Wunschzettelverwechslung von Vampyrsoul ================================================================================ Kapitel 1: 1996 --------------- Sie zog den letzten Strich und legte den Buntstift ordentlich zurück ins Federmäppchen. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Es war wunderschön geworden. Jeder Punkt auf der Liste war in einem anderen Farbton geschrieben und dennoch wirkte es ideal aufeinander abgestimmt. Selbst die saftiggrünen Tannenzweige, die sie an den Rand gezeichnet hatte, störten das Gesamtbild nicht. Die Komposition aus Rosa, Grün und Gelb war perfekt. Sie legte ihren Wunschzettel neben Stellas. Dieser sah so vollkommen anders aus als ihrer. Ihre Schwester hatte sich damit zufriedengegeben, mit einem schwarzen Kugelschreiber ein paar Wünsche auf ein kariertes Papier zu kritzeln. »Mum und Dad schenken uns doch sowieso, was sie wollen«, hatte Stella dazu nur gesagt und war nach nicht einmal fünf Minuten fertig gewesen. Natürlich wusste sie, dass ihre Eltern ihnen die Geschenke machten und nicht etwa das Christkind. Immerhin war sie zwölf und Stella bereits vierzehn. Keine von ihnen glaubte mehr an dieses Märchen. Dennoch hatte sie Stunden damit zugebracht, den schönsten Wunschzettel aller Zeiten zu basteln. Hatte sie letztes Jahr noch geglaubt, dass sie sich nicht mehr steigern könnte, so hatte sie sich geirrt. Für sie war es das Schönste, sich auf einem weißen Blatt Papier vollkommen frei auszutoben. Drei Versuche hatte sie gebraucht, bis es endlich so war, wie sie sich es vorgestellt hatte. Doch die Zeit nahm sie sich gern. Auch ihre Eltern würden sich sicher darüber freuen. Sie nahm die beiden Wunschzettel und ging damit zu Carina, die in der Küche stand und kochte. Sie wusste nicht, wie alt Carina war, doch da sie noch zur Schule ging, konnte sie noch gar nicht so alt sein. Dennoch vertrauten ihre Eltern ihr und ließen Stella und sie gern in Carinas Händen, wenn sie einen freien Abend ohne ihre Kinder verbringen wollten. Auch sie mochte Carina. Wenn sie lieb fragte, durfte sie manchmal sogar beim Kochen helfen. Ihre Eltern hätten das niemals erlaubt. Das war ihr kleines gemeinsames Geheimnis. »Wir sind fertig«, verkündete sie, als sie in die Küche kam und hielt Carina die Wunschzettel voller Stolz entgegen. Carina sah auf, rührte noch einmal in der Soße und nahm dann die Blätter entgegen. »Wow, du hast dich ja wieder richtig ausgetobt! Da wird sich das Christkind aber freuen.« Auch wenn sie die Sache mit dem Christkind albern fand, strahlte sie. Es war nicht selbstverständlich, dass Carina sie lobte. Diese zeichnete ebenfalls gern und sagte immer direkt, wenn etwas nicht gut aussah. Das Lob war also tatsächlich ernst gemeint. Dennoch konnte sie nicht anders, sie musste noch einmal nachfragen: »Bist du sicher? Bei der Glocke oben hab ich mich etwas vertan.« »Ach Quatsch, das sieht man doch gar nicht.« Carina überflog auch kurz Stellas Wunschzettel, dann faltete sie sie einmal zusammen und steckte sie in ihren Rucksack, der auf einem der Stühle stand. »Ich geb die dann heute Abend beim Christkind ab.« Sie verdrehte die Augen. Manchmal war Carina wirklich anstrengend, wenn sie sie wie kleine Kinder behandelte. »Willst du in dein Zimmer spielen gehen oder magst du mir helfen? Jemand muss schauen, ob die Nudeln so weit sind und ob die Soße schmeckt.« Natürlich war sie sofort dabei zu helfen! Sie schnappte sich einen Löffel aus der Schublade und probierte zuerst die Soße, dann die Nudeln. ~~~ Aufgeregt lief sie im Zimmer auf und ab. Bald war es so weit! Dann war endlich Bescherung! Bis vor einer halben Stunde hatte sie sich noch durch lesen ablenken können, das Buch lag sogar noch aufgeschlagen auf ihrem Bett, doch so langsam wurde die Aufregung zu groß. Bekam sie endlich, was sie sich schon so lange gewünscht hatte? Zumindest hatte sie gesehen, wie ihr Vater vor ein paar Wochen ein riesiges Paket in die Wohnung gebracht hatte, dessen Größe gut zu ihrem Wunsch passen konnte. Allein die Vorstellung machte sie hibbelig. Als die Eltern das Glöckchen läuteten, das ihnen sagte, dass sie ins Wohnzimmer kommen konnten, riss sie noch einmal die Schranktür auf und überprüfte im dort angebrachten Spiegel, ob das Hemd und die Frisur saßen. Immerhin war heute Weihnachten! Da wollte sie so gut aussehen wie möglich. Sie musste sich wirklich bemühen, nicht zu rennen, dann hätten ihre Eltern nur Stress gemacht. Dabei sollte Weihnachten doch ein schönes Fest sein. Doch die Aufregung beschleunigte ganz automatisch ihre Schritte. »Ihr sollt doch nicht rennen!«, mahnte ihr Vater natürlich dennoch, als Stella und sie ins Wohnzimmer kamen. Doch sie hörte es nicht wirklich. Unter dem Weihnachtsbaum stand tatsächlich das große Paket, verpackt in rotem Geschenkpapier. Das musste es sein! Ihre Augen leuchteten vor Vorfreude. Wie jedes Jahr musste sie jedoch erst das Abendessen über sich ergehen lassen. Wie immer gab es Kartoffelsalat mit wahlweise Kassler oder Wienerwürstchen. Auch wenn sie gern so schnell wie möglich die Geschenke ausgepackt hätte, sie kam sowieso nicht um das Essen herum, also schaufelte sie sich ihren Teller voll. Ihre Mutter kochte zwar nicht so gut, wie ihre Oma das früher immer zu Heiligabend getan hatte, aber es war auch nicht ungenießbar. Stella warf ihr einen bösen Blick zu. Vermutlich dachte sie, diese große Portion würde die Zeit bis zur Bescherung noch verlängern. Dabei wusste sie doch, dass der Zeitplan genau eingehalten werden würde, egal wie lange gegessen wurde. Die dafür eingerechnete Zeit war mehr als ausreichend. So kam es dann auch. Erst als alle schon lange mit Essen fertig waren, gab der Vater das Signal zum nächsten Programmpunkt überzugehen, indem er begann die Teller einzusammeln. Schnell war der Tisch abgeräumt und geputzt, im Radio dudelte nun auch Weihnachtsmusik vor sich her. Nur noch ein paar gemeinsam gesungene Lieder, dann gehörte das gigantische Geschenk ihr! »... Hört das Lied, das nie verklingt in einer Welt voll Leid, das allen Herzen Liebe bringt, denn es ist Weihnachtszeit.« Mittlerweile konnte sie sich nicht mehr auf ihrem Platz halten. Als aller Hoffnung Ende war war traditionell das letzte Lied, welches bei ihnen gesungen wurde. Während ihre Mutter das Radio leiser stellte, ging ihr Vater zum Christbaum. Er lächelte seine beiden Kinder an und deutete dann für jedes auf einen der Geschenkhaufen. Obwohl Stella immer so erwachsen tat, sprang sie sofort auf, schnappte sich das große Paket und begann die Schleife herunterzureißen. Sie blieb noch einen Moment sitzen. Das große Geschenk war nicht für sie? Dabei hatte Stella doch nichts auf ihrem Zettel zu stehen gehabt, was so groß war. Mit leichter Enttäuschung widmete sie sich nun auch ihren Geschenken. Da, das etwas größere der beiden Geschenke, das könnte einer ihrer kleineren Wünsche sein. Mit wieder neu aufflammender Hoffnung griff sie danach und entfernte langsam das Geschenkpapier. Irgendein Gameboy? Oder wie hießen die Dinger? Sie hatte davon keine Ahnung, geschweige denn sich so etwas gewünscht. Hatte Stella doch recht, hatten sie wirklich nichts von ihren Wünschen erhalten? Sie öffnete auch das zweite Geschenk. Es enthielt zwei Spiele für das Gerät in ihrer Hand. In ihren Augen prickelte es. Mühsam hielt sie die Tränen zurück. Was sollte sie denn damit? Neben sich hörte sie etwas laut krachen und drehte sich herum. Stella sprang aufgebracht auf die Beine und schrie: »Was soll ich mit diesem Kinderkram? Das ist doch alles Dreck!« Nun sah sie auch, worüber sich ihre Schwester so aufregte: An der Wand lag ein großes, rosafarbenes Haus, das umgeworfen wurde. Ihre Augen wurden groß. Das war doch genau das, was sie sich gewünscht hatte! Sie ging hinüber und suchte das Haus sorgfältig nach Beschädigungen ab. Stella war ziemlich rabiat mit dem unerwünschten Geschenk umgegangen, doch es schienen nur ein paar Kleinteile abgebrochen. Nichts, was sie nicht mit etwas Sekundenkleber kleben konnte. Fast schon zärtlich strich sie über das Dach. Erst jetzt vernahm sie die donnernde Stimme ihres Vaters. Offenbar stauchte er ihre Schwester gerade gewaltig zusammen. »... wünscht!« »Ich hab mir diese Kinderkacke nicht gewünscht!« »Du hast es doch auf deinen Wunschzettel geschrieben«, mischte sich nun auch ihre Mutter ein. Ihre Lippen zitterten, als sie flüsterte: »Ich hab es mir gewünscht. Ich wollte das Barbiehaus.« »Was?!« Sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater sie wirklich nicht verstanden hatte, daher wiederholte sie es. Diesmal etwas lauter. Zack! Die Ohrfeige schallte durch die ganze Wohnung. Nun brachen die Tränen doch aus ihr heraus. »Hör auf zu bläken!« Rumms, die nächste saß noch besser. »Jungs flennen nicht! Und schon gar nicht spielen sie mit Barbies. Werd endlich ein Mann!« Sie riss sich zusammen, schniefte und rannte dann in ihr Zimmer. Nachdem die Tür abgeschlossen war, warf sie sich auf das große Bett in Form eines Rennwagens und ließ den Tränen freien Lauf. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern ihr nicht folgen würden. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, griff sie hinter das Bett und zog eine kleine Puppe aus dem Versteck hervor. Irgendwann hatte sie diese aus Stellas Zimmer entführt, ihre Schwester vermisste sie nicht einmal. Schniefend sah sie die blonde Schönheit mit dem blau glitzernden Kleid an. Verzweifelt erzählte sie ihr: »Ich kann kein Mann werden. Ich bin doch ein Mädchen!« Das Spielzeug sah sie genauso verständnislos an wie ihre Eltern, wenn sie versuchte, ihnen zu erklären, dass sie kein Junge war. Prompt landete es klappernd und mit verdrehten Gliedern an der Wand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)