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Alpha EINS - Game 0n

von

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Overload

„Scheiße, war das knapp!“

Hunks Stimme war das Erste, das sie wahrnahm, als das Klingeln in ihren Ohren nachgelassen hatte. Sie hatte noch immer Visionen von in Säure verendenden Monstern und irgendwo fragte sie eine Hirnwindung, ob sie das Spiel vielleicht ein wenig zu real konstruiert hatten. Im Hintergrund begannen die beiden Herren der Schöpfung ein angeregtes Gespräch.

Ächzend stemmte Pidge sich in eine sitzende Position, sah sich noch einmal um. Die Höhle war inzwischen wirklich leergefegt und es würde wohl noch ein wenig dauern, bis die Monster um sie herum respawnten. Ein tiefes Durchatmen später stand sie wieder auf beiden Beinen und machte sich samt ihres Zepters auf zu den anderen.

„Ich glaube, ich hatte gerade einen Level up!“ Ladykiller grinste bis über beide Ohren und machte Anstalten, seine Charakterdaten auf dem Kommunikator zu checken. „Yes!“

„Das ist nicht sehr verwunderlich bei dem aktuell laufenden Bonus und der Tatsache, dass du gerade ein Champion-Mob gekillt hast, das dir leveltechnisch überlegen war. Zugegeben, es hätte eine Weile gebraucht, bis es mich erledigt hätte, aber…“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Danke. Und sorry wegen eben.“

Ja, sie hätte angefressen sein oder sich anderweitig infantil verhalten können. Aber ernsthaft? Sie wusste, dass sie überreagiert hatte. Genug Päckchen ihres Offline-Lebens lasteten auf ihr und sie hatte einen Ausgleich gesucht. Ihre Partymember dafür anzufahren, erschien ihr durchaus irgendwie unfair.

Ladykiller sah sie dafür mit großen Augen an. Scheinbar kam ihr Einlenken unerwartet und tatsächlich winkte er mit einer Hand ab, während er den angebotenen Händedruck mit der anderen erwiderte.

„Schon gut, man. Ich hab ja was davon. Außerdem hatte Hunk recht – bei mir läufts grad nicht so, da werd ich gern mal liederlich.“ Scheinbar verlegen rieb er sich den Nacken. „Vergeben und vergessen?“

Pidge nickte. „Ich kenne das. Ist gut.“ Ein halbes Lächeln wurde angehangen, ehe ihre Aufmerksamkeit vom dritten ihrer Spieler auf sich gezogen wurde. Hunk stand mit gefalteten Händen und leuchtenden Augen neben ihnen und schien kaum glauben zu können, welch glückliche Wendung ihre Situation gerade genommen hatte. Vielleicht verdrückte er auch ein Tränchen.

„Jetzt fang bitte nicht das Heulen an.“ Ladykiller machte den Eindruck, als hätte er sich am liebsten die Hand vors Gesicht gehauen.

„Passiert das häufiger?“, fragte Pidge mit Skepsis in der Stimme nach.

„Nur, wenn er wirklich emotional wird. Dennoch öfter, als mir lieb ist.“

Sie musste grinsen ob der trockenen Antwort und zuckte mit den Schultern. „Dann sollten wir dieses Kitsch-Festival auflösen und uns den wichtigen Dingen zuwenden – wenn wir uns ranhalten, schafft ihr noch ein Level!“

 

Es war… ein langer Abend. Euphemistisch gesprochen.

Katie hatte gegen zwei Uhr nachts eine kurze Pause eingelegt, um sich eine Instant-Nudelsuppe zu kochen, ehe sie bis zum frühen Mittag in Alpha EINS versackt war. Tatsächlich hatten sie nach einer Planbesprechung, wer wann wo zu sein hatte – scheinbar hatten die anderen  beiden Mitglieder ihrer Party wenig Präsenzzeit an ihrer Uni – beschlossen, dass es nach einem weiteren Level up für Lance und zweien für Hunk an der Zeit sein sollte, auf ihre Körper zu hören und sich endlich schlafen zu legen. Katie selbst kratzte am nächsthöheren Level und würde es bei der nächsten Runde Powerleveling wohl erreichen. Nicht, dass das derzeit Toppriorität hatte…

Matt hatte online einige Male nach ihr gesehen, musste aber einsehen, dass er am aktuellen Gamingwahn selbst Mitschuld trug. Ihre Server waren hochgradig ausgelastet und das trotz der Tatsache, dass die vierundzwanzig Stunden Bonus nicht zuvor angekündigt sondern einer spontanen Idee entsprungen waren. Nichtsdestotrotz knutschte die Jüngere der Holt-Geschwister bis am darauffolgenden Abend das Kissen – in dem Wissen, dass sie gerade einen ganzen Tag in Menschen investiert hatte, die sie nicht kannte, die aber inzwischen zumindest halbwegs angenehme Gesellschaft boten.

Anstatt an ihrer Masterthesis zu arbeiten.

Jep.

Sie war eine vernünftige und verantwortungsbewusste junge Erwachsene.

Gegen zwanzig Uhr an jenem verhängnisvollen Tag schlug sie also erneut die Augen auf, um mit einigen Schwierigkeiten das Gefühl für Raum und Zeit wiederzuerlangen. Es war inzwischen wieder dunkel draußen, ihr Mund schmeckte nach toter Ratte und ihr Magen erinnerte sie eindringlich daran, dass sie seit zwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Hämisch lächelte sie das halbvolle Wasserglas von ihrem Schreibtisch aus an.

„Fuck.“

Stöhnend wälzte sie sich auf den Rücken und fuhr sich übers Gesicht. „Ich werd langsam zu alt für sowas.“ Das Tasten nach ihrem Handy förderte mehrere Nachrichten von ihrem Bruder zutage. Die letzte lautete schlicht:

[Chat] Matt: Meld dich, sobald du wieder lebst.

Grummelnd und mit halb zusammengekniffenen Augen tippte sie ihre Antwort. Wer hatte die verfluchte Bildschirmhelligkeit so hoch eingestellt?

[Chat] Ich: Wach. Hunger.

[Chat] Matt: Guten Abend, Gremlin :D Ich hoffe, der Zocker-Kater ist nicht allzu schlimm. Es ist noch chinesisches Takeout im KS, bedien dich.

[Chat] Ich: Dehydriert. Bewegungsunfähig. <Totenkopf-Emoji>

Da keine umgehende Antwort kam, ließ Katie ihr Handy aufs Kissen fallen und mühte sich, sich zumindest aus der Bettdecke zu entknoten. Anschließend zupfte sie das Gummi aus ihren Haaren und tastete dann nach ihrer Nachttischlampe. Die Uhrzeit auf dem Wecker lautete 20:34 und vermutlich hatte sie sich zu dieser noch nie zuvor so mies gefühlt wie heute. Missgelaunt griff sie nach dem Wasserglas und leerte dessen Inhalt. Es war abgestanden, aber das war besser als der Rattenkadaver.

Leises Klopfen ließ sie aufsehen. Matt war es, der sich kurz darauf in ihr Zimmer schob und ein Tablett auf ihrem Nachttisch abstellte. Beim Anblick des dampfenden chinesischen Essens lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Dennoch funktionierte das letzte Bisschen ihrer Hirnzellen.

„Womit hab ich das verdient?“ Skepsis wob sich in ihre Stimme, wobei sie kaum böse sein konnte. Neben dem Teller mit Essen stand ein großes Glas mit Wasser und selbst das sah hinreißend aus.

„Ich kann doch meine kleine Schwester nicht jämmerlich verenden lassen.“ Grinsend zog er sich ihren Schreibtischstuhl näher und zog noch eine Dose aus seiner Hosentasche, ehe er sich setzte.

Zugegeben, ihre Skepsis wuchs, aber das tat auch ihr Hunger. Folglich rutschte sie näher an das Tablett heran und begann, den gebratenen Reis umzuschichten, der in ihrer Mikrowelle sicherlich nicht gleichmäßig warm geworden war. „Du bist ein Lebensretter“, ließ sie ihn nach dem ersten genüsslichen Bissen wissen.

„Zwischendurch überkommt es mich und ich will einfach nur lieb zu dir sein. Siehst du~?“ Er deutete auf besagte Dose, die zufälligerweise ihren Lieblingsenergydrink enthielt. „Den gibt’s aber erst nach dem Wasser und nach dem Essen.“

Scheinbar reichten ein paar hastig geschaufelte Gabeln von ebendiesem, um ihre Skepsis zu nähren. „Was hast du verbrochen, Matt?“ Sie meinte es nicht einmal wirklich ernst. Tatsächlich glaubte sie ihm ja, dass er sie liebhatte und sich im Grunde um sie sorgte. Sie wusste es. Aber eventuell war das alles heute des Zufalls zu viel.

Und scheinbar… hatte sie ihre Intuition nicht getäuscht. Matt sah auffällig ertappt aus.

„Matt?“

„Aaaaaaaalso, es ist so…“

„Oh Gott.“ Katies Handfläche fand den Weg zu ihrer Stirn und so richtig wollte sie nicht wissen, was jetzt kam. Die Präambel war schon aussagekräftig genug. „Warte. Lass mich raten. Die Server sind down.“ Und obwohl die Intonation fragend war, befürchtete sie die Feststellung dahinter.

„Hmhm“, kam es bejahend von ihrem Bruder, der sich nun rechtmäßig beschämt bis zur Nase im Kopfloch seines Pullovers versteckte. „Ja. Aber ich hab vierzig Prozent schon wieder laufen und es war nur eine simple Überlastung. Alle raus, kurzer Fehlercheck, alle mit Zufahrtskontrolle wieder rein. Der Ablauf der vierundzwanzig Stunden muss den Ausfall verursacht haben.“

„Ausfall durch Serverauslastung und gleichzeitige Rekonfiguration der Modalitäten. Ich wusste es.“ Wie immer gab ihr dieser Satz ein merkwürdiges Gefühl der Errungenschaft – auch wenn er sich unter den aktuellen Umständen nicht annähernd so gut anfühlte, wie manch anderes Mal.

Mittlerweile war zumindest die Hälfte des Essens vernichtet und mit mehreren großen Schlucken Wasser nachgespült. „Du reanimierst mich, damit ich hinter die herräume“, stellte sie gespielt schockiert in den Raum und schüttelte den Kopf. „Also wirklich Matthew. Das hätte ich nicht von dir erwartet.“ Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, um zu bestätigen, wie wenig ernst sie die Worte meinte.

„Ich hätte dich auch aus reiner Herzensgüte reanimiert. Immerhin hab ich dir gesagt, wo das Futter ist!“ Ebenso ernstlich beleidigt hatte er scharf eingeatmet und seine Hand in Empörung über sein Herz gepresst. Katie musste lachen.

„Schon klar. Gib mir den Rest des Essens und eine Dusche – und vier von diesen Dosen – und ich bin startklar.“

„Du bist ein harter Verhandlungspartner, Holt.“

„Danke, gleichfalls. Und jetzt bitte ich um einige Minuten Zweisamkeit für mein Essen und mich. Auf, auf! Ich steig bei fünfzig Prozent mit ein.“

 

Die darauffolgenden Stunden sahen denen, die sie vor ihrem komaähnlichen Schlaf erst verbracht hatte, nicht unähnlich. Gemeinsam mit Matt arbeitete sie an der Instandsetzung der Server von Alpha EINS. Es war wohl ihr beider Glück, dass sie ausreichend Zugriff von daheim aus hatten – ansonsten hätte es sie zum technologischen Hauptsitz des Spiels gezogen, der in einem Gebäude auf der anderen Seite der Stadt lag.

„Ich befürchte, an dem Bug im Bereich Alexandrias bin ich Mitschuld“, hatte Katie irgendwann beim Öffnen der dritten Dose Energydrink gemurmelt. Aktuell arbeiteten sie am Mainserver, auf dem sie zuvor mit den anderen gespielt hatte. Ihre Worte wurden vom ersten Straßenlärm des nächsten Tages durchzogen.

„Hab dich auf der Map in den Höhlen gesehen. Die Spawnquote ging ja geradezu durch die Decke.“

„War nicht meine Idee. Die Jungs aus dem CAF wollten leveln und ich hatte nichts Besseres zu tun.“

„Außer Alpha EINS mit intensivem Mobhunting zu killen“, kommentierte er amüsiert und grinste quer über seinen Laptop zu ihr rüber.

„Henne oder Ei, Matt. Wäre nicht passiert, wäre mein genialer Bruder nicht auf die Idee gekommen, es vorrübergehend ins Elysium zu verwandeln.“ Sie klang eher konzentriert als schnippisch. Ihr Blick verfolgte eifrig die Codierungen auf dem Bildschirm vor ihn.

„Schon gut, schon gut. Zumindest dachte ich nicht, dass du es der Arbeit an deiner Thesis vorziehen würdest.“

„Ich war frustriert. Bin ich immer noch. Tat ganz gut, mal wieder einfach abzuschalten.“

„Scheinbar hast du dir ein ganz annehmbares Team angelacht.“ Die Worte waren als Frage formuliert. Normalerweise bandelten sie innerhalb des Spiels kaum dauerhaft mit Leuten an, um zu verhindern, dass irgendwann jemand rausfand, wer ihre Avatare waren und sich bevorzugt oder benachteiligt fühlte. Außerdem wollten sie Rummel um sich vermeiden.

„Vorübergehend zumindest. Sie sind durchschnittlich und ich habe das Gefühl, sie haben noch nicht verstanden, wie sie ihre Avatare am besten weiterbringen, aber für gehaltlose Konversation und stundenlanges Grinden war es ganz okay.“

„Hartes Urteil.“

„Komm schon. Dampfkesselprinzip, ich hab keine hohen Ansprüche an meine Ablenkung gestellt. Aber ja, sie sind ganz in Ordnung.“ Nervig in Teilzeit, aber sie hatte das Gefühl, es war besser geworden. Eine Taschentuchpackung flog quer durch den Raum, etwa zehn Zentimeter an Matts Kopf vorbei. „Konzentrier dich lieber.“

„Yes Ma’am.“

Es dauerte zwei Stunden, bis sie den Mainserver auf Vordermann gebracht hatten und weitere zwei, bis alles wieder komplett lief. Der Schreibtisch – eine Sonderanfertigung für ihren Arbeitsraum, damit sie beide gleichzeitig und gegenüber von einander genug Platz hatten – war übersäht mit leeren Dosen und Takeout-Containern vom Chinesen um die Ecke. Außerdem waren da noch mehrere Pappkartons für Pizzabrötchen. Sie hatten in der Zwischenzeit nachbestellt.

„Ich hasse dich ein bisschen“, murmelte Katie mit dem Kopf auf der Tischplatte. Auch dafür war genug Platz. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, ihren Herzschlag in ihren Ohren zu hören und es war nicht schwer, festzustellen, dass sie scheinbar gleichermaßen eine Überdosis Koffein und Zucker hatte. „Aber hey, sobald wir das nächste Mal eine Bahn brechen und ‘ne Bonusrunde einspielen, haben wir Ansatzpunkte für die Keys, die wir vorher umstellen müssen, um einen weiteren Shutdown zu verhindern.“ Sie drehte den Kopf und linste quer über den Tisch zu Matt.

Inzwischen hatten seine Augenringe einen ungesunden dunklen Ton angenommen und er war einmal auf seiner Tastatur eingenickt. Koffein half halt auch nicht immer.

„Meine Schwester, die Optimistin. Aber ja. Und ich schwöre bei der heiligen Platine, dass ich sowas das nächste Mal mit dir abspreche. Codingehrenwort.“

„Codingehrenwort“, bestätigte sie. „Leg dich schlafen, Mattie, du bist im Eimer.“

Als Antwort kam ein ausgiebiges Gähnen. „Das ist ein wirklich guter Vorschlag. Solltest du vielleicht auch tun. Dein Rhythmus ist sowieso ruiniert.“

Ein Blick auf die Uhr und einige wirklich langsame Hirnwindungen später stellte sie folgendes fest: „Ich… kann nicht. Ich sollte duschen und mich fertig machen um mein Haupt der grässlichen realen Welt zu opfern.“

Stille.

„Melodramatisch. Was hast du vor?“

„Ich kann’s dir nicht sagen, du würdest drauf rumhacken.“ Damit erhob sich Katie, um den letzten Rest der aktuellen Dose zu leeren, die Decke, die in den letzten Stunden über ihrem Schoß gelegen hatte, zu falten und über die Lehne des Stuhls zu werfen. „Andererseits bist du gerade so nah am K. O., wie ich dich ohne Handgreiflichkeiten kriege.“

„Schieß los. Ich verspreche, ich bin brav.“

Die Jüngere zögerte noch etwas, bevor sie tatsächlich den Mund aufmachte. Sie mied Matts Blick. „Ich gehe einen Kaffee trinken. Mit einem Typ, der mich vorgestern gefragt hat, ob ich das gern mit ihm tun würde.“ Und damit sie sich nicht doch noch mit der entgleisten Mimik von Blutsverwandten rumschlagen musste, schnappte sie sich eine Tüte für Pfand und beförderte alle Dosen vom Schreibtisch. So stellte sie zumindest den Anschein der Ordnung fast wieder her.

„Du hast ein Date? Meine Schwester, der Nerd, hat ein Date?“

„Du hörst dich in ausreichendem Maße ungläubig an, dass es unhöflich ist, Matt.“

„Unverhofft kommt oft. Oder auch nicht so oft, wenn man dein Männerregister ansieht.“

Die nächste Taschentuchpackung, die flog, traf ihn an der Stirn und haute ihn fast vom Stuhl.



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