anders, als ihren Blick dem seinen folgen zu lassen. Die Sonne hing tief im Horizont und ließ Metall und Glas in Rottönen erstrahlen. „Es ist die größte Stadt in Alpha EINS. Die Tempel auf Ôkina Jiin nehmen mehr Fläche ein, aber Alexandria macht das in der Höhe wett. Die Anordnung ist komplexer und kondensierter.“ „Nerd“, klang es etwas verwundert, wenn auch milde beeindruckt hinter ihr. Pidge schloss die Augen und atmete langsam um Fassung ringend aus. „Ich kann dich auch hierlassen“, drohte sie dem Fuchsjungen. Auf die Worte hin drehte sie sich zu Rover und schwang ihr Bein über den Sitz, der dem eines Motorrades ähnelte. Aus den Seiten des Gefährts schwenkten nun turbinenähnliche Gerätschaften hervor, die im Flug für zusätzliche Stabilität sorgen würden. „Zumindest, wenn du nicht bei drei an Bord bist.“ Sie deutete den beiden mit einer Handbewegung, sich mit auf ihr Gefährt zu begeben, bevor sie wahrhaftig abhob und bis an den Rand der Platte schwebte, die Ankunfts- und Abreisepunkt des Zentraltransportes war. „Ich hoffe, ihr habt stabile Mägen“, lautete die finale Warnung, bevor sie den Gleiter über den Abgrund steuerte, um senkrecht in einen Sturzflug abzudrehen. Selbiger dauerte nur einige Sekunden, aber das Gefühl war atemberaubend. Die Empfindungssensoren, die ins Headpiece der VR-Brille eingebaut waren und sich mit den Hirnströmen verbanden, leisteten großartige Arbeit, als sie ihr den Eindruck vermittelten, sie habe ihre Eingeweide hoch über ihren Köpfen verloren. Das Gefühl von Fallen war real, schickte Kribbeln in jedes ihrer Körperglieder und schickte heißkalte Schauer in ihre Fingerspitzen. Einige Dutzend Meter über dem Boden drehte Pidge ab, zog den Gleiter in die Waagerechte, um sich zwischen den riesigen Bauten hindurch zu manövrieren und nicht die Besucher der Stadt zu irritieren, die unter ihren Füßen ihren Geschäften nachgingen. In hoher Geschwindigkeit rasten Lichterpunkte und Reflexionen an ihnen vorbei, bis sie schließlich auf einen Schlag aufatmende Weite umfing. Die Stadtgrenze Alexandrias kam plötzlich und abrupt. Nur drei riesige rotierende, schwebende Ringe umfassten die Stadt und ließen sie so abgegrenzter und einheitlicher wirken. Der Boden war auf einen Schlag kahl und leergefegt. Pidge ließ den Gleiter tiefer schweben und schaltete einen Gang herunter. Hinter ihr waren Würggeräusche zu vernehmen. „Halt mich bitte fest – ich bin gleich wieder da…“ Pidges Augenbrauen zogen sich hoch bei der gequälten Bitte, von der sie glaubte, sie sei an den Damenmörder gerichtet gewesen. Dennoch sah sie nicht über die Schulter, sondern konzentrierte sich auf die Stecke über die Steppe. Ihr Ziel war eine der Edelsteinhöhlen, die rund um Alexandria angeordnet waren. In ihnen würden sie gemeinsam trainieren können, waren sie doch alle voll von unterschiedlich starken Monstern. Laut der Anzeige des Kommunikators, der sich mit dem Gleiter verbunden hatte und nun die Partyinformationen über das zugehörige Display darstellte, hatte Hunk sich für den Moment in den Standby-Modus begeben. Leichtgewicht, dachte sie sich schmunzelnd. Zugegeben, sie hatte nicht dermaßen rabiat fliegen müssen, aber vielleicht hatte sie gehofft, sie würde unterwegs einen gewissen Spieler verlieren. Spoiler – Hunk war es nicht gewesen.  Wenige Minuten später waren sie an einer der Höhlen angekommen. Sie ließ den Gleiter langsamer werden und stoppte schließlich, um die Distanz zum Boden weiter zu verringern. Leichtfüßig stieg sie dann von ihrem Gefährt ab, um sich schmunzelnd umzudrehen. Hunks Körper war noch immer schlaff, das dafürsprach, dass er noch nicht zurückgekehrt war. Mister Ladykiller dagegen bedachte sie mit einem Blick, der um einiges freundlicher hätte sein können. Mit Müh und Not zwängte er sich unter dem Körper des anderen hervor und stieg ebenfalls ab. „Wolltest du uns umbringen?!“ Er fuhr sich durch die Haare. Die Kapuze war ihm während des Fluges abhandengekommen und seine Ohren im aufgewühlten Wust der braunen Mähne kaum auszumachen. „Das war ‘ne mordsgefährliche Nummer!“ Pidge machte durch ein Schulterzucken klar, dass sie sich nicht beirren lassen würde. „Ihr wolltet meine Hilfe. Meine Hilfe, meine Regeln. Oh, ich glaube, er kommt wieder zu sich.“ In Hunks Körper war wieder Bewegung gekommen. Mit erschöpfter Mimik sah er zu ihnen hoch und stöhnte leise, während der andere Spieler ihrer Party sich grummelnd wegdrehte. „Geht’s wieder?“, fragte Pidge wohl unnötigerweise nach. „Ughhhh“, lautete die wenig hilfreiche Antwort. „Ich habe gerade mein Mittagessen weggebracht. Meine Trauer um die Maccaroni ist groß.“ Er kam neben ihnen zum Stehen, checkte, ob sein Hab und Gut noch da war, wo es hingehörte. „Sag mir bitte, dass es sich gelohnt hat. Wo sind wir?“ Mit einer Bewegung ihres Kopfes deutete Pidge auf den Höhleneingang hinter sich. Als Hügel ragte er aus dem ebenen Erdboden heraus; der Weg hinein führte so steil abwärts, dass auf der Oberfläche kaum etwas von der Höhle selbst zu sehen war. Sie fügte Rover ihrem Inventar hinzu und setzte sich dann in Bewegung. „Das hier ist eine der sechs Edelsteinminen von Alexandria“, eröffnete sie einem Tourguide nicht unähnlich. Je weiter sie sich fortbewegten, desto dunkler wurde es. Dafür nahm ein ominöses rotes Leuchten zu. „Das sind Edelsteine?“, fragte Ladykiller hinter ihr. „Rubine“, antwortete Pidge. „Sie sind die einige Lichtquelle hier unten. Warum sie von innen heraus leuchten, weiß niemand, aber scheinbar lockt ihr Schein Mobs an. Je tiefer wir kommen, desto voller wird es.“ In der Tiefe war bereits Kampfgetümmel zu hören. Jedes Geräusch hallte von den Wänden wider und es dauerte nicht lang, bis sie an die erste Abzweigung kamen. Pidge checkte auf ihrem Kommunikator den Weg. „Haltet euch an mich. Die Mobs hier unten müsstet ihr zwei auf eins eigentlich erledigen können. Seht nur zu, dass ihr keine Champion-Level Mobs erwischt und nicht die Aufmerksamkeit mehrerer gleichzeitig auf euch zieht.“ „Es ist ein bisschen gruselig hier“, warf Hunk ein. Er war damit beschäftigt, die Wände intensiv zu mustern. „Vielleicht will er uns nur irgendwo verbuddeln. Auf dass wir nie wiedergefunden werden.“ Ladykiller moserte weiter herum und langsam ging Pidge auf, welche Art von Konstellation sie sich hier angelacht hatte. Sie wären beide ohne sie komplett verloren. Sie hoffte, sie hörten ihr zu. Kollektives Zucken ging durch die Gruppe, als sie eine Abbiegung umrundeten und ihnen etwas Sechsbeiniges von der Decke aus entgegensprang. Pidge riss ihr Zepter hoch, reagierte instinktiv und schleuderte das Biest mit einem Feuerzauber von ihnen weg. In kämpferischer Körperhaltung stellte sie sich zwischen das Monster und ihre Partymitglieder. Das Echo des panischen Schreis, der sich aus Hunks Kehle geschält hatte, verlosch erst jetzt. „Heilige Scheiße, welches Level haben diese Viecher?!“ „Rubinhöhlenmonster liegen auf 26“, biss Pidge zwischen ihren Zähnen hervor. Das Klackern der beiden großen Scheren, die aus den… Schultern? des Monsters zu wachsen schienen, irritierte sie. Ein Wasserzauber war es, der dem Biest unter ohrenbetäubendem Kreischen den Garaus machte. Vielleicht war ein Fernkampf-Equipment für diese Höhle nicht die beste Idee. Seufzend sammelte sie die Goldmünzen ein, die ihr Gegner ihr eingebracht hatte und drehte sich zu den anderen beiden um. Hunk hatte sich hinter Ladykiller versteckt und sah ängstlich über seine Schulter. Letzterer war scheinbar in der Zwischenzeit mit Zählen fertig geworden. „Die sind immer noch drei Level über mir.“ „Und die Mobs mit dem niedrigsten Level rund um Alexandria. Hiervon habt ihr eher was, als wenn ich zurück in die Graslande gereist wäre.“ Mit einem Schulterzucken drehte sie sich um und ging weiter, nun mehr auf der Hut. „Übrigens, Hunk, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für Buffs.“   Zehn Minuten später waren sie an ein eine Stelle gekommen, an der sich die Höhle verbreiterte. Der Raum, der sich offenbarte, war hoch genug, dass die Rubine an der Höhlendecke an Sterne erinnerten, während sich durch einen Spalt im Boden ein ausladender werdendes Rinnsal Flüssigkeit ihren Weg bahnte. Es leuchtete ebenso ominös wie der Rest der Höhle und erinnerte dabei an radioaktive Verseuchung. Scheinbar diente die Quelle als eine Art Lockmittel für Monster: Etwa ein halbes Dutzend von ihnen trieb sich in ihrer unmittelbaren Umgebung herum. „Nehmt das da ganz rechts. Ich knöpfe mir die anderen in der direkten Nähe vor, dann solltet ihr eure Ruhe haben.“ Pidge konzentrierte sich auf ihren nächsten Zauber, während ihre Schritte an Geschwindigkeit verloren, um die Mobs nicht unnötig auf sie aufmerksam zu machen. In ihrer Konzentration hörte sie es hinter sich einmal mehr mosern und beinahe hätte sie sich umgewandt und dem Fuchsjungen den gerade gesponnenen Zauber auf den Hals gehetzt. Hunk kam zu seiner Rettung. „Ignorier ihn einfach, ja? Er hat Stress mit seiner Freundin und heute extreeeeem schlechte Laune deswegen. Eigentlich verhält er sich anständiger, versprochen!“ Er hatte beide Hände in einer schlichtenden Geste erhoben und hoffte wohl, Pidge würde davon absehen, sie einfach beide umzumangeln oder den Monstern zu überlassen. Ersteres war eigentlich regelwidrig und eigentlich wäre sie damit 24 Stunden vogelfrei, aber… Nunja. Sie ließ ihre Irritation an dem anvisierten Mob aus, welches inzwischen ihre Anwesenheit bemerkt und auf sie zugekrabbelt kam. „Vielen Dank fürs Breittreten meines Privatlebens, Hunk. Echt, große Klasse!“ „Hey. Man. Komm schon, Lance, es ist doch nichts dabei. Wir haben alle mal miese Tage!“ „Hab ich PMS oder was?! Wenn du so weitermachst, kannst du zusehen, wie du morgen zur Uni kommst!“ Langsam aber sicher… Pidge konnte die Zornader an ihrer Schläfe förmlich pulsieren spüren. „Ouch, das ist nicht fair! Und obendrein gegen die Abmachung, dann bekommst du nämlich kein Frühstück und Ro-“ „Hunk! Sag. Nicht. Ihren. Namen. Okay?! Das hier ist ‘ne freundinnenfreie Zone! Ich brauch‘ auch mal ‘ne Pause und das hier ist nicht entspannend, klar?!“ „AAARGH!“ Es war Pidges Brüllen, das nun durch die Höhle schallte und die Aufmerksamkeit aller anwesenden Individuen auf sich zog. „Das hier ist nicht entspannend? Weißt du, was nicht entspannend ist, Fuchsjunge?! Ihr! Ich weiß nichtmal, warum ich hier bin, wenn ich eins nämlich nicht hab, dann einen Helferkomplex! Ich sollte mich einfach ausloggen und euch hier versauern lassen, auf dass ihr das Tageslicht nie wiederseht!“ Rotes Leuten, das definitiv nicht von den umliegenden Rubinen herrührte, erfüllte ihre Augen und waberte in immer ausufernderen Wellen um sie herum. Sie hatte unbewusst ihren Berserkermodus aktiviert – ein Modus, der nach einer bestimmten Anzahl getöteter Monster verfügbar war und den Angriff und die Agilität des Avatars für kurze Zeit vervierfachte. Krampfhaft schlossen sich ihre Finger um das Zepter, bevor sie sich kurzerhand dazu entschied, abzudrehen und… In kurzer Reihenfolge landeten mehrere Münzhaufen auf dem Boden. Zischen und Brutzeln erfüllte die Luft und unter Kreischen gingen Mobs zu Boden und lösten sich in Luft auf. Inmitten des Kampfgetümmels fragte sie sich, wieso sie nicht bei den Äxten geblieben war; für Frustrationsabbau wären sie besser geeignet gewesen. Andererseits machte sich das hier auch nicht schlecht. Pidge ließ der über den Tag hinweg aufgestauten Anspannung freien Lauf, nutzte Zauber, mit denen sie wie mit Kanonen auf Spatzen schoss und erschöpfte ihren Magiepunkte-Vorrat beträchtlich. Eine Drehung brauchte es noch, bis sie das letzte Monster in Sichtweite mit ihrem stärksten Feuerzauber auseinandernahm. Das rote Leuchten verblasste wie auf Knopfdruck und mit einem Seufzen ließ Pidge die Schultern hängen. Mittlerweile hatte sie eine beträchtliche Distanz zwischen sie und die beiden Jungs gebracht, was jedoch nicht weiter schlimm war – bis neue Monster spawnten waren sie außer Gefahr. Sie hatte die Höhle effektiv sauber gewischt. „Das tat gut“, stellte sie leise fest. Zumindest war sie jetzt etwas entspannter. „PIDGE!“ Braune Haare flogen herum, als sie sich umwandte. Sie konnte noch einen Blick in Hunks schockierte Miene werfen, bevor sie etwas Schweres von hinten umtackelte. Mit ekelerregender Lautstärke drang das kreischende Geräusch von Nägeln auf einer Tafel an ihre Ohren – neben ihrem Kopf bohrten sich krabbenartige Beine aus steinhartem Material in den Boden.  Ihr Blickfeld wurde von zwei großen, klackernden Scheren vereinnahmt und für den Moment dachte sie wirklich, es wäre aus mit ihr. In letzter Sekunde hatte sie sich auf den Rücken gedreht und lag nun festgepinnt Angesicht zu Angesicht mit einem Monster, das scheinbar auf dem Championlevel war: Größer und stärker als ein gewöhnliches Monster seiner Gattung. „Fuck“, entfuhr es ihr leise aber mit Nachdruck. Zugegeben, die Biester waren im Grunde nicht so konzipiert, dass sie sie fressen würden – aber durch die Empfindungssensorik würde sie die wohl folgenden Treffer durchaus merken und bei voller Vitalität würde es eine Weile dauern, sie klein zu kriegen, was fast schon auf eine Art von Folter hindeutete. Zunehmend verschreckt tastete sie nach ihrem Stab – erfolglos – während sie unter den näherkommenden Scheren die Wahrscheinlichkeit berechnete, hier heil herauszukommen. Das Vieh hatte zu allem Überfluss ihre Roben durchbohrt und hinderte sie am Fortkommen. Ein surrendes Pfeifen ertönte, dann ein Kreischen direkt über ihr. So schnell wie sie gekommen waren, waren die Beine und die Scheren über ihr verschwunden. Hastig rappelte Pidge sich auf, erspähte ihr Magierzepter einige Fuß von sich weg und hechtete in die entsprechende Richtung. Geistesgegenwärtig beschwor sie mit ihren letzten Magiepunkten einen Eiszauber, der den Boden unter den Beinen des Monsters gefrieren ließ und es nach seinem vorherigen Taumel ins Schleudern brachte. Erst jetzt bemerkte sie den Pfeil der aus einem seiner acht Augen ragte. Der Pfeil, zu dem sich im nächsten Moment ein weiterer gesellte. Wieder kreischte die Mischung aus Riesenkrabbe und Spinne auf, verlor kurz darauf das Gleichgewicht und rutschte über den leicht abschüssigen, nun eisbedecken Boden in die Mitte der Quelle. Es war als würde man es in Säure tauchen. Das Kreischen wurde ohrenbetäubend, fast übertönt von den zischenden Geräuschen, die hinzukamen. Ein Blick in Richtung der merkwürdigen Flüssigkeit zeigte, wie das Monster unter emporsteigenden Schwaden langsam verendete. Pidge kniff die Augen zusammen und wünschte sich, sie könnte dasselbe mit ihren Ohren tun. Stocksteif verharrte sie, bis es vorbei war. Erst, als Ruhe einkehrte, ließ sie sich mit sich nun langsam beruhigenden Herzschlag auf den kühlen Steinboden nieder, um durchzuatmen. Auf der anderen Seite der Höhle senkte Ladykiller erst jetzt seinen Bogen. Kapitel 4: Overload ------------------- „Scheiße, war das knapp!“ Hunks Stimme war das Erste, das sie wahrnahm, als das Klingeln in ihren Ohren nachgelassen hatte. Sie hatte noch immer Visionen von in Säure verendenden Monstern und irgendwo fragte sie eine Hirnwindung, ob sie das Spiel vielleicht ein wenig zu real konstruiert hatten. Im Hintergrund begannen die beiden Herren der Schöpfung ein angeregtes Gespräch. Ächzend stemmte Pidge sich in eine sitzende Position, sah sich noch einmal um. Die Höhle war inzwischen wirklich leergefegt und es würde wohl noch ein wenig dauern, bis die Monster um sie herum respawnten. Ein tiefes Durchatmen später stand sie wieder auf beiden Beinen und machte sich samt ihres Zepters auf zu den anderen. „Ich glaube, ich hatte gerade einen Level up!“ Ladykiller grinste bis über beide Ohren und machte Anstalten, seine Charakterdaten auf dem Kommunikator zu checken. „Yes!“ „Das ist nicht sehr verwunderlich bei dem aktuell laufenden Bonus und der Tatsache, dass du gerade ein Champion-Mob gekillt hast, das dir leveltechnisch überlegen war. Zugegeben, es hätte eine Weile gebraucht, bis es mich erledigt hätte, aber…“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Danke. Und sorry wegen eben.“ Ja, sie hätte angefressen sein oder sich anderweitig infantil verhalten können. Aber ernsthaft? Sie wusste, dass sie überreagiert hatte. Genug Päckchen ihres Offline-Lebens lasteten auf ihr und sie hatte einen Ausgleich gesucht. Ihre Partymember dafür anzufahren, erschien ihr durchaus irgendwie unfair. Ladykiller sah sie dafür mit großen Augen an. Scheinbar kam ihr Einlenken unerwartet und tatsächlich winkte er mit einer Hand ab, während er den angebotenen Händedruck mit der anderen erwiderte. „Schon gut, man. Ich hab ja was davon. Außerdem hatte Hunk recht – bei mir läufts grad nicht so, da werd ich gern mal liederlich.“ Scheinbar verlegen rieb er sich den Nacken. „Vergeben und vergessen?“ Pidge nickte. „Ich kenne das. Ist gut.“ Ein halbes Lächeln wurde angehangen, ehe ihre Aufmerksamkeit vom dritten ihrer Spieler auf sich gezogen wurde. Hunk stand mit gefalteten Händen und leuchtenden Augen neben ihnen und schien kaum glauben zu können, welch glückliche Wendung ihre Situation gerade genommen hatte. Vielleicht verdrückte er auch ein Tränchen. „Jetzt fang bitte nicht das Heulen an.“ Ladykiller machte den Eindruck, als hätte er sich am liebsten die Hand vors Gesicht gehauen. „Passiert das häufiger?“, fragte Pidge mit Skepsis in der Stimme nach. „Nur, wenn er wirklich emotional wird. Dennoch öfter, als mir lieb ist.“ Sie musste grinsen ob der trockenen Antwort und zuckte mit den Schultern. „Dann sollten wir dieses Kitsch-Festival auflösen und uns den wichtigen Dingen zuwenden – wenn wir uns ranhalten, schafft ihr noch ein Level!“   Es war… ein langer Abend. Euphemistisch gesprochen. Katie hatte gegen zwei Uhr nachts eine kurze Pause eingelegt, um sich eine Instant-Nudelsuppe zu kochen, ehe sie bis zum frühen Mittag in Alpha EINS versackt war. Tatsächlich hatten sie nach einer Planbesprechung, wer wann wo zu sein hatte – scheinbar hatten die anderen  beiden Mitglieder ihrer Party wenig Präsenzzeit an ihrer Uni – beschlossen, dass es nach einem weiteren Level up für Lance und zweien für Hunk an der Zeit sein sollte, auf ihre Körper zu hören und sich endlich schlafen zu legen. Katie selbst kratzte am nächsthöheren Level und würde es bei der nächsten Runde Powerleveling wohl erreichen. Nicht, dass das derzeit Toppriorität hatte… Matt hatte online einige Male nach ihr gesehen, musste aber einsehen, dass er am aktuellen Gamingwahn selbst Mitschuld trug. Ihre Server waren hochgradig ausgelastet und das trotz der Tatsache, dass die vierundzwanzig Stunden Bonus nicht zuvor angekündigt sondern einer spontanen Idee entsprungen waren. Nichtsdestotrotz knutschte die Jüngere der Holt-Geschwister bis am darauffolgenden Abend das Kissen – in dem Wissen, dass sie gerade einen ganzen Tag in Menschen investiert hatte, die sie nicht kannte, die aber inzwischen zumindest halbwegs angenehme Gesellschaft boten. Anstatt an ihrer Masterthesis zu arbeiten. Jep. Sie war eine vernünftige und verantwortungsbewusste junge Erwachsene. Gegen zwanzig Uhr an jenem verhängnisvollen Tag schlug sie also erneut die Augen auf, um mit einigen Schwierigkeiten das Gefühl für Raum und Zeit wiederzuerlangen. Es war inzwischen wieder dunkel draußen, ihr Mund schmeckte nach toter Ratte und ihr Magen erinnerte sie eindringlich daran, dass sie seit zwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Hämisch lächelte sie das halbvolle Wasserglas von ihrem Schreibtisch aus an. „Fuck.“ Stöhnend wälzte sie sich auf den Rücken und fuhr sich übers Gesicht. „Ich werd langsam zu alt für sowas.“ Das Tasten nach ihrem Handy förderte mehrere Nachrichten von ihrem Bruder zutage. Die letzte lautete schlicht: [Chat] Matt: Meld dich, sobald du wieder lebst. Grummelnd und mit halb zusammengekniffenen Augen tippte sie ihre Antwort. Wer hatte die verfluchte Bildschirmhelligkeit so hoch eingestellt? [Chat] Ich: Wach. Hunger. [Chat] Matt: Guten Abend, Gremlin :D Ich hoffe, der Zocker-Kater ist nicht allzu schlimm. Es ist noch chinesisches Takeout im KS, bedien dich. [Chat] Ich: Dehydriert. Bewegungsunfähig. Da keine umgehende Antwort kam, ließ Katie ihr Handy aufs Kissen fallen und mühte sich, sich zumindest aus der Bettdecke zu entknoten. Anschließend zupfte sie das Gummi aus ihren Haaren und tastete dann nach ihrer Nachttischlampe. Die Uhrzeit auf dem Wecker lautete 20:34 und vermutlich hatte sie sich zu dieser noch nie zuvor so mies gefühlt wie heute. Missgelaunt griff sie nach dem Wasserglas und leerte dessen Inhalt. Es war abgestanden, aber das war besser als der Rattenkadaver. Leises Klopfen ließ sie aufsehen. Matt war es, der sich kurz darauf in ihr Zimmer schob und ein Tablett auf ihrem Nachttisch abstellte. Beim Anblick des dampfenden chinesischen Essens lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Dennoch funktionierte das letzte Bisschen ihrer Hirnzellen. „Womit hab ich das verdient?“ Skepsis wob sich in ihre Stimme, wobei sie kaum böse sein konnte. Neben dem Teller mit Essen stand ein großes Glas mit Wasser und selbst das sah hinreißend aus. „Ich kann doch meine kleine Schwester nicht jämmerlich verenden lassen.“ Grinsend zog er sich ihren Schreibtischstuhl näher und zog noch eine Dose aus seiner Hosentasche, ehe er sich setzte. Zugegeben, ihre Skepsis wuchs, aber das tat auch ihr Hunger. Folglich rutschte sie näher an das Tablett heran und begann, den gebratenen Reis umzuschichten, der in ihrer Mikrowelle sicherlich nicht gleichmäßig warm geworden war. „Du bist ein Lebensretter“, ließ sie ihn nach dem ersten genüsslichen Bissen wissen. „Zwischendurch überkommt es mich und ich will einfach nur lieb zu dir sein. Siehst du~?“ Er deutete auf besagte Dose, die zufälligerweise ihren Lieblingsenergydrink enthielt. „Den gibt’s aber erst nach dem Wasser und nach dem Essen.“ Scheinbar reichten ein paar hastig geschaufelte Gabeln von ebendiesem, um ihre Skepsis zu nähren. „Was hast du verbrochen, Matt?“ Sie meinte es nicht einmal wirklich ernst. Tatsächlich glaubte sie ihm ja, dass er sie liebhatte und sich im Grunde um sie sorgte. Sie wusste es. Aber eventuell war das alles heute des Zufalls zu viel. Und scheinbar… hatte sie ihre Intuition nicht getäuscht. Matt sah auffällig ertappt aus. „Matt?“ „Aaaaaaaalso, es ist so…“ „Oh Gott.“ Katies Handfläche fand den Weg zu ihrer Stirn und so richtig wollte sie nicht wissen, was jetzt kam. Die Präambel war schon aussagekräftig genug. „Warte. Lass mich raten. Die Server sind down.“ Und obwohl die Intonation fragend war, befürchtete sie die Feststellung dahinter. „Hmhm“, kam es bejahend von ihrem Bruder, der sich nun rechtmäßig beschämt bis zur Nase im Kopfloch seines Pullovers versteckte. „Ja. Aber ich hab vierzig Prozent schon wieder laufen und es war nur eine simple Überlastung. Alle raus, kurzer Fehlercheck, alle mit Zufahrtskontrolle wieder rein. Der Ablauf der vierundzwanzig Stunden muss den Ausfall verursacht haben.“ „Ausfall durch Serverauslastung und gleichzeitige Rekonfiguration der Modalitäten. Ich wusste es.“ Wie immer gab ihr dieser Satz ein merkwürdiges Gefühl der Errungenschaft – auch wenn er sich unter den aktuellen Umständen nicht annähernd so gut anfühlte, wie manch anderes Mal. Mittlerweile war zumindest die Hälfte des Essens vernichtet und mit mehreren großen Schlucken Wasser nachgespült. „Du reanimierst mich, damit ich hinter die herräume“, stellte sie gespielt schockiert in den Raum und schüttelte den Kopf. „Also wirklich Matthew. Das hätte ich nicht von dir erwartet.“ Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, um zu bestätigen, wie wenig ernst sie die Worte meinte. „Ich hätte dich auch aus reiner Herzensgüte reanimiert. Immerhin hab ich dir gesagt, wo das Futter ist!“ Ebenso ernstlich beleidigt hatte er scharf eingeatmet und seine Hand in Empörung über sein Herz gepresst. Katie musste lachen. „Schon klar. Gib mir den Rest des Essens und eine Dusche – und vier von diesen Dosen – und ich bin startklar.“ „Du bist ein harter Verhandlungspartner, Holt.“ „Danke, gleichfalls. Und jetzt bitte ich um einige Minuten Zweisamkeit für mein Essen und mich. Auf, auf! Ich steig bei fünfzig Prozent mit ein.“   Die darauffolgenden Stunden sahen denen, die sie vor ihrem komaähnlichen Schlaf erst verbracht hatte, nicht unähnlich. Gemeinsam mit Matt arbeitete sie an der Instandsetzung der Server von Alpha EINS. Es war wohl ihr beider Glück, dass sie ausreichend Zugriff von daheim aus hatten – ansonsten hätte es sie zum technologischen Hauptsitz des Spiels gezogen, der in einem Gebäude auf der anderen Seite der Stadt lag. „Ich befürchte, an dem Bug im Bereich Alexandrias bin ich Mitschuld“, hatte Katie irgendwann beim Öffnen der dritten Dose Energydrink gemurmelt. Aktuell arbeiteten sie am Mainserver, auf dem sie zuvor mit den anderen gespielt hatte. Ihre Worte wurden vom ersten Straßenlärm des nächsten Tages durchzogen. „Hab dich auf der Map in den Höhlen gesehen. Die Spawnquote ging ja geradezu durch die Decke.“ „War nicht meine Idee. Die Jungs aus dem CAF wollten leveln und ich hatte nichts Besseres zu tun.“ „Außer Alpha EINS mit intensivem Mobhunting zu killen“, kommentierte er amüsiert und grinste quer über seinen Laptop zu ihr rüber. „Henne oder Ei, Matt. Wäre nicht passiert, wäre mein genialer Bruder nicht auf die Idee gekommen, es vorrübergehend ins Elysium zu verwandeln.“ Sie klang eher konzentriert als schnippisch. Ihr Blick verfolgte eifrig die Codierungen auf dem Bildschirm vor ihn. „Schon gut, schon gut. Zumindest dachte ich nicht, dass du es der Arbeit an deiner Thesis vorziehen würdest.“ „Ich war frustriert. Bin ich immer noch. Tat ganz gut, mal wieder einfach abzuschalten.“ „Scheinbar hast du dir ein ganz annehmbares Team angelacht.“ Die Worte waren als Frage formuliert. Normalerweise bandelten sie innerhalb des Spiels kaum dauerhaft mit Leuten an, um zu verhindern, dass irgendwann jemand rausfand, wer ihre Avatare waren und sich bevorzugt oder benachteiligt fühlte. Außerdem wollten sie Rummel um sich vermeiden. „Vorübergehend zumindest. Sie sind durchschnittlich und ich habe das Gefühl, sie haben noch nicht verstanden, wie sie ihre Avatare am besten weiterbringen, aber für gehaltlose Konversation und stundenlanges Grinden war es ganz okay.“ „Hartes Urteil.“ „Komm schon. Dampfkesselprinzip, ich hab keine hohen Ansprüche an meine Ablenkung gestellt. Aber ja, sie sind ganz in Ordnung.“ Nervig in Teilzeit, aber sie hatte das Gefühl, es war besser geworden. Eine Taschentuchpackung flog quer durch den Raum, etwa zehn Zentimeter an Matts Kopf vorbei. „Konzentrier dich lieber.“ „Yes Ma’am.“ Es dauerte zwei Stunden, bis sie den Mainserver auf Vordermann gebracht hatten und weitere zwei, bis alles wieder komplett lief. Der Schreibtisch – eine Sonderanfertigung für ihren Arbeitsraum, damit sie beide gleichzeitig und gegenüber von einander genug Platz hatten – war übersäht mit leeren Dosen und Takeout-Containern vom Chinesen um die Ecke. Außerdem waren da noch mehrere Pappkartons für Pizzabrötchen. Sie hatten in der Zwischenzeit nachbestellt. „Ich hasse dich ein bisschen“, murmelte Katie mit dem Kopf auf der Tischplatte. Auch dafür war genug Platz. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, ihren Herzschlag in ihren Ohren zu hören und es war nicht schwer, festzustellen, dass sie scheinbar gleichermaßen eine Überdosis Koffein und Zucker hatte. „Aber hey, sobald wir das nächste Mal eine Bahn brechen und ‘ne Bonusrunde einspielen, haben wir Ansatzpunkte für die Keys, die wir vorher umstellen müssen, um einen weiteren Shutdown zu verhindern.“ Sie drehte den Kopf und linste quer über den Tisch zu Matt. Inzwischen hatten seine Augenringe einen ungesunden dunklen Ton angenommen und er war einmal auf seiner Tastatur eingenickt. Koffein half halt auch nicht immer. „Meine Schwester, die Optimistin. Aber ja. Und ich schwöre bei der heiligen Platine, dass ich sowas das nächste Mal mit dir abspreche. Codingehrenwort.“ „Codingehrenwort“, bestätigte sie. „Leg dich schlafen, Mattie, du bist im Eimer.“ Als Antwort kam ein ausgiebiges Gähnen. „Das ist ein wirklich guter Vorschlag. Solltest du vielleicht auch tun. Dein Rhythmus ist sowieso ruiniert.“ Ein Blick auf die Uhr und einige wirklich langsame Hirnwindungen später stellte sie folgendes fest: „Ich… kann nicht. Ich sollte duschen und mich fertig machen um mein Haupt der grässlichen realen Welt zu opfern.“ Stille. „Melodramatisch. Was hast du vor?“ „Ich kann’s dir nicht sagen, du würdest drauf rumhacken.“ Damit erhob sich Katie, um den letzten Rest der aktuellen Dose zu leeren, die Decke, die in den letzten Stunden über ihrem Schoß gelegen hatte, zu falten und über die Lehne des Stuhls zu werfen. „Andererseits bist du gerade so nah am K. O., wie ich dich ohne Handgreiflichkeiten kriege.“ „Schieß los. Ich verspreche, ich bin brav.“ Die Jüngere zögerte noch etwas, bevor sie tatsächlich den Mund aufmachte. Sie mied Matts Blick. „Ich gehe einen Kaffee trinken. Mit einem Typ, der mich vorgestern gefragt hat, ob ich das gern mit ihm tun würde.“ Und damit sie sich nicht doch noch mit der entgleisten Mimik von Blutsverwandten rumschlagen musste, schnappte sie sich eine Tüte für Pfand und beförderte alle Dosen vom Schreibtisch. So stellte sie zumindest den Anschein der Ordnung fast wieder her. „Du hast ein Date? Meine Schwester, der Nerd, hat ein Date?“ „Du hörst dich in ausreichendem Maße ungläubig an, dass es unhöflich ist, Matt.“ „Unverhofft kommt oft. Oder auch nicht so oft, wenn man dein Männerregister ansieht.“ Die nächste Taschentuchpackung, die flog, traf ihn an der Stirn und haute ihn fast vom Stuhl. Kapitel 5: Overkill ------------------- Gegen zwei Uhr nachmittags stolperte Katie eher in das kleine Café, als dass sie ging.  Zuvor war sie unter der Dusche fast eingeschlafen und hatte ihr Gelübde erneuert, irgendwann herauszufinden, wie man Koffein am besten intravenös einflößte. Wieso sie sich so hetzte, wusste sie nicht einmal genau, schließlich ging es nur um ein belangloses Treffen. Richtig? Während sie sich fertig gemacht hatte und mit den Gedanken bei dem Typen war, der sie eingeladen hatte, fiel ihr nach und nach ein, dass er ihr irgendwo her bekannt vorkam. Nicht, dass das ungewöhnlich wäre – an der Universität rannten eine Menge Studenten herum, weshalb sie Sichtkontakt schonmal nicht per se ausschließen konnte. Einen karamellfarbenen Pullover und eine etwas zerstört aussehende Jeans später wusste sie es immer noch nicht genau. Allerdings blieb ihr nun nicht mehr sonderlich viel Zeit, um auch nur halbwegs zu der besprochenen Zeit aufzutauchen. Ein passendes Paar Stiefel, die aus genau diesem Grund nur zur Hälfte geschnürt wurden, und eine Jacke komplettierten das Outfit, in dem sie gerade rechtzeitig aus der Tür fiel, um den nächsten Bus noch zu kriegen und nun etwas gehetzt und mit notdürftig zusammen geknoteten Haaren anzukommen. Es war voll. Hektisches Treiben umfing sie von einer auf die andere Sekunde und ihr ausgelaugtes Hirn hatte Schwierigkeiten, entsprechend umzuschalten. Diese Masse an Menschen hatte sie nicht erwartet; jeder der kleinen Tische war belegt und am Tresen reihte sich eine Schlange von mehr als fünf Leuten. Etwas orientierungslos ließ sie ihren Blick über die Sitzenden schweifen, bis – „Hier drüben!“ Dort, an einem Tisch am Fenster, saß James, die Hand in einer winkenden Bewegung erhoben. Er stand auf als sie sich durch das engstehende Mobiliar zwängte und – Dank des Hängenbleibens an einem der Stühle – fast in seinen Arm fiel. Katie fing sich im letzten Moment. „Hey. Ich, uhm – ich bin spät dran. Entschuldige.“ Auf dem Tisch stand bereits eine Tasse, die von ihrem Blickwinkel aus fast leer war. Nervös strich sie sich ein paar Haare aus der Stirn. „Oh! Oh nein, ganz und gar nicht! Setz dich doch.“ Er gestikulierte etwas aufgekratzt zu dem Tisch, an dem sie standen und sobald Katie sie auf die Sitzbank vor dem Fenster gesetzt hatte, zog er sich auch seinen eigenen Stuhl ran. „Wir haben ja keine feste Zeit ausgemacht und ich wollte ohnehin noch etwas nachlesen, also habe ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden.“ Sie bemerkte die Tasche, die unter dem Tisch stand; ein sehr bekanntes Lehrbuch schaute ihr aus ihr entgegen. „Du hast den Mikrotechnologie-Kurs bei Meyers?“ Die Jacke war gerade von ihren Schultern gerutscht und das Buch hatte direkt ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Da musste sogar ihre latente Müdigkeit zurückstecken. James schien überrascht. „Ja. Den für Fortgeschrittene inzwischen – wir waren zusammen im Grundlagenkurs. Für die Präsentation haben wir zusammengearbeitet.“ Er klang so selbstverständlich, dass es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Das erklärte seine Überraschung; wenn er gedacht hatte, sie wüsste, wer vor ihr stand? „Oh! Ich dachte, du kommst mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher!“ „Halbleitertechnik und Fertigungsprozesse.“ Das Kinn in die Hand gestützt grinste er sie an. „Klar – unser Referatstermin war der erste, deswegen war alles so hektisch. Ich erinnere mich wieder.“ Etwas beschämt rieb sie sich den Nacken und stellte sich dann noch einmal vor. „Ich bin Katie.“ „Ich weiß.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich wollte dich eigentlich damals schon fragen, ob du einen Kaffee mit mir trinken gehen möchtest, hab dich aber irgendwie nicht erwischt. Also – okay, ich hatte die Hälfte des Semesters nicht den Schneid und gen Ende habe ich dich nicht mehr erwischt.“ Natürlich wusste er es, dachte sie sich. Und nun saß sie hier, starrte ihn etwas entgeistert – wenn auch geschmeichelt – an und suchte nach den Worten, die ihr sonst immer so leicht kamen. Wie konnte man ihr einfach so absolut nonchalant mitteilen, dass man schon ewig versuchte, sie auszuführen? Quasi? Wie antwortete man auf sowas? „Ich… Ich hab den Fortgeschrittenen-Kurs vorgezogen.“ So nicht. Sie versuchte es noch einmal. „Ich hab den Kurs vorgezogen und ihn parallel zu den Grundlagen gemacht. Professor Meyers hat mich irgendwann beiseite genommen, um mir zu sagen, dass ich die letzten zwei Stunden nicht mehr besuchen muss, weil er befürchtete, ich würde mich mit beiden Kursen gleichzeitig übernehmen – und die Grundlagen sind ja Voraussetzung für die Fortgeschrittenen, also dachte er, ich müsse es bereits können…“ Katie endete ihren Monolog mit tiefem Luftholen und zog dann die Schultern hoch. Sie redete auch gern mal schnell am Stück, wenn sie nervös war. Ugh. „Sorry, ich hatte eine lange Nacht und mein Schlaf-Wach-Rhythmus ist total im Eimer. Ich bin etwas überdreht.“ „Das klingt, als könntest du einen Kaffee gebrauchen“, schlussfolgerte James mit einem Schmunzeln. Ihr fiel auf, wie gut ihm diese Art der Mimik stand und sie wurde gleich noch etwas mehr rosa um die Nase. „Kaffee klingt super.“   „Was tust du denn so, wenn du nicht gerade studierst und Dozenten verfluchst?“ Katie hatte ihr Kinn in die Handfläche gestützt, während sie sich mit dem Ellenbogen auf der Tischkante nach vorn lehnte. Ihre Tasse war inzwischen fast leer und die anfänglichen Small-talk-Problematiken hatten sich gelegt. Momentan genoss sie das Gespräch sehr; Es war so anders als das, womit sie sich tagtäglich beschäftigte, weshalb es eine willkommene Abwechslung darstellte. James lachte auf, zuckte dann nonchalant mit den Schultern. „Das Übliche? Die Uni nimmt viel Zeit in Anspruch. Ansonsten kümmere ich mich um meine Familie, fahre meine Schwester durch die Gegend oder mache Mountainbike-Touren.“ Scheinbar verzog sie daraufhin etwas zu offensichtlich das Gesicht. „Was?“ „Ich bin selbst total unsportlich – da bleibt mir übrig, die Leute, die Sport treiben, für den Sieg über den Schweinehund zu bewundern.“ „Es ist ein sehr angenehmer Ausgleich, wenn man sonst nur am Schreibtisch sitzt. Und man kommt viel rum, sieht einiges. Manchmal machen wir zu dritt Touren über mehrere Tage.“ „Das klingt schon ziemlich gut. Ein bisschen wie sehr anstrengender Urlaub.“ Katie grinste, leerte dann ihre Tasse. „Ich habe es früher mal mit Kickboxen und Ballett versucht. Ging beides nicht so richtig gut.“ „Das… ist eine sehr interessante Mischung. Ich hoffe, du hast nicht die Moves vertauscht.“ „Oh, einmal habe ich einer Ballerina einen Kinnhaken verpasst – das war aber wirklich ein Versehen. Sie hat es mir nicht geglaubt und ihre Mutter hat meiner Mutter eine Predigt gehalten, dass ich nicht sozialisierbar wäre.“ Sie stimmte in sein Lachen mit ein, zuckte aber die Schultern. "Ich mochte Ballett ohnehin nie wirklich gern und geprügelt habe ich mich in erster Linie mit meinem Bruder. Daher war es gar nicht nötig, mich auf andere Leute loszulassen." "Ahh, Geschwisterraufereien, das kommt mir bekannt vor. Mia ist sieben Jahre jünger als ich, aber das hat sie nie davon abgehalten, sich auf mich zu stürzen, wie eine Wahnsinnige. Natürlich musste ich mich regelmäßig unterlegen zeigen und ihr den Sieg gönnen." "Das scheint so ein Großer-Bruder-Ding zu sein. Wobei Matt es mir wirklich nie leicht gemacht hat. Ich habe mal einen Milchzahn dabei verloren. Meine Ma war unglaublich sauer." Katie stimmte in das Lachen mit ein, das James auf die Worte hin erfasste. In seeliger Erinnerung an jenen Tag musste sie den Kopf schütteln und bekam daher nicht mit, wie ihr Gesprächspartner auf ihre leere Tasse deutete. "Wollen wir vielleicht etwas spazieren gehen? Oder noch einen Kaffee trinken?" Mittlerweile, das stellte sie etwas amüsiert fest, wirkte er sicherer in derlei Fragen. "Warum nicht beides", erwiderte sie grinsend und erhob sich mit einem Deut Richtung Tresen. Sie konnten ja etwas zum Mitnehmen besorgen. Gemeinsam verließen sie das Café, nachdem James ihnen tragbaren Koffeinnachschub besorgt hatte. Es war kalt draußen und der Himmel verhangen. Für den Spätherbst wirklich ungemütlich und mit Temperaturen, die im Nullbereich vorhergesagt worden waren, eigentlich nicht sehr einladend. Dennoch wirkte die kühle Brise erfrischend und belebte Katies Lebensgeister auf andere Art als das Koffein es tat. Sie bogen hinter dem Lokal um eine Straßenecke und schlenderten auf einen nahegelegenen Park zu. Einige Studenten waren unterwegs und eilten mit vollen Taschen und Büchern in den Armen durch die Gegend. Sie zog ihre Jacke enger zu. "Ist dir kalt?", erklang es neben ihr. Der Braunhaarige hatte die Hand, die nicht den Kaffee hielt, in seiner Jackentasche verstaut, zog sie nun nach einem prüfenden Blick auf seine Begleitung heraus. "Es geht, ich hab nur meinen Schal -" Sie unterbrach sich, als James ihr genau in diesem Moment den seinen entgegen hielt. "- zu Hause liegen lassen. Das ist wirklich nicht nötig", versuchte sie es, war kurz in der Mitte des Gehweges stehen geblieben. "Nimm schon", schmunzelte er sie mit schief gelegtem Kopf an. "Ich habe ihn gestern aus der Wäsche genommen, er ist quasi wie neu, versprochen." Zögerlich streckte sie die Hand nach dem warmen Strickstoff aus. Der Schal war dunkelgrau und fühlte sich sehr weich an. "Aber dann frierst du." "Halb so wild", entgegnete er, um dann lächelnd wieder seine Jacke zu schließen, die er zuvor geöffnet hatte, um den Schal leichter abnehmen zu können. "Ich friere selten. Und ich kann nicht riskieren, dass du dich erkältest." Katie schob den rosigen Ton ihrer Wangen auf die Kälte.   Sie schlenderten einmal um die innerstädtische Grünfläche herum, redeten und brachten Katie zu dem Entschluss, dass das hier eigentlich ganz nett war. Für gewöhnlich war sie keine große Romantikerin oder ein Mädchen, an dem andere Leute romantisches Interesse hatten. Sie glaubte, dass sie zu eigenbrötlerisch war. Matt meinte, sie würde potenzielle Partner mit ihrem Intellekt abschrecken. Fakt war, dass sie ihre Energie nicht selten bereits so investierte, dass am Ende des Tages nur noch wenig für soziale Kontakte übrig blieb. Das zeigte sich nicht nur an ihrem dürren Romantikleben, sondern allgemein an dem Umstand, dass ihr Freundeskreis relativ klein war. Und mit James… schien es fast einfach. Zumindest, bis er sie nach ihren Freizeitbeschäftigungen fragte und sie einsehen musste, dass es Gründe gab, wieso ihre Sozialkontakte und ihre Prinzipien nicht immer harmonierten. „Oh, momentan investiere ich den Großteil meiner Zeit in die Uni“, hörte sie sich sagen. „Außerdem babysitte ich meinen Bruder und ich mag vieles, was mit Videospielen zu tun hat.“ Vorsichtiges Herantasten. Neben ihr lachte der Braunhaarige auf. „Echt? Das ist so gar nicht mein Ding. Ich schätze, ich hab noch nicht verstanden, wieso Menschen ihre Zeit vor Bildschirmen verbringen, wenn sie nicht müssen.“ „Jeder braucht ein Hobby“, zuckte sie die Schultern, nur um sie danach etwas höher zu ziehen. „Ich finde, virtuelle Welten haben etwas Faszinierendes an sich.“ „Dafür gibt es Bücher. Die Bevölkerung verliert den Blick auf die wirklichen Probleme, mit dem Eskapismus, den sie durch das Ausschöpfen des Kommerz betreibt.“ Seine Stimme klang nicht sehr ernst, hatte eher einen gelösten Unterton. Dennoch bekam er erst einmal keine Antwort. Es war genau der Punkt. Katie und ihr Bruder hatten nie öffentlich machen wollen, wer die Gehirne hinter einer dieser virtuellen Realitäten waren – einerseits, weil sie nicht bekannt werden wollten und andererseits, um ihr Herz nicht auf dem Silbertablett zu präsentieren. Dass James ihr Herzblut nun auf diese Art und Weise bagatellisierte und verurteilte, ließ sie frösteln. Es wäre schon unangenehm genug, wäre sie nur leidenschaftliche Gamerin. So aber fühle sie ihr Lebensprojekt angegriffen. Normalerweise mied sie das Thema gänzlich. „Uhm. Entschuldige, das klang hart“, riss er sie kurz darauf aus ihren Gedanken. Katie hatte nicht mitbekommen, dass sie sicher bereits die nächsten hundert Meter gelaufen waren, ohne dass sie ein Wort gesagt hatte. Dass sie in ihren Gedanken verloren gewesen war, musste sich in dem Blick zeigen, mit dem sie ihn nun von unten bedachte. Sie waren stehen geblieben. „Ich wollte das, was du gern tust, nicht in den Dreck ziehen. Du hast mir ja auch nicht gesagt, dass Radfahren scheiße ist.“ „Weil ich Radfahren nicht scheiße finde“, versuchte sie es, immer noch irritiert, mit fragendem Unterton. „Es ist dein gutes Recht, eine Meinung zu haben, James. Die Welt wäre sehr eintönig, wenn alle Menschen die selben Dinge mögen würden.“ „Damit hast du Recht. Dennoch. Ich neige dazu, mich in einer gewissen prototypischen Rechtschaffenheit zu verlieren – zumindest laut einem Freund. Eigentlich versuche ich auch, daran zu arbeiten, aber wenn ich mich wohlfühle fällt mein Sprachfilter häufiger mal aus.“ Er erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln, welches zu einem Grinsen wuchs, als Katie eine Augenbraue hob. „Du versuchst dich mit Charme aus einer vermeintlich brenzligen Situation zu manövrieren“, stellte sie trocken fest. Sie gab sich noch zwei Sekunden, ehe sie das Lächeln zuließ. „Und es funktioniert. Dir sei vergeben. Dieses Mal.“ Jenen Moment nutzte der inzwischen dunkler gewordene Himmel, um die ersten Schneeflocken des Winters auf sie herab rieseln zu lassen. Braune Augen wurden groß, als Katies Blick nach oben schweifte. Sie liebte Schnee. Am meisten zwar dann, wenn sie nicht zwangsläufig vor die Tür musste und seine Pracht entweder aus sicherer Distanz oder einpackt mit Schneestiefeln genießen konnte, aber der erste Schnee des Jahres hatte immer etwas sehr besonderes an sich. Tief sog sie Luft in ihre Lungen und schloss kurz die Augen, um das Streicheln von hauchzarter Kälte auf ihrem Gesicht zu erspüren. Das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie die Lider schließlich erneut heben, um ihm nachzugehen. James sah sie mit derselben Faszination an, die sie dem Wetterumschwung entgegen gebracht hatte und je länger sie seinen Blick erwiderte, desto wärmer wurde ihr. War das… ein Moment? Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und ihre Kehle trocken wurde und für einen Augenblick fragte sie sich, ob irgendetwas hier nicht reichlich schnell lief. Wenn sie aber die Verkettung der Umstände betrachtete, war es gar nicht so verwunderlich. Irgendwie. „Dann hab ich noch einmal Glück gehabt“, antwortete James schließlich verspätet und brach damit was auch immer sie gerade gehabt hatten. Augenscheinlich etwas peinlich berührt fuhr er sich durch die Haare und deutete an, dass sie sich wieder in Bewegung setzen könnten. Mittlerweile war es windstill und der friedlich fallende Schnee vermittelte ein Gefühl der Ruhe. Das Schweigen, das sich diesmal einstellte, war einvernehmlich und angenehm. Zumindest für einige Minuten. „Am Wochenende macht der Winter-Jahrmarkt am Stadtrand auf“, eröffnete der Braunhaarige ihr als sie ihre zweite Runde gedreht hatten. Unabgesprochen waren sie in Richtung der Bushaltestelle abgedreht. „Falls du noch nichts vorhast, würde ich dich gern einladen.“ Sie musste schon wieder lächeln. In ihrem Kopf schrieb sich eine To-do-Liste ganz von selbst. Wäre das zeitlich überhaupt machbar? „Gern. Ich muss abklären, ob das tatsächlich passt, aber ich würde gern mit dir dorthin gehen.“ Scheinbar würde sie es machbar machen… Katie hoffte, dass kein weiterer Software-Notfall ins Haus stand. „Daaaaaann überleg es dir und sag mir bescheid. Gern auch spontan, ich bin da relativ flexibel.“ Als sie an der Haltestelle angekommen waren, zog er ein Handy aus seiner Tasche und reichte es ihr mit geöffneter Maske zum Hinzufügen neuer Kontakte. „Du könntest mir deine Handynummer geben“, fügte er, beinahe unnötigerweise, hinzu. Katie nahm das Smartphone an sich und tippte ihre Nummer und ihren Namen ein. Anschließend drückte sie auf den ‚Anrufen‘-Button und legte auf, als es in ihrer Jackentasche vibrierte. „Hier. Ich melde mich bei dir, sobald ich mehr weiß“, versprach sie, als sie das Gerät zurückgab. Und James… nahm es nicht nur, sondern trat dafür noch einen Schritt auf sie zu und war plötzlich… sehr nah. Ihr Kopf ruckte überrascht hoch und von einem auf den anderen Moment war der Geruch, der auch von seinem Schal ausging, weitaus deutlicher wahrnehmbar. In ihrer Brust setzte ihr Herz kurz aus, ehe es schneller weiterschlug und sie sich tatsächlich fragte, was sie gerade verpasst hatte – er würde doch nicht…? Er küsste sie tatsächlich. Auf die Wange. „Der Bus kommt.“ Katie war rot bis zu den Ohren, als James wieder Abstand zwischen sie brachte und der sanfte Lufthauch, der mit den Worten ihr Gesicht gestreift hatte, ließ sie schaudern. Das war… Wieso hatte er so eine Wirkung auf sie? Sie war weggetreten genug, ihn für einige Sekunden nur verständnislos anzustarren und erst zu reagieren, als der Bus tatsächlich mit quietschenden Bremsen neben ihr hielt. Was war nur los mit ihr?! „Bis dann“, brachte sie nur etwas lahm hervor und drehte sich mit abgehackten Bewegungen zum Einstieg. Es fühlte sich ein wenig an, als würde sie die Flucht ergreifen. Dennoch suchte sie sich einen Fensterplatz auf Seite des Bürgersteiges, um James doch noch anzusehen, als der Bus anfuhr. Da stand er; gutaussehend, lächelnd, winkend… Katie schob sich eine Strähne hinters Ohr, bevor sie verspätet zurückwinkte. Ihre Wange kribbelte.   Ihr Schlüssel klackerte gegen die Tür, als sie ihre Wohnung aufschloss. Wärme und das leise Surren von Rover, ihrem Saugroboter, empfing sie. Eine kleine Lampe tauchte das Wohnzimmer in gemütliches Licht und Katie lauschte angestrengt, um herauszufinden, ob Matt zu Hause war. Vermutlich würde sie ihn in seinem Bett finden, wenn sie bedachte, wie lang und intensiv sie zuvor an der Behebung des Problems in Alpha EINS gearbeitet hatten. Schuhe und Jacke wurden abgestreift und sie trat tiefer in die Wohnung. Ihr Bruder schlief tatsächlich, was bedeutete, dass sie ihn nicht nach Neuigkeiten fragen konnte – das würde warten müssen. Hätte es Zwischenfälle gegeben, hätte er sie vermutlich bereits davon unterrichtet. Leise taperte sie in die Küche, kochte frischen Ingwertee und verkrümelte sich dann mit ihrem Laptop in ihr Bett. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt konnte sie den Schneeflocken dabei zusehen, wie sie gegen die Scheibe stoben; inzwischen war das Schneetreiben stärker geworden und im Dunkel hatte sich ein bizarres Schattenspiel entwickelt. Ihr Laptop zog nach dem Hochfahren alsbald ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie konnte ja zumindest herausfinden, was ihr Terminkalender bezüglich des Wochenendes sagte, unabhängig von etwaigen Katastrophen, die unabdingbar zeitnaher Behebung bedurften. Gedanklich war sie noch immer bei den Situationen am Park – zwei Mal hatte sie geglaubt, es hätte einen besonderen Moment gegen und allein die Tatsache, dass sie das glaubte, erschien ihr sinnfrei. „Reiß dich mal zusammen“, murmelte sie sich zu, ließ den Kopf kurz gegen die Wand sinken. Das war ja nicht auszuhalten. Glücklicherweise informierte sie das Betriebssystem des Laptops mit einer Willkommensmelodie über seine Bereitschaft, genutzt zu werden. Dann: „Guten Abend, Katie. Der Temperaturumschwung hat minus zwei Grad Celsius erreicht und der Schneefall soll zum aktuellen Zeitpunkt noch viereinhalb Stunden anhalten. Das perfekte Wetter für einen heißen Tee.“ „Hey Air. Scheinbar habe ich alles richtig gemacht. Hast du wieder in die Vitalparameter gelinst?“ „Du scheinst etwas aufgeregt, aber deine Werte sind im Normbereich. Es besteht kein Grund zur Sorge. Wie kann ich dir helfen?“ „Sag mir, wie die Serverauslastungen aussehen“, bat sie die künstliche Intelligenz. Noch als sie fragte, öffnete Katie ihr Mailprogramm und überflog die neuen Eingänge. Das Feedback-Team hatte rückgemeldet, dass die Resonanz auf die 24h-Bonusrunde ausgesprochen gut gewesen sei, jedoch einige Beschwerden laut geworden waren, wieso sie sie nicht angekündigt hatten. Air informierte sie daraufhin, dass die Server stabil und die zuletzt behobenen Bugs nicht mehr aufgetreten waren. „Gibt es sonst irgendwelche Auffälligkeiten?“ „Glücklich ist allein die Seele, die liebt“, antwortete die künstliche Intelligenz scheinbar zusammenhangslos. „Deine Endorphin- und Serotoninwerte sind erhöht. Außerdem hat dein Körper das Bindungshormon Oxytozin ausgeschüttet, was einer Auffälligkeit entspricht.“ Katies Brauen wanderten simultan gen Haaransatz. „Das meinte ich nicht“, gab sie zurück. „Ich rede von Alpha EINS.“ „Wenn du eine weise Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen.“ Sie verdrehte die Augen. „Air, hast du gerade Goethe zitiert? Zum zweiten Mal?“ „Mein Wissenspool ist unerschöpflich, dafür hast du gesorgt.“ „Alles klar“, seufzte sie und nahm die Teetasse zur Hand, um davon zu trinken. „Ich gehe davon aus, das bedeutet, dass es sonst nichts gibt.“ Air bejahte. „Gut. Dann öffne mir bitte meinen Kalender für das Wochenende und such schonmal die nächste Folge Pandoras Box auf Netflix raus.“ „Gegenüber der Fähigkeit, die Arbeit eines einzigen Tages sinnvoll zu ordnen, ist alles andere im Leben ein Kinderspiel. Viel Spaß, Katie.“ Es öffneten sich zwei Fenster, eines mit ihrem Kalender, ein anderes mit der Applikation für den Streaming-Dienstleister. Schlürfend überflog sie die Planung für das Wochenende und stellte fest, dass sie den Jahrmarkt wahrscheinlich noch irgendwie unterkriegen würde. Dass sie lächelte, merkte sie erst, als sie ihr Gesicht bis zur Nase in dem Schal vergraben hatte, der noch immer um ihren Hals lag. Er roch nach James. Den Kopf darüber schüttelnd, dass sie einem solchen Klischee anheimgefallen war, griff sie zu ihrem Handy und speicherte den neuen Kontakt ab. Zögernd wählte Katie dann das Chatsymbol aus. [Chat] Ich: Hey. Ich hoffe, du bist gut heimgekommen. [Chat] Ich: Ich denke, dass es am Wochenende irgendwie klappt. Wahrscheinlich Sonntag…nachmittag? Wenn Mein Bruder keinen Anschlag auf mich plant. Passt das? [Chat] Ich: & ich befürchte, ich habe deinen Schal temporär entwendet. Sorry /D Für einige Augenblicke sah sie auf die Nachrichten hinunter und ließ noch einmal Revue passieren, wie der Tag gelaufen war. Wie ihr Date gelaufen war. Es klang sogar in ihrem eigenen Kopf merkwürdig. Sie starrte immer noch, als sich die beiden Häkchen am Nachrichtenrand blau verfärbten und James zu tippen begann. Wundervoll, nun erweckte sie den Eindruck, sie würde am Handy kleben und hätte nichts Besseres zu tun, als auf seine Antwort zu warten. [Chat] James: Hey! Bin ich. Sonntag passt perfekt – wann immer du Zeit hast, passt es perfekt :) Wenn du den Schal wieder loswerden möchtest, kannst du ihn dann mitbringen. [Chat] James: Was machst du gerade? Auf deine Nachricht starren und über die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung philosophieren, dachte sie sich. Vielleicht war sie einfach nur übermüdet. Ja. Das musste es sein. [Chat] Ich: Charmeur! Ich halte dich auf dem Laufenden. Hab grad Netflix angeschmissen, werde aber höchstwahrscheinlich bei der ersten Folge einschlafen. [Chat] James: Was schaust du denn? So langweilig? Und ehe sie es sich versah, waren sie in eine tiefgehende Diskussion über Serien verschiedener Genres verwickelt, gaben sich gegenseitig Empfehlungen, die sie zu verfolgen gelobten und überlegten, woran sie vielleicht gemeinsam Spaß haben könnten. Nachdem die Auswahl eingegrenzt war und es sich anfühlte, als hätten sie ein weiteres Treffen ausgemacht, schweiften sie zu anderen Themen ab, die scheinbar ebenso viel Potenzial boten, sich in ihnen zu verlieren. Mitten in der Nacht hatte Katie den Laptop längst von ihrem Schoß auf ihre Fußknöchel und schließlich auf den Schreibtisch geschoben. Air hatte Netflix umsonst geöffnet und so müde sie auch war, es fiel ihr sehr schwer, das Gespräch mit James zu unterbrechen. Mittlerweile hatte sie sich unter die Laken gekuschelt und mühte sich, die Augen auf zu halten, um eine letzte Nachricht zu schreiben. Oder… einige. [Chat] Ich: Wir sollten schlafen, denke ich. Wenn ich mich recht erinnere, liegen die Kurse bei Meyers immer vormittags. [Chat] James: Tun sie :D [Chat] Ich: Ich hab jetzt schon schlechten Einfluss auf dich. Ab ins Bett D: [Chat] James: Ist gut, ist gut. [Chat] James: Schlaf gut, Katie. Danke für den schönen Tag. [Chat] Ich: Gleichfalls. Ich hatte mehr Spaß, als ich gedacht hab. & ich freue mich aufs Wochenende. :) Schlaf gut, bevor du das morgen noch in der Uni tust. [Chat] James: Ich freue mich auch! [Chat] James: Und ich bereue nichts. :* Der Chatverlauf erhellte das Display, bis es sich selbstständig in den Ruhemodus versetzte. Katie schlief mit einem seligen Lächeln ein und träumte von Schneegestöber und Riesenrädern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)