SANTA kills (Adventskalendergeschichte) von ellenchain ================================================================================ Prolog: -------- Mein Leben war gut. Es war erträglich, so wie eigentlich jedes Leben. Es gab Höhen und Tiefen – meistens eher Tiefen, bei denen man sich fragte, wann denn endlich der beschwerliche Weg nach oben kam, nur damit man sich schnell wieder in die nächste Misere fallen lassen konnte – doch es war in Ordnung. Wichtig waren die Konstanten. Die, an denen man sich festhalten konnte, wenn es unter den Füßen anfing zu bröckeln. Ein guter Job war da schon mal ein Anfang. Die Definition ‚gut‘ würde naheliegen, dass mir der Job entweder enorm Spaß machte oder enorm viel brachte; sei es Geld oder Erfahrung oder was man sonst noch so als schlechte Ausrede nehmen konnte, wenn es nicht Geld war. In meinem Fall war es leider eine schlechte Ausrede. Zumindest zum Teil. Ich hatte mehrere Ausbildungen genossen, von denen ich mich nur hätte entscheiden müssen, welche ich als meine Berufung ersehne. Nur leider hatte keine dieser Ausbildungen einen wirklichen Nutzen. Einen Doktor in Kunstgeschichte? Den habe ich eher aus Leidenschaft, als aus einem tieferen Nutzen gemacht. Master of Arts in englischer Literatur und Sprachwissenschaften? Vielleicht hätte ich an einer Schule oder Universität dozieren können. Leider habe ich im Zuge meines Studiums gelernt, alle anderen meiner Fachrichtung zu verachten. Psychologe? Der Abschluss ist schon so lange her – meine Ausbildung ist also dementsprechend eingerostet. Während ich mit meinen gut gepflegten Fingernägeln auf dem Tresen trommelte, sinnierte ich über die wunderschöne Zeit, in der ich noch studierte. Insgesamt habe ich für alles nur 10 Jahre gebraucht. Letztendlich hat es mir nichts gebracht. Als Psychologe habe ich mich als gänzlich untauglich erwiesen; ich wurde nach spätestens einem Jahr immer gefeuert. Angeblich lag es an meiner herablassenden und exzentrischen Art. Als Dolmetscher wollte man mich nicht einstellen – ich sei überqualifiziert gewesen. Und na ja, über den Doktor in Kunstgeschichte muss man nicht sprechen. Den hatte ich ja sowieso nur aus Leidenschaft gemacht. »Entschuldigen Sie«, unterbrach mich eine rundliche Frau mit Pelzkragen in meinen Gedankensträngen. Ihr Parfüm stach förmlich in meiner Nase und verätzte alles, was ich einmal zum riechen verwendet hatte. »Ist diese Kasse offen?« »Würde ich sonst hinter dem Tresen stehen?«, fragte ich süffisant nach und bemühte mich um ein Lächeln. Mein Chef, der gerade eine Kundin nicht weit von mir entfernt beriet, schnappte das kurze Gespräch auf und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Den bekam er sofort zurück. »Ah, ja, nun«, stotterte die Pelzdame und hielt mir einen Arm voller Kleidung hin. »Das hier würde ich gerne zahlen.« »Sehr gerne«, presste ich höflich aus meinen knirschenden Zähnen heraus, als ich die teuren Klamotten von ihrem Arm zog. Langsam begann ich die Etiketten zu scannen, während sie in ihrer Louis Vuitton Handtasche nach ihrem passenden Portemonnaie kramte. Sie war jung, blond und gemacht. Etwas zu viel Stereotype auf einmal für meinen Geschmack, aber ansehnlich. Während ich ihre Geduld auf die Probe stellte, sah ich mich im Augenwinkel im Geschäft um. Wir waren ein zweistöckiges Luxuskaufhaus in einer Mall. Alles war weihnachtlich geschmückt, der Einzelhandel boomte förmlich und die Passanten liefen ausgelassen am Schaufenster vorbei. Noch, dachte ich. Kurz vor Weihnachten würden dann die Hamster-, Frust- und Last-Minute-Einkäufe stattfinden. »Oh bitte passen Sie hier auf«, unterbrach mich erneut die Dame in meinen Gedanken und zupfte mir eine Bluse aus den Fingern. »Das ist Seide, können Sie das bitte separat einpacken? Ich habe Angst, dass das Seidenpapier, das Sie verwenden, abfärben könnte.« Ich hobelte meine Zähne übereinander. »Also kein Seidenpapier, die Dame?« »Bei den anderen Teilen schon. Es ist etwas feucht draußen.« »Mhm«, brummte ich nickend, während ich an die Feuchte von draußen dachte. Mein Chef sprach mit meiner einzigen Kollegin auf der Etage und warf mir immer wieder kontrollierende Blicke zu. Er traute mir nicht. Das war vielleicht auch gut so. Ich packte alles vorsichtig ein, als die Dame erneut mit ihren gemachten Fingernägeln vor meinen Augen herumfuchtelte. »Bitte seien Sie doch vorsichtig, Sie zerdrücken das Kleid ja völlig!« Mit einem lauten Seufzer ließ ich sie die Tasche vom Tresen ziehen und es selber ordnen. Ich tippte gelangweilt auf der Kasse rum und nannte ihr den vierstelligen Betrag. Sie reichte mir ihre Kreditkarte und begann auf ihrem Handy herum zu tippen. Hinter ihr bildete sich bereits eine kleine Schlange. Meine Kollegin sprang dann neben mir ein und bediente schon einmal den nächsten Kunden. Als die Pelzdame endlich ihre Sachen nahm und ich aufatmen wollte, drehte sie sich noch einmal um. »Wissen Sie zufällig, wo diese Weihnachtsaktion sein soll?« Ich blinzelte einige Male. »Weihnachtsaktion… von wem?« »Vom Center! Überall steht, dass es eine Aktion geben soll. Für Kinder hauptsächlich. Mit einem Weihnachtsmann.« »Oh, die finden Sie im Erdgeschoss, gleich beim großen Weihnachtsmarkt neben dem großen Weihnachtsbaum«, griff meine Kollegin mit einer milden Form von Sarkasmus ein und deutete aus dem Schaufenster. Von ihrem Platz aus konnte man wohl mehr sehen, als von meinem. Ich sah nur einige Buden, mehr nicht. Und von einer infantilen Weihnachtsaktion hörte ich auch zum ersten Mal. Das sei allerdings dem Umstand geschuldet, dass ich sowieso selten irgendwem zuhöre, der nicht unbedingt etwas von mir möchte. Die Kundin bedankte sich breit grinsend und verließ den Laden. Etwas genervt kümmerten wir uns dann noch um die restlichen Kunden, bis es langsam wieder etwas ruhiger wurde. Mittagszeit brach an – der Food Court würde nun aus allen Nähten platzen. Gut, dass ich mich hauptsächlich von Kaffee und gutem Wein ernährte. »Wieder mal einen guten Tag heute, Kyle?«, sprach mich meine Kollegin an. Dabei zwirbelte sie ihr langes, glattes schwarzes Haar um den Finger. »Ich habe nur gute Tage, Cindy«, antwortete ich monoton und starrte in den Laden. Überall hingen Luxusartikel, mehr oder minder hässlicher Natur. Schade, dass wir keine Herrenartikel führten – da hätte ich wenigstens etwas aus diesem miesen Job herausschlagen können. »Wieso bist du überhaupt hier, wenn du es nicht magst? Du hast doch noch einen Zweitjob, oder? Mach doch den als Vollzeitbeschäftigung«, hakte meine liebe Kollegin nach und lehnte gegen ihre Kasse. »Das geht leider nicht«, lächelte ich vorsichtig und nahm Augenkontakt auf. »Mein Zweitjob wirft nicht so viel ab, dass ich genug im Monat habe, um mein Rattenloch zu finanzieren.« Da lachte Cindy laut auf und verdrehte die Augen. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass du in keinem Rattenloch wohnst.« »Oh«, sagte ich gespielt überrascht und hob beide Augenbrauen, »wer ist diese Quelle? Wenn du sagst vertraulich, scheint dieser jemand in unserer näheren Umgebung zu sein. Etwa unser Chef?« Cindy konnte sich kaum beruhigen. Mein trockener Witz schien sie unfassbar umgehauen zu haben. »Kyle, ich war letzten Monat bei dir zu Hause – in deiner noblen Luxuswohnung! Wir haben Wein getrunken?« »Ah, ich erinnere mich«, murmelte ich gespielt nachdenklich und kratzte mich am Kinn. »Tja«, zuckte sie mit den Schultern und ging wieder auf die Fläche. »So einen luxuriösen Lebensstil muss man sich erst mal leisten können. Ich bin froh, wenn ich mir Ende des Monats endlich die Handtasche kaufen kann.« »Etwa die, die bei unserer Konkurrenz gleich nebenan steht?« Sie zwinkerte mir zu. »Vielleicht?« Damit ging sie zu einer Kundin, die mit Kind auf dem Arm durch die Gänge ging, um sie zu beraten. Mein Chef kam derweil zu mir. »Mr. Lewis«, begann er mit seiner krächzenden Stimme, als würde er seit Wochen eine selbstverschriebene Zigaretten-Whiskey Diät durchziehen, »Flirten Sie wieder mit Mrs. Clark?« »Würde mir nicht im Traum einfallen«, antwortete ich wahrheitsgetreu und zuckte mit den Mundwinkeln. Gelangweilt sah ich erneut durch das Schaufenster, während mein Chef sich neben mich stellte. »Bitte seien Sie etwas freundlicher zu unseren Kunden. Sie werden immer gleich so… patzig.« Da widersprach ich mit einem dramatischen Augenaufschlag. »Ich weise meistens nur auf das Offensichtliche hin, welches die Damenwelt oft so eloquent hinterfragt.« Er runzelte bei meiner Wortwahl die Stirn. Ich konnte ihm ansehen, dass er in den tiefen seines Gehirns nach der Definition von ‚eloquent‘ suchte. Und sie offensichtlich nicht fand, da er das Gesprächsthema sofort fallen ließ. »Wie auch immer. Bleiben Sie einfach freundlich. Sonst muss ich Sie erneut in eine Schulung schicken.« »Oh, vielen Dank, ich verzichte. Die Häppchen waren furchtbar«, murmelte ich vor mich hin, während ich leise Luft aus den Nasenlöchern entließ. Die Schicht würde nur noch bis 20 Uhr gehen. Nur noch mehrere Stunden Qual. »Mr. Lewis«, mahnte mich mein Chef erneut mit seiner kratzenden Stimme und richtete dabei seine schlecht sitzende Krawatte. Wie er es auf den Posten geschafft hatte, war mir schleierhaft. Vermutlich war es sein rauchiger Charme, der ihn bei älteren Damen attraktiv wirken ließ. Oder einfach sein Alter – er schien dem Unternehmen seit mehr als 40 Jahren recht treu zu sein. »Das Center hat uns außerdem darauf angewiesen, die Kunden auf den Weihnachtsmarkt im Erdgeschoss aufmerksam zu machen. Wenn es also passt, bringen Sie es an.« »Es passt nie«, verdrehte ich die Augen. »Niemand möchte auf den Weihnachtsmarkt. Es ist nicht mal wirklich ein Markt, es sind einfach nur lieblos aufgestellte Buden und ein auf Hälfte geschmückter Weihnachtsbaum, weil infantile Menschen sonst die Geschenke und die Dekoration von den Ästen klauen würden.« Als würde es nichts besseres im Leben geben mit Styropor ausgefüllte Geschenke in absolut hässlich glänzendem Geschenkpapier von einem großen Weihnachtsbaum zu klauen. Mein Chef presste seine Lippen zusammen. »Ich erkenne erneut Ihre Abneigung zum Fest der Liebe, aber ich bitte Sie trotzdem inständig um eine Sache: Machen Sie auf den Weihnachtsmarkt aufmerksam. Mehr nicht.« »Ich sollte doch auch freundlich sein, oder nicht? Das sind schon zwei Sachen.« Das ließ ihn laut seufzen und langsam wieder seiner Wege gehen. »Machen Sie es einfach.« Gott, wie ich diesen Job hasste. Aber es war der einzige, den ich flexibel genug ausführen konnte, um den Schein eines normalen, mitten im Leben stehenden Mannes zu wahren. Zwar deuteten meine Kollegen und mein Chef mehrmals darauf hin, dass ich absolut überqualifiziert für den Job eines einfachen Kassierers sei (und mit Verlaub ihn auch noch furchtbar ausführte), dennoch fühlte ich mich ganz wohl, den Kopf für ein paar Stunden ausschalten zu können. Die Arbeit konnte hart sein, besonders vor Feiertagen oder generell am Wochenende, aber sie war nicht anspruchsvoll. Das war sie in meinem anderen Job. »Heute mal wieder ein guter Tag, Kyle?«, lachte mein Kollege zwinkernd, als er mich in meiner Arbeitskleidung im großen Besprechungsraum sitzen sah. »Kommst selten direkt von deinem anderen Job hierher. Ist das nicht etwas auffällig?« Seine langen dunkelblonden Haare im Pferdeschwanz wackelten zu jedem imposanten Schritt, den er auf mich zukam. In der Hand hielt er einige Akten; sah nach einem neuen Fall aus. »Wieso? Glaubst du, mir folgt jemand, weil ich so ein schickes Baumwollpolohemd mit der Aufschrift unseres Ladens trage?«, fragte ich sarkastisch, während ich meinen Kaffee trank. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Kunden, Chef, Weihnachtsmarkt. Alle machten für die restlichen Stunden nervige Geräusche. »Ich sag ja nur«, zirpte Ethan, während er sich neben mich setzte und die Akte vor mir aufschlug. Er schälte sich aus seiner schwarzen Funktionsjacke und legte den Pistolengürtel ab, in dem seine geladene Waffe lag. Vermutlich wollte er mir nur wieder beweisen, dass er regelmäßig trainieren ging. Seine Muskeln waren in der Tat recht beeindruckend. Doch das würde ich ihm nie sagen. Sein Ego war bereits groß genug, das musste ich nicht noch streicheln und dabei mit Nonsens füttern. »Neuer Fall? Kommt Freya nicht?«, fragte ich nach unserer Vorgesetzten, als Ethan den Inhalt der Akte vor mir aufschlug. »Ist noch in einer Besprechung. Ich soll dich schon mal instruieren. Geht um eine vermisste Person«, erklärte er und zeigte mir ein Foto einer jungen Frau. »Beziehungsweise… wir wissen, wo sie sich aufhält. Aber sie reist immer von Ort zu Ort, bleibt nie wirklich stehen und scheint vor etwas zu fliehen. Sie hat uns angewiesen, herauszufinden, wer hinter ihr her ist.« »Warum geht sie damit nicht zur Polizei, sondern kommt zum MI6?« »Freya hat den Fall von der Polizei übernommen. Sie glaubt, es steckt mehr dahinter. Besonders wegen ihrer Herkunft« Ethan runzelte die Stirn und lehnte sich angespannt im Stuhl zurück, während er mir tief in die Augen sah. »Sie will, dass du den Fall übernimmst und schaust, was Sache ist. Du bist immerhin ihr bester Mann.« Ich schloss für einen Moment meine Augen. Langsam verschränkte ich meine Arme und lehnte mich ebenfalls im gemütliche Seminarstuhl zurück. »Ich soll das alleine durchziehen?« Ethan lachte. »Natürlich nicht ganz alleine. Ich bin im Hintergrund und recherchiere, was geht. Du kriegst dann alles von mir. Hey«, begann er mir auf die Schulter zu hauen, »Ich bin doch dein Informant! War ich doch immer!« Langsam öffnete ich meine Augen und sah in die Aufgeregten meines Kollegen. Ich liebte den Job im Geheimdienst. Er ermöglichte mir viele Dinge, die ich sonst nicht tun könnte. Zum Beispiel meine Fähigkeiten umfassend einsetzen. Bis auf das kunstgeschichtliche, was mir bisher nur einen Fall im Museum erleichtert hatte, konnte ich überall punkten. Der Job im Luxusgeschäft bei Cindy war nur ein Cover. Wir lebten hier in der größten Sicherheitsstufe. Niemand durfte wirklich wissen, wer wir waren, was wir taten, wo wir es taten und wie wir es taten. Nach meinen vielen Abschlüssen, die ich gleichzeitig absolvierte, wurde ich quasi von meiner Chefin – Freya Hill – abgeworben. Sie hielt mich fest, erklärte mir kurz, worum es ging und versicherte mir, dass ich ein gutes Gehalt bekommen würde, solange ich bereit wäre mein Privatleben gänzlich aufzugeben und bereit wäre, über meine eigenen Grenzen zu gehen. Körperlich als auch psychisch. Ich hatte 24 Stunden, um mir das Angebot zu überlegen. Ich entschied mich in einer. »Okay. Rede mit mir, worum geht’s?«, forderte ich nach einigen Sekunden Stille Ethan auf, mich einzuweisen. »Irina Iwanowna, geboren in Moskau, kam als kleines Mädchen nach England, nachdem ihre Eltern hier einen Job gefunden hatten. Die Mutter war Bäckerin, der Vater Konditor, gemeinsam eröffneten sie ein Geschäft.« »Ziemlich schlank für so viel Gebäck im Leben«, stellte ich fest und begutachtete das Bild der rothaarigen jungen Frau. Sie war in der Tat recht schlank, Sommersprossen deuteten darauf hin, dass das Bild im Sommer geschossen wurde. Sie lächelt sehr stark, vermutlich war der Fotograf eine Person, die sie kannte und mochte. »Hat sie Geschwister?«, fragte ich nach. »Nein, Einzelkind. Die Eltern trennte sich nach zwei Jahren Aufenthalt hier in England. Die Mutter blieb, der Vater kehrte zurück nach Russland. Die kleine Irina blieb ebenfalls hier.« Ich legte das Bild zurück zu den anderen Unterlagen. »Und jetzt vermutet sie, wird sie verfolgt?« »Der Vater scheint in etwas verwickelt worden zu sein. Genaueres wissen wir nicht. Zumindest glaubt man, Irina könnte der Schlüssel zu etwas sein.« »Man will sie also kidnappen und als Druckmittel verwenden?«, hakte ich nach und musterte Ethans Gesicht, während er einen zusammen getackerten Stapel Papier durchging. »Es ist zu vermuten. Sie fühlt sich bedroht, hat deswegen die Polizei alarmiert. Letztendlich wurde der Fall nun uns übertragen, da man russische Aktivitäten vermutet.« »Klingt … haarig.« Ethan lächelte aufmunternd und klopfte mir erneut auf die Schulter. »Du schaffst das, Kyle. Bist doch unser bester Mann.« »Das bin ich definitiv nicht«, korrigierte ich ihn und entzog ihm meine Schulter. »Ich bin nicht sehr gut im Nahkampf und getötet habe ich bisher auch nur, wenn es wirklich nötig war.« »Was ja auch gut so ist«, grinste Ethan, wissend, dass er des Öfteren Ärger bekommen hatte, weil er zu viele Subjekte aus dem Weg geräumt hatte. »Deswegen bist du jetzt unser Mann. Die Daten, wo sie sich zurzeit aufhält, findest du in der Akte. Geh in Ruhe alles durch. Kannst ja nachher schon mal die Lage auschecken.« Ich nickte seufzend, trank den Rest meines bereits kalten Kaffes aus und setzte mich an die Unterlagen. Das meiste davon waren unnütze Informationen, die rein der Beschreibung galten. Was interessierte es mich, wann die gute Dame ihren ersten Hund hatte? Viel eher wäre es von Wert gewesen, hätte man recherchiert, wo sie zur Schule gegangen ist, wer ihre Freunde waren, weitere Verwandtschaft, Hobbies, Exfreunde oder sogar gescheiterte Ehen. Sie war bereits Ende 20, da konnte bereits alles passiert sein. Im späteren Verlauf des Abends setzte ich mich ins Auto und fuhr die kalt nassen Straßen Londons entlang. Der Wind pfiff unangenehm, sodass ich die Lage vom Inneren des Autos inspizierte. Die Sitzheizung war einfach zu schön. Das Haus, in dem sie sich zurzeit befand, war sehr alt. Ungewöhnlich heruntergekommen. Vermutlich diente es tatsächlich der Ablenkung. Niemand würde sie hier vermuten. Dass wir den Standort von ihr bekommen hatten, zeigte ein enormes Maß an Vertrauen, wenn sie wirklich so paranoid sein sollte, dass die Russen hinter ihr her waren. Als nach mehreren Minuten nichts passierte, entschied ich mich doch auszusteigen und die Gegend etwas besser zu untersuchen. Mir wurde es verboten, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Vermutlich aus Sicherheitsgründen. Niemand würde einen Mitte Dreißigjährigen an ihrer Seite ‚einfach so‘ dulden, sollte man sie wirklich beobachten. Eine romantische Beziehung wäre da viel zu nahe liegend und meine Tarnung würde früher oder später auffliegen. Ich ließ das Auto in einer Seitenstraße stehen und betrat die leere Straße. Mit dem Handy in der Hand, schlenderte ich durch die Häuser und warf hier und da einen neugierigen Blick rein. Zwischendurch tippte ich auf meinem Handy, tat so, als würde ich nach dem Weg suchen. Schließlich blieb ich stehen und begutachtete einen Hinterhof mit Mülltonnen. Alle schien soweit normal zu sein. Keine Auffälligkeiten. Eine normale Nachbarschaft, zwar etwas heruntergekommen und auf keinem sehr hohen Niveau, dennoch sehr ruhig. Keine Drogendealer, keine schummrigen Figuren, die hier nachts ihr Unwesen trieben. Mrs. Iwanowna hatte ein gutes Gespür für Verstecke. Vielleicht hatte sie auch Hilfe. So schnell bekam man in London keine neuen Wohnungen. Eventuell wohnte sie auch bei einer Freundin? Einer Bekannten? Einem Freund? Ich notierte im Handy, dass ich Ethan nach Beziehungen ausquetschen sollte. Es war nötig, dass ich Mrs. Iwanownas Umfeld kannte. Als ich nach mehreren Minuten zurück zum Auto ging, bemerkte ich eine dunkle Gestalt an der Ecke des Wohnblocks rauchen. Ein großer Mann, vermutlich mein Alter, doch man erkannte sein Gesicht kaum. Die Straßenlaterne ließ ihn älter wirken, als er vermutlich war. Die Zigarette glimm auf, als er an ihr zog. Der kalte Rauch wurde sofort ausgeatmet. Keine langen Züge. Entweder ihm war kalt und er wollte schnell wieder rein oder er tat nur so, als würde er rauchen und war eigentlich gar kein Raucher. Zweiteres würde mir dubios vorkommen. Der Mann lehnte an der Hauswand und hielt eine Hand in der Manteltasche, während er mit der anderen die Zigarette hielt. Der Mantel war mit Fell an der Kapuze und sah sehr dick aus. Er hätte alles darunter haben können. Meine eigene Waffe rieb an meinen Rippen, während ich ging, und gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Doch als ich an meinem Auto ankam, mich noch ein letztes Mal umsah und den Mann dabei begutachtete, schnippte der seine Zigarette aus und ging um die Ecke, sodass er aus meinem Sichtfeld verschwand. Mit einem etwas mulmigen Gefühl stieg ich ein und startete den Motor. Entweder ein Mann aus der Nachbarschaft, der zum Rauchen rausging, oder einer der Leute, vor denen sich Mrs. Iwanowna fürchtete. Kapitel 1: Spion ---------------- Die nächste Schicht in meinem Nebenjob stand an und ich zählte lustlos die Kasse. Meine Gedanken schweiften um Mrs. Iwanowna und ihrer paranoiden Wahnvorstellung verfolgt zu werden. Mit den Russen sollte man nicht spaßen, aber sie war doch eine von ihnen. Wieso klärte sie das auf einmal auf britischem Boden? Etwas an der Sache verunsicherte mich. »Hi Kyle«, begrüßte mich Cindy und zwinkerte mir zu. »Hast du heute Abend schon was vor?« Ich bemühte mich um ein freundliches Lächeln, während ich weiterhin den Blick auf dem Geld in der Kasse hatte. »Ja, leider. Tut mir leid.« »Ein anderes Date?«, hakte sie nach und lehnte sich über den Tresen. In ihrer Hand hatte sie einige Reservierungen von Kleidungsstücken für den Tag in der Hand, die sie noch in den Schrank hinter mir einräumen musste. »Du kannst ehrlich sein.« »Cindy, ich würde immer ehrlich zu dir sein«, versicherte ich ihr und erwiderte ihr vorheriges Zwinkern. Das ließ sie aufkichern. »Du sagst es mir also nicht«, schlussfolgerte sie und verdrehte spielerisch die Augen. »Dann viel Spaß heute Abend bei deinem Date. Aber vielleicht hast du ja Lust mit mir einen Glühwein im Erdgeschoss trinken zu gehen?« Ich schloss die Kasse und spitzte amüsiert die Lippen. »Mit Alkohol oder ohne?« »Mit natürlich«, lachte sie und ging mit großen Schritten hinter mich, um die Reservierungen einzuräumen. »Chefchen muss ja nichts wissen.« »Chefchen wird es aber herausfinden, wenn auf einmal beide Angestellten nicht mehr im Laden sind. Du weißt, dass wir nicht zusammen Mittag machen dürfen.« Doch Cindy knallte nur belustigt die Tür zum Schrank zu und lehnte sich zu mir, als sie mir leise ins Ohr flüsterte: »Ich werde Jack von unten fragen, ob er nachher hochkommt. Dafür gehe ich dann runter, wenn er mit Claire Mittag macht.« »Oh«, gab ich gespielt überrascht von mir und nickte. »Faszinierend, wie gut sich hier alle absprechen.« »Ich nehme das als ein Ja. Bis später dann, Kyle!« Damit verschwand Cindy aus meinem Blickfeld und ging ihrer Arbeit nach. Ich räumte noch Kleinigkeiten von der Kasse und wartete, dass der Ansturm losging. Eigentlich hatte ich kein Interesse an Glühwein. Diese billige Plörre war eine ärmliche Entschuldigung für richtigen Wein. Aber Cindy war eine nette Kollegin und ich mochte sie. Auch wenn das nie etwas Romantisches werden würde. Sie war nicht mein Typ, auch wenn sie mein Alter teilte und auch sonst recht ansehnlich war. Aber mit meinen zwei Jobs war es sowieso schwierig ein Privatleben zu führen – wo sollte da noch eine Beziehung hin? Ohne Night Stands waren in Ordnung, solange niemand in meinen Habseligkeiten schnüffelte. Der Vormittag ging recht schnell vorbei. Die Kunden kamen und gingen. Ich bekam das Meiste nur in einem tranceartigen Zustand mit, um mich selbst zu schützen. Schließlich kam Cindy auf mich zu und deutete mir mit einem Kopfnicken an, dass Jack gleich hochkommen würde, damit wir verschwinden könnten. Na gut, dachte ich, sei es drum. Wird schon gut gehen. Wir beide fuhren in voller Montur unserer Arbeitskleidung mit der Rolltreppe ins Erdgeschoss, wo sich extrem viele Menschen sammelten. Kinder lachten laut, Mütter quatschten laut und alle anderen waren auch ziemlich laut. Die weihnachtliche Musik und das zwischenzeitliche ‚Ho-Ho-Ho‘, welches durch die Lautsprecher ertönte, machte mich zunehmend gereizt. Cindy sprühte dagegen vor Leben und sprintete förmlich zum Glühweinstand, wo sich alle drum herumtummelten, als wäre es der Schlussverkauf. Hier kamen die kleinen Alkoholiker zum Vorschein, die bereits mittags ihre tägliche Portion einnahmen. Meine Kollegin und ich sollten uns für den heutigen Tag ebenfalls einfügen. Sie kam freudestrahlend mit zwei Tassen auf mich zu. »Hier, die Runde geht auf mich. War ja auch meine Idee«, begann sie und stieß mit mir an. Ich nickte nackend, sagte aber sonst nichts, sondern trank den ersten Schluck der süßen Brühe. Cindy begann etwas zu erzählen, ich hörte nicht ganz so genau hin. Viel eher interessierte ich mich für die lange Schlange an Kindern und Jugendlichen, die ungeduldig am Weihnachtsbaum anstanden. Zuerst vermutete ich, dass es vielleicht gratis Styroporgeschenke gab, um den Kindern die kriminelle Energie gleich vorweg zu nehmen, doch dann sah ich die ebenfalls aufgeregten Mütter daneben stehen. Sie tuschelten angeregt und sahen immer mal wieder zu einem großen Stuhl, auf dem ein Mann saß. Der Weihnachtsmann. Herrgott, wie süß, dachte ich und schmunzelte vor mich hin, während ich noch einen Schluck warmen Weins nahm. Das Center bemühte sich wirklich sehr. Cindy bemerkte meinen Blick. »Schaust du auch zum Weihnachtsmann?«, lachte sie und biss sich spielerisch auf die Lippe. Diese Gestik ließ mich die Augenbrauen zusammen ziehen. »Du wirkst gerade sehr erregt. Bitte erzähl mir nicht, dass du einen Fetisch für Weihnachtsmänner hast«, murmelte ich leise, damit die umherstehenden Personen nichts von unserem heiklen Gesprächsthema mitkriegen, sollte sich meine grauenhafte Vermutung bestätigen. »Quatsch«, schüttelte sie sofort den Kopf, deutete dennoch zum großen Stuhl vor dem Tannenbaum. »Aber sieh‘ ihn dir doch mal an. Genauer meine ich. Darunter steckt kein alter Sack. Der Typ ist recht jung und gut gebaut. Das erkennt man sofort.« »Tut man das?«, hakte ich nach und reckte meinen Hals, um den Mann genauer zu betrachten. In der Tat schien er kein alter Mann zu sein. Der weiße Bart und die weißen Haare waren nicht echt, sondern nur gut angeklebt und Teil einer Verkleidung. Der dicke Bauch fehlte komplett. Doch das fiel gar nicht so auf, da ständig irgendein Kind auf seinem Schoß saß, während die jungen Mütter Fotos machten. Die breiten Arme und Schultern suggerierten tatsächlich eine starke Muskulatur. Die Augenringe hingegen schlaflose Nächte. »Interessant, nicht?«, neckte mich Cindy und stupste mich liebevoll mit dem Ellbogen gegen die Rippen. »Vermutlich«, nuschelte ich, während ich weiterhin die halbwegs nervösen Mamis begutachtete, die sich vermutlich nur deswegen anstellten, um dem Weihnachtsmann nah sein zu dürfen. »Willst du dich auch mal anstellen? Vielleicht kriegen wir ja was«, kicherte Cindy und trank ihren Glühwein aus. »Nein, danke, aber ich begleite dich gerne, wenn du dir etwas wünschen möchtest, während du auf diesem Schoß sitzt, als wärst du noch einmal 10.« Sie schüttelte den Kopf und deutete mir mit der Hand an, ich sollte meinen Glühwein schneller austrinken, damit sie die Tassen zurückbringen konnte. »Wir stellen uns an. Ich bin neugierig und ich sehe, dass du es auch bist.« Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, griff sie nach meiner leeren Tasse, ging zum Stand und zog mich sofort zur Schlange mit den Kindern und Eltern. Tatsächlich waren auch einige Erwachsene dabei, die sich mit ihm ablichten ließen. Keiner davon setzte sich jedoch auf seinen Schoß. Das wäre ja auch zu albern gewesen. Cindy wackelte die ganze Wartezeit hinüber mit ihrem Bein und erzählte mir von vorherigen Weihnachten, wo das Center noch keinen Weihnachtsmann hatte. Dieses Jahr wollten sie etwas Neues ausprobieren und haben deswegen für ein paar Stunden am Tag eine Hilfskraft engagiert, um Kindern zu erzählen, was sie alles nicht zu Weihnachten kriegen würden. Denn wenn man ehrlich war: Der Weihnachtsmann hatte nicht mal eben eine Playstation oder Xbox unter seinem Rock versteckt. Eher ein Buch oder was zum Essen. Für die heutige Jugend undenkbare Geschenke. Als wir näherkamen und tatsächlich nur noch zwei junge Damen vor uns waren, die kichernd auf den Schoß des Mannes hüpften, stupste mich Cindy erneut an. »Du zuerst.« »Nein, danke«, verneinte ich erneut und steckte meine Hände in die Hosentaschen. »Ich mache gerne ein Foto von dir und ihm.« »Ach komm schon«, lachte sie und biss sich erneut auf die Unterlippe, als würde sie der Gedanke, dass ich auf dem Schoß von Santa sitze, enorm anmachen. »Ist doch lustig! Einmal, für mich, okay? Ich mach auch kein Foto. Nur so!« »Damit ich Gesprächsstoff für die nächsten Jahre liefere?« Meine Stirn kräuselte sich bei dem Gedanken, dass Cindy mir keine Wahl lassen und ich vermutlich meine Würde zumindest ein Stück behalten würde, wenn ich aus freien Stücken zu ihm ginge. Als die beiden kichernden Damen vom Schoß des Mannes sprangen und ihm noch fröhlich zuwinkten, wibbelte Cindy vor sich hin. »Geh«, sagte ich zu ihr. »Du brauchst es anscheinend dringender als ich.« Sie negierte zuerst, doch als ich ihr einen liebevollen Stoß gab, stolperte sie nach vorne und ging auf den Weihnachtsmann zu. Der lächelte liebevoll, so wie er es die ganze Zeit schon getan hatte, und nahm sie an die Hand. Cindy war nicht sehr groß, vielleicht 160-165 cm. Doch im Vergleich zum Weihnachtsmann wirkte sie noch sehr viel kleiner. Die breiten Schultern, die großen Hände, die starken Arme – alles Indikatoren für einen trainierten Mann. Wieso machte er diesen Job? Wieso arbeitete er nicht bei Abercrombie & Fitch oder Hollister? Jedenfalls dort, wo man seinem Körper noch mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Aber vielleicht mochte der Mann keine Konkurrenz. Oder er war einfach kinderlieb. Dem Alter nach zu urteilen hatte er vielleicht selber kleine Bälger zu Hause. Cindy unterhielt sich mit ihm, während sie wie ein kleines Kind auf seinem Schoß saß. Ich zückte vorsichtig mein Handy und machte ein Foto. Dann noch eins – nur zur Sicherheit. Sie lächelte glücklich vor sich hin und gab ihm sogar einen Kuss auf die Wange, als sie wieder aufstand und mich herbeiwinkte. Ich schüttelte den Kopf, doch sie insistierte durch schwankende Bewegungen ihrer Statue und aggressives Wedeln ihrer Hand. Letztendlich bat mich eine Mutter hinter mir, mich durchzuringen und zu gehen. Wenn Fremde sich schon in meine Entscheidungsfreiheit einmischten, war es sowieso schon zu spät. Also ging ich mit erhobenen Schultern und dem Rest meiner Würde auf den Mann im großen Sessel zu. Cindy kicherte, klapste mir einmal auf den Rücken und ging hopsend davon. Ich blieb wie eine Salzsäule stehen, behielt die Hände in den Hosentaschen und presste die Lippen aufeinander. Erst, als ich eine offene Handfläche in meinem Augenwinkel sah, blickte ich nach unten. Der Mann hielt mir seine große Hand hin und lächelte warm. Als ich nicht sofort reagierte, kicherte er dunkel auf. »Ihre Freundin bestand darauf«, ließ er mich wissen, dass das kuschelige und intime Gespräch zwischen den beiden also um mich ging. Seine Stimme war dunkel, aber angenehm. Ein starker Akzent war herauszuhören. Ich war mir jedoch nicht sicher, woher. Etwas Slawisches. Vermutlich war der Mann kein gebürtiger Brite. Oder er hatte Schwierigkeiten mit zwei Sprachen aufzuwachsen. »Sie bestand also darauf«, wiederholte nervös ich seine Worte und sah noch einmal zu meiner Kollegin. Sie grinste breit und nickte auffordernd. »Na, schön«, brummte ich und nahm schließlich die Hände aus den Hosentaschen, um sie nervös an meiner schwarzen Hose abzuwischen. Sie waren feucht geworden. Von einem Geheimagenten müsste man eigentlich besseres erwarten, aber Nahkampf war nun mal absolut nicht meine Stärke. »Kommen Sie«, sagte er sanft und nahm meine Hand. Der erste Gedanke von mir bestand aus purer Panik, dass er den Schweiß spüren würde. Der nächste war pure Verzweiflung, als er mich sofort auf seinen Schoß zerrte. Da saß ich nun. Auf dem Schoß eines Mannes, der als Weihnachtsmann verkleidet war inmitten eines Shopping-Centers, in dem ich arbeitete. Sein Blick ging auf das schwarze Poloshirt, was ich trug, und beäugelte mein Namensschild. »Sie arbeiten hier«, stellte er mit gedämpfter Stimme fest. Die laute Musik, die vielen Menschen und die schreienden Kinder rückten auf einmal in den Hintergrund. »Darf ich fragen wo?« Sein Akzent hatte Charme, das musste ich gestehen. Ich lächelte etwas beklemmt, während ich an meinen Nägeln knibbelte. Ich wusste einfach nicht, wohin mit meinen Händen. »Ein Stockwerk höher. Da, sehen Sie es?«, ich nickte hoch zu unserem Schaufenster. Santa nickte und lächelte warm auf, als er zum Laden hochsah. »Ein schöner Laden. Nur leider bieten Sie nur Frauenbekleidung an.« Ich sah auf meine Füße, die zwischen seinen Beinen fest zusammengepresst standen. Ich genierte mich enorm. Als seine große Hand sich auf meinen unteren Rücken legte, dachte ich für einen kurzen Moment daran, einfach panisch aufzustehen und schreiend wegzulaufen. Cindy stand noch immer etwas abseits und beobachtete uns mit einem breiten Grinsen. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben und dieser peinliche Moment, wo mir die Schweißtropfen bereits in den Nacken rollten, ewig dauern würde. »Ja, leider«, stimmte ich nach einer langen Pause zu. »Ist das dann also ihre Kollegin gewesen?«, fragte er ruhig und lehnte sich etwas zu mir vor, damit ich ihn trotz der Hintergrundgeräusche verstehen konnte. Ich nickte zustimmend. Mein Blick wanderte in seine braunen Augen. Sie waren fast bernsteinfarben und passten gut zu seinen dunklen Augenbrauen und Wimpern. »Machen Sie den Job hier, um Kinder zu beglücken oder weil sie das Geld brauchen?« Meine direkte und vielleicht auch etwas unhöfliche Frage traf ihn unerwartet. Seine Augen weiteten sich etwas und das Lächeln verschwand. Die kleinen Fältchen drum herum suggerierten, dass er etwas älter als ich war. Ein Mann seines Alters hätte nur diese zwei Gründe, einen solchen Job zu machen, oder nicht? Als er nicht sofort antwortete, sondern immer noch überrascht in meine Augen blickte, ruderte ich etwas zurück. »Entschuldigen Sie, wenn die Frage zu direkt war. Ich bin nur neugierig, müssen Sie wissen.« Da lächelte Santa erneut auf. Er hatte sich wieder gefangen. »Schon in Ordnung«, lachte er leise, »ich bin nicht gewohnt, dass man mir Fragen stellt. Den ganzen Tag stelle nur ich die Fragen ‚Was wünschst du dir?‘ oder ‚Was kann ich für dich tun?‘. Da kam Ihre etwas unerwartet.« »Sie müssen nicht antworten«, lächelte ich höflich und begann mich tatsächlich zu entspannen. Das Gespräch war freundlich. Sehr angenehm zu führen. Die körperliche Nähe zu einem wildfremden Mann, dessen große Hand auf meinem Rücken wie Heißkleber brannte, machte mich trotzdem noch sehr nervös. Die Unprofessionalität war mir ins Gesicht geschrieben. Doch er schien sie nicht zu bemerken. Ganz im Gegenteil: er schien den Moment regelrecht zu genießen. Er machte keine Anstalten, mich von seinem Schoß zu scheuchen und Platz für ein weiteres undankbares Kind zu machen. Vermutlich war ich eine angenehme Abwechslung gewesen. »Ich liebe Kinder«, antwortete er leise und nickte zur Schlange, die mit jeder Sekunde länger zu werden schien. »Ist nur für ein paar Stunden am Tag. Die Bezahlung ist nicht sehr gut, aber ich dachte mir, es würde die Kinder freuen.« Ich mochte es, wie er das R rollte. Mittlerweile war er mir so nah gekommen, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte. »Das ist eine schöne Einstellung.« »Mögen Sie Kinder?« Ich lächelte ertappt. »Nicht wirklich.« »Sie können anstrengend sein«, gab er zu und lachte erneut dunkel auf. »Aber ansonsten sind sie wahre Schätze.« Mein unterer Rücken brannte regelrecht vor Hitze. Meine Hände wurden wieder schwitzig. Dieser Mann hatte eine beängstigende und doch beruhigende Aura an sich. Ich erkannte sein Gesicht nicht, das machte es schwierig, ihn einzuschätzen. Statt zu antworten, nickte ich einfach stumm vor mich hin. Er schien zu merken, dass ich gerne aufstehen würde. So gut wie das Gespräch war, so schnell wollte ich es eigentlich hinter mich bringen. »Vielleicht sehen wir uns ein anderes Mal wieder, Mr. Lewis«, hauchte er mir mit diesem gewissen Unterton in den Nacken. Meine Haare stellten sich ungewollt auf. Ich entließ zittrig Luft aus meiner Nase und nickte ihm höflich zu. Schließlich stand ich ohne ein Wort zu verlieren auf. Er führte seine Hand noch ein Stück an meinem Rücken mit, bis ich seinen Radius verließ und mit etwas wackeligen Beinen zu Cindy ging. Diese bemerkte meine Nervosität gar nicht, sondern hüpfte wie ein aufgeregtes Teenie Mädchen auf und ab. »Ist er nicht süß?«, begann sie schrill und hakte sich bei mir ein. Gemeinsam gingen wir durch die Massen zur Rolltreppe. »Ihr habt lange miteinander gesprochen«, bemerkte sie mit erotischer Stimme. »Gefällt er dir?« »Ich habe wohl ihm gefallen«, stellte ich die für mich peinliche Situation klar und sah streng nach vorne, um mich selbst zu beruhigen. Cindys Gezappel würde mich nur noch nervöser machen. Auf der Rolltreppe begann sie dann von ihm zu schwärmen. Wie toll er aussah (obwohl sie ihn ja gar nicht wirklich ohne Maskierung kannte), wie nett er war und wie toll seine Stimme klang. Sie bemerkte auch seinen Akzent und vermutete polnische oder tschechische Wurzeln. Während sie so vor sich hin plauderte und wir die Etage hoch fuhren, blickte ich mich noch einmal um und sah zu Santa. Der hatte bereits ein weiteres Kind auf dem Schoß, dessen Wünsche er pflichtbewusst zuhörte. Sein Blick huschte für eine Sekunde zu mir hoch. Er beobachtete mich, wie ich von der Rolltreppe ging und schließlich den Laden betrat, in dem ich arbeitete. Danach verloren sich unsere Blicke. Die Schicht verlief wie jede Schicht. Der Chef hatte kaum etwas bemerkt, da er für den Tag hauptsächlich in seinem kleinen Büro saß und Rechnungen sortierte. Cindy ging sofort in die andere Etage und vertrat Jack, der mit seiner Kollegin vermutlich genau dasselbe tun wollte, was ich mit Cindy getan hatte. Oder mehr. Als der Laden geschlossen wurde, erhaschte ich einen Blick ins Erdgeschoss. Santa war bereits weg. Der Stuhl war mit einem Schild versehen, dass der Weihnachtsmann Geschenke verpacken ist und morgen wiederkommt. »Und du hast jetzt noch dein Date?«, fragte Cindy, als sie sich ihren Mantel anzog. »Nicht wirklich«, murmelte ich und schlang mir den Schal um den Hals, als würde ich mich selbst damit erhängen wollen. »Ich muss zu meinem anderen Job.« »Oh«, war dann alles, was sie noch sagte. Letztendlich verabschiedeten wir uns und gingen unserer Wege. Ich verbrachte den Abend erneut im Auto vor Mrs. Iwanownas Haus. Ein anderer Dienstwagen sollte verschleiern, dass ich bereits am Vortag da gewesen war. Man sollte ja nicht sofort etwas vermuten. Ich hatte den morgigen Tag im Laden frei, also wollte ich den für weitere Recherchen nutzen. Letztendlich saß ich dann trotzdem schon mal mit einem Kaffee über den Unterlagen und konzentrierte mich mehr auf die Informationen, die mir Ethan gegeben hatte, als auf die Straße. Es dauerte jedoch nicht lange, da erhaschte eine Gestalt meine Aufmerksamkeit. Es war wieder der Mann an der Ecke, der rauchte. Sein Kragen war sehr weit hoch gezogen, sodass man noch weniger von seinem Gesicht erkennen konnte, als das letzte Mal. Erneut rauchte er nur kurze Züge. Wenn ihm so kalt war, wieso zog er sich dann nicht dicker an? Vielleicht Faulheit? Oder er kam tatsächlich nicht zum Rauchen raus. Sondern, um zu beobachten. So wie ich. Ich blinzelte immer mal wieder zu ihm. Die Nacht machte das Auto so dunkel, dass er mich nicht hätte bemerken können. Trotzdem hatte ich das Gefühl, er starrte zu mir. Doch ich konnte nicht erkennen, in welche Richtung er sah. Er hätte auch genauso gut an mir vorbei starren können. Auf ein anderes Haus oder ein anderes Auto. Einige Minuten vergingen bis im Wohnkomplex von Mrs. Iwanowna das Licht anging. Das Treppenhaus war nun hell erleuchtet. Heraus kam ein dunkel gekleideter Mann. Auch er war mit Schal und hohem Kragen fast unerkenntlich. Nur seine Statue und der großzügige Bart verrieten, dass er männlich war. Er ließ die Tür achtlos hinter sich zufallen und stapfte davon. Der rauchende Mann an der Ecke schnippte seine Zigarette weg und stieß sich von der Wand los. Mit großen, aber langsamen Schritten ging er zum Wohnkomplex und klingelte. Die Tür öffnete sich tatsächlich. Er betrat das Haus. Die Tür fiel wieder zu. In dem Mehrfamilienhaus wohnten maximal zehn Parteien. Eine davon war Mrs. Iwanowna. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei sehr ungewöhnlich schaurige Typen im selben Komplex wohnten wie sie, war schon sehr gering. Auch wenn die Gegend nicht die schönste war – so gefährlich war sie nun doch nicht. Die Leute mussten mit Mrs. Iwanowna in Verbindung stehen. Entweder waren es ihre Peiniger oder ihre Freunde. Wenn es ihre Peiniger waren – wieso griffen sie nicht an? Warteten sie auf etwas? Wenn es ihre Freunde waren – wieso diese Geheimnistuerei? Unsere Männer waren es jedenfalls nicht. Das hätte man mir gesagt. Als das Licht im Treppenhaus schließlich wieder ausging und nichts weiter passierte, stieg ich langsam aus. Die Neugierde packte mich, einfach mal bei Mrs. Iwanowna zu klingeln. Vielleicht würde sie auch mir einfach so aufmachen. Dann müsste ich mit der guten Frau mal ein ernstes Wort über Sicherheit reden. Ich richtete meinen Kragen und ging mit ruhigen Schritten den Gehsteig zum Haus entlang. Niemand außer mir war auf der Straße. Kurz bevor ich Mrs. Iwanownas Wohnkomplex erreicht hatte, hörte ich ein Auto ankommen. Es war ein großer, schwarzer Van. Und wann waren große schwarze Vans schon ein gutes Zeichen? Ich ging einige Schritte zurück, hielt mich bedeckt im Schatten der Laternen und drückte mich an eine Hauswand, in der Hoffnung, man hatte mich nicht gesehen. Der Van hielt mit quietschenden Reifen vor dem Komplex. Der Mann, der das Haus erst vor wenigen Minuten verlassen hatte, stieg aus, öffnete die hintere Tür und wartete, bis das Licht im Treppenhaus wieder anging. Tatsächlich sah man mehr als einen Kopf die Treppe herunterkommen. Schließlich trat der rauchende Mann aus der Tür. Plus einer Frau. Mrs. Iwanowna. Sie sah ängstlich aus und hielt den Kopf bedeckt. Ihr Blick war starr auf den Boden vor ihr gerichtet. Nicht gut, dachte ich. Gar nicht gut. Panik stieg in mir hoch. Ich schrieb Ethan schnell eine SMS, dass ich Verstärkung bräuchte. Ich überlegte, ob es besser war, dem Van zu folgen oder gleich einzugreifen. Zwei vermutlich bewaffnete Männer gegen einen bewaffneten Mann, der aber aus dem Hinterhalt angreifen würde. Mrs. Iwanowna hatte den Van noch nicht ganz erreicht, da bemerkte der Fahrer meine Figur am Straßenrand. »Hey!«, rief er und deutete seinem Kollegen an, dass ich anwesend war. Er drehte sich sofort wieder zu mir um und nickte mir aggressiv zu. »Кто ты?« Russen, dachte ich. Das war russisch. Nicht gut, gar nicht gut, waren erneut meine Gedanken, als der Fahrer bedrohlich auf mich zukam. Nahkampf war nicht meine Stärke. Aber wenn ich jetzt den Schwanz einziehen würde, wäre Mrs. Iwanowna vielleicht in ein paar Minuten verloren. »Keine Bewegung«, schrie ich und zückte meine Waffe. Der Fahrer blieb sofort stehen, griff jedoch auch nach hinten, um an seine Waffe zu kommen. Ich schoss, eher er sie auf mich richten konnte. Der Fahrer ging zu Boden, hielt sich die Schulter. Er war nicht tot, würde es aber bald sein, würde man ihn nicht medizinisch versorgen. Mrs. Iwanowna schrie auf, wurde vom anderen Mann zu Boden geworfen. Man wollte sie also lebend haben. »Проваливай!«, schrie er und griff schneller nach seiner Waffe, als gedacht. Er schoss auf mich, traf jedoch nicht. Das Adrenalin in meinem Blut ließ mich hinter mein Auto sprinten. Dort suchte ich Deckung. Schnell zählte ich meine verbleibenden Kugeln. Ich hatte erst eine abgefeuert. Blieben noch neun. Ethan klingelte an, ich spürte die Vibrationen meines Handys in der Jackentasche. Ein sehr ungünstiger Zeitpunkt. Ich war so mit mir selbst, den Kugeln und meinem Handy beschäftigt, dass ich gar nicht die Hand kommen sah, die nach mir packte. Der stämmige Mann riss mich vom Auto hervor und schleuderte mich auf die Straße. Ich verlor dabei meine Waffe, die über den etwas gefrorenen Asphalt schlidderte. »Fuck«, presste ich aus meinen Lippen und griff nach meinem Messer, welches ich am Gürtel hatte. Der große Mann richtete zwar die Waffe auf mich, schoss jedoch nicht. Sein Fehler, dachte ich, hievte mich nach vorne und versuchte ihn zu treffen. Doch er wich aus, schoss erneut um sich und traf mich nicht. Ich nutzte die Gelegenheit, um auch ihn zu entwaffnen und seine Pistole gefühlt an das andere Ende der Straße zu werfen. Es folgte ein ordentlicher Faustkampf, bei dem ich absolut unterlegen war. Der Typ war nicht nur größer, er war auch stärker als ich. Seine Kraft war so enorm, dass ich mir sicher war, er hätte mein Genick mit nur einem Griff brechen können. Mrs. Iwanowna kauerte noch immer hinter dem Van und bewegte sich nicht. Alles, was ich zwischen der Rangelei und den Schlägen sehen konnte, war das Gesicht des Mannes. Und seine eisblauen Augen, die so hell waren, dass sie selbst im faden Mondlicht strahlten. Doch sie strahlten Feindseligkeit und Kälte aus. Aggressivität. Wut. Und Mord. Er schlug mich ins Gesicht. So fest, dass ich zu Boden ging und einige Sekunden brauchte, um mich wieder zu fangen. Meine kleine Gehirnerschütterung kostete mich zu viel Zeit. Der Mann packte erneut nach mir und schlug meinen Kopf zu Boden. Danach wurde alles schwarz. Kapitel 2: Geisel ----------------- Als ich erwachte, lag ich einem kahlen Raum. Weiß und hell. Sehr klinisch. Vermutlich, weil es ein Krankenhauszimmer war. »Hi Kyle«, begrüßte mich Ethan und winkte mir zu, obwohl er keinen Meter von mir entfernt auf einem klapprigen weißen Stuhl saß. »Wie geht es dir?« Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren. Es war das Krankenzimmer, in dem ich schon öfter aufgewacht war. Es gehörte dem Geheimdienst. Ich lag auf der Arbeit. »Mein Kopf tut weh«, gab ich zu und versuchte mich etwas aufzusetzen. Dabei ziepte es enorm in meinem Brustkorb. »Hast eine ziemliche Gehirnerschütterung gehabt. Und eine Rippe ist angeknackst. Aber nicht schlimm. Die entlassen dich morgen sicher wieder.« Ethan half mir, mich zumindest ein paar Zentimeter aufzusetzen, indem er das Kissen versetzte. Die Infusion in meiner Armbeuge war unangenehm. Nicht gut gesetzt. Als ich zu meinem Kollegen sah und sofort den Berg an Unterlagen in seinem Arm vernahm, seufzte ich laut auf. »Ist das etwa schon wieder der ganze Papierkram, weil mir etwas passiert ist?« »Nein, keine Angst«, beruhigte mich Ethan und lächelte sogar etwas. »Das habe ich bereits für dich erledigt. Weiß doch, wie sehr du das hasst.« Die Erleichterung trat trotzdem nicht ganz ein. »Was ist es dann?« »Informationen über deinen Angreifer.« Ich horchte auf. Als Ethan jedoch nicht weiter erzählte, deutete ich mit einem ungeduldigen Nicken an, dass er fortfahren soll. »An was kannst du dich überhaupt erinnern?«, hakte er stattdessen nach. Ich hob beide Augenbrauen und kratzte mich am Nasensteg, als könnte es meinem Denkvermögen auf die Sprünge helfen. »Da war Mrs. Iwanowna. Sie kam gerade aus dem Gebäudekomplex. Dann die zwei Typen. Einen habe ich angeschossen. Den Fahrer. Der andere hat dann auf mich geschossen, aber nicht getroffen. Beide haben Russisch gesprochen. Letztendlich habe ich mich mit dem einen geprügelt. Er hat wohl gewonnen.« Mein Kollege grinste bei der letzten Schlussfolgerung. »Nicht ganz. Er war dabei, dich umzubringen. Und offensichtlich bist du noch hier.« Ich spitzte neugierig meine Lippen. »Ihr konntet also eingreifen.« Ethan nickte. »Und dann?« »Wir kamen gerade an, als er dich bewusstlos schlug. Als er nach seiner Waffe griff, um dich zu erschießen, kamen wir dazwischen. Er ist dann zum Van geflohen und hat Mrs. Iwanowna mitgenommen.« Sowohl er als auch ich seufzten dabei erschöpft aus. »Shit«, murmelte ich und ließ meinen Blick im Zimmer gleiten. »Irgendeine Nachricht bisher? Erpressung? Tötung?« »Nein, nichts. Ist aber auch erst ein paar Stunden her. Vermutlich werden sie noch abwarten. Die Forderungen kommen dann sicher recht bald. Sofern sie Mrs. Iwanowna wirklich als Geisel nehmen und nicht einfach nur töten wollen.« »Hat sie denn jemals vermuten lassen, dass man sie umbringen will? Ist sie in etwas hineingeraten?« Da zuckte Ethan mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kann dir auch nur das sagen, was in der Akte steht.« »Das ist einfach zu wenig Information. Ich wusste nicht einmal, ob die Typen Freunde oder Feinde waren. Wir brauchen mehr über Mrs. Iwanowna!« Leichte Kopfschmerzen kündigten sich in meinem Frontallappen an. »Deshalb bin ich hier«, sagte Ethan sanft und überschlug seine Beine. Eine recht feminine Geste für einen Mann wie ihn. Doch ich schenkte der Gestik keine weitere Beachtung, als er anfing, im Papierstapel vor sich zu blättern. »Mrs. Iwanowna ist wohl in keiner festen Beziehung, jedenfalls nicht nach ihren Kollegen. Sie arbeitete in einer Fabrik als einfache Angestellte. Sie kontrollierte die Waren auf Mängel.« »Was wurde in der Fabrik hergestellt?«, hakte ich nach, da Ethan schon mit dem Finger zum nächsten Punkt rutschte. Etwas verwundert über meine unterbrechende Frage, rutschte er mit dem Finger zurück nach oben und suchte die Stelle, die ihm die Antwort auf meine Frage verriet. »Irgendwelche Kugelschreiber.« »Kugelschreiber?«, hakte ich nach und blinzelte verwundert. »Sie arbeitet in einer Kugelschreiberfabrik? Wird das heutzutage nicht alles in Asien hergestellt? Oder sind das diese Luxuskugelschreiber?« Ethan war sichtlich überfordert mit meinen Fragen, sodass er etwas aggressiv zur nächsten Seite umschlug. »Unwichtig, Kyle. Viel wichtiger sind die Kerle, die sie begleitet haben.« Dem stimmte ich zwar nicht unbedingt zu, aber die Akte könnte ich mir später selber ansehen. Also nickte ich freundlich und gab Ethan das Zeichen, er könne fortfahren. »Tatsächlich gehören die Typen dem russischen Mafia an.« Ich zog scharf die Luft ein, verblieb jedoch still und horchte den weiteren Worten. »Der Typ, den du angeschossen hattes, sitzt gerade in Untersuchungshaft. Hat natürlich direkt nach einem Anwalt gefragt und fordert jetzt seine Rechte ein. Geredet hat er bisher nicht. Wir sind da aber dran.« »Passt auf, was er tut… die Mafia ist andere Umgangsformen gewöhnt. Wenn es sein muss, erhängen sie sich mit dem Telefonkabel im Besprechungsraum.« Der als einfacher Hinweis gedachte Kommentar ging völlig nach hinten los. Ethan lachte verzweifelt auf und hob dabei die Augenbrauen. »Ja, natürlich. Die Russen haben doch alle Kapseln im Mund versteckt, die sie zerbeißen können, wenn es sein muss.« »Jetzt übertreibst du«, murmelte ich und runzelte die Stirn. »Die sind zwar um einiges härter als wir, aber den Tee durch Wodka ersetzen ist vielleicht auch nicht immer von Vorteil.« Mein Kollege ignorierte den schlechten Witz und fuhr fort, nachdem er sich mit der Hand durch sein langes Haar glitt. »Der Mann in der Zelle heißt Sergej Kusmin. Über ihn sind keine genauen Informationen bekannt, aber er scheint seit mehr als 20 Jahren als Gangster in den Straßen Russlands zu arbeiten. Wieso er allerdings hier in Großbritannien ist… Keine Ahnung. Da sind wir wie schon erwähnt noch dran. Viel schlimmer ist der andere Kerl. Der, der dir den Kopf zerschlagen wollte.« Ich ahnte bereits, dass der Fahrer eben nur der Fahrer und die mysteriöse Figur am Straßenrand mit der Zigarette der eigentliche Jäger war. »Alexej Wolkow«, sprach Ethan den Namen aus, als wäre er Gift. »Der grausame Wolf, wie er gerne genannt wird.« »Der gute Mann hat also schon einen Ruf?« »Er ist dafür bekannt, seine Opfer mit bloßen Händen auszuweiden.« Mir fuhr ein leichter Schauer über den Rücken. Gut, dass ich diese Information nicht schon gestern hatte. Sonst wäre ich sofort auf dem Absatz umgedreht und hätte nicht den Helden gespielt. Ein Glück, dass meine Kollegen mich vorher retten konnten. Mein Gesichtsausdruck sagte wohl bereits alles aus, was Ethan über meinen Gefühlszustand wissen musste. »Ja«, stimmte er zu, obwohl ich nichts gesagt hatte. »Mit dem Typen ist nicht gut Kirschen essen. Ganz im Gegenteil, Kyle. Halt dich von ihm fern.« »Wie soll das gehen – jetzt, wo Mrs. Iwanowna in seinen Händen ist?« »Vielleicht bekommen wir sie anders raus. Ihr Standort muss erst einmal ermittelt werden. Dann schauen wir weiter. Du wirst jetzt sowieso erst einmal wieder gesund.« Sein Blick wanderte zu meinem Tropf. Nachdenklich spielte er am Schlauch, was mich etwas nervös werden ließ. »Dass Alexej Wolkow hier ist, macht uns alle etwas nervös. Normalerweise schicken die Russen ihren besten Schlächter nicht einfach so vorbei, wenn sie eine einfache Dame entführen wollen. Wir sind uns noch nicht so sicher, was das zu bedeuten hat.« »Vermutlich geht es hier um eine größere Sache, als wir dachten. Vielleicht geheime Informationen?« Ethan zuckte auf einmal mit den Schultern, als wäre es ihm egal. »Wir werden sehen. Wolkow wird dich auf jeden Fall hier nicht finden. Aber vielleicht woanders. Er hat nämlich dein Gesicht gesehen, so wie du seins. Freya hat schon darauf bestanden, dass du dir Urlaub nimmst und erst einmal zu Hause bleibst. Mit Personenschutz natürlich.« »Urlaub ist keine Option. Weinachten steht vor der Tür… Urlaubssperre.« »Dann bist du eben krank«, seufzte Ethan genervt auf und klappte die dicke Mappe zu, aus der er mir vermutlich nicht einmal einen vollständigen Satz vorgelesen hat. »Ich geh zur Arbeit«, sagte ich entschlossen und rang mich zu einem Lächeln ab. »Aber hier nehme ich gerne Urlaub.« Da stand mein Kollege auf und schüttelte belustigt den Kopf. »Hier gibt’s keinen Urlaub. Das weißt du.« Damit ging er aus dem Zimmer und schloss leise die Tür. Ich seufzte laut auf und ließ mich im Kissen sinken. Natürlich hatte er die Akte mitgenommen, damit ich nicht mehr darin lesen konnte. Wieso hatte ich das Gefühl man hielte mir Informationen vor? Kein Fall der Welt würde so blauäugig bearbeitet werden. Vielleicht war das der erste Akt, bei dem man hoffte, ich würde als Köder fungieren und die bösen Jungs aus ihrer Disko locken. Wenn dem so wäre: Guter Job, Freya. Ich habe die bösen Jungs rausgelockt. Am Abend konnte ich bereits wieder aufstehen und alleine durch das kleine Abteil der Firma laufen, welches sich für die ärztliche Versorgung der eigenen Mitarbeiter verschrieben hatte. Einige andere Kollegen wurden hier behandelt. Ein paar Schusswunden waren dabei, doch häufig nichts schlimmeres. Dass jetzt die Russen mit uns spielen wollten, verhieß nichts Gutes. Die Wunden würden schlimmer werden. Mit Sicherheit. Im wunderschönen weißen Baumwoll-Morgenmantel schlich ich mich durch die Gänge. Einige beäugelten meine weißen Einwegpantoffel der Klinik, andere rügten mein legeres Auftreten in einer sonst professionellen Umgebung. Erst, als ich die kleine Haftanstalt betreten wollte, ließ man mich nicht durch. »Anordnung von Mrs. Hill«, verkündete ein Türsteher, der seine Arbeit sehr gewissenhaft durchführen wollte. »Freya lässt mich nicht rein? Wieso?«, hakte ich genervt nach und verschränkte die Arme. Mit dem Fuß trommelte ich auf den schwarzen Fliesen rum, sodass ich wie eine hysterische Hausfrau aussah, die ihren Mann gerade rügte, weil er erneut eine Flasche Bier getrunken hatte, obwohl man sich auf Wasser einigte. »Sie möchte, dass Sie erst gesund werden, bis Sie den Gefangenen sehen.« »Bullshit«, rutschte mir sofort raus. Der Türsteher in zugegeben toller Uniform zuckte sofort zusammen und riss die Augen auf. »Sorry«, war dann noch alles, was ich aus mir heraus bringen konnte. Ich schlurfte einen Gang zurück und versuchte es an einer anderen Stelle. Doch auch dieser Mann verweigerte mir den Einlass. Erst beim dritten Eingang, der vermutlich eher ein Ausgang war, stand eine verunsicherte junge Dame, die wohl ihren ersten Tag hatte. Sie sah mich mit großen Augen an und wusste mich nicht einzuordnen. »Hi«, begann ich mit meinem charmantesten Lächeln. »Ich würde gerne zum Inhaftierten.« Sie schluckte und richtete ihren braunen Pferdeschwanz. »H-Haben Sie eine Autorisierung dazu?« »Ich denke schon«, lächelte ich sie aufmuntern an, »Ich bin derjenige, der ihn angeschossen hat.« Da sprang sie einige Zentimeter zur Seite. »Dann sind Sie Mr. Lewis?« Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich lügen sollte. Aber die gute Dame hatte vermutlich wirklich ihren ersten Tag, da wollte ich nicht sofort einen schlechten Eindruck hinterlassen. Also nickte ich zustimmend. »Der bin ich.« »Ich bin von Mrs. Hill angeleitet worden – « »Ich weiß«, unterbrach ich sie mit ruhiger Stimme. »‘mich nicht reinzulassen‘. Aber gute Dame… Jetzt, wo ich doch schon einmal hier bin?« Sie zögerte einen Moment und schien zu überlegen, was nun das Richtige wäre: Mich reinzulassen und damit ihre Anweisungen ignorieren, oder mich nicht reinzulassen und dann ordentlich Ärger von mir zu bekommen. Mein hoher Rang sollte mir ausnahmsweise einmal helfen. Dass der einen Scheiß wert war, wenn Freya Anweisungen gab, schien sie offensichtlich nicht zu wissen. Erst, als sie langsam anfing zu nicken und ich anfing Hoffnung zu schöpfen, hörte ich das Klacken der italienischen Pumps von Freya. »Mr. Lewis«, mahnte sie mich aus einer Entfernung von über 50 Metern. »Gehen Sie zurück ins Bett. Und zwar sofort!« Ich lächelte schwach. »Nicht einmal ganz kurz? Ich hätte einige Fragen an ihn.« »Die haben wir alle«, stellte sie streng fest und warf der kleinen Neuen einen vernichtenden Blick zu. Freya war groß, hübsch, schlank und mächtig. Wenn sie wollte, dass England seinen Frieden hatte, war dem auch so. Wenn sie wollte, dass England brenne, dann würde England gleich am nächsten Tag brennen. »Zurück mit Ihnen ins Krankenzimmer. Sie haben eine angeknackste Rippe und eine Gehirnerschütterung. Sie würden im Moment gar nichts erreichen, bis auf ein vielleicht verwirrendes Gespräch mit einem unserer wichtigsten Häftlinge.« Mit ihren langen schlanken Fingern hielt sie zwei Akten in der Hand. Ich konnte jedoch nicht erkennen, um was es sich handelte. Ihr teures Chanel Kostümchen war im Weg. »Wann darf ich denn mit ihm reden?«, hakte ich nach und steckte meine Hände in die Taschen des Morgenmantels. Freya warf ihre gelockten Haare hinter die Schulter. »Wenn ich es sage. Und im Moment sind die Ereignisse noch zu jung. Hat Mr. White Sie eingewiesen?« Ich nickte langsam. »Ja, der hat mich vorhin besucht. Allerdings fehlen mir noch immer einige wichtige Informationen. Besonders um den Verbleib von Mrs. Iwanowna. Und mehr Hintergrundinformationen zum grausamen Wolf wäre auch toll.« Freya formte ihre Augen zu schlitzen. Sie überlegte wohl, ob ich mich gerade durchmogeln wollte, weil ich Ethan nicht richtig zugehört hatte, oder ob er mir tatsächlich einen Scheiß erzählte. Letztendlich nickte sie ein einziges Mal, bevor sie mit großen Schritten an uns vorbei ging. »Ich werde Ihnen die Unterlagen zukommen lassen. Machen Sie Urlaub.« »Nein, danke«, rief ich ihr hinterher, doch sie hörte mich wohl nicht mehr. Die kleine schüchterne Maus neben mir wurde im Nu noch kleiner und verkroch sich zurück auf ihre Position neben der Tür. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. »Keine Sorge. Sie trifft keine Schuld. Einen Versuch war es wert.« Sie erwiderte zwar mein Lächeln, doch es wirkte sehr verkniffen. Als würde sie gerade versuchen herauszufinden, was ich wirklich im Schilde führte. Zurück auf der Krankenstation ließ ich mich noch ein wenig Betüddeln, bevor ich wieder nach Hause fuhr. Cindy hatte mir tatsächlich eine SMS geschrieben, dass sie sich morgen etwas verspäten würde, da sie noch etwas trinken gehen wird, und fragte nebenbei, ob ich nicht vielleicht früher kommen könnte, damit unser Chef nicht alleine im Laden stände. ‚Von mir aus‘ war dann alles, was ich ihr antwortete. Meine netten Floskeln hatte ich im Kampf mit dem grausamen Wolf auf unbestimmte Zeit verloren. Zu Hause angekommen warf ich mich sofort ins Bett. Oder kroch so gut es ging unter die Bettdecke, da meine Rippe noch immer schmerzte und mein Kopf brummte. Meine Gedanken schweiften zur armen Mrs. Iwanowna, die jetzt vermutlich in irgendeinem Keller bei Wasser und Brot hausen musste. Gott weiß wie man sie behandeln würde. Dass allerdings niemand wirklich wusste, was eigentlich hinter dem Bäckermädchen stand, machte mich stutzig. Sie war die Tochter zweier ganz normaler Eltern, wie es schien. Entweder war der Vater in Geldschulden gekommen und man wollte nun seine Tochter als Druckmittel verwenden oder die Mutter hatte Dummheiten gemacht. Oder: Irina hatte ihre eigenen Probleme mit den Russen bekommen. Aber wieso so einen Aufwand? Hatte sie von etwas Wind bekommen, von dem sie besser hätte nichts mitkriegen sollen? Ich wälzte mich noch einige Male hin und her, bis ich in einen unregelmäßigen Schlaf fiel. Kapitel 3: Augenkontakt ----------------------- Ich tat Cindy den Gefallen und kam tatsächlich einige Minuten früher zu Arbeit als sonst. Mein Chef war erst außerordentlich begeistert, dann außerordentlich wütend, als er erfuhr, dass Cindy etwas später kommen würde. Nichtsdestotrotz schlossen wir selbstverständlich den Laden auf, vor dem bereits einige Kunden ungeduldig warteten. Mein Blick huschte zum kleinen Weihnachtsmarkt und dem Tannenbaum. Davor stand der Stuhl mit demselben Schild wie vor zwei Tagen. Der gutaussehende Weihnachtsmann würde heute sicher wieder viele Kinder und viele Mütter glücklich machen. Ich kicherte über meine dreckigen Gedanken und begann die ersten Kunden zu beraten und zu kassieren. Nach einer Stunde huschte Cindy dann rein und fragte, ob es aufgefallen sei, dass sie nicht da war. Bei einer Crewgröße von sechs Menschen – Ja, Cindy. Das ist jedem aufgefallen. Aus irgendeinem Grund tauschten wir beide an dem Tag Kassen. Ich stand dieses Mal näher am Schaufenster und konnte runter auf den Weihnachtsmarkt schauen. Gegen Mittag saß er dann wieder da. Santa hörte sich geduldig ganz viele Wünsche an, die er niemals erfüllen könnte, während Mütter aufgeregt Fotos mit ihm machten. Tatsächlich setzten sich auch junge Frauen auf seinen Schoß – Gott, es war so lächerlich mit anzusehen, wie sie sich einen nach dem anderen bei ihm einschleimten. Doch er schien es ganz gelassen zu nehmen und nickte geduldig bei jeder Anfrage. Vermutlich war es sein Job geduldig zu nicken. »Willst du nachher noch einmal runter?«, fragte Cindy, während sie sich zu mir vorlehnte, um ebenfalls aus dem Schaufenster nach unten schauen zu können. Erneut biss sie sich auf die Unterlippe und schien konzentriert zum Weihnachtsmann zu schauen. »Vielen Dank, aber ich verzichte«, räusperte ich mich und schob sie wieder einige Zentimeter von mir weg. »Bist du dir sicher? Ihr habt euch doch so gut verstanden.« »Wir haben uns sehr peinlich berührt über die Arbeit unterhalten. Das muss ich nicht noch einmal haben.« Cindy grinste breit. »Du warst peinlich berührt. Er war die Ruhe selbst.« Ich knurrte nur genervt und tat so, als würde ich Kassenbelege sortieren. »Wie war dein Date von vorgestern eigentlich? Gut? Erzähl mir nicht, dass du wirklich arbeiten warst«, hakte meine liebe, neugierige Kollegin nach und knibbelte an ihren Fingernägeln, als wäre sie an ihrer eigenen Frage desinteressiert gewesen. Ich hingegen schnaubte aus und wünschte mir, sie hätte diese Sache vergessen. Genauso wie sie sonst so viele Dinge vergaß. »Nicht so gut?«, fragte sie erneut nach und sah überrascht von ihren Nägeln auf. »War sie nicht nett? Oder war es ein er?« »… Wieso ist es wichtig, ob es ein Er oder eine Sie war?« Da öffneten sich ihre stark geschminkten Augen um einige Zentimeter der Neugierde. »Es war also ein Mann? Wow, Kyle! Das ist ja der Wahnsinn. Erzähl – wie war’s?« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also presste ich einfach meine Lippen aufeinander. Als nach mehreren Sekunden nichts geschah, Cindy noch immer neugierig in meine Augen blickte und auf eine enorm heiße Story wartete, sah ich mich im Laden um und hoffte, eine Kundin würde sich wegen der dreckigen Kragen an Blusen beschweren. Als das nicht passierte, entschloss ich mich für eine gute Lüge. »Es war… unerwartet«, gab ich schließlich von mir. War es ja auch. Gleich drei Leute auf einmal. Ziemlich unerwartet. »Okay? Aber war es denn gut? Was habt ihr gemacht?« »Du kriegst keine Details, Cindy«, erstickte ich ihre Neugierde im Keim. So hoffte ich jedenfalls. »Sah er gut aus? Hat er dir gefallen?« »Na ja«, brummte ich leise und stopfte die Kassenbelege zurück in die Schublade, während ich mich an seine Schläge auf meinen Hinterkopf erinnerte und wie er versuchte mich zu erschießen. »Hat er dich also nicht umgehauen?« Da musste ich lachen. Es kam so plötzlich, dass sowohl Cindy als auch ich sich erschreckten. Im Rahmen des Kontextes verging mir jedoch schnell das Lachen, als ich meine angeknackste Rippe spürte. Cindy sah verstört in meine Richtung. »Kyle?« Ich schnappte nach Luft und winkte ab. Schließlich grinste ich sie breit an und teilte ihr fröhlich mit: »Doch, er hat mich umgehauen.« Im wahrsten Sinne des Wortes. In der Mittagspause wollte Cindy erneut runter zum Weihnachtsmarkt, doch ich negierte. Santa war noch immer auf seinem Stuhl und hieß verschiedene Besucher willkommen, die sich auf seinen Schoß setzen wollten. Ich beobachtete ihn von meinem Schaufenster aus und musste feststellen, dass seine Art mit Kindern umzugehen, wirklich liebevoll war. Selbst, wenn mal eins weinte, schaffte er es innerhalb weniger Sekunden das Kind zu beruhigen. Im Augenwinkel erspähte ich dann auch Cindy, wie sie sich subtil immer mehr dem Tannenbaum näherte und schließlich wenige Meter von Santa entfernt stand. Sie winkte ihm schüchtern zu, machte jedoch sonst keine Anstalten zu ihm zu gehen oder mit ihm zu reden. Natürlich nicht, dachte ich. Er war ja auch am Arbeiten. Denn er ignorierte sie auch recht gekonnt. Die Zeit verging wie Gummi, bis meine Kollegin dann endlich wiederkam und ich in die heiß ersehnte Pause entlassen wurde. Der Tag wurde gegen Ende hin immer schlimmer – nicht nur wegen der nervigen Kunden, sondern auch wegen meiner Schmerzen. Die geprellte Rippe stach bei fast jeder Bewegung. Ich entschied mich also in die nächste Apotheke zu gehen und mir Schmerzmittel zu holen. Die aus dem Krankenhaus waren mir zu stark. Ich hatte keine Lust auf einen Trip, während ich den Pelz einer Dame in Seidenpapier wickelte. Vermutlich würde ich noch glauben, ich würde ein totes Tier einpacken und völlig ausflippen. Als ich nach unten fuhr und mich durch die Mengen schlug, die sich nicht nur vor Santa tummelten, sondern auch vor etwaigen Glühweinbuden, wanderte mein Blick erneut zum Tannenbaum. Die Geschenke waren noch alle dran. Die Tannen noch immer recht grün. Die Plastikfolien um das Styropor noch immer sehr hässlich. Ach – was redete ich mir ein? Ich blieb ja sogar stehen und starrte auf den Weihnachtsmann, als wäre er die Erlösung meiner Sorgen. Ich hasste Kinder und ich hasste Weihnachten, aber ihn mit den kleinen Dingern zu sehen, gab mir ein gutes Gefühl. Er strahlte eine Wärme aus, die zum Fest passte. Ruhig und entspannt. Irgendwie liebevoll. Man hatte das Gefühl, gemütlich irgendwo zu sitzen und zu entspannen, auch wenn die Menschenmassen um einen herum etwas ganz anderes suggerierten. Dasselbe Gefühl, was man bekommt, wenn ein anderer Mensch den eigenen Kopf massiert. Dieses Gefühl. Die braunen Augen wanderten auf einmal in die Ferne, trotzdem ein kleiner Junge auf seinem Schoß saß und mit Fingern aufzählte, was er alles haben wollte. Santa sah mich direkt an und lächelte. Sein vermutlich angeklebter Vollbart wurde dabei nach oben gezogen, sodass die Haare noch ein Stückchen mehr von seinem Kinn abstanden. Die kleinen Lachfältchen um seine Augen wurden tiefer. Ich konnte einfach nicht anders und musste das Lächeln erwidern. Süß, dachte ich. Lächeln wir uns gerade an, als wären wir gute Freunde? Der Moment fühlte sich ewig an. So wie damals, als ich auf seinem Schoß saß und wir uns unterhalten haben. Nach Cindys Aussage haben wir auch mehrere Minuten miteinander gesprochen, also ging ich davon aus, dass mein Zeitgefühl mir auch dieses Mal keinen Streich spielte und wir uns tatsächlich für fast eine Minute in die Augen sahen und lächelten, als wären wir zwei glückliche Mönche jenseits des Kontinents. Erst, als das Kind auf seinem Schoß anfing, sich zu bewegen und offensichtlich runter wollte, brach er den Augenkontakt und widmete sich wieder seiner Arbeit. Ich ergriff die Chance und machte mich auf, aus der peinlichen Situation zu entkommen. In der Apotheke bestellte ich völlig neben der Spur normale Schmerztabletten. Der Apotheker sah mich dabei an, als würde er herausfinden wollen, auf welcher Droge ich genau war; THC oder MMDA. Mein Namensschild, welches suggerierte, dass ich im Center arbeitete, machte ihn vermutlich nur noch nervöser. Als kleine Unterstützung für meine Drogensucht, gab er mir eine kleine Tüte Gummibärchen mit auf den Weg und lächelte mich aufbauend an. Ich bekam davon herzliche wenig mit, schaltete das ganze irgendwie aus und überlegte, was genau vor wenigen Minuten passiert war. Hatte der Mann Interesse an mir? Wieso sonst sollte er Cindy ignorieren und mich derart beachten? Als ich mich durch die Menschenmassen zurück zum Weihnachtsmarkt begab, um mir ein Wasser in der nebenan gelegenen Drogerie zu kaufen, sah ich, dass der Stuhl leer war. Santa hatte wohl auch mal Pause. Noch ehe ich mich in Ruhe auf eine kleine Bank setzen konnte, um meine Schmerztablette – vielleicht auch zwei – einzunehmen, sah ich etwas Rotes neben mir stehen. Etwas erschrocken sah ich auf und blickte in die braunen Augen. »Darf ich mich setzen?«, fragte er in seiner ruhigen, dunklen Stimme mit dem interessanten Akzent. Da ich keinen bestimmten Grund hatte, unhöflich zu sein und ‚Nein‘ zu sagen, aber auch keinen wirklichen Drang verspürte mich jetzt mit Santa zu unterhalten, der – bis auf seine Mütze und schwere Jacke – noch in voller Montur da stand, nickte ich einfach apathisch. Er setzte sich neben mich und zerquetschte fast einen anderen Mann, der neben ihm ein Sandwich aß, nur damit er mir genug Platz lassen konnte. Höflich, dachte ich. Etwas schusselig, aber höflich. »Haben Sie Schmerzen?«, hörte ich ihn fragen, nachdem ich bisher noch kein Wort verloren hatte. Er deutete auf die Blisterpackung in meiner Hand, die deutlich das Wort ‚Ibuprofen‘ vermittelte. Ich räusperte mich leise, um meine Stimme wieder zu finden. »Ja, ein bisschen. Aber nichts Schlimmes.« »Nehmen Sie nicht zu viele. Ibuprofen geht auf den Magen.« Er lächelte mich dabei an, als hätte er gerade einen unheimlich guten Witz gemacht. Aber er hatte Recht; sollte ich jetzt etwa trotzdem lachen? Nicht ganz sicher, was ich sagen sollte, drückte ich einfach zwei Tabletten raus und schluckte eine nach der anderen mit etwas Wasser runter. Santa sah mir dabei genauestens zu. Starrte mich förmlich an. Das machte die Situation etwas unangenehm. So unangenehm, dass ich das Gefühl hatte, die Flucht ergreifen zu wollen. Daher entschloss ich mich für die weitaus weniger peinliche Variante des Entkommens und konfrontierte ihn mit der Flucht nach vorne: Fragen von meiner Seite. »Ist das auch Ihre Mittagspause?« Er nickte freundlich. »Ja, aber sie geht nicht sehr lange. In ein paar Minuten muss ich wieder zurück.« »Ich verstehe.« Und schon gingen mir die Themen aus. Ich war einfach furchtbar in menschlicher Kommunikation. Ein Grund, wieso ich als Psychologe so versagt hatte. »Wie lange arbeiten Sie schon hier, Mr. Lewis?«, fragte Santa und überraschte mich mit meinem Namen. Oh, richtig, ich trug ja wieder mein Namensschild. Aber vielleicht hatte er ihn sich auch gemerkt? »Seit drei Jahren«, antwortete ich fast schon etwas beschämt, dass es bereits schon drei Jahre waren, die ich in diesem Höllenloch verbrachte. Aber in diesen Jahren hatte ich gelernt mit den Menschen, die mir so ähnlich waren, umzugehen. Wohlhabend, hochnäsig und etwas unfreundlich. Doch anstatt sich eines Besseren belehren zu lassen, habe ich mich nicht verändert. Meine Misanthropie würde nicht nur wegen eines Einzelhandelsjobs vergehen. An der hielt ich sehr gut fest. »Ihnen gefällt der Job?« Ob es nun echtes oder geheucheltes Interesse war, konnte ich aus seiner Stimmlage oder Mimik nicht erkennen, aber es war nett mit ihm zu reden. Seine Stimme war beruhigend. Auf ihre ganz eigene Art und Weise. »Es geht. Es gibt schönere Jobs, so viel ist klar. Aber als halbe Stelle lässt es sich aushalten.« »Oh, nur eine halbe Stelle? Hat es einen Grund?« Ich lächelte zögerlich. Wieso musste ich auch immer jedem erzählen, dass es nur eine halbe Stelle war und ich eigentlich noch einen anderen Job besaß, der mir viel besser gefiel und auch sehr viel besser bezahlt war? Vermutlich hatte es was mit meinem Ego zu tun, dass ich mich aufs tunlichste immer am besten darstellen wollte. Und in einem Kaufhaus zu arbeiten war vermutlich nicht so egostreichelnd wie beim Geheimdienst zu sein. »Ich habe noch einen anderen Job«, gab ich kurz und knapp zu verstehen, in der Hoffnung, er würde das Thema fallen lassen. Und tatsächlich – er tat es. »Das klingt anstrengend. Aber Sie scheinen es gut zu meistern. Ich habe neben diesem Job auch noch einen anderen. Ich glaube, heutzutage kommt man kaum noch ohne einen Zweitjob aus.« »Die Profession ist eben nicht immer die Berufung«, fügte ich neckisch hinzu und sah dabei in die Menschenmenge hinein; wundernd, als was die alle so arbeiteten, dass sie den Wochentag einfach so mit Shoppen verbringen konnten. »Und die Berufung nicht immer Profession«, lachte Santa und faltete dabei seine langen Finger ineinander, während er sich auf seinen Knien abstützte. Er starrte ebenso in die Menschenmenge und schwieg für einige Sekunden. Ich wusste nicht ganz, was ich noch sagen sollte. Also griff ich das Thema auf, was wir das letzte Mal besprochen hatten. »Sie sagten, Sie lieben Kinder. Haben Sie eigene Kinder?«, hakte ich nach und versuchte den Augenkontakt wieder aufzunehmen. Interessierte mich eigentlich nicht, aber irgendwie hatte ich das Gefühl etwas sagen zu müssen. »Nein«, antwortete er knapp und lächelte müde. »Ich habe keine Zeit für eigene Kinder. Oder eine Familie.« Ich presste meine Lippen aufeinander. Man konnte dem Mann ansehen, dass er sich eine andere Realität wünschte. Vermutlich war es sein Zweitjob, der es ihm verbat, eine Familie zu gründen. So ein bisschen wie bei mir. Nur, dass ich nie eine Familie wollte. »Ist es wegen Ihrem Zweitjob?« Er nickte; schließlich sah er mir wieder in die Augen. »Ich bin viel unterwegs. Meine bisherigen Beziehungen konnten da nicht wirklich mit umgehen.« »Das ist schade«, war das absolut dämlichste, was mir dazu einfiel. Doch Santa nickte und starrte auf die Blisterpackung in meinen Händen. Sein Blick wurde auf einmal ernster. Mikroexpressionen zeigten sogar einen leichten Anflug von Wut. Oder waren es auch Schmerzen? Seine Zornesfalte bildete sich weiter aus. »Haben Sie auch Schmerzen? Möchten Sie eine haben?«, fragte ich und hielt ihm die Packung hin. Er sah mit großen Augen auf und schien überrascht, dass ich ihn so genau beobachtet hatte. »Haben Sie geraten oder können Sie in meinen Kopf schauen?«, lachte er und richtete sich etwas auf. Er war nicht unbedingt peinlich berührt, aber eine gewisse Nervosität machte sich in ihm breit. »Sie haben so auf die Tabletten gestarrt und dabei einen finsteren Blick bekommen. Ich mache das auch manchmal, wenn ich mich darauf konzentrieren will, keine Schmerzen zu haben, obwohl mein ganzer Körper gerade brennt«, erklärte ich und hielt ihm die Packung noch ein Stück näher hin. Tatsächlich nahm er sie mit einem Nicken an und drückte sich eine Tablette raus. Als ich ihm schweigend mein Wasser anbot, lehnte er dankend ab und deutete darauf hin, dass er an seinem Stuhl eine Flasche Wasser stehen hatte und er die Tablette gleich nehmen würde. Nachdem wir uns dann wieder anschwiegen, entschied ich, einfach zu gehen, auch wenn meine Pause noch etwas länger gedauert hätte. »Ich wünsche Ihnen gute Besserung«, sagte ich höflich und stand auf. Santa tat es mir gleich und gesellte sich auf Augenhöhe. Zumindest für mich Schulterhöhe. Er war groß. Sehr groß. »Das wünsche ich Ihnen auch, Mr. Lewis.« Mit diesen Worten ging er an mir vorbei Richtung Stuhl. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich so unfreundlich war und nie nach seinem Namen gefragt hatte. Aber ich hatte so das Gefühl, dass das nicht unser letztes Gespräch gewesen war. Kapitel 4: Schokolade --------------------- Als ich den Laden erneut betrat, kam Cindy sofort auf mich zu und schüttelte mit geöffnetem Mund den Kopf. Mit furiosen Handbewegungen unterstrich sie ihre Empörung. »Du hast gerade Mittag mit ihm gemacht?!« Ich stellte meine Wasserflasche unter die Theke der Kasse und tat so, als wüsste ich von nichts. »Hm?« »Hm mich nicht! Was hat er gesagt? Er hat sich zu dir gesetzt, oder? Oder hast du ihn zu dir geholt?« Cindys Worte flossen wie ein Wasserfall voller Eifersucht auf meine sonst so tauben Ohren. Aber heute gefiel mir der kleine Sieg über unsere gemeinsame Entdeckung. »Er hat sich zu mir gesetzt. Wir haben über nicht viel gesprochen. Kinder und Arbeit.« Da verschränkte sie die Arme. »Du redest also mit ihm über Kinder? Wow, wann heiratet ihr?« Ich verdrehte mit einer langsamen Bewegung meine Augen. »Halt den Ball flach, Cindy. Es war ein nettes Gespräch, mehr nicht. Ich weiß nicht mal seinen Namen.« »Echt nicht? Oh man, Kyle, du bist echt schlecht im Flirten. Das habe ich damals schon gemerkt.« »Das mag vielleicht daran liegen, dass ich weder damals noch jetzt flirten wollte«, stellte ich mit hochgezogenen Augenbrauen klar und blinzelte ein paar Mal, um meine Aussage zu verdeutlichen. Cindy zuckte nur mit den Schultern. »Wir wissen ja sowieso nicht, ob er überhaupt zu haben ist.« »Ist er«, antwortete ich trocken und wartete genüsslich die Reaktion von meiner Kollegin ab. Wie erwartet riss sie die Augen auf und klatschte ihre Handflächen auf die Theke. »Was, echt?! Du hast ihn gefragt?« Ich zog eine Schulter hoch und tat so, als wäre es das einfachste der Welt gewesen, herauszufinden, dass er Single war. »Wir haben über Kinder gesprochen. Habe ihn gefragt, ob er selber welche hat. Daraufhin sagte er, dass er keine hätte und auch sonst keine Familie.« »Ach, das sagt gar nichts!«, plärrte sie und pustete Luft in ihre Wangen. »Er erzählte von sich aus, dass es keine Beziehung lange mit dem Umstand ausgehalten hat, dass er beruflich viel unterwegs ist. Daraus schließe ich sehr eindeutig, dass er derzeit Single ist.« »Uff«, pustete Cindy Luft aus ihrem Mund. »Das hat er dir einfach so freiwillig erzählt? Oh man, ich glaube, der hat Interesse an dir.« Am liebsten hätte ich ihr widersprochen, so wie immer, wenn sie vermutete, dass Kundinnen Interesse an mir hatten. Doch dieses Mal wusste ich nicht ganz, wieso ich widersprechen sollte. Die Indizien waren nicht eindeutig, aber sie ließen sich auch nicht völlig ausblenden. Vielleicht stand Mr. Santa auf mich. Vielleicht war er auch einfach nur nett. Auf jeden Fall stieg in mir eine Neugierde auf, die mich freudig auf weitere Treffen warten ließ. Ich wollte wissen, was passierte. Ob es tatsächlich mehr werden würde. Dabei kannte ich den Mann noch gar nicht. Aber die Chemie, so musste ich zugeben, stimmte schon mal. Das klang in meinem Kopf zwar wie eine schlechte Liebeskomödie, doch es brachte mich auch zum Schmunzeln. Cindy hingegen schmollte vor sich hin, während sie zurück zu einer Kundin ging. Den Tag verbrachte ich damit, weiter aus dem Fenster zu schauen. Mr. Santa kümmerte sich liebevoll um die Kinder, bis er dann schließlich um 18 Uhr sein Schildchen auf den Stuhl setzte und sich in den Feierabend aufmachte. Und zu meiner persönlichen Freude, drehte er sich tatsächlich einmal kurz um und lächelte sein warmes Lächeln. Es war nur kurz und ich hatte kaum Zeit, das Lächeln zu erwidern, bis er schließlich aus meinem Sichtfeld verschwand, aber ich wusste, dass es mir galt. Mir allein. Am Abend schlurfte ich noch einmal zurück ins Büro. Ethan saß mir wie immer gegenüber und blätterte durch Comics, anstatt zu arbeiten. »Gibt’s was Neues in Hinblick auf Mrs. Iwanowna?«, fragte ich leicht gereizt. Ethan mag zwar mein Informant sein, aber ich mochte es gar nicht, dass er mich in ein Schlachtfeld schickte, das er selbst nicht kannte. »Äh, ja«, sagte er überrascht und klappte sein Heft zu. »Freya hat herausgefunden, wo sie sich in etwa aufhalten. Allerdings ist zu vermuten, dass sie die Position in ein paar Tagen wieder verlassen.« »Wo sind sie?« Ethan zeigte mir auf seinem Bildschirm eine Karte von London, wo sie sich in einem kleinen Vorort niedergelassen haben sollen. Eine schicke Gegend. Vermutlich hätte sie niemand dort erwartet. »Wie hat Freya das herausbekommen?« Da schmunzelte Ethan triumphierend. »Unser böser Wolf war so schlau mehrmals öffentlich durch die Straßen zu laufen. In diesem Gebiet hat man ihn des Öfteren gesehen.« »Und Mrs. Iwanowna? Ein Zeichen, dass sie noch lebt?«, murmelte ich, während ich mir die Karte genauer ansah. Die Vermutung, dass Wolkow uns in eine Falle locken wollte, stand natürlich im Raum, aber es war ein Anhaltspunkt, der besser war, als gar kein Anhaltspunkt. »Bisher nicht. Aber es kam auch noch nichts Gegenteiliges. Niemand verlangt Lösegeld oder hat sie als vermisst gemeldet.« »Ist ja auch erst einen Tag her«, sagte ich und seufzte leise, als ich mich wieder aufrichtete. Meine Rippe schmerzte dabei wieder etwas. »Wissen wir denn wenigstens, wieso man sie unbedingt schützen sollte? Oder was die Russen von ihr wollen?« Da kam Ethan mir ein Stück näher und flüsterte so leise, dass ich ihn kaum verstand. »Angeblich geht es hier um Geheimcodes für ein Waffenlager. Chemische Waffen oder so. Also etwas Gefährliches.« »Mrs. Iwanowna hat diese Codes?« Ethan nickte. »Ich weiß es nicht genau, das habe ich nur bei Freya aufgeschnappt, als sie mit der Regierung am Telefonieren war. Der Begriff Geheimcodes wurde dabei des Öfteren genannt.« Ich hielt für einen Moment inne. Sollte Mrs. Iwanowna wirklich an solche Codes gekommen sein, würden die Russen natürlich alles tun, um diese herauszubekommen. Ein Bild, wie sie die junge Frau auf das schlimmste folterten, fiel mir in den Kopf. »Wie ist sie an diese Codes gekommen? Hast du das mitbekommen?« Mein Kollege schüttelte den Kopf. »Nein, keine Ahnung. Vielleicht über Freunde? Bekannte? Vielleicht hatte sie eine Affäre mit einem hohen Staatstier?« »Ist zu vermuten. Würde jedenfalls die Geheimnistuerei hier erklären. Niemand soll ja erfahren, dass ein Mann in so hoher Position mit einer kleinen Fabrikarbeiterin etwas hatte«, grummelte ich vor mich hin und setzte mich an meinen Schreibtisch. »Sende mir bitte die Daten, dann schaue ich, dass ich die nächsten Tage mal vorbeischaue.« »Du willst da echt einfach so hinfahren? Das letzte Mal ist das ja nicht so gut gelaufen…« Ich kreiste meinen Kopf und massierte mit der linken Hand meinen verspannten Nacken. »Was bleibt uns sonst übrig? Die arme Mrs. Iwanowna wird vermutlich gerade gefoltert oder misshandelt, damit sie die Codes preisgibt. Wir sollten ihr so schnell es geht helfen.« Ethan wirkte nicht besonders überzeugt, sondern runzelte weiterhin seine Stirn, während er mir die Daten auf den Server legte. »Außerdem«, fügte ich dann leichtfertig hinzu, »weiß ich ja jetzt, dass Alexej Wolkow dort ist. Dieses Mal gehe ich besser bewaffnet dorthin.« Am nächsten Tag scrollte ich an der Kasse durch mein Handy, auf der Suche nach einer vermissten Frau. Doch niemand vermisste Irina Iwanowna. Zum Glück hatte man aber auch nicht ihre Leiche gefunden. Es war erneut ein Nullspiel. »Mr. Lewis«, ermahnte mich dann irgendwann mein Chef, sodass ich das Handy unter den Tresen packte. »Arbeiten Sie bitte gewissenhaft.« Mit diesen Worten ging er wieder. Cindy hatte heute frei, sodass ich alleine auf der Fläche war. Das bedeutete, dass ich öfter meinen heiligen Bereich der Kasse verlassen musste, um Kunden zu beraten. Doch Gott sei Dank war am Vormittag nicht viel los gewesen, sodass ich mich immer mal wieder meiner Recherche widmen konnte, anstatt zu arbeiten. Als mein Chef mich jedoch peinlicherweise zum dritten Mal erwischte, nahm er mir das Handy ab. Ich fühlte mich auf einmal wieder zurück in die Schule versetzt, wo man sofort einen Verweis bekam, wenn man zu viele Zettelchen geschrieben hatte. Nicht, dass es zu meiner Zeit bereits Handys in der Schule gegeben hatte. Das war alles nach mir. Noch bevor ich in Selbstmitleid versinken konnte, dass ich bereits in einem fortgeschrittenen Alter war, sah ich im Erdgeschoss, wie Santa und ein paar Engelchen Körbe in die Hand nahmen und kleine Süßigkeiten verteilten. Ah, richtig, vor kurzem war der erste Advent gewesen. Ich erwischte mich dabei, dass ich angefangen hatte zu lächeln, als mich ein Typ sehr irritiert durch die Fensterscheibe auf der anderen Seite ansah. Schnell drehte ich den Kopf wieder in den Laden und inspizierte meine Fingernägel. Als ich nach wenigen Minuten wieder aus der Scheibe sah, waren er und die Engel verschwunden. Das Center füllte sich zunehmend, sodass auch leider die Arbeit nicht ausblieb. Mein Chef hatte sich ausnahmsweise dazu bewegen können, den Tag nicht in seiner kleinen Abstellkammer zu verbringen, wo er – wie wir alle vermuteten – heimlich rauchte, sondern half mit auf der Fläche. Immer wieder spähte ich aus dem Schaufenster ins Erdgeschoss, doch Santa war nirgendwo zu sehen. Sowieso hatten wir heute noch keine Zeit gehabt auch nur einen Blick auszutauschen, geschweige denn miteinander zu reden. Meine Pause verschob sich in die Unendlichkeit, sollte der Ansturm weiterhin so hartnäckig bleiben. Heute also mal kein unangenehmes-angenehmes Pläuschchen am Tannenbaum. »Sehen Sie?«, plärrte eine Kundin mittleren Alters, während ich mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen war. »Der Fleck hier, meinen Sie, der wird weggehen?« Ich beugte mich ein Stück nach vorne, zischte unangenehm auf, da meine Rippe sich meldete, und begutachtete den kleinen beigen Fleck am Kragen der weißen Bluse. »Das ist Make-Up. Das geht beim Waschen raus.« »Sind Sie sicher? Es ist die einzige Bluse in meiner Größe, sonst würde ich ja eine andere nehmen. Aber sie ist so schön, daher weiß ich nicht… der Fleck ist ja schon ärgerlich.« Meine liebe Dame, dachte ich, nimm deine scheiß Polyester Bluse für fast 200 Pfund und verschwinde aus dem Laden, damit ich weiter sinnlos aus der Scheibe glotzen kann, um den Weihnachtsmann zu erhaschen. »Wenn Sie den Fleck nach dem Wasche nicht rausbekommen, können Sie die Bluse innerhalb von 14 Tagen mit Vorlage des Kassenbons umtauschen«, ratterte ich den typischen Satz runter, den ich in den Jahren so viele Male sagen musste. Die Dame seufzte noch ein paar Mal unentschlossen auf, bis sie die Bluse schließlich nahm. Hinter ihr hatte sich eine Schlange gebildet, die fast in einen Ständer reichte, weil sonst kaum noch mehr Platz war. Etwas gereizt packte ich die Bluse in Seidenpapier und kassierte die Dame ab. Die nachfolgenden Kunden hatten zwar weniger Beschwerden, dafür umso mehr Teile, die ich natürlich alle feinsäuberlich falten und abscannen musste, sodass die Schlange nicht sonderlich weniger wurde. Und genau in dem Moment, wo ich kurz davor war, einfach schreiend aus dem Laden zu laufen, weil die vierte Kundin am Tag wissen wollte, ob die Rabattaktion von letztem Monat noch galt, stand er hinter dem Schaufenster mit seinen Engeln. Er stand einfach da, lächelte und hielt seinen Korb auf Hüfthöhe. Die Engelchen neben ihm, drei an der Zahl, waren junge Damen mit wallenden blonden Haaren. Doch anstatt ihnen irgendwie den Hof zu machen oder überhaupt mal seinen Job zu machen – nämlich die Schokoladentäfelchen in seinem Korb an die Kunden zu verteilen – starrte er durch die Scheibe in unseren Laden. Auf mich. Ich hielt kurz inne, stopfte mental abwesend irgendetwas in eine Papiertragetasche, als ich mich dazu entschloss zurückzulächeln. Die Kundin vor mir beobachtete das Schauspiel und hatte Gott sei Dank den Anstand nichts zu sagen. Stattdessen ging ihr Blick zwischen uns hin und her, als würde sie ein spannendes Tennismatch sehen. Die Engelchen machten sich auf einmal wieder auf den Weg und gingen den Gang weiter, als er plötzlich in unseren Laden huschte. Schnell ging er an der Schlange vorbei und bat jeder Kundin ganz höflich ein Täfelchen an, bis er zu mir an die Kasse kam. Ich spürte mein Herz pochen und meine Wangen heiß werden. Er würde nicht wirklich… oder? »Für Sie, Mr. Lewis. Nervennahrung«, sagte er so charmant, als wäre es das einfachste der Welt und legte mir zwei Täfelchen auf die Kasse. Die Kundin, die ich gerade bediente, kicherte leise und sah sich zu der Kundin hinter ihr um, die ebenfalls wie ein Kleinkind kicherte. Mir blieb die Sprache im Hals hängen, also nickte ich einfach nur apathisch und nahm die Schokolade an mich. Mr. Santa lächelte noch einmal das Lächeln, das vermutlich jeden im Laden schmelzen ließ – Frauen, Männer, Schokolade – und verschwand dann wieder aus dem Laden, als wäre er nie da gewesen. Seine Engel waren bereits weit weg. »Das war ja nett«, bemerkte die Kundin, die immer noch auf ihre Tragetasche wartete. »Dass der Weihnachtsmann extra vorbeikommt.« Da kicherte sie noch einmal auf und griff dann einfach nach ihrer Ware, um sie an sich zu nehmen. Ich starrte auf den Ausgang des Geschäfts, wo Mr. Santa einfach so verschwunden ist. Meine Wangen pochten noch immer und ich hatte das Gefühl, so rot wie die hässlichen Styropor-Geschenke am Tannenbaum gewesen zu sein. Die restlichen Kunden vermieden es, mich auf die interessante Begegnung hin anzusprechen und ließen sich einfach abkassieren. Ich grübelte derweil, wieso er mir zwei gegeben hatte. Vielleicht, damit ich eins mit Cindy teilte? Mit meinem Chef? Oder waren beide für mich? Wieso dann nicht drei, ist doch eine schönere Zahl? Oder hat er einfach wahllos in den Korb gegriffen? Soll ich eins mit ihm teilen? Aber er hatte doch genug, nicht wahr? Die Zeit verging auf einmal sehr schnell, während ich weiter über die Schokolade nachdachte, die unter der Hitze der Kasse etwas zu leiden begann. Nachdem viele nun Essen waren, machte auch ich endlich meine verdiente Pause. Meine Augen suchten förmlich nach einem rot gekleideten, großen, bärtigen Mann. Und als hätte er meine innere Stimme gehört, die nach ihm rief, kam er kurz vor Ende meiner Pause mit seinen drei Engeln um die Ecke. Die Körbe waren fast leer, sodass ich davon ausging, dass die Runde durchs Center erfolgreich gewesen war. Er sah mich erst nicht, da ich wieder auf der Bank inmitten der Menschenmenge saß. Doch als er sich seine schwere Weihnachtsmannjacke auszog und die Mütze abnahm, erspähte er mich über einige Köpfe hinweg. Erneut lächelte er mich an, blieb jedoch bei seinen Engeln. Sie redeten noch ein wenig und schienen über die Arbeit zu sprechen. Die Damen wirkten sehr an ihm interessiert. Er weniger an ihnen. Etwas in mir war froh, dass er nicht herüber kam. Wieso auch? Ich hätte vielleicht eine Gelegenheit gehabt, ihm zu danken, aber mehr auch nicht. Ein anderer Teil von mir war enttäuscht, dass er nicht zu mir kam. Wollte er nicht die unausgesprochene Regel brechen, dass wir uns bisher immer nur einmal am Tag gesehen haben? Oder hatte er schon genug von mir? Da ich kein kleines Mädchen war, dass darauf wartete, vom Weihnachtsmann abgeholt zu werden, stand ich auf und ging einfach auf ihn zu. Die drei Mädels sahen mich schon mitleidig an, als wüssten sie ganz genau, dass ich zu denen gehöre, die den Weihnachtsmann nicht in Ruhe lassen können, auch wenn er offensichtlich nicht mehr ‚im Dienst‘ war. »Hey«, begann ich zaghaft, was eigentlich nicht meine Art war. Doch die Blicke der Damen verunsicherten mich etwas. War es doch kein guter Augenblick zu stören? Doch Mr. Santa drehte sich sofort zu mir um und lächelte zuckersüß. »Mr. Lewis«, begann er und blendete dabei die Engelchen völlig aus. »Möchten Sie noch etwas Schokolade?« Ich hob sofort beide Augenbrauen und erhaschte einen Blick in die Körbe der jungen Damen. »Oh, nein, nein. Vielen Dank. Ich wollte mich nur für vorhin bedanken. Dass Sie mir welche gebracht haben.« Da lachte er leise. Es war das Brummen eines Bären. »Ich wollte mich für die Schmerztablette bedanken. Und sie sahen aus, als hätten Sie etwas Nervennahrung gebrauchen können.« Ein zaghaftes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. »Da haben Sie nicht schlecht geraten.« »Es ist viel los heute. Die Menschen sind etwas aggressiv. Schokolade hilft ihnen wohl wieder etwas runter zu kommen.« Seine dunkle Stimme vibrierte förmlich in meinem Brustkorb. Mein Lächeln wurde breiter. »Dann kann ich nur hoffen, dass Sie bis Weihnachten noch sehr viel öfter Schokolade verteilen werden.« »Das werde ich. Und Ihnen bringe ich sehr gerne etwas davon vorbei.« Erneut blieben mir die Worte im Hals stecken. Das war Flirten, richtig? Er flirtete mit mir, ja? Meine Wangen wurden schlagartig wieder rot. Herrgott, wie ich mich nicht zusammenreißen konnte, wenn ich mal nicht am längeren Hebel stand. »Danke…«, war dann alles, was ich leise aus meinen Lippen quetschen konnte. Ich vermutete, dass er nicht ganz verstanden hatte, was ich gesagt hatte, da er einfach nur weiterlächelte. Schließlich unterbrach einer seiner Engel unser Gespräch, was ich als Gelegenheit vernahm, zu gehen. »Bis dann«, sagte ich noch höflich und drehte mich um. »Einen schönen Abend noch«, rief mir Mr. Santa hinterher. Ich lächelte einfach nur, als ich mich auf die Rolltreppe begab. Er wurde derweil von seinen Engeln vereinnahmt und musste sich wieder umdrehen. Als ich oben im Laden ankam, war seine Schicht wohl vorüber. Er kam dann nicht mehr in mein Blickfeld. Stattdessen nervten mich die Kunden noch einige Stunden, bis auch ich dann endlich gehen durfte. Der morgige Tag war frei, sodass ich ihn für weitere Recherche zwecks Mrs. Iwanownas Verschwinden nutzen wollte. Eventuell auch, um mal den Ort zu inspizieren, den mir Ethan genannt hatte. Am helllichten Tag würden ja wohl mehr Menschen durch die Straßen fahren, als ein Geheimdienstler, sodass ich unentdeckt bleiben sollte. Im Bett fiel mir dann auf, dass ich wieder nicht nach Santas Namen gefragt hatte. Vermutlich würde ich es auch niemals tun. Denn mal ehrlich: Er war der Weihnachtsmann. Mr. Santa war also kein so schlechter Name für ihn. Kapitel 5: Warnung ------------------ Nach einer sehr ruhigen Nacht saß ich motiviert im Büro am Schreibtisch und googelte sämtliche Namen und Adressen durch. Ethan las derweil weiter seine Comics und tat so, als wäre er nur eine auf kurze Dauer eingestellte Hilfskraft, die sowieso von nichts eine Ahnung hatte. Als meine Augen langsam wund wurden, lehnte ich mich seufzend zurück und starrte an die hässliche Decke unseres Büros, bei der die Architekten wohl keine Lust oder Zeit mehr hatten, die formschönen Rohre zu verkleiden. »Was gefunden?«, fragte Ethan und sah von seinem Heftchen auf. »Oder immer noch nichts?« Ich streckte mich ein wenig, bevor ich antwortete, und spürte sofort meine Rippe. »Viele schöne Einfamilienhäuser. Wirkt nicht gerade wie der typische Ort, an dem sich russische Gangster zurückziehen, um eine Geisel zu halten.« »Vielleicht gerade deswegen?« Mein Kollege klappte das Heft zu. »Wäre Wolkow nicht so dumm gewesen und in voller Öffentlichkeit ohne Verkleidung oder Tarnung rumzulaufen, hätten wir sie ja auch so schnell nicht gefunden.« Ich vermutete immer noch, dass das eine Falle sein sollte. Oder war Wolkow wirklich so dämlich, dass er die ganzen Kameras in Londons Straßen nicht gesehen hat? »Ja, das war schon Glück …«, murmelte ich schließlich, ohne weiter auf diese Begebenheit einzugehen. Ethan beobachtete mich einige Sekunden, bis er sich auf die Tischplatte seines Schreibtisches stützte. »Bisher scheinen sie auch noch da zu sein. Keine neuen Aufnahmen von Wolkow gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Ort noch nicht gewechselt haben, ist recht hoch.« Mein Blick wanderte langsam zu meinem Kollegen, der mich breit angrinste. »Wolltest du nicht mal vorbei fahren? Sich ein bisschen… umschauen?« Ich presste meine Lippen aufeinander. Seine Art und Weise, wie er es sagte, machte mich etwas stutzig. »Willst du etwa mit?« Da streckte er seine Arme hinter den Kopf und lachte. »Ich war ewig nicht mehr im Außeneinsatz. Und du bist noch angeschlagen. Ein bisschen Hilfe wird dir gut tun. Vier Augen sehen mehr als zwei.« Auch wenn ich Partnerarbeit wie die Pest mied, musste ich seiner Argumentation zustimmen. Es würde ein ruhiger Ausflug werden – und wenn nicht, hatte ich Unterstützung. Zwar wusste ich nun, worauf ich mich einließ, aber wenn Wolkow noch einmal mit voller Kraft auf mich einschlug, wäre ich Matsch gewesen. »Na, schön.« In der Tat war der kleine Vorort sehr schön. Viele Einfamilienhäuser, aber auch einige Mehrfamilienhäuser reihten sich aneinander. Einige davon mit schicken Gärten oder ganzen Grünanlagen. »Sieht teuer aus«, murmelte Ethan, während er wie ein kleines Kind aus dem Fenster blickte und neugierig jedem Passanten ins Gesicht sah, den er im Umkreis von 20 Metern sehen konnte. »Glaubst du, die Russen haben hier wen überfallen? Vielleicht auch als Geisel genommen?« Ich fuhr weiter die kleinen Straßen entlang, bis wir an einer Ampel stehen blieben. »Ich denke nicht«, sagte ich leise. »In so einer Nachbarschaft scheint man sich zu kennen. Es wäre aufgefallen, wenn jemand auf einmal nicht mehr rauskäme. Viel eher glaube ich an Einbruch, während die Besitzer im Urlaub sind. Oder sie hatten einen Mittelsmann mit viel Geld.« »Oh, also ein reicher Mann, der hier wohnt, und einfach so russische Gangster in sein Haus lässt?« Ich zuckte die Schultern und fuhr weiter, als die Ampel umschlug. »So in etwa.« Das waren natürlich alles reine Spekulationen, mit Fakten konnten wir hier nicht wedeln. Ich grübelte einige Zeit darüber nach, wieso Freya mir oder eher uns nicht mitteilte, dass es sich hier um Geheimcodes ging. Für was oder für wen nützlich? Wieso Mrs. Iwanowna? Wenn eine Affäre dahinterstand, konnte ich bis zu einem gewissen Grad verstehen, dass man die Sache unter Verschluss halten wollte. Aber es ging hier um Menschenleben. Primär um das von Mrs. Iwanowna und sekundär um unser eigenes. Denn mit einem Typen, der Menschen mit bloßen Händen ausnehmen konnte, spaßte man nicht einfach so ein bisschen rum. Seine eiskalten Augen und seine donnernde Stimme kamen wie ein Flashback zurück in meinen Kopf. Da steckte eine Menge Ausbildung in diesem Mann. Und sehr viel Erfahrung. Ich hielt an einem kleinen Parkplatz vor einem Supermarkt an. Ethan sah verwundert raus, dann zu mir, dann wieder zum Supermarkt und hob schließlich beide Augenbrauen. »Gehen wir einkaufen?« »Nein«, sagte ich ruhig und holte mein Handy raus. »Hier können wir kurz stehen bleiben, ohne, dass uns jemand bemerkt.« »Äh, Kyle, hier sind überall Menschen, die uns sehen können. Ich denke schon, dass man uns sehr gut bemerken kann.« Ich warf einen gelangweilten Blick aus der Windschutzscheibe, wo ich eine Mutter mit ihrem kleinen Kind und Einkaufswagen hantieren sah. »Die meisten sind hier um einzukaufen. Natürlich wird der ein oder andere kurz zu uns schauen und sich fragen, wieso wir nicht aussteigen, aber grundsätzlich werden sie sich sofort wieder ihrer eigenen Tätigkeit widmen: nämlich Einkaufen. In einer einsamen Seitenstraße würden wir viel eher auffallen.« Mein Kollege schien noch nicht ganz überzeugt zu sein und runzelte die Stirn. Also fügte ich noch leicht schmunzelnd hinzu: »Notfalls schicke ich dich nachher kurz rein, um uns einen Kaffee zu holen.« Da lachte er sarkastisch auf und schnallte sich schließlich ab. Ich tippte derweil an meinem Handy rum und durchsuchte das Profil von Alexej Wolkow. Das Bild, was wir als Steckbrief hatten, war anscheinend ein Ausweisbild oder für einen Führerschein. Er starrte wie ein Häftling in die Kamera. Biometrisch war es mit Sicherheit, aber wenn Blicke töten könnten, wären wir alle verloren. Die etwas längeren, aber anscheinend sehr ungepflegten Haare, hatte er hinter die Ohren geklemmt. Seine Bartstoppeln ließen ihn noch ein bisschen mehr wie ein Obdachloser erscheinen. Nur der Stiernacken und die breiten Schultern zeigten deutlich, dass der Mann nicht auf der Straße lebte, sondern vermutlich in einem Fitnessstudio campte. Die markante Nase und die hohen Wangenknochen machten ihn trotz der anderen Merkmale irgendwie attraktiv. Er hatte was. Würde er sich mehr pflegen, die Haare vielleicht etwas besser legen und die unrasierten Stoppeln entfernen, könnte er als hübscher Mann durchgehen. Aber so? Beängstigend und irgendwie ein klassischer Stereotyp für einen Russen. Sogar das Silberkettchen hatte er umhängen. Zwar verdeckte es zum größten Teil das schwarze Shirt, was er trug, doch man sah am Nacken einzelne Glieder der Kette durchscheinen. Ich analysierte sein Profilbild für einige Minuten, bis Ethan auf meinen Handybildschirm starrte. »Versuchst du ihn dir einzuprägen?« »Seine Gesichtsmerkmale sind sehr markant. Und seine Augen ausgesprochen selten. Man sollte ihn eigentlich sofort auf der Straße erkennen. Vielmehr wollte ich mehr über ihn selbst erfahren«, murmelte ich vor mich hin und scrollte durch seine digitale Akte. »Er wurde wohl in St. Petersburg geboren. Sicher ist man sich nicht, da er ständig Identitäten wechselt. Sein Alter ist auch irgendwie ein Rätsel.« »Der gesamte Mann ist ein Rätsel. Man hat nur die Geschichten, die man sich über ihn erzählt.« »Also könnte nichts davon stimmen.« »Oder alles«, gab Ethan Konter und hob dabei seine Augenbrauen an, als würde er damit ‚Vorsicht, alter Knabe‘ sagen. Ich tippte zurück zu Wolkows Bild. »Erzähl mir, was du weißt.« »Die Geschichten über Wolkow?« »Nein, was der Sinn des Lebens ist«, antwortete ich sarkastisch und verdrehte die Augen. »Natürlich über Wolkow.« »Weißt du das denn nicht selber? Ich mein…, wenn man mal mit den Russen zu tun hatte, dann auch mit Wolkow.« »Ich hatte aber noch nie mit den Russen zu tun«, seufzte ich und rieb den Nasensteg. »Ethan, erzähl einfach. Ich weiß nichts über ihn. Oder über seine Herkunft. Eigentlich weiß ich auch kaum etwas über Russland und deren Sitten. Aber das musst du mir jetzt nicht auch noch erklären. Ich wollte ja nicht mit denen Tee trinken gehen.« »Die würden den auch eher höflich ablehnen, schätze ich«, spaßte Ethan und zwinkerte mir zu. Als ich ihm nur einen wartenden, leicht genervten Blick zuwarf, räusperte er sich verlegen und legte los. »Tja, also… Alexej Wolkow bereits als junger Typ seine eigenen Eltern umgebracht. Sie wollten die russische Mafia hintergehen, in die Wolkow reingeraten war. Er hat sie wohl einfach kaltblütig abgeschlachtet. Danach ging’s für ihn in eins dieser krassen Trainingslager, die kennst du doch, oder?« Ich nickte stumm, auch wenn ich sie nur aus Filmen und Büchern kannte. Aber ich ging mal davon aus, dass es einfach eine sehr harte Erziehung zum Kämpfen war. »Da hat er auch einige seiner Kollegen ermordet, weil sie ihm nicht gepasst haben. Und der Typ hat immer nur mit einfachen Mitteln gemordet! Ein Schlüssel oder eine Schere. Man sagt, er habe jemandem das Gehirn aus der Nase gezogen – mit einem Stift!« Das klang für mich etwas an den Haaren herbeigezogen, doch ich schwieg. An einigen Stellen musste ich eben selbst entscheiden, was stimmen könnte und was nicht. Ethan fuhr mit seiner Gruselgeschichte fort. »Nachdem er also dafür bekannt war, ein kaltherziger Mörder zu sein, wurde er schließlich von der Mafia abgeworben. Aber die hat ihm irgendwann auch nicht mehr gefallen – zu viel Regeln und so – da hat er sie auch umgebracht. Naja, nicht alle, aber du weißt schon. Genug, um rauszukommen. Und das alles mit seinen Händen. Ab da an war er dafür bekannt, der Schlächter zu sein, der dich mit Händen ausweiden konnte. Hat einige Aufträge angenommen, aber alles außerhalb von Großbritannien. Da waren viele Auftragsmorde dabei, aber auch Personenschutz. Ich schätze mal, er nimmt, was er kriegen kann, wenn es ihm viel Geld bringt. Jedenfalls sollte man sich von ihm fernhalten. Der Typ ist krass. Ein Glück eigentlich, dass er dich nicht umgebracht hat.« Ethans Gesichtsfarbe wurde blasser. »Vielleicht sollten wir doch lieber nicht nach ihm persönlich fahnden. Sondern den Standort ausfindig machen und dann eine Sondereinheit hinschicken. Bewaffnet mit allem Drum und Dran. Du weißt schon.« Ich schmunzelte vorsichtig, als ich merkte, wie viel Angst Ethan hatte. »Du bist ja auch sonst nicht im Außeneinsatz. Das ist vielleicht auch gut so.« »Kyle, der Typ wird dich in Stücke reißen, solltest du noch einmal auf ihn treffen.« »Willst du mich jetzt herausfordern, dass ich das Gegenteil beweise?« »Was?«, schrie er empört und wedelte mit den Händen. »Genau das will ich nicht! Wieso sollte ich dich tot wissen wollen?!« Mein Ego meldete sich zu Wort. Mein Verstand schaltete sich wie immer aus, wenn das passierte. »Du gehst also wirklich davon aus, dass ich mich einfach so von ihm töten lassen würde?« »Oh, Gott, Kyle, lass es«, warnte mich Ethan, bevor ich eine theatralische Einführung geben konnte, wie ich mich nicht einfach so von ihm töten lassen wollen würde. »Suchen wir Hinweise auf Mrs. Iwanowna. Sollten wir auf einen Ort stoßen, der das Versteck sein könnte, werden wir Verstärkung anfordern und uns zurückhalten. Wir sind nicht das Spezialeinsatzkommando. Wir sind der Geheimdienst. Unsere Aufgabe besteht darin im Geheimen verdeckt zu arbeiten und Informationen herauszufinden.« Ich nickte einfach nur und ließ es gut sein. Mit Ethan hatte ich schon tausend solcher Gespräche gehabt – er würde auch jetzt nicht verstehen, dass es mir ein inneres Bedürfnis war Wolkow die Schädeldecke einzuschlagen. Einfach nur deswegen, weil alle um mich herum der Meinung waren, dass ich es nicht könnte und es andersherum laufen würde. Gut, der Typ war groß und stark, aber ich war intelligent. Und nach seiner Fahrlässigkeit bezüglich der Kameras nach zu urteilen, war er es definitiv nicht. Auch seine grobe Art und Weise zu kämpfen wirkte eher hohl. Wenig durchdacht. Sondern einfach nur schlichte, rohe Gewalt. Wir durchfuhren für eine Stunde noch den weiteren Ort. Er war nicht sehr groß, jedoch groß genug, um in der Masse zu verschwinden. Sie hätten überall sein können. Keins der Häuser wies irgendwie daraufhin, dass es verbarrikadiert wurde und Gangster mit Geisel enthielt. Also fuhren wir unverrichteter Dinge wieder zurück ins Büro. Dort angekommen wurde Ethan bereits schlagartig müde und ging nach Hause. Ich setzte mich noch etwas an den Schreibtisch und versuchte weiter zu recherchieren. »Sie sollten auch nach Hause gehen, Mr. Lewis«, kam meine Chefin Freya auf ihren Stilettos angedampft und klatschte mir paradoxerweise zu ihrer Aussage noch mehr Akten auf den Schreibtisch. »Ich denke darüber nach«, nuschelte ich und musterte die Akten. »Was ist das?« »Menschen, die in den letzten drei Jahren mit Irina Iwanowna näher zu tun hatten. Einige davon sind nur mit Personendaten bestückt, die anderen waren teilweise polizeikundig und deshalb mit etwas mehr Informationen.« Meine Neugierde war geweckt worden. »Interessant«, bemerkte ich und sah Freya dabei tief in die Augen. »Haben Sie sie schon durchgesehen? War jemand dabei, der vermögend ist?« Sie blinzelte ein paar Mal, als wüsste sie nicht ganz, was ich von ihr wollen würde. »Ich habe sie überflogen, ja. Aber so genau habe ich nicht nachgeschaut. Wieso?« »Der Ort, wo Mrs. Iwanowna gehalten werden könnte, liegt in einem sehr teuren Viertel. Die Häuser und auch die Wohnung sind nicht billig. Aber es scheint, dass sie sich dort irgendwo aufhalten. Vermutlich haben sie einen dritten Mann, der ihnen hilft.« Freya nickte positiv überrascht und schob mir die Akten noch ein Stückchen weiter hin. »Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.« Damit ging sie. Eigentlich hätte ich sie damit konfrontierten müssen, dass sie die Geheimcodes vor uns geheim hält, doch ich erachtete es für klüger, diese Information erst einmal für mich zu behalten. Sie musste nicht wissen, dass ich es wusste. Früher oder später würde sie es herausfinden, aber hey – ihr Pech, es mir nie gesagt zu haben. Wer hier mit verdeckten Karten spielte, sollte nichts Gegenteiliges von den anderen erwarten. Ich ging die Akten nacheinander durch. Viele waren einfach frühere Mitschüler gewesen, die sie wieder getroffen hatte. Einige Kollegen aus der Kugelschreiberfabrik, die aber alle irgendeine Behinderung hatten. Bei näherer Recherche stellte ich fest, dass die Fabrik tatsächlich sehr viele Menschen mit Behinderungen einstellte. Interessant, dass Mrs. Iwanowna dann dort arbeitete. Aber vielleicht gehört sie zu den wenigen, die alle beaufsichtigte. Immerhin war sie bei der Warenprüfung gewesen. Ich notierte in meinem Gedächtnis, der Fabrik einen Besuch abzustatten. Schließlich kam ich auf zwei Menschen zurück, die wohlhabender Natur zu sein schienen: Nadia Gromow und Lee Green. Mrs. Gromow, eine junge Freundin von Mrs. Iwanowna, ist seit Jahren mit ihr befreundet, aber nicht sonderlich gut. Ihr Wohnsitz war jedoch nicht im gesuchten Ort. Mr. Green hingegen war mal Mrs. Iwanownas Nachhilfelehrer in der Schulzeit gewesen. Er war bereits einige Jahre älter, arbeitete als Dozent an einer Privathochschule. Ist dann aber letztes Jahr in Rente gegangen. Wieso war ein Nachhilfelehrer in diesem Stapel? Hatte Mrs. Iwanowna vielleicht eine Affäre mit ihm gehabt und sah ihn noch regelmäßig? Seine wohnhafte Adresse war leider auch ganz woanders. Aber nichtsdestotrotz recherchierte ich die Familienverhältnisse beider Parteien und siehe da: Mr. Green hatte eine Exfrau, die in genau diesem Örtchen lebte, wo Ethan und ich uns heute Mittag etwas umgeschaut hatten. Die Adresse war eindeutig. Ich speicherte sie ins Handy und packte meine Sachen. Es war vermutlich nicht sehr klug alleine mit einer geprellten Rippe in das vermeintliche Nest russischer Gangster zu fahren, aber ich war neugierig. Und ich wollte wissen, ob ich richtig lag. Ich wollte – nein ich brauchte die Bestätigung. Als ich ankam, dämmerte es bereits. Die Sonne stand schon am Horizont und läutete den frühen Abend ein. Die Straßenlaternen ging nacheinander an. Die Straße, in der das Haus stehen sollte, war ruhig. Einige Autos fuhren an mir vorbei, ansonsten war es eine reine Wohngegend. Schön gehalten mit kleinen Vorgärten und gepflegten Häuserfronten. Modern und doch irgendwie dem üblichen Häuserstil treu. Meine Hände zitterten etwas, als ich mich der Adresse näherte. Schließlich blieb ich einige Meter davon entfernt stehen. Es brannte Licht im Haus, doch man konnte nichts erkennen. Die Jalousien waren heruntergezogen. Ich hätte mich an das Fenster stellen müssen, um durch die kleinen Schlitze hindurchsehen zu können. Alles schien ruhig. Vor dem Haus parkte auch kein schwarzer Van, sondern ein ganz normaler Mittelklassewagen. Was mich allerdings stutzig machte, waren die Kleinigkeiten: keine Dekoration, nichts war weihnachtlich geschmückt. Das Auto war auch einfach gehalten, sehr gut gepflegt, ohne Plüschtiere oder anderen Schnickschnack. Der Garten allerdings sehr robust, ein bisschen Unkraut hier und da, keine Blumen, sondern nur Grün, was einfach zu pflegen war. Nach dem Geldeinfluss, den Mrs. Green und Mr. Green hatten, hätte man sich einen Gärtner leisten können. Doch es schien nicht von Wichtigkeit zu sein, ob der Garten gut aussah oder nicht. Das Auto hingegen war penibel und sauber. Keine Spuren von weiblichem Einfluss. Weder das Haus, noch das Auto, noch der Garten. Entweder war Mrs. Green also nie zu Hause und sie scherte sich auch wenig darum, wie ihr Haus aussah, und hatte offensichtlich eine Vorliebe für Autos – oder Mrs. Green lebte hier gar nicht mehr, sondern Mr. Green. Meine Neugierde stieg mit jeder neuen Information, die ich aus dem Anwesen bekam, also schnappte ich mir meine Waffe, steckte sie in die Halterung an meinem Brustkorb und stieg aus. Der Wind war kalt, aber trocken. Kein Schnee oder Regen in Sicht. Also schlich ich so leise wie möglich zum Haus. Die Nachbarschaft war still, ich ging davon aus, dass mich niemand gesehen hatte. Schnell wuselte ich mich durch den Vorgarten und huschte hinter eine Hecke, um in den hinteren Bereich des Hauses zu gelangen. Dort sah der Garten noch ungepflegter aus. Das Gras wuchs in alle Richtungen. Hier war länger niemand mehr gewesen. Das Haus diente einem anderen Zweck. Das Auto stand da nur zur Tarnung. So viel war klar. Mit der Hand ständig an der Waffe, kroch ich an den hell erleuchteten Fenstern vorbei und erreicht schließlich die Hauswand mit der Schiebetür zum Wohnzimmer. Man hörte keine Stimmen, auch keinen Fernseher oder Musik. Entweder war das Haus wirklich gut Schallisoliert oder – Ich wurde grob am Kragen gepackt und in die Mitte des Gartens geschleudert. Das kalte Gras schlug mir dabei unangenehm ins Gesicht. Trotz der kurzen Orientierungslosigkeit zog ich meine Waffe und richtete sie auf die dunkle Gestalt, die ebenfalls bewaffnet am Haus stand. Mein Puls schlug enorm schnell gegen meine Haut. Die Hände zitterten noch immer vor Aufregung. Selbst im Knien wankte ich. Nahkampf war wirklich nicht meine Stärke. »Alexej Wolkow, richtig?«, rief ich und stand mit etwas wackeligen Beinen auf. Der Mann, der offensichtlich Wolkow war, antwortete nicht, sondern starrte mich mit leicht aufgerissenen Augen an. Seine Aura versprühte eindeutig Feindseligkeit. Der Blick war starr auf mich gerichtet. Das waren die Augen eines Psychopathen. »Wo ist Irina Iwanowna?«, fragte ich, in der Hoffnung, er würde mir einen Hinweis geben. Ein Blick, ein Muskelzucken oder sonst etwas. »Ist sie da drin? Lebt sie noch?« Erneut antwortete er nicht. Stattdessen kam er auf mich zu. Die Waffe noch immer in der Hand, aber nicht auf mich gerichtet. »Stehen bleiben!«, rief ich und griff die geladene Waffe mit zwei Händen. »Oder ich schieße!« Wolkow blieb tatsächlich für einen Moment stehen. Vermutlich beobachtete er, wie sehr meine Hände und damit die Pistole zitterten. Seine Mundwinkel zuckten für einen Moment. Allein deswegen hätte ich schon gerne geschossen. Machte er sich etwa über mich lustig? Nur, weil ich Menschen nicht sofort zerfleische, wenn ich sie sehe? Und vielleicht etwas nervös bin, wenn ich vor genau so einem Monstrum stehe, dass so etwas tut? » Прочь отсюда«, sagte er in seiner dunklen, etwas beängstigenden Stimme. »Или я причиню тебе боль.« »Ich verstehe kein Russisch«, raunte ich angespannt und formte meine Augen zu schlitzen. »Scheiße, verstehen Sie mich überhaupt? Sprechen Sie englisch?« Erneut kam Wolkow einen Schritt auf mich zu. »Fuck, stehenbleiben!«, schrie ich panisch und schoss auf den Boden vor mir. Wolkow schien weniger erschrocken gewesen zu sein als ich. Er pirschte vor, griff nach meiner Waffe und verdrehte mir mein Handgelenk. Ich musste loslassen. Danach ging alles sehr schnell. Er schlug auf mich ein, ich schlug auf ihn ein. Ich traf ihn ein paar Mal in der Magengegend, was ihn schmerzerfüllt husten ließ. Dafür traf er mich im Gesicht, meine Lippe platzte auf. Ich schmeckte sofort Blut und hatte Angst, er hätte mir einen Zahn ausgeschlagen. Oder zwei. Ich versuchte immer wieder an meine Waffe zu gelangen, doch er packte mich ständig erneut am Kragen und warf mich zu Boden. Er schlug weiter auf mich ein – meine Rippe schmerzte in jeder Sekunde. Das Adrenalin in mir half, dass ich nicht wie ein ängstlicher toter Fisch im Gras lag, sondern mich so gut es ging verteidigte. Wolkow wiederholte hier und da seine Worte von vorher, die ich immer noch nicht verstand. Energisch und donnernd, wie man es sich bei einem wütenden Russen vorstellte. Er fluchte, als ich ihn in die Weichteile traf. Nicht mein bester Schachzug, aber es ging hier um Leben oder Tod. Ich nutzte die kurze Pause, um von ihm wegzukommen und meine Waffe zu suchen. Doch in dem dunklen Gras, der spärlichen Beleuchtung und der panischen Hektik, fand ich sie nicht. Stattdessen erinnerte ich mich an das Messer an meinem Gürtel. Ich fummelte es heraus, schaffte es gerade so, die Klinge rauszuholen, da warf mich der Koloss von Mann um. Mein Kopf schlug unangenehm auf den kalten Rasen auf, während ich mit den Händen vor mir her fuchtelte, um Wolkow auf Abstand zu halten. Ich schaffte es, ihm mit dem Messer am Arm zu treffen. Eine tiefe Schnittwunde, die sofort stark blutete. Er fluchte auf und griff nach seiner Waffe. Das war’s, dachte ich und versuchte noch, mich aus seinem Griff herauszuwinden. Er packte mich, während ich mich auf allen Vieren befand, drückte mich auf den Boden mit einer Hand und schoss vier Mal in den Boden um meinen Kopf herum. Ich zitterte. War still. Wartete auf den Gnadenstoß. Doch bis auf das laute Piepsen in meinem Ohr, vernahm ich nichts. Wolkow hatte mich noch immer auf den Rasen gedrückt, tat aber sonst nichts. Ich hatte noch immer die Augen zugekniffen und wartete auf meinen Tod. Schließlich spürte ich Wolkows unregelmäßigen und heißen Atem an meinem Ohr. Ich riss die Augen auf und sah die Grashalme vor meinem Gesicht an, während er mir finster zuflüsterte: »Прочь отсюда. И не возвращайся.« Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut. Ich verstand kein Wort. Was hatte er gesagt? Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, wie gelähmt ich eigentlich war, löste sich Wolkow von mir und stand auf. Ich traute mich nicht aufzublicken. Ich traute mich auch nicht, ihm hinterherzusehen. Irgendwann war einfach alles still. Nach mehreren Minuten, in denen das Licht im Haus ausging und man mehrere Schritte im vorderen Bereich vernahm, fuhr das Auto weg. Wolkow war einfach so gefahren. Mit Mrs. Iwanowna? Ohne sie? Mit jemand anderem? Wieso war niemand herausgekommen und hat ihm geholfen? Ich konnte mich kaum bewegen. Alles tat mir weh. Und ich zitterte noch immer. Der Schreck saß tief. Er hatte mich erneut verschont. Stattdessen hatte er mir eine Warnung zukommen lassen, die ich nicht verstanden habe. Mit Puddingbeinen begab ich mich zur Fensterfront des Hauses. Ohne das Licht sah ich rein gar nichts. Also beschloss ich Verstärkung anzufordern. Und zu hoffen, dass Wolkow nicht zurückkam. Kapitel 6: Suspekt ------------------ Die Verstärkung kam dann recht fix, sobald sie meine zitternde Stimme ‚Wolkow‘ sagen hörten. Freya selbst erschien und inspizierte das Haus. Es war möbliert, aber soweit leer. Ethan legte mir eine Schockdecke um und reichte mir einen warmen Kaffee, den ich mit noch immer wackelnden Händen annahm. »Du hast so unfassbares Glück, Kyle«, bemerkte er trocken und rieb über meinen Rücken, um mich zu wärmen. Eine liebevolle, wenn auch seltsam nahe Geste. »Du bist Wolkow zwei Mal entkommen. Ich glaube, das hat noch nie jemand geschafft.« Ich nickte einfach stumm und sah dabei zu, wie die Spurensicherung Fingerabdrücke und anderes DNS Material nahm. Gerade, als ich mich zu entspannen versuchte, kam Freya auf mich zu. Ihr stierer Blick und die extrem aufrechte Haltung verrieten mir, dass sie wütend war. »Mr. Lewis«, begann sie zischend wie eine Schlange, als sie vor Ethan und mir stehen blieb. »Wieso sind Sie alleine hierher gekommen, wenn Sie geahnt haben, dass die Subjekte sich hier befinden?« »Ich war mich nicht sicher und wollte nur die Lage sondieren«, murmelte ich leise und tat so, als würde ich mich für meine Tat schämen. Dabei war ich Lichtjahre davon entfernt mich auch nur in irgendeiner Weise schuldig zu fühlen. Immerhin hatte ich ein Nest zerstört. Hier würden sie nicht wieder herkommen. »Keine Alleingänge mehr von nun an«, raunte sie mich an und zeigte mit dem Finger auf mich. »Ab sofort melden Sie jedes Detail der zuständigen Stelle – nämlich mir. Ich werde dann bei ausreichend Hinweisen ein Einsatzkommando hinschicken, was sich darum kümmert. Wir sprechen hier immerhin von Geiselnahme. Mit solchen waghalsigen Aktionen bewirken Sie rein gar nichts, Mr. Lewis. Außer Ihren eigenen Tod.« In dem Moment konnte ich auch an nichts anderes denken. Wie ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Weil Wolkow es so wollte. Weil er mir erlaubt hatte, weiterzuleben. Seine Warnung verstand ich trotzdem nicht. Ich sollte vielleicht anfangen, Diktiergeräte laufen zu lassen, sollte ich ihm noch einmal unterkommen, um dann das Gesprochene übersetzen zu lassen. Aber eigentlich wollte ich Wolkow nicht noch einmal unter die Augen treten. Als ich einfach vor mich hin schwieg und apathisch in eine Ecke starrte, seufzte Freya auf und übergab Ethan die Unterlagen für den Bericht. Ein stummes ‚Du interviewst ihn‘. Sobald sie weg war, drehte sich Ethan zu mir um und tat das, was man von ihm verlangte. »Fühlst du dich stabil genug, mir zu erklären, was passiert ist?« »Echt jetzt, Ethan? Du willst jetzt den Bericht schreiben? Den kann ich dir morgen selber schreiben.« »Aber jetzt ist es noch frisch. Nur kurz. Was du noch weißt«, versuchte er es vorsichtig weiter. Seine Stimme war sanft und liebevoll – er wollte mich nicht verärgern. Nur vermeiden, dass er Freya verärgerte. Ich seufzte kaum hörbar und blinzelte in den hinteren Garten, wo Wolkow mich in der Mangel hatte. Meine Lippe tat weh. Das Blut in meinem Mund war noch eindeutig zu schmecken. Ich erzählte Ethan, was nötig war. Dass er mich überrascht hatte, als ich das Haus inspizieren wollte. Dass er nicht auf mich schoss, mich dafür aber wieder ordentlich zurichtete. Dass ich ihn jedoch am Arm getroffen hatte und das definitiv eine Narbe geben würde. Als ich zu dem Punkt kam, dass er erneut auf Russisch mit mir gesprochen hatte, fragte Ethan nach. »Ich habe keine Ahnung«, wiederholte ich gereizt. »Ich kann kein Russisch!« »Aber vielleicht kannst du die Wörter nachsprechen? Ich frage dann jemanden bei uns, der Russisch kann. Vielleicht erkennt er das Wort!« Immer wieder öffnete ich den Mund und schloss ihn wieder. Mein Gehirn suchte nach den richtigen Vokalen und der richtigen Aussprache. Irgendwie bekam ich dann ein fades Wort zustande. »Er hat mehrmals sowas wie ‚Prochatsuda‘ gesagt. An den Rest kann ich mich nicht erinnern. Das ging viel zu schnell.« Ethan lächelte mich aufmunternd an. »Das ist doch schon mal was!« Schnell notierte er sich mein Kauderwelsch auf den Zettel. Ich bezweifelte, dass irgendein Muttersprachler das verstehen würde, aber einen Versuch war es wert. Nachdem mich noch gefühlt zehn weitere Personen gefragt hatten, ob es mir gut ginge und ob ich ärztliche Unterstützung benötigte, schlich ich mich davon. Auch wenn ich ein ungutes Gefühl hatte, alleine ins Auto zu steigen, mit Puddingbeinen, zittrigen Händen und einer Jahres-Dosis Adrenalin im Blut zu fahren, kam ich heil zu Hause an. Dort wartete niemand auf mich. Die Wohnung war dunkel und leer. Ich schnappte mir die Rotweinflasche und ertränkte meinen Frust am Wohnzimmerboden. Dort hockte ich wie ein armer Irrer, mit Blut im Gesicht, schmerzenden Knochen und der kompletten Polizeiausrüstung, die ich zum Einsatz anhatte. Nur langsam schälte ich mich aus der kugelsicheren Weste. Erste Hämatome machten sich bemerkbar. Ich entschloss mich, morgen krank zu sein. Meine Nerven lagen noch blank – ich hatte keine Lust mich in ein paar Stunden schon wieder mit nervenden Kunden rumzuschlagen. Noch in der Nacht schrieb ich meinem Chef eine SMS, dass ich nicht kommen würde und dass es mir leid tat. Irgendwann schlief ich dann neben meiner Weinflasche aus Erschöpfung ein. Am nächsten Morgen konnte ich mich kaum vom Boden erheben. Ich dachte daran einfach wie eine gestrandeter Wal auf dem Wohnzimmerteppich liegen zu bleiben und den Rest meines Lebens die weiße Decke anzustarren, während ich gequälte Laute von mir geben würde. Doch mein Verlangen nach einer Dusche wurde stärker, als der Drang liegen zu bleiben. So erhob ich mich letztendlich doch vom Teppich, streifte jegliche Kleidung von meinem Körper und begab mich ins Bad. Dort sah ich dann das Ausmaß der gestrigen Schlägerei. Hämatome, Quetschungen und einige Kratzer an den Bereichen, wo keine Kleidung lag. Meine Lippe geschwollen und ein wenig blutunterlaufen. Die Verletzung war Gott sei Dank auf der Innenlippe, sodass ich nur ein wenig das Flair von Drag Queen mit Lippenstift hatte, anstatt einer vermöbelten Drag Queen mit Lippenstift. Die Dusche war Segen und Hölle zugleich. Alles tat weh, alles schmerzte, aber danach fühlte ich mich wenigstens wie ein sauberer Invalider. Ich schmiss mir sofort danach mit einer großes Tasse Kaffee ein paar Schmerztabletten ein. Beim Anblick der Blisterpackung musste ich schmunzeln. Ob Santa heute da war? Und ob er mich heute vermissen würde? Ach, dachte ich, so ein Quatsch. Er weiß doch gar nicht, wann du arbeitest. Wieso sollte er dich dann vermissen? Ein ganz kleiner Teil in mir flüsterte jedoch: Was, wenn er dich doch vermisst? Was würdest du dann tun? Ihn näher kennenlernen? Er ist der Weihnachtsmann, aber das stört dich nicht, richtig? Weil er Interesse an dir zeigt – so oft wie er in seiner wenigen freien Zeit im Center bei dir war? Das subtile Lächeln, die Schokolade und die intensiven Blicke. Du kannst es nicht dementieren: er gefällt dir. Da ich nicht vorhatte, den Tag alleine zu Hause mit elendigem Jammern zu verbringen, fuhr ich ins Büro, wo man mir wenigstens dabei zuhören konnte. »Man, Kyle, du solltest doch zu Hause bleiben«, seufzte Ethan, als er mich reinkommen sah. Ich schlurfte meinen Weg zum Schreibtisch, wo erneut neue Unterlagen platziert worden sind. »Mrs. Iwanowna ist noch immer eine Geisel. Da ist keine Zeit für Wehwehchen.« Mein Kollege warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Du weißt schon, dass man dich ersetzt hat? Zumindest so lange du im Krankenstand bist.« Ich hob beide Augenbrauen an. Wie gut, dass ich diese Information mal wieder auf drittem Wege bekam. »Ersetzt? Durch wen?« »Keine Ahnung«, murmelte Ethan und klappte sein Comicbuch zu. »Ich glaube, Freya nimmt sich dem persönlich an. Wir sind zurzeit ziemlich überlastet. Dass du ausfällst, gefiel ihr nicht so.« »Ja, dass sie wütend auf mich war, habe ich gemerkt«, schnaubte ich genervt aus und presste die Lippen aufeinander. Dass Freya einen Fall selber übernahm, machte mich skeptisch. Normalerweise hielt sie sich aus allem raus – jedenfalls wörtlich gesprochen. Ihre schönen Finger wurden nur in etwas Dreckigem reingehalten, wenn es wirklich nicht anders ging oder es unbedingt nötig war. Also entweder machte sie sich wirkliche Sorgen um Irina Iwanowna, sodass sie selber Hand anlegte, oder ein Vorgesetzter hatte Druck gemacht. Zweiteres klang wesentlich wahrscheinlicher als ersteres, wenn man ihre sonstige Einstellung zu Opfern berücksichtigt. Die klang ungefähr so: Ist mir scheiß egal. »Ich bin trotzdem hier, um weiter am Fall zu arbeiten«, sagte ich schließlich und schlug die Akten auf. Neue Personen, nicht wirklich etwas Neues. Wir wussten bereits, dass Mr. Green in der Sache verwickelt war. Oder seine Ex-Frau. Oder beide. »Sie hat dich auch nicht wirklich zu 100 Prozent ersetzt. Du sollst sicherlich trotzdem noch ein paar Sachen übernehmen im Fall Iwanowna. Sie ist nur besorgt.« Das ließ mich aufschauen. »Besorgt?« Ethan zuckte die Schultern. »Sie sprach gestern, als du schon weg warst, davon, dass Wolkow sonst keine Überlebenden hinterlässt. Schon gar nicht schnüffelnde Geheimagenten. Sie vermutet, dass es der Beginn eines Größeren war. Oder eben ein Teil davon.« Ich entließ angespannt Luft aus meiner Nase. »Klingt nicht nach Sorge. Klingt mehr nach Unmut.« Mein Kollege sah mich fragend an, sagte aber nichts. Als nichts weiter kam, nahm ich es als Aufforderung mich zu erklären. »Sei ehrlich, Ethan, es klingt eher nach Skepsis. ‚Wieso hat Wolkow meinen kleinen Agenten nicht umgebracht?‘. Genau das wird ihr im Kopf rumschwirren. Was ja auch verständlich ist – es ist seltsam, dass er mich am Leben gelassen hat. Wenn man bedenkt, dass ich derjenige bin, der ihm schon zwei Mal das Leben zumindest für ein paar Minuten schwer gemacht hat.« Mein Ego lachte leise auf und korrigierte mich sofort, dass es sicherlich keine Minuten, sondern eher Sekunden waren, in denen Wolkow mir erlaubt hatte, irgendetwas gegen ihn zu tun. Es war eine Art Spiel, was er mit mir spielte. Ich hatte nur noch nicht ganz die Regeln verstanden. Als Ethan weiterhin schwieg, seufzte ich erneut und wedelte mit der Hand, als könne ich damit meinen Standpunkt besser erläutern. »Sie hat vermutlich Angst, ich mache meinen Job nicht gut genug und Wolkow hat einfach nur Mitleid mit mir, weil ich so erbärmlich bin. Worst case wäre, wenn sie glauben würde, ich stecke mit denen unter einer Decke.« »Wieso sollte sie das glauben?«, fand Ethan schließlich seine Stimme wieder. Da zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Und ich wusste es wirklich nicht. Doch wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, wäre es genau das, was mir durch den Kopf fliegen würde. Da läuft ein Mörder durch die Gegend, der dafür bekannt ist, kein Erbarmen zu zeigen und die Opfer mit Händen aufzureißen – und da ist ein kleiner Agent, der eigentlich im Verdeckten arbeiten sollte, ihm aber trotzdem aufgrund misslicher Zufälle schon zwei Mal in die Arme gelaufen ist und trotzdem noch lebte. Das klang in jedermanns Ohren falsch. Ethans Blick wanderte auf den Schreibtisch vor ihm, wo sein Comic Heft unter seiner Hand lag. Er schien nachzudenken. Ob über meinen kurzen Essay, wie ich in kurzer Zeit das Vertrauen jedes SIS Mitarbeiters verlieren könnte, oder über meine Gedanken zu Freyas Verhalten – er war ganz tief drin. Schließlich sahen seine Augen zu mir auf und suchten etwas in meinem Gesicht. Während wir beide uns so anstarrten, wuchs die Ungewissheit in mir. Dachte er wirklich, ich würde mit den Russen zusammenarbeiten? Würde er mich anzweifeln? Und mich bei Freya anschwärzen? Oder würde man mir ab sofort einen Kollegen auf den Hals setzen, der mich beobachten würde, um festzustellen, ob ich tatsächlich mit den Russen interagieren würde? Schließlich knirschte Ethan mit den Zähnen und spannte den Kiefer an. »Vielleicht hast du Recht.« Ich räusperte mich und fragte höflich nach. »Womit?« »Mit deiner Vermutung, dass Freya dir nicht mehr so traut.« Ein trauriges Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. »Ach ja?« »Sie will den Fall selbst übernehmen, weil sie denkt, du würdest mit diesen Alleingängen die ganze Sache ins Wasser ziehen. Dich einfach so vom Fall abziehen, wäre jedoch nur Ansporn für dich, erst recht weiter zu machen. Deswegen will sie jetzt jemand anderes suchen und drauf ansetzen. Bisher will den Fall aber niemand übernehmen, seitdem bekannt ist, dass Alexej Wolkow dahinter steckt.« Nach Ethans Worten, ließ ich auch meine Zähne knirschen. »Hat sie dir das gesagt?« »Ja«, murmelte Ethan und kratzte sich verlegen im Nacken. »Vertraulich, hieß es, aber nicht unter Verschluss. Also… dachte ich…«, er druckste noch einige Mal weiter, bis er den Kopf schüttelte und dabei einige Strähnen seiner Haare ins Gesicht fielen, »Kyle, du bist mein Freund. Auch wenn du das nicht so siehst, ich will dich nicht ins Messer laufen lassen. Aber ich will auch nicht, dass du in ein echtes Messer läufst – vorzugsweise das von Wolkow. Also lass es gut sein, okay?« Er und Freya hatten Recht. In mir wuchs der Drang, genau das zu tun. Ins Messer von Wolkow zu laufen. Nicht unbedingt wörtlich, aber ich wollte den Fall lösen. Ich wollte Wolkow aufspüren, ihn zur Rede stellen, Irina Iwanowna retten und am Ende des Tages mit einem guten Gefühl in eine Bar gehen, um mich ins Nirvana zu saufen. Ethan wartete geduldig auf meine Antwort, bis ich schließlich langsam anfing zu nicken. »Sicher«, war dann meine knappe Antwort auf seine Bitte. »Ich würde nur trotzdem noch gerne dabei sein. Vom Schreibtisch aus. Du weißt schon.« »Kyle…«, seufzte Ethan und schüttelte den Kopf. »Steig doch einfach aus. Vielleicht bekommst du ja einen anderen Fall?« Und ab dem Zeitpunkt bekam ich langsam das Gefühl, dass Freya Ethan darauf angesetzt hatte, mich zu überreden, alles zu schmeißen. Denn auf sie würde ich niemals hören. Auf Ethan schon eher. Aber auch hier roch ich den verdorbenen Braten mehrere Meter gegen den Wind. »Ich denke darüber nach.« Damit stand ich auf, nickte meinem Kollegen zu und humpelte aufgrund meiner Gliederschmerzen Richtung Aufzug. Anstatt jedoch nach oben zum Ausgang zu fahren, fuhr ich runter in die Zellenabteile. Dort angekommen traf ich sofort das neue Mäuschen vom letzten Mal. Als sie mich sah, entgleisten alle ihre Gesichtszüge. »Mr. Lewis«, begann sie zitternd und sah sich nervös um. »Ich muss Sie bitten, zu gehen.« »Hallo«, begrüßte ich sie freundlich und lächelte, so gut ich mit meiner noch geschwollenen Lippe konnte. »Ich darf also immer noch nicht zum Gefangenen? Sergej Kusmin?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Anweisung… von oben.« Ich nickte verständnisvoll und steckte meine Hände in die Hosentaschen. »Ich verstehe. Und aus welchem Grund genau?« Die junge Dame zögerte, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt befugt war, mir irgendwelche Informationen zu geben. Der Grund für mein Besuchsverbot oder das Rezept für Vanillekipferl – beides hätte sie vermutlich in der ihrigen Verfassung gleichermaßen erschüttert. »Ich darf nicht einmal den Grund erfahren?«, lachte ich, als wäre ich empört über diese Unverschämtheit. »Ist es, weil ich den Mann angeschossen habe und man vermutet, dass er gewalttätig werden könnte?« Sie holte tief Luft, als würde sie mir auf meine Suggestivfrage eine Antwort geben wollen, doch sie schwieg weiterhin und entließ die Luft einfach wieder. Da trat ich ein Stück näher an sie heran, um sicher zu stellen, dass niemand unser Gespräch mitbekommen würde. »Oder«, begann ich flüsternd und lehnte mich zu ihr, »hat es mit den Vermutungen zu tun, dass ich in irgendeiner Verbindung zu Wolkow stehe und er mir eventuell etwas verraten könnte, was ich nicht wissen dürfte?« Schlagartig wurde sie bleich. Sie sah nach unten, suchte förmlich nach Worten, als würden sie geradewegs durch ihre Schuhe fließen, wenn sie nur lang genug auf dem Boden starren würde. Als nach mehreren Sekunden nichts passierte und ich eher das Gefühl hatte, die gute Frau erschreckt zu haben, winkte ich ab und setzte wieder meine freundliche Maske auf. »Alles gut, ich mache nur Witze. Sie wissen ja, sowas passiert gerne mal in Filmen. Wollte sie nur foppen. Sie sind ja immer noch neu.« Da blickte sie wieder auf und lächelte schwach. Es war ein gezwungenes Lächeln, welches ihre sonst glatte Haut in Falten warf. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«, fragte ich höflich, ohne irgendwie durchscheinen zu lassen, dass ich sie recherchieren werde. Erneut suchte sie nach Worten, als hätte sie vergessen, wie sie hieß. Vermutlich stand diese Frage im ähnlichen Licht wie die nach dem Grund meines Besuchsverbot und der Vanillekipferl. Doch überraschenderweise fand sie ihre Stimme wieder. »Molly Smith.« Oh, was für ein einfacher und üblicher Name. Das arme Kind. »Okay, Molly«, betonte ich ihren Namen besonders deutlich, »entschuldigen Sie meine Reaktionen. Ich bin einfach nur neugierig. Immerhin … habe ich den Mann angeschossen, richtig?« Mit einem Zwinkern streifte ich schließlich ab und verließ das Gebäude. Auf dem Heimweg überlegte ich, ob ich nicht noch einen Tag krank sein sollte, doch ich entschied mich dagegen. Irgendwie war mir nach Arbeiten in einem sichereren Umfeld. Und in einem schöneren noch dazu. Besonders, wenn der Ausblick aus dem Schaufenster gegen Nachmittag immer so unterhaltend war. Kapitel 7: Glühwein ------------------- Mit einem Schal versuchte ich die schlimmsten Kratzer zu verdecken. Meine Lippe war nicht mehr so arg geschwollen, sodass ich zumindest nicht mit einem riesigen Hämatom im Gesicht hinter der Kasse stehen musste. Mein Chef war sauer, dass ich so kurzfristig krank gemacht habe, revidierte jedoch seine Aussage, als er meine lädierte Fassung mit den tiefen Augenringen sah. »Herrje, Kyle«, sagte auch Cindy, als sie mich hinter der Kasse das Geld einsortieren sah. »Was ist denn passiert? Bist du noch krank?« Ich ließ das Kleingeld vorsichtig zurück in das Fach der Kasse fallen und antwortete, ohne dabei aufzusehen. »Ich fühle mich noch etwas ausgelaugt. Meine Nacht war etwas kurz.« »Was hast du denn?« Die unterschwellige Botschaft war eher ‚Ist es ansteckend?‘. Da sah ich auf und bemühte mich um ein Lächeln. Vermutlich war es extrem verkrampft, denn auch wenn man meiner Lippe nicht unbedingt ansah, dass sie kaputt war, so war sie es trotzdem. »Nur Glieder- und Muskelschmerzen. Vermutlich vom Sport, den ich seit Ewigkeiten mal wieder gemacht habe«, log ich was das Zeug hält. »Das geht sicher schnell vorbei.« Cindy nickte daraufhin einfach nur und dampfte ab. Weihnachten rückte näher, so auch die Panik der Menschen, schnell noch Geschenke einkaufen zu müssen. Die Läden waren vollgestopft und wie jedes Jahr fragte ich mich, woher die Leute das ganze Geld haben, um sich mal eben einen knapp 2000 Pfund teuren Mantel zu kaufen, der nicht einmal schön ist. Aber Frauenkleidung ist da sowieso anders. Ich würde vermutlich auch nicht auf meine Seidensocken verzichten wollen, die mich ein Vermögen im Jahr kosten, weil sie sich so schnell abtragen. Aber das war etwas vollkommen anderes. Redete ich mir jedenfalls ein, während ich zum wiederholten Male am Tag genau diese Jacke scannte. Gerade als ich anfangen wollte, mich über den Tag zu beschweren und bereute, überhaupt gekommen zu sein, sah ich ihn unten im Erdgeschoss rumlaufen. In voller Montur quetschte er sich durch die Menschenmassen und reagierte wie immer sehr höflich, wenn eine Dame ein Foto machen wollte. Er wurde regelrecht umschwärmt. Von Kindern und Müttern gleichermaßen. »Na«, raunte mit Cindy von der Seite ins Ohr. »Gehst du nachher wieder zu ihm?« Ich tat so, als hätte ich keine Ahnung, wovon sie da sprach und hob die Schultern. »Wen meinst du?« Sie verdrehte dabei nur die Augen. Quälend langsam und in einem Ausmaß, dass sie fast ihre Lider verlassen hätten. »Du weißt genau, wen ich meine, Mr. Ich-tu-so-als-hätte-ich-kein-Interesse-an-ihm-und-flirte-trotzdem.« Nach dieser Aussage hatte sie in meinen Augen ihren Tagesbedarf an Sarkasmus aufgebraucht, den ich in einer Schicht ertragen konnte. Also drehte ich mich wieder weg und sortierte die Tragetaschen, solange nicht schon wieder zehn Kunden vor meiner Kasse standen. Tatsächlich erwischte ich mich dabei, dass ich in meiner Pause wieder ins Erdgeschoss fuhr. Ich redete mir ein, dass ich mir einfach nur einen Glühwein holen würde. In meiner Arbeitszeit. Wie rebellisch. Gerade, als ich mich an den vollen Stand anstellen wollte, hörte ich das dunkle Kichern hinter mir. Von dem lauten, aufgeregten Geflüster der Frauen, wusste ich, dass es Santa war, der da hinter mir stand und in den Bart kicherte. »Sie trinken in Ihrer Mittagspause?«, hörte ich ihn in seinem schönen Akzent fragen. Erneut rollte er das R unglaublich erotisch. Oh Gott, dachte ich, hör auf, Kyle. Das ist ziemlich unangebracht. Er ist der Weihnachtsmann. Ich drehte mich um und nickte, während ich vermutlich das dümmste Lächeln des Jahrhunderts auf den Lippen trug. Denn einerseits wollte ich vor Peinlichkeit meiner Gedanken sterben und andererseits tat meine Lippe noch immer sehr weh. »Normalerweise nicht, aber… die letzten Tage waren etwas anstrengend. Ein bisschen Glühwein hilft mit den Nerven runterzukommen.« Eigentlich schuldete ich ihm keinerlei Rechtfertigung und trotzdem kramte ich nach weiteren in meinem Kopf, während er mich herzlich anlächelte. Seine warmen, braunen Augen starrten dabei intensiv in meine. »Ich normalerweise auch nicht«, begann er, »Aber Regeln sind ja bekanntlich da, um gebrochen zu werden.« Ich entnahm der Aussage, dass er mit mir einen Glühwein trinken würde, da er einfach neben mir stehen blieb und sich in die Schlange einreihte. »Haben Sie also auch Pause?« Er nickte, während er die Umgebung sondierte. »Ja, aber erneut nicht so lange. Meine Schicht geht in ein paar Minuten weiter.« »Wie lange haben Sie denn?« Nicht, dass ich gerade anfing, die Minuten zu zählen, die wir hier sinnlos vor einem Glühweinstand verbrachten und die wir viel lieber irgendwo, wo es ruhiger war, hätten nutzen können. »20 Minuten.« »Ah, das geht ja. Ich dachte schon, Sie sagen jetzt zehn oder weniger. So haben Sie ja genug Zeit, den Glühwein auch zu genießen.« »Ich hätte ihn auch in zehn Minuten genossen, auch wenn ich ihn vielleicht nicht ausgetrunken hätte«, sagte er sanft und verschränkte dabei seine Arme hinter seinem Rücken. »Es ist die Gesellschaft, die das Trinken so angenehm macht, nicht wahr?« Oh. Oh! Das war deutlich. Das war sehr deutlich, dachte ich und räusperte mich unbeholfen. Meine Unfähigkeit mich in sozialen Situationen angemessen zu verhalten kam von Sekunde zu Sekunde immer weiter zum Vorschein. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf sagen sollte. Und je länger ich schwieg, desto eher hatte ich das Gefühl, Santa zu verärgern. Doch er nahm mein Schweigen anscheinend nicht als Beleidigung, sondern sah mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zur Bedienung des Glühweinstandes. Die Dame war in voller Hektik, erkannte ihn dann jedoch sofort (natürlich, er trug ein Weihnachtsmannkostüm und saß mehrere Stunden praktisch vor ihrem Stand) und wedelte ihn zu sich rüber. »Was kann ich dir bringen?«, fragte sie sofort und lächelte breit. Santa bestellte zwei Glühwein mit Schuss und bezahlte sofort. Ich konnte ihm kaum aufgrund der Menschenmassen an die Theke folgen, sodass ich einige Meter entfernt stehen blieb, bis er mit den zwei Tassen auf mich zukam und erneut lächelte. »Hier«, reichte er mir eine warme Tasse an. Vorsichtig griff ich danach und sah, dass er mehrere Ringe trug. Einer davon mit einem großen, schwarzen Stein. Die Fingernägel hingegen waren etwas heruntergekaut. Oder zumindest nicht gut gepflegt. Als würde er sonst einer handwerklichen Tätigkeit nachgehen. »Ich gebe Ihnen das Geld, Moment«, sagte ich und suchte einen Platz, wo ich die Tasse abstellen könnte. Kurz überlegte ich, ihm die Tasse einfach wieder zurück zu geben, aber wie sollte er dann das Geld annehmen? Sollte ich es ihm einfach in den Mantel stecken? Das könnte er vielleicht etwas falsch verstehen. »Nein, bitte, Sie sind eingeladen«, nickte er mir freundlich zu und stoß vorsichtig an, um nichts zu verschütten. »Cheers.« »Cheers«, wiederholte ich und spürte meine Wangen rot werden. Dabei hatte ich noch nicht einen Schluck Alkohol zu mir genommen. Doch in der Sekunde, wo der Glühwein meinen Gaumen traf und ich den Rum schmeckte, der großzügig in der Tasse Platz gefunden hatte, fühlte ich mich ruhiger. Zumindest redete ich mir das ein. Wir stellten uns ein wenig Abseits zum Stand an einen kleinen runden Tisch, der zufällig frei wurde. Wie immer wahrte Santa den persönlichen Abstand, den jeder Mensch brauchte, und drückte stattdessen eine andere Dame etwas zur Seite. Doch diese beschwerte sich nicht, sondern trank einfach weiter und unterhielt sich mit ihrem Mann. »Schmeckt Ihnen der Glühwein?«, fragte er schließlich, nachdem ich wieder einmal für weitere Minuten sozial ungeschickt war und geschwiegen hatte. Ich nickte und nahm zum Beweis einen weiteren Schluck. »Sehr stark. Da ist noch Rum drin, richtig?« »Ich dachte, sie wollten vielleicht etwas mehr Ablenkung von ihren Nerven.« Das ließ mich leise kichern. Doch den Mut, Augenkontakt aufzunehmen, fand ich nicht. »Da haben Sie genau richtig geraten.« Zufrieden mit sich selbst trank auch Santa einen großen Schluck. Schließlich wagte ich es doch einen Blick zu ihm zu erhaschen. Er erwiderte ihn natürlich sofort, sodass ich versucht war, schnell wieder wegzusehen. Doch ich war kein kleines Kind, sondern ein erwachsener Mann, der bereits Erfahrungen mit anderen Männern hatte und deswegen keine Panikattacke bekommen sollte, nur weil ein gut aussehender Weihnachtsmann offenkundiges Interesse an mir zeigte. Also zog ich viel zu laut Luft ein und hielt sie an, weil ich erst überlegen musste, was ich sagen wollte. Schließlich kam ein viel zu schnelles »Wo kommen Sie eigentlich her?« raus, was sich vermutlich in seinen Ohren wie ‚Wokommensieeigentlichher‘ angehört haben musste. Er hob beide Augenbrauen und stellte seine Tasse ab, als hätte ich eine schwierige Frage gestellt. Schnell fuchtelte ich mit einer Hand in seinem Gesicht rum, um mich zu erklären. Die echte Erklärung folgte mit etwas Verzögerung. »Ich frage nur, weil… Sie haben einen interessanten Akzent.« Da lachte er auf einmal auf. Sein dunkles Kichern hallte in meinen Ohren. »Oh, vielen Dank«, sagte er, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht. Es war nicht unbedingt als eines gemeint, aber doch. Doch, eigentlich war es eins. »Ich komme ursprünglich aus Litauen, wohne aber schon seit einigen Jahren hier in London.« »Oh, Litauen, schön«, sagte ich, als wüsste ich, wo genau Litauen läge. »Ich war noch nie dort, aber es ist sicher ein schönes Land.« »Jedes Land hat seinen Charme, würde ich behaupten«, sagte er und nahm mir etwas den Wind aus den Segeln. Das Thema schien ihm nicht sonderlich zu passen. »Sie sind aus Großbritannien, schätze ich?« Ich nickte und trank noch einen Schluck. Der Alkohol fing langsam an zu wirken. »Geboren und aufgewachsen bin ich in Oxford. Aber beruflich hat es mich dann nach London geholt.« Er nickte und lächelte sanft, während ich ihm erzählte, wie sehr ich London liebte und wieso Oxford immer mein Zuhause bleiben würde. Auf einmal bekam ich Logorrhö. Erst, als ich merkte, wie Santa sich in Ekstase nickte, weil er mir damit zeigen wollte, dass er noch zuhörte, hörte ich abrupt auf über die Bibliothek in Florenz zu reden, die ich vor vielen Jahren mal besucht hatte. »Entschuldigen Sie«, hauchte ich peinlich berührt und trank den Glühwein aus. »Ich schwatze Sie so zu…« »Nicht doch, ich höre Ihnen gerne zu«, sagte er die typische Antwort, die man aus Höflichkeit gab, auch wenn es nicht unbedingt stimmte. »Ihre Geschichten sind interessant. Ich war auch einmal in Florenz. Das ist aber viele Jahre her. Vermutlich ist die Stadt jetzt ganz anders.« Ich lächelte vorsichtig und spürte meine Wangen heiß werden. »Vielleicht. Aber die alten Gebäude werden noch immer dort stehen, das kann ich Ihnen versichern«, kicherte ich bescheuert vor mich hin und fasste mir abwesend an die Lippe. Unbeholfen tastete ich das Innere ab und spürte dabei einen kleinen Hautfetzen, den mir Wolkow rausgeschlagen haben muss. Noch bevor ich daran ziehen konnte, sah mich Santa mit großen Augen an. »Haben Sie sich verletzt? An der Tasse?«, fragte er hastig und untersuchte sofort den Tassenrand. »Nein, nein«, beruhigte ich ihn. Meiner Einschätzung nach begann ich bereits etwas undeutlich zu sprechen. Das konnte aber auch an der Nervosität liegen. »Ich… ich bin vor zwei Tagen gestürzt und habe mir die Lippe aufgeschlagen. Nichts Schlimmes, aber unangenehm.« Seine braunen Augen weiteten sich etwas. »Aber Ihnen ist sonst nichts passiert, oder?« Seine Sorge war süß. Extrem süß, wie ich feststellen musste. Und ich war erschrocken darüber, wie egal mir der Bart und die weißen Haare auf einmal waren. »Alles in bester Ordnung. Ein paar blaue Flecken, mehr nicht.« »Dann bin ich beruhigt.« Da kam wieder das Lächeln auf seinen Lippen, was mich ein bisschen dahinschmelzen ließ. Fiel ich gerade wirklich auf diese Masche rein? Auf die hier jeder reinzufallen schien? Das nette Lächeln, die kleinen Fältchen um die Augen, die braunen Hundeaugen und der große, starke Körper, der einen nicht nur über die Türschwelle, sondern einmal über den gesamten Kontinent tragen könnte. Ja, dachte ich. Ich falle gerade enorm tief. »Wie lange haben Sie noch Zeit?«, fragte ich leise und schielte dabei auf meine Armbanduhr. Nicht, dass ich ihn loswerden wollte. Ganz im Gegenteil. Er schielte mit auf meine Uhr und kam mir dabei recht nahe. Sein Aftershave oder sein Parfüm (ich war mir nicht sicher) kroch dabei in meine Nase. Es war ein herber, wenngleich süßlicher Geruch. Warm. Irgendwie erdig. Und doch … frisch. »Fünf Minuten. Aber es wird sicherlich niemand etwas sagen, wenn ich noch fünf Minuten dran hänge.« Dabei lächelte er mich dann sofort an und zwinkerte mir zu. Meine Wangen nahmen die Farbe des Glühweins an. Und weil mir nichts besseres einfiel, fragte ich ihn, ob er noch einen zweiten haben wollen würde. Ich würde ihn einladen. Er überlegte, während er in seine Tasse sah. »Lieber nicht«, sagte er schließlich. »Ich sollte nicht so sehr nach Alkohol riechen, wenn ich Kinder bei mir habe.« Oh Gott, ja, natürlich. Ich war auch manchmal beschränkt. Mir war es natürlich egal, ob ich für die Tussi gegenüber von mir wie ein halber Schnapsladen roch oder nicht. Meinem Chef würde das allerdings auch nicht gefallen. Also entschied ich mich ebenfalls gegen die zweite Runde. »Aber«, begann Santa und kam einen kleinen Schritt auf mich zu, sodass sich unsere Ellenbogen berührten. »Morgen Abend ist die Weihnachtsfeier vom Center. Kommen Sie auch?« Ich schluckte. Die Weihnachtsfeier. Die, die es jedes Jahr gab und die eigentlich niemand mochte, aber die alle dafür nutzten, sich sinnlos zu besaufen, weil das Center den Glühwein stellte. Normalerweise habe ich dieses Event gemieden wie die Pest, weil es jedes Jahr zu Eskalationen kam. Entweder haben der Chef und die Chefin zweier unterschiedlicher Läden miteinander rumgemacht oder zwei Lackaffen mussten sich prügeln. Irgendwas war immer. Und betrinken konnte ich mich auch zu Hause. Alleine. In glücklichem Beisein meiner selbst. Doch ich fühlte, wie mein Kopf sich bewegte und ein klares Nicken zustande brachte. »Ja«, hauchte ich schließlich leise und hielt die Luft an. Santa erwiderte das Nicken. »Sehr schön. Dann holen wir die zweite Runde doch gleich morgen Abend nach. Wundern Sie sich nicht: Sie werden mich sofort erkennen.« Da hob ich eine Augenbraue. »Ja?« »Ja«, wiederholte er. »Ich werde morgen zum Unterhaltungsprogramm beitragen. Es ist also halb Arbeit, halb Freizeit.« Eine sanfte Erkenntnis streifte meinen Verstand. »Dann werde ich Sie also wieder nur verkleidet sehen?« »Richtig«, lachte Santa und nahm langsam meine Tasse an sich. »Tut mir leid, Mr. Lewis. Ich bleibe wohl noch etwas länger ein Mysterium für Sie.« Da musste ich auch lachen. Es war wohl der Alkohol, der da aus mir sprach, denn nüchtern hätte ich das nie durchgezogen. »Ich mag Mysterien, wissen Sie. Dafür brenne ich.« Ich meinte eigentlich meinen Job – so als Wink mit dem Zaunpfahl, weil ich ja eigentlich nicht sagen darf, was ich als Zweitjob mache. Doch Santa (und vermutlich jeder andere auf diesem Planeten) verstand das natürlich ganz anders. »Das sehe ich«, brummte er auf einmal in einer tiefen Stimme, während er meine Augen fixierte. Wir starrten uns noch einige Sekunden an, bis er schließlich den Augenkontakt brach und mit beiden Tassen zum Glühweinstand ging. Ich versuchte in der Zwischenzeit meinen Atem zu regulieren und wieder etwas runterzukommen. So angetrunken war ich lange nicht mehr. Und nach nur einer Tasse Glühwein mit Rum? Niemals! Das musste etwas anderes gewesen sein. Als Santa wiederkam, spürte ich die Hitze erneut aufkommen. »Dann bis morgen, Mr. Lewis«, sagte er in einem Tonfall, den ich nicht ganz zuordnen konnte. Ich nickte einfach nur und sah ihm dann hinterher, wie er seinen Platz vor dem Tannenbaum einnahm und Kinder begrüßte. Ich torkelte stattdessen wieder hoch in den Laden. Cindy roch natürlich sofort, dass ich Alkohol getrunken hatte und drohte mir damit, den Chef zu informieren, wenn ich nicht sofort jedes kleinste Detail über Santa und unser Gespräch erzählen würde. Also tat ich, was von mir verlangt wurde und erzählte ihr im Grunde gar nichts. Nur, dass er aus Litauen kam und ich ihn zugetextet hatte. Über unsere heimliche Verabredung morgen – sei sie noch so offiziell wegen der Weihnachtsfeier gewesen – verriet ich nichts. Ich wusste nämlich, dass Cindy auch die letzten Jahre nie erschienen ist. Und das sollte auch so bleiben, denn ich wollte Santa für mich alleine. Und während ich mich wie ein trotziges Kind an Weihnachten anhörte, schielte ich immer wieder runter ins Erdgeschoss, wo er fröhlich Kinder begrüßte und bereitwillig von sich Fotos machen ließ. Oh, dachte ich, da hat es mich wohl erwischt. Ein Typ, dessen Namen, Alter und Aussehen ich nicht kannte, hatte mich in einem Weihnachtskostüm von sich überzeugen können. Das hatten bisher nicht viele geschafft. Um genau zu sein: niemand. Kapitel 8: Kugelschreiber ------------------------- Am nächsten Morgen erwachte ich bereits um fünf Uhr in der Früh. So aufgeregt war ich das letzte Mal, als ich mich zum ersten Mal mit einem Mann getroffen hatte und wusste, dass es auf Sex hinauslaufen würde. Es war schön und gleichzeitig furchtbar gewesen. Keiner von uns beiden konnte es wirklich genießen, weil wir viel zu aufgeregt waren. Ich hegte die stille Hoffnung, dass es am zukünftigen Abend anders laufen würde und der Alkohol meine soziale Unbeholfenheit etwas abschwächte. Nicht, dass ich auf Sex aus gewesen war. Nachdem ich um fünf Uhr wach war, die Toilette besucht habe und mich todmüde hab wieder ins Bett fallen lassen, träumte ich von Santa. Wie ich auf der Feier war und ihn gesucht habe, doch ihn nirgendwo fand. Erst, als Cindy (die ja doch eigentlich gar nicht kommen wollte/sollte) mir zusteckte, dass Santa nicht als Santa unterwegs war, bekam ich Panik. Er saß die ganze Zeit irgendwo am großen Tisch und sagte nichts. Doch wieso sagte er nichts? War es ein Spiel? Musste ich ihn erkennen? Also bin ich fast zu jedem einzelnen Gast hin und habe ihm tief in die Augen gesehen. Alle wollten irgendwie an meine Wäsche, doch ich wollte auf ihn warten. Niemand konnte mir sagen, wer er ist und wie er aussieht. Alle kannten ihn nur unter Santa. Und ich wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser, bis er schließlich hinter mir war – erneut als Weihnachtsmann. Ich war so froh, ihn wiederzusehen, dass ich mich sofort in seine Arme hab stürzen lassen und ihn küsste. Energisch. Voller Leidenschaft. Deine großen Hände wanderten über meinen Körper. Auf einmal waren wir nackt. Immer, wenn ich in dein Gesicht sehen wollte, drücktest du es wieder runter. Schließlich wolltest du, dass ich mich umdrehte. Also tat ich, wie von mir verlangt und streckte dir meinen nackten Hintern entgegen. Es war erotisch und doch gab es mir ein Gefühl von Verletzlichkeit. Ich war dir ausgeliefert – und ich wusste doch noch nicht einmal, wer du warst! Schließlich erwachte ich schweißgebadet und hatte den seltsamsten Ständer seit Langem. Ich war erregt und doch etwas panisch. Schließlich kroch ich aus dem Bett und huschte unter die Dusche. Ich hatte etwas verschlafen, aber das war nicht weiter tragisch. Immerhin war ich offiziell noch krank und nach Ethans Aussage sowieso vom Fall abgezogen. Also ließ ich mir genüsslich viel Zeit beim Masturbieren unter der Dusche. Gott sei Dank dachte ich dabei nicht an Santa. Ich hätte sonst meinen Willen zu Leben verloren, wenn ich von nun an anfangen würde, zum Weihnachtsmann zu masturbieren – jedenfalls redete ich mir das ein. Als ich ins Büro kam, überraschte mich Ethan mit einem strahlenden Gesicht. »Freya ist heute nicht im Büro! Was machen wir?« Wie ein kleines Kind hüpfte er auf und ab. Seine Laune war nur bedingt ansteckend, also behielt ich die Fassung. Besonders in Hinblick auf meine gequetschten Knochen und Muskeln, die dank Wolkow noch immer reichlich schmerzten. »Wir sind hier nicht bei Kevin allein zu Haus, Ethan. Wir machen gar nichts.« »Sicher?«, fragte er in der typischen Tonlage, die vermuten ließ, dass er etwas in Petto hatte, was er mir im richtigen Augenblick stecken würde. Ich drehte mich zu ihm um, bevor ich mich an den Schreibtisch setzen konnte. Seine gute Laune machte mich etwas nervös, doch er bekam mich genau da hin, wo er mich haben wollte. Neugierig hob ich beide Augenbrauen. »Sicher?«, wiederholte ich seine Aussage und wartete, ob er mich noch länger auf die Folter spannen oder mich in seinen kindischen Plan einweihen würde. Ethan grinste breit und griff sofort in seine Hosentasche, als hätte ihn dort eine Biene gestochen. Er holte ein kleines Stück Papier raus und übergab es mir breitwillig. »Hier!« Ich nahm es etwas angespannt an und faltete es auf, sodass ich lesen konnte, was draufstand. »Eine Adresse? Von was? Irina Iwanownas Aufenthalt?« »Nein«, seufzte Ethan sofort und verdrehte die Augen bis fast in den Hinterkopf. »Wir wollten doch keine Einsätze auf dem Feld mehr. Außerdem wir wissen auch gerade nicht, wo sie sich aufhält. Die Ermittlungen laufen noch.« Ich nickte etwas enttäuscht und wartete auf die Aufklärung, wessen Adresse es dann war. Als Ethan mich nur weiterhin breit angrinste, verlor ich etwas die Geduld. »Ethan«, ermahnte ich ihn. Sein kindlicher Charakter drosselte sich trotzdem nicht. »Die Kugelschreiberfabrik!«, lachte er aufgebracht. »Wo Irina Iwanowna gearbeitet hat! Ich habe herausgefunden, wo sie ist. Vielleicht können wir mal dorthin fahren und uns die Lage anschauen. Wenn wir unsere Marken ein bisschen rumwedeln, lässt man uns bestimmt mal rein. Eventuell gibt es ja Kollegen, die mehr wissen.« Ich zuckte mit den Mundwinkeln. Eine gute Sache. Aber… »Wie war das mit ‚keine Direkteinsätze mehr‘?« Mein Kollege hob die Schultern und steckte die Hände in die Hosentasche. »Wolkow und Co. werden sicherlich nicht dort sein. Wir sind also nur Besucher, die im Fall von Mrs. Iwanownas Verschwinden ermitteln. Ich denke nicht, dass wir in einer Kugelschreiberfabrik unter Beschuss geraten.« Dem konnte ich zwar nur bedingt zustimmen – denn man wusste ja nie. Da ich meine Waffe jedoch stets bei mir trug, sollte sie als Sicherheit für den Ausflug genug sein. Bis unter die Zähne bewaffnet in eine normale Kugelschreiberfabrik einzudringen unter dem Vorwand nach einer russischen Geisel zu suchen, würde auch meine Aufmerksamkeit erregen, wenn ich gerade im Untergrund zutun hätte. Und was wir gerade am wenigstens gebrauchen konnten, war erneute Aufmerksamkeit. Ich lächelte schließlich und steckte den Zettel in meine Jackentasche. »Nun gut«, sagte ich in einem freundlicheren Ton als zuvor und deutete mit einem Kopfnicken an, dass ich zum Ausgang gehen werde. »Begleitest du mich?« Ethan nickte enthusiastisch. »Auf jeden Fall!« Die Fabrik lag etwas abgelegen in einem Vorort. Rundherum kleine Häuschen und Wohnkomplexe, die vermutlich der Mittelschicht angehörten. Ein sehr ruhiger Ort. Selbst die Fabrik wirkte trotz ihrer lauten Maschinen von außen wie eine meditative Gebetsstätte. Erst, als man den Vorraum der Betriebshalle betrat, wurde es etwas ohrenbetäubend. »Hier werden die Mienen hergestellt«, schrie uns der Fabrikleiter an, der uns netterweise hereingelassen hatte. Zwar blickte er etwas skeptisch, aber als Irina Iwanownas Name fiel, wurde er extrem freundlich und bat uns herein. Zwar interessierte ich mich herzlich wenig, wie Kugelschreiber hergestellt wurden – billige noch dazu – aber es diente als gute Ablenkung. Denn Ethan war hellauf begeistert und nickte, wann immer der Leiter uns eine neue Maschine zeigte, die jetzt noch schneller und noch mehr Kugelschreiberteile herstellte. »Und wo genau hat Mrs. Iwanowna gearbeitet?«, unterbrach ich die Lobreden auf sein Unternehmen. Der bereits ältere Mann räusperte sich und duckte seinen Kopf ein Stück zwischen die Schultern, als würde er sich verstecken wollen. Er zeigte schweigend mit der Hand in eine Richtung, in der wir gehen sollten. Nur schleppend begleitete er uns. Wir durchquerten mehrere Fabriken, bis wir schließlich in einen großen Handwerksraum kamen, wo sehr viele Menschen an langen und breiten Tischen saßen. Vor ihnen mehrere kleine Häufchen von Teilen. »Hier hat sie gearbeitet. Bei der Montage der Kugelschreiber«, erklärte der Leiter und seufzte, als wäre ihr Verlust wirklich enorm tragisch für die Firma gewesen. Ethan sah sich neugierig um und begutachtete einen jungen Mann, wie er zügig die Kugelschreiber zusammensteckte. »Wirklich erstaunlich, dass die das so schnell können.« »Mit der Zeit kommt die Übung, nicht?«, lachte der alte Mann und steckte seine Hände in den Kittel seiner Arbeitskleidung. Nach näherer Begutachtung der Menschen erinnerte ich mich an Ethans Bericht über die behinderten Menschen. »Man sagte uns«, begann ich, während ich noch mit den Augen den Raum abfuhr, »dass hier Menschen mit Behinderungen arbeiten. Im Moment sehe ich niemanden. War das eine Fehlinformation?« Sowohl Ethan als auch der Leiter sahen mich entsetzt an. »Kyle«, ermahnte mich mein Kollege zu erst und schüttelte den Kopf. »So etwas kannst du doch nicht sagen.« »Wieso nicht?«, hakte ich mit hochgezogener Augenbraue nach. »Hier ist offensichtlich niemand behindert. Das sind ganz normale Arbeiter.« »Manchmal sieht man Menschen ihre Behinderung nicht an. Das ist unsensibel, Kyle«, argumentierte Ethan recht aufgeregt und tauschte nervöse Blicke mit dem Werksleiter. Der holte immer wieder tief Luft, als wäre ich ihm persönlich auf den Schlips getreten. »Also? Sind diese Menschen behindert oder nicht?«, fragte ich genervt nach, bemühte mich jedoch um einen ruhigen Ton, um nicht noch weitere Hasspredigten gegen meine unmoralischen Fragen heraufzubeschwören. »Wir hatten… Menschen mit Behinderungen in unserer Firma, ja. Ein kleiner Anteil, der sich um die Montage des höherwertigen Modells gekümmert hat.« »Aha?«, zeigte ich Interesse und kam einen Schritt auf ihn zu. Ein Mitarbeiter, den Ethan zuvor genauer beobachtet hatte, hörte uns offensichtlich zu. Sein Blick wanderte immer wieder zu uns hoch. »Ja«, bestätigte der Leiter mein interessiertes Aha. »Diese kleine Gruppierung ist aber heute nicht im Haus.« »Wie schade«, murmelte ich und presste meine Lippen aufeinander. »Und wann ist diese Gruppe zugegen? Dass man sie mal befragen könnte?« »Wieso wollen Sie unbedingt diese Arbeiter befragen? Mrs. Iwanowna hat nicht mit ihnen gearbeitet. Sie arbeitete hier.« Der Werksleiter wurde zunehmend nervös. Immer wieder fuhr er mit den Fingern über seinen etwas abgetragenen, goldenen Ring. Ich sah es durch die Kitteltasche. »Ach nein? Uns wurde gesagt, sie war für die Warenkontrolle zuständig. Hier wird soweit ich das sehe nur montiert. Wo ist also die Kontrolle?« Ethan warf mir immer wieder nervöse Blicke zu, in der Hoffnung, ich würde meinen Fauxpas, zu direkt zu sein, bemerken. Doch in dieser Welt gab es kein ‚zu direkt‘. Eine Frau war als Geisel bei russischen Gangstern und wurde vermutlich gefoltert, weil sie von irgendwelchen Codes weiß, die sie nicht hätte wissen dürfen. Der Werksleiter räusperte sich erneut und ging schließlich an ein paar Tischen vorbei, bis er mir einen leeren präsentierte. »Hier werden Stichproben entnommen und genauer untersucht. Wir können ja nicht alle kontrollieren. Das machen die Arbeiter in der Regel ja schon beim Zusammensetzen.« Der weiße Tisch war leergeräumt. Offensichtlich hatte man noch keinen Ersatz für Mrs. Iwanowna gefunden. »Wer macht jetzt die Kontrollen?« »Zurzeit… äh, niemand«, murmelte der ältere Herr, während er sich über die feuchte Stirn wischte. »Wäre das dann alles? Ich müsste wieder zurück an die Arbeit. Sie können sich gerne noch etwas umschauen, aber bitte fassen Sie nichts an und stören Sie keine Mitarbeiter.« Ohne auf eine Erlaubnis zu warten, stapfte er davon und verschwand zurück in den großen Betriebshallen, wo der Lärm deutlich zu hören war. »Kyle, man, du darfst nicht immer so eiskalt sein. Wir sind hier nicht beim Verhör. Der Mann weiß doch gar nicht, wer wir sind oder warum wir hier sind. Oder was auf dem Spiel steht.« »Ist ja auch vielleicht besser so für ihn«, schnaubte ich aus und ging langsam an den anderen Tischen vorbei. Alle arbeiteten ruhig vor sich hin. Manche hörten Musik, andere starrten einfach stur auf ihre Kugelschreiber. »Diese Fabrik stellt keine Luxuskugelschreiber her, trotzdem sprach er von hochwertigeren Stiften. Ich finde sie nirgends… Ethan?« »Nein, alles dieselben«, murmelte er und kratzte sich am Haaransatz. »Vielleicht machen die wirklich nur die … naja. Du weißt schon.« »Aber dann müssten hier doch trotzdem irgendwo Teile liegen! In einer Kiste, in einem Karton, irgendwo! Oder gibt es etwa noch einen Raum, wo montiert wird?« »Ja«, hörte ich auf einmal den jungen Mann vom Tisch sprechen. Er drehte sich in seinem Stuhl zu uns um und sah neugierig in unsere Richtung. Er war offensichtlich indischer Abstammung, denn so war auch sein Akzent. Trotzdem war er sehr bemüht deutlich zu sprechen. »Die anderen arbeiten immer im Lager. Irina hat sie manchmal beaufsichtigt, weil sie sie so mochte. Sie hatte ein Herz für die behinderten Menschen. Die anderen haben sie nicht gut behandelt.« Ethan und ich kamen langsam auf den jungen Mann zu. Seine Kollegen duckten sich immer weiter, als wäre es ihnen unangenehm mitanzusehen, wie einer von ihnen alles ausplauderte. Aber ich war froh darum, dass wenigstens einer hier den Mund aufbekam. Immerhin war eine Frau verschwunden – ging das denn sonst niemanden hier etwas an? »Mrs. Iwanowna hat also manchmal mit den anderen gearbeitet? Weiß der Leiter das?« Der junge Mann nickte. »Ja, er hat es toleriert. Aber vor einigen Tagen war dann alles vorbei.« »Was ist passiert?«, flüsterte ich ihm laut zu, da ich das Gefühl hatte, wir mussten diskret vorgehen. Der junge Mann riskierte sonst vielleicht nicht nur seinen Job. Er lehnte sich ein bisschen zu mir vor. »Diese Kugelschreiber… dürfen nur von den besonderen Menschen zusammengebaut werden. Niemand sonst darf sie anfassen oder sie sehen. Der Werksleiter hat Angst, dass sonst herumgepfuscht wird. Aber letzte Woche war ein behindertes Mädchen krank, sie fühlte sich nicht gut, also hat Irina sie beiseite genommen und sich auf ihren Platz gesetzt. Für ein paar Stunden hat sie dann also die Arbeit übernommen.« Ich hörte ihm gespannt zu. Hatte es also was mit den Kugelschreibern zu tun? Der junge Mann sprach zögernd weiter und sah sich immer wieder in der Montagehalle um. »Ich weiß das nur, weil…, weil ich dabei war. Wissen Sie, ich mochte Irina sehr.« Da nickte ich, um ihm zu zeigen, dass ich vollstes Verständnis für ein bisschen Stalking hatte. »Sie baute die Kugelschreiber zusammen, aber anstatt die Kugelschreibermienen aus der vorgesehenen Box zu nehmen, nahm sie ihre eigenen. Aus einer Tasche. Sie baute sie zusammen und warf sie alle in ein separates Kästchen.« Ethan schluckte deutlich hörbar. »Sie hat also gepfuscht?« Der junge Mann hob die Schultern. »Keine Ahnung, was sie da gemacht hat. Aber es wirkte sehr routiniert. Als würde sie das öfter machen. Jedenfalls hat der Werkstattsleiter davon etwas mitbekommen und sie dem Chef gemeldet. Seitdem ist sie nicht mehr gekommen. Und die Kugelschreiber waren auch verschwunden. Und die behinderten Menschen kamen seither auch nicht mehr.« Die Informationen sackten langsam in meinen Magen, wo sie ein ungutes Gefühl verbreiteten. Noch ehe ich dem Mann Fragen stellen konnte, kam der Leiter zurück und pflaumte uns an, dass wir verschwinden sollten, wenn wir die Arbeiter stören würden. Gute Arbeitsverhältnisse waren das jedenfalls nicht. Als Ethan und ich wieder im Büro ankamen, hielt ich ihn am Ärmel fest und deutete ihm an, dass wir noch etwas im Auto sitzen bleiben sollten. Er schloss seine Tür und sah mich mit großen Augen an. »Das ist alles viel zu ungenau«, begann ich. »Mrs. Iwanowna arbeitet in einer Kugelschreiberfabrik in der Warenkontrolle. Alle ihre Kollegen, deren Akten damals auf meinen Schreibtisch fanden, waren Menschen mit Behinderungen. Von den normalen Mitarbeitern war nie die Rede. Und dass Mrs. Iwanownas Stelle so lange unbesetzt bleibt, zeigt doch eigentlich, dass sie diesen Job nicht dauerhaft gemacht hat.« »Du meinst die Kontrolle?«, hakte Ethan nach und hing mir an den Lippen, während ich resümierte. »Ja. Eigentlich arbeitete sie mit den anderen Menschen zusammen. Das war ihre Hauptaufgabe. Und Freya musste das gewusst haben, sonst hätte sie mir nicht so genau alle Akten der eingeschränkten Menschen gegeben.« »Nenn sie nicht so«, murmelte Ethan dazwischen. »Nenn sie doch einfach… Menschen mit Behinderungen.« Ich verdrehte die Augen. Dafür hatten wir jetzt keine Zeit und ich keinen Nerv. »Ist doch egal. Du weißt, wen ich meine. Jedenfalls hat Freya von ihrer besonderen Aufgabe gewusst. Und dass sie spezielle Kugelschreiber zusammenbaute.« »Aber warum wollen die Russen unbedingt sie? Wegen der Kugelschreiber?« Ich starrte auf das Lenkrad vor mir. »Du sagtest, sie habe Codes bekommen. Codes, die sie eigentlich hätte nicht erfahren dürfen.« »Ja, das war das, was ich von Freya mitgehört hatte.« Und dann klingelte es in meinem Kopf. Kugelschreiber waren ein tolles Versteck, nicht wahr? »Was, wenn die Codes in den Kugelschreibern waren?« Ethan sah mich mit großen Augen an. »In den Kugelschreibern?« »Ja, in der Miene, in der Hülle, wo auch immer! Irgendwelche wichtigen Codes wurden in dieser Fabrik von A nach B befördert. Und Irina Iwanowna hat sich darum gekümmert.« »Du meinst also, sie steckte mitten drin?« Ich trommelte auf meinem Knie. »Sie haben behinderte Menschen genommen, weil die niemals diese Codes hätten herausfinden können. Sie konnten Kugelschreiber zusammenbauen, aber keine Codes entziffern. Sie waren also keine Gefahr. Irina hingegen war eine. Sie hat die Codes bekommen und sie sich vermutlich aufgeschrieben. Letztendlich haben die Russen davon spitz bekommen.« »Wieso sollte die Regierung denn Codes durch Kugelschreiber verteilen? Wäre das nicht super unsicher?« Ich zuckte mit den Schultern und griff nach meinem Handy. »Vielleicht waren es auch keine Codes. Sondern Nachrichten. Während des Krieges hat man so manchmal wichtige Dokumente überbracht, weil man der Post nicht mehr traute. Irgendwo hat es einen Maulwurf gegeben, also versuchte man es über diesen Weg. Irina Iwanowna wurde dann darin verwickelt.« Ethan sah mich auf dem Handy tippen. Ich notierte unsere Erkenntnisse, um einen Überblick zu bekommen. Da kräuselte sich seine Stirn. »Glaubst du Mrs. Iwanowna ist da zufällig reingeraten?« Ich sah auf. »Nein, nicht unbedingt. Sie wurde vielleicht eingespannt. Immerhin hat ihr Kollege uns erzählt, dass sie wissentlich in eine andere Schachtel gegriffen und die Kugelschreiber anders sortiert hat.« »Die Regierung… hat also eine Kugelschreiberfabrik und stellt dort Billigkugelschreiber her. Aber in einem kleinen Kämmerchen stellen sie mit Hilfe von behinderten Menschen hochwertigere Kugelschreiber in geringer Stückzahl her, die insgeheim aber Codes von was auch immer tragen. Und um das Ganze zu beaufsichtigen, haben sie Irina Iwanowna eingestellt, die zur Deckung hin und wieder die Kontrollen übernahm, die es aber offiziell gar nicht gab.« »Du siehst nicht überzeugt aus«, stellte ich fest und presste meine Lippen zusammen. »Bin ich auch nicht«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Das klingt irgendwie zu absurd. Sicher, es hat was mit den Kugelschreibern zu tun, aber… die britische Regierung würde niemals eine so wichtige Aufgabe in die Hände von behinderten Menschen und einer Russin geben.« »Vorsicht«, mahnte ich Ethan und spürte meine Mundwinkel zucken. »Jetzt wirst du rassistisch.« Schnell ruderte er zurück und fuhr sich durch sein dichtes Haar. »Du weißt, was ich meine, Kyle! Mrs. Iwanowna soll für die Regierung gearbeitet haben? Wieso sagt Freya uns das dann nicht? Dann würde diese ganze Aktion doch auch einen ganz anderen Stellenwert in unserer Abteilung bekommen. Im Moment arbeiten nur wir beide dran. Und Freya. Das war’s! So wichtige Codes können es doch dann gar nicht gewesen sein.« Ethan warf da ein paar interessante Fakten auf. »Freya ist nicht ehrlich zu uns, das hast du ja selbst schon gesehen. Sie sagt uns nicht alles und das hat einen Grund. Welchen müssen wir noch herausfinden.« Ich rückte ein Stück näher zu Ethan, der sich ebenfalls zu mir herüber beugte. »Behalte das, was wir heute herausgefunden haben, vorerst für dich, okay?«, bat ich ihn. »Es ist nicht so, dass ich Freya nicht Bericht erstatten will, aber ich habe das Gefühl, da stimmt noch etwas nicht ganz. Und bevor wir nicht wissen, was da vor sich geht, recherchieren wir lieber für uns alleine, okay?« Ich sah Ethan an, dass er von der Idee der Geheimhaltung eher nicht so überzeugt war. Trotzdem nickte er schließlich und stimmte zu. »Okay, Kyle. Ich sag nichts. Wir waren heute in der Fabrik, haben aber nicht wirklich was gefunden, weil der Leiter uns nur rumgeführt hat und wir zwar jetzt wissen, wie man Kugelschreiber herstellt, aber das Essentielle nicht gefallen ist.« »Danke, Ethan«, war ich um ein aufrichtiges Lächeln bemüht. Um herauszufinden, wo Mrs. Iwanowna war, mussten wir erst einmal den Grund für ihr Verschwinden finden. Denn das schien das größte Mysterium zu sein: Wer will eigentlich was von Mrs. Iwanowna? Kapitel 9: Feier ---------------- Der Tag endete dann recht fix. Ethan und ich taten so, als wären wir im absoluten Unwissen über alles. Noch immer ließ man mich nicht zum Gefangenen und Freya schrieb nur eine kryptische Email, dass wir uns bald mal wieder für ein Gespräch bei ihr melden sollten. Das hätte alles bedeuten können. Alles und nichts. Mrs. Iwanownas Kollegen bereiteten mir Kopfschmerzen, als ich die Akten noch einmal durchging. Da waren viele mit geistigen Behinderungen dabei, die mir vermutlich nicht sagen konnten, wer Irina Iwanowna überhaupt war. Diese Art von Arbeit war billig und ‚gutmütig‘ wie es so schön hieß, denn man bot den armen Menschen eine Stelle an, sodass sie vom sozialen Leben nicht gänzlich abgeschnitten waren. Keiner dieser Kollegen war auch lange Zeit dort. Manche nur ein paar Tage, andere vielleicht ein paar Wochen. Auf der Homepage der Fabrik bewarben sie die Arbeit mit Behinderten recht groß, weswegen ich mich damals schon gewundert hatte, wieso Mrs. Iwanowna da überhaupt arbeitete. Doch jetzt verdichtete sich der Nebel noch mehr: Geheimcodes über Kugelschreiber? Mrs. Iwanowna drin verwickelt oder nicht? Und was wollen die Russen von ihr? Eine kleine Stimme in meinem Kopf fragte sich auch, wem die Codes gehörten: Den Russen oder der britischen Regierung. Meine Gedanken lenkten mich für einige Stunden haben, bis ich auf die Uhr schielte und panisch feststellen musste, dass es schon bald soweit war. Mein geheimes-nicht geheimes Date mit dem Weihnachtsmann. »Mit wem?«, fragte Ethan verwundert nach, als ich hektisch aufsprang und meine Tasche packte. »Ich geh auf die Weihnachtsfeier und treffe mich da… mit einem Kollegen.« »Oh wow«, pfiff mein Kollege erstaunt. »Ich dachte diese Cindy war die einzige, die dich interessierte?« Da hielt ich inne und runzelte die Stirn. »Cindy ist nett, aber ich habe kein Interesse an ihr. Sie war nur ein paar Mal bei mir und wir haben Wein getrunken, während ich mir ihre langweiligen Storys über ihre Weiber anhören durfte.« »Wie furchtbar«, kicherte Ethan und sah mir dabei zu, wie ich mich in meinen Mantel quetschte. »Und heute? Der Kollege? Hast du an ihm Interesse? Du weißt, wie die Regeln hier sind. One-Night-Stands sind ok. Alles, was fester wird, solltest du melden.« »Ja, ja«, raunte ich und verließ schließlich meinen Arbeitsplatz. Wir wünschten uns noch einen heuchlerisch schönen Abend, als ich dann endlich das Gebäude verließ und mit heißen Reifen nach Hause fuhr. Dort angekommen stand ich peinliche 45 Minuten vor meinem Kleiderschrank und suchte nach angemessener Kleidung. Nicht zu aufgesetzt. Nicht zu wenig. Schön, aber nicht zu schön. Ich wurde fast verrückt. Eigentlich wollte ich mit dem Auto fahren, doch dann fiel mir ein, dass wir uns ja betrinken wollten. Also rief ich mir ein Taxi und ließ mich zum Center fahren. Das Parkhaus war auch sehr leer, also ging ich davon aus, dass die Idee, sich zu besaufen, mehrere hatten. Denn innen war alles beleuchtet und man hörte auch schon einige Kollegen laut lachen, die draußen waren, um eine zu Rauchen. Und dort stand auch er. Santa. Er war tatsächlich als Weihnachtsmann verkleidet, trug aber nicht seine übliche rote Hose und die rote Weste mit der roten Jacke, sondern einen schönen Anzug mit weihnachtlicher Krawatte. Nur seine rote Mütze, der Bart und das weiße Haar deuteten darauf hin, dass er eigentlich der Weihnachtsmann sein sollte. Oh und die roten Schuhe. Rote Lackschuhe. Sehr interessant, dachte ich. Passte irgendwie zu der Extravaganz, die er mit seinen vielen Ringen bereits gezeigt hatte. Er stand legere mit Zigarette in der Hand neben einer kleinen Gruppe Menschen, die sich nett unterhielt. Er lachte hier und da mit, hörte aber hauptsächlich nur zu. Ich wurde auf einmal wahnsinnig nervös und blieb einige Meter vom Eingang entfernt stehen. Sollte ich Hallo sagen? Sollte ich reingehen? War das überhaupt ein Date? Nein, natürlich nicht. Aber … er wollte, dass ich komme, oder? Vielleicht hatte er auch einfach nur so nett gefragt? Noch ehe ich mich dazu entscheiden konnte wieder zurück zum Taxi zu gehen, erblickte mich eine andere Kollegin, die bei uns immer im anderen Stockwerk arbeitete. Cindy wüsste jetzt sicher ihren Namen, ich hatte ihn natürlich schon wieder vergessen. »Mr. Lewis!«, rief sie mir zu und winkte mich zu ihr. Die anderen in ihrer Gruppe drehten sich zu mir um. Und natürlich Santa. »Sie sind heute da? Ich bin ganz überrascht!« Sie war schon etwas älter. Eigentlich eine sehr liebe Dame, die etwas mehr Geld zu ihrer baldigen Rente wollte, um ihre Enkelkinder regelmäßig besuchen zu können, die irgendwo anders, nur nicht in London wohnten. Sie winkte mich energisch zu sich rüber. Nur schwermütig konnte ich mich in Bewegung setzen. »Mr. Lewis, schön, dass Sie da sind!« »Mhm«, brummte ich und presste die Lippen aufeinander. »Was hat Sie umgestimmt heute zu kommen? Letzte Woche sagten Sie noch, Sie wären nicht interessiert.« Ah, vielen Dank, liebe Kollegin. Ich war keine fünf Minuten da und schon sollte ich mich vor dem Weihnachtsmann blamieren, in dem ich zugeben musste, dass es nur wegen ihm war. »Oh, das ist vielleicht auf meinem Mist gewachsen«, lachte er dunkel auf, noch bevor ich etwas erwidern konnte. Meine Kollegin und ein paar andere Damen formten sofort ein interessiertes O mit ihren Lippen. »Ich habe ihn überredet zu kommen. Wir wollten noch eine Runde Glühwein trinken.« Er spielte mit offenen Karten, wie nett. Die anderen nickten amüsiert, als hätten sie schon einiges intus. Dabei war ich nur eine halbe Stunde zu spät. Genüsslich zog er an seiner Zigarette. Sein angeklebter Bart wackelte dabei interessant im Wind, wann immer er die Lippen spitzte. Er beobachtete mich, wie ich ihn beobachtete, bis er schließlich grinste und mir seine Schachtel Zigaretten hinhielt. »Wollen Sie auch eine?« »Oh, nein, vielen Dank. Ich rauche nicht«, lächelte ich zögerlich und schüttelte den Kopf. »Aber danke.« Santa nickte und steckt die Packung schnell wieder weg. Durch das Tratschen der anderen Damen fiel es mir zunehmend schwerer ein Gespräch mit ihm anzufangen. Ich war einfach sozial unbegabt. Irgendwann, nachdem ich mich einfach für mehrere Minuten still dazugestellt hatte, während die anderen rauchten, ging die Gruppe wieder rein. Ich folgte wie ein braver Dackel, sagte aber nichts. Santa hielt mir mehrmals die Tür auf, nahm dann sogar meine Jacke ab und hing sie zu den anderen. Im Erdgeschoss hatte das Center dann die großen Bierbänke beieinander gestellt, sodass eigentlich fast jeder Platz hatte. Inmitten der weihnachtlichen Deko und ohne die ganzen nervigen Besucher hatte das ganze sogar irgendwie seinen Charme, musste ich gestehen. »Kann ich Ihnen dann schon einen Glühwein holen oder möchten Sie erst etwas essen?«, fragte mich Santa, als wir uns gerade an einen freien Platz bei den Bierbänken setzen wollten. Ich hielt sofort inne und lächelte zögernd zu ihm auf. »Ein Glühwein wäre toll«, sagte ich leise, obwohl ich genau wusste, dass ich vielleicht erst etwas Essen sollte. Bis auf ein Sandwich am Nachmittag mit Ethan hatte ich nichts. Doch Santa verschwand schnell und kam auch ebenso schnell wieder mit den zwei Tassen. Alle um uns herum waren sich am unterhalten. Viele lachten laut, andere hatten einfach eine laute Stimme. Generell war es schwierig das eigene Wort zu verstehen, da im Hintergrund sogar weihnachtliche Musik durch die Lautsprecher tönte. »Ich war noch nie auf so einer Feier, muss ich gestehen«, sagte ich kleinlaut und sah mich schüchtern um. »Ist eigentlich nicht so meins.« »Dann freue ich mich umso mehr, dass Sie trotzdem hier sind«, antwortete Santa in mein Ohr, damit ich ihn verstehen konnte. Doch so nah hätte er nicht kommen brauchen – so laut war es nicht. Er tat es trotzdem. Sein Atem lag förmlich auf meiner Haut. Und noch bevor ich es genießen konnte, vom Weihnachtsmann verführt zu werden, kam mein Chef auf uns zu. Er redete wie ein Wasserfall und hatte offensichtlich schon einiges intus. Er quatschte sogar Santa voll, der ihm geduldig zuhörte. An seinem Mundzucken und dem regelmäßigen Blickwechsel zu mir, konnte ich jedoch erahnen, dass er sich auch wünschte, mein Chef würde bald wieder gehen. Nach einer gefühlt ewigen Ansprache unseres Centerleiters, in der ich zwischendurch kleine Häppchen für Santa und mich geholt hatte, trank ich meinen zweiten Glühwein aus. »Wollen Sie noch einen?«, fragte Santa sofort und hatte meine Tasse schon in der Hand. »Oh, puh«, seufzte ich und lachte verlegen. »Ich vertrage nicht so viel Alkohol. Vielleicht sollte ich eine kurze Pause einlegen.« Natürlich bekam das meine ältere Kollegin mit, die an unseren Tisch saß, und raunte mich sofort von der Seite an. »Mr. Lewis! Trinken Sie! Es ist kostenlos! Und wenn der Weihnachtsmann Ihnen noch einen Drink holt, lehnt man das doch nicht ab!« Dabei zwinkerte sie wie alte Damen es eben gerne taten und hinterließ bei mir ein unangenehmes, peinliches Gefühl. Stand sie etwa auch auf ihn? Sie hätte seine Mutter sein können, wäre einiges schief gelaufen. Wobei ich mir auch nicht ganz sicher war, wie viele Jahre er nun tatsächlich auf dem Buckel hatte. Er hätte alles sein können. Mit der Verkleidung war das schwer einzuschätzen. Als er wiederkam und uns neue Tassen mit Glühwein brachte, stießen wir an und tranken einen großen Schluck. Da war wieder Rum drin. Wollte er mich abfüllen? »Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte ich wie aus dem Nichts und versuchte ein Gespräch anzufangen, was nicht sofort wieder unterbrochen werden würde. Santa lachte und zeigte mir dabei seine kleinen Lachfalten um die Augen. »Was denken Sie?« »Oh nein«, lachte ich und winkte ab, als wäre ich ein kleines Mädchen, das sich für ein Kompliment schämte. »In solchen Ratespielen bin ich ganz, ganz schlecht.« »Wirklich? Dann helfe ich Ihnen: Ich bin mit Sicherheit älter als Sie.« »Sie kennen mein Alter?«, hakte ich amüsiert nach und klammerte mich an meine Tasse. »Nein, aber ich würde Sie auf ein Alter schätzen, was definitiv unter meinem liegt.« »Lassen Sie hören«, forderte ich ihn auf und spürte den Alkohol in meinen Wangen pochen. »34.« Ich lachte sofort auf. Mein Chef und meine Kollegin drehten sich bei dem ungewohnten Laut neugierig um. »Sie sind gut«, kicherte ich und biss mir auf die Unterlippe. »Ich bin 33. Aber bald 34.« »Sehen Sie«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Ich bin wesentlich älter als Sie.« Ich formte meine Augen zu Schlitzen. Ich hasste eigentlich das Spiel ‚Rate wie alt ich bin‘, weil es immer unangenehm war. Entweder man schätzte zu jung, dann waren die Leute entweder empört (‚Ich bin doch kein Küken!“) oder geschmeichelt (‚Oh vielen Dank!‘), oder man schätzte zu alt, dann waren die Leute meistens eher empört (‚Sehe ich etwa schon so alt aus?‘). Am besten fuhr man also mit zu jung, doch was war zu jung? Es musste glaubwürdig erscheinen, zu jung durfte man also auch nicht schätzen. Wenn er sagte, dass er älter als ich war – und zwar wesentlich älter – dann … »Über 40?«, hakte ich nach und bereitete mich schon einmal darauf vor, den Abend alleine zu verbringen. Doch Santa lachte leise. »Sehr gut«, sagte er und stoß mit meiner Tasse an. »Punktlandung. Ich bin 40.« Ich grinste breit – so breit, dass meine Lippe wieder schmerzte und ich etwas im Gesicht zuckte. Santas Lächeln verschwand für einige Sekunden, als er mein schmerzverzerrtes Gesicht sah. »Sie sind doch niemals 40, junger Mann«, tönte die Stimme meiner Kollegin. Eine andere Frau, vermutlich eine Freundin von ihr im selben Alter, stimmte ihr zu. »Sie sehen viel jünger aus!« Oh, diese Heuchler. Man sah ungefähr gar nichts von ihm. Weder sein Gesicht noch seinen Körper. Überall war er verkleidet und das als alter Mann – wie kann man da jünger aussehen?! Doch Santa reagierte wie immer sehr höflich und bedankte sich einfach. Er haute sogar noch einen unglaublich schlechten Spruch über ‚Sie könnten doch auch meine Schwestern sein‘ raus, sodass die beiden Omis wie wild kicherten. Er war also auch noch der perfekte Schwiegersohn, so viel stand fest. Tatsächlich verlief der Abend trotz der peinlichen Zwischenrufe sonst sehr gut. Ich unterhielt mich hier und da sogar mal mit anderen Kollegen, doch hauptsächlich blieben meine Augen auf Santa. Seine braunen Augen suchten immer wieder meine und wir redeten über Gott und die Welt. Über Länder, Kleidung, die Arbeit im Center und grundsätzliche Einstellungen. Er war so anders und mir doch so ähnlich. In vielen Punkten wirkte er grob, etwas dümmlich. Doch dann zeigte sich seine enorme Intelligenz an anderen Punkten. Er war ein sehr empathischer Mensch. Das, was mir fehlte, hatte er wohl umso mehr abbekommen. Seine Sicht auf die Menschen war enorm. Als ich ihm erzählte, was ich alles für Ausbildungen hatte, war er immens überrascht. Er unterhielt sich dann mit mir über die Psychologie, teilweise über Forschungsarbeiten und schließlich spürte ich, wie wir irgendwann über alte Gemälde und deren Wirkung in der damaligen Zeit sprachen. »Sie sind ein sehr gebildeter Mensch«, sagte Santa irgendwann. Seine Stimme war noch immer recht stabil, als hätte er vielleicht ein Bier getrunken, aber mehr nicht. Ich dagegen lallte wie jeder andere im Raum. »Sie aber auch«, druckste ich rum. »Selten, dass jemand so viele Dinge mit mir teilt.« »Sie wären überrascht«, säuselte er und drehte sich noch ein Stück zu mir. Auf der Bierbank berührten sich unsere Beine schon seit Minuten. Die Wärme, die von ihm ausging, sprang förmlich zu mir herüber. Meine Wangen pochten, die Welt wankte etwas und mein Blick fixierte sich jede Minute erneut auf seinen Mund. Oh nein, dachte ich, das kann ich nicht bringen. Nicht vor versammelter Mannschaft. »Wieso sind Sie noch so nüchtern?«, lachte ich und griff nach seiner Tasse, die so wie meine noch halbvoll war. »Schenken Sie nur mir Alkohol ein und trinken stattdessen Kinderpunsch?« Santa lachte sein dunkles Lachen und schüttelte den Kopf. »Nicht doch. Ich bin vermutlich einfach mehr Alkohol gewöhnt. Und ich habe vorhin gut gegessen. Ich schätze mal, da wird der Unterschied liegen.« »Sie trinken also gerne?«, kicherte ich und merkte erst im Nachhinein, dass es so klingen könnte, als wollte ich gerade seine Alkoholsucht untersuchen. »Manchmal«, gab er jedoch ungeniert zu und zwinkerte. »Allerdings trinke ich viel lieber Schnäpse oder Liköre. Weine sind eher nichts für mich.« »Wie schade«, murmelte ich und trank von seiner Tasse, als wäre es meine. »Ich dachte, ich könnte Sie bei Gelegenheit auf ein Glas Wein einladen.« Noch bevor ich merken konnte, was ich da gerade gesagt hatte, lächelte Santa. Es war ein seltsames Lächeln. Vielleicht waren meine Sinne benebelt, aber ich fühlte mich auf einmal in seinem Blick gefangen. Er war das Raubtier. Ich war seine Beute. »Für Sie mache ich gerne eine Ausnahme«, war dann schließlich seine Antwort und ich sog harsch Luft durch meine Nase. Ich nickte. Und nickte erneut. Kein Wort kam aus mir heraus. Hatte ich mir gerade ein Date mit dem Weihnachtsmann klar gemacht? Also so ein richtiges Date? Wow. Wenn er zu mir in die Wohnung für ein Glas Wein kommen würde, war doch klar, wohin es führen würde. Und die Vorstellung mit ihm… »E-Entschuldigen Sie mich, ich muss… muss kurz auf Toilette«, sagte ich hastig und stand auf. Dabei riss ich fast beide Tassen mit und stolperte über die Bierbank. Seine großen Hände hielten mich dabei an der Hüfte feste und stabilisierten mich. Zittrig griff ich nach seinen Schultern und stieg aus der Bierbank. Santa lächelte noch immer sein mysteriöses Lächeln und beobachtete mich, wie ich schließlich Richtung Toiletten ging. Diese waren nicht weit weg, aber wie es in Centern üblich ist, nicht unbedingt leicht erreichbar. Einige Weiber kamen mir fröhlich schnatternd entgegen, bevor ich in den Gang einbog, wo es zum Männerklo ging. Dort angekommen, spritzte ich mir sofort kaltes Wasser ins Gesicht und seufzte laut auf. Kein guter Zeitpunkt für einen Ständer. Absolut unpassend. Nach mehreren Minuten, in denen ich versuchte mich zu beruhigen, verließ ich die Toilette dann wieder. Ich wankte ganz schön und mein Puls war noch immer beschleunigt. Der Weihnachtsmann machte mich ganz schön verrückt. So etwas passierte mir sonst nicht. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich nicht wirklich wusste, wer er war. Oder dass er von allen angehimmelt wurde, doch er anscheinend nur Augen für mich hatte. Das gab mir ein gutes Gefühl. Das Gefühl, dass ich wichtig war. Als ich mich wieder zu ihm setzte, griff er erneut nach meiner Hüfte und führte mich auf die Bank. Ich ließ es geschehen und warf ihm sogar ein Lächeln zu, auf das ich enorm stolz war. Alle anderen um uns herum waren so betrunken wie ich, sodass ich mit allen sprach, ohne es wirklich mitzubekommen. Mit einer Dame unterhielt ich mich über Kinder, mit einem anderen Kerl über Männerpflege und ein anderer wollte von mir wissen, wie ich die Arbeit hier finde. Santa derweil saß wie nüchtern neben mir und hörte gespannt zu, wann immer er in kein Gespräch gebunden war. Irgendwann stand er auf, scharrte seine Engelchen um sich, die anscheinend auch da waren, und hielt eine kleine Rede am Mikrofon der kleinen Bühne am Tannenbaum. Ich hörte nicht wirklich zu, sondern fixierte mich voll und ganz auf seinen Körper. Wie er den Mund bewegte und wie seine Hände in der Luft wedelten und dass dieser Mund und diese Hände an mir Dinge tun könnten, die ich sonst niemanden hätte tun lassen. Nach einem sehnsüchtigen Seufzen von meiner Seite, klatschten auf einmal alle. Santa ging von der Bühne, die Engel folgten ihm. Schließlich verteilte er kleine Geschenke. Jeder bekam dasselbe. Ich vermutete, dass es eine kleine Aufmerksamkeit des Centers war. Einige packten sofort aus und es war tatsächlich ein kleines Glas Marmelade und ein Stück Seife oben drauf. Sehr süß, dachte ich. Schließlich kam Santa zu unserem Tisch und verteilte die kleinen Geschenke. Als er bei mir ankam, stand er dicht hinter mir, stellte das quadratisch Päckchen vor mir auf den Tisch und kam mir nahe. Sehr nahe. So nahe, dass ich seine Nase in meinem Nacken spürte. Der Bart kitzelte an meinem Hals. »Für Sie, Mr. Lewis«, brummte er in mein Ohr. Oh, ja. Vielleicht werde ich heute doch noch Sex haben, dachte ich. Jedenfalls hatte ich die Entscheidung bereits getroffen, dass ich sofort mitgehen würde, sollte er mich fragen. Später kam er wieder zu mir, nachdem er noch eine rauchen war. Er setzte sich neben mich und unterhielt sich mit anderen, ohne dabei meine Nähe zu verlassen. Schließlich, gegen Ende des Abends, legte er seine große, warme Hand auf meinen Oberschenkel. Gott, dachte ich, das ist so intim. Dabei war es die wohl oberflächlichste Gestik der Zugehörigkeit, die man nach dem Händchenhalten machen konnte. Noch bevor seine Hand immer weiter höher rutschen konnte – und ich hätte ihn nicht aufgehalten – wurde der Abend auf einmal beendet. Die meisten Leute gingen, als sie merkten, wie spät es bereits geworden war. Viele mussten am nächsten Tag wieder arbeiten. So wie auch ich. »Es ist ja schon halb zwei…«, murmelte ich enttäuscht und lehnte mich noch ein Stückchen näher zu Santa. Seine Hand blieb wo sie war. Sein Daumen kreiste über meine schwarze Jeans. Der Bart blieb etwas in meinen Haaren hängen. »Sie müssen morgen auch arbeiten, oder?«, fragte er ruhig und legte schließlich sein Kinn auf meinem Kopf ab, während ich auf meinem Handy nach der Taxi App suchte. »Ja, leider. Sie auch?« »Nein, ich habe morgen mal frei.« »Oh, wie praktisch. Dann können Sie ausschlafen. Schlafen Sie für mich mit«, lachte ich sichtlich angetrunken und orderte mir schließlich ein Taxi. Die Hoffnung, ich könnte vielleicht doch noch mit ihm mit, sank dann nach jeder Minute, in der er nicht fragte. Aber ich redete mir ein, dass es auch viel zu schnell gehen würde. Wir kannten uns ja auch erst seit einer Woche. Und da nicht mal regelmäßig, bis auf ein paar Blicke und Worte. Doch der Abend machte mir Hoffnung, dass wir uns tatsächlich irgendwann näher kommen würden. Schließlich gingen wir beide dann auch nach draußen, wo ich auf mein Taxi wartete. »Soll ich sie ein Stück mitnehmen?«, fragte ich und deutete auf das einfahrende Auto. »Wo wohnen Sie denn?« Er blinzelte einige Male zum Auto, dann zu mir. Andere Kollegen verabschiedeten sich von uns, schrien und grölten, während sie in die Taxen stiegen. »Richtung Charlton«, antwortete er schließlich. »Sehr gut, dann nehme ich Sie ein Stück mit. Ich muss in dieselbe Richtung, nur noch ein Stückchen weiter«, verkündete ich fröhlich, auch wenn es nicht ganz stimmte. Es war ein kleiner Umweg, aber ich war betrunken und ich wollte ihn noch ein bisschen länger bei mir haben. Das waren mir die paar Pfund mehr, die es kosten würde, wert. Santa war sich wohl noch einige Sekunden lang unschlüssig, ob er mitfahren sollte, oder nicht, da er wie in Stein still dastand und sich nicht bewegte. Das Taxi fuhr derweil auf den Parkplatz des Centers und hielt an. Ich sah ihn mit großen Augen an. »Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen. Ich dachte nur, ich … kann Sie ja auch noch ein Stück mitnehmen, wenn wir doch… sowieso in dieselbe Richtung müssen.« Sein langer schwarzer Mantel, dessen Kragen er hochgestellt hatte, ließ ihn noch größer wirken, als sonst. Seine große Statue, die langen Beine und die breiten Schultern ließen ihn fast schon etwas bedrohlich im faden Licht des Centers wirken. Besonders, weil er keine Mimik verzog. Ganz im Gegenteil: es bildeten sich Fältchen auf der Stirn. »Sie müssen nicht«, wiederholte ich und kam auf ihn zu. »Kommen Sie dann bitte gut nach Hause. Es war ein wirklich schöner Abend. Vielen Dank.« Damit nahm ich all meinen Mut zusammen, griff nach seinem Ärmel, zog mich ein Stückchen hoch, stellte mich auf Zehenspitzen und küsste ihn liebevoll auf die Wange. Mein Atem wurde zittrig und ich ließ so schnell wieder los, dass ich ihm gar keine Chance gab, darauf zu reagieren. Schnell drehte ich mich wieder um und stampfte zum Taxi. »Mr. Lewis«, hörte ich seine Stimme. Eigentlich wollte ich nicht stehen bleiben. Die Angst auf eine Abfuhr lähmte mich irgendwie trotzdem, sodass ich vor dem Taxi innehielt. »Vielleicht können Sie mich doch ein Stückchen mitnehmen? Nur ein paar Straßen«, erklärte er sanft und ich spürte erneut seinen Atem auf meiner Haut. Er stand direkt hinter mir und öffnete die Tür für mich. Ich lächelte so gut ich mit meiner Nervosität konnte und stieg in den Wagen. Santa folgte mir auf die Rückbank kurz nachdem ich durchgerutscht war. Er nannte dem Fahrer eine Straße, die ich nicht kannte. Mit zittrigen Fingern schnallte ich mich an, als der Wagen losfuhr. Der Taxifahrer hörte irgendeine seltsame Musik im Radio, die aber nicht zu laut oder zu leise war. Sie war genau richtig für das, was in meinem Kopf schwebte und Santa tatsächlich durchführte. Er beugte sich zu mir, rutschte auf den mittleren Sitz und legte einen Arm um mich. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie ich seine Lippen an meinen spürte. Vorsichtig, dann immer hungriger pressten wir uns aneinander. Seine warme Haut fühlte sich enorm gut unter meinen kalten Händen an, die bereits in seinem Nacken lagen. Der Duft seines Parfüms oder Aftershaves kroch erneut in meine Nase. Seine Lippen waren etwas rau, aber das konnte auch der Bart gewesen sein. Die Plastikhaare waren unangenehm auf der Haut. Aber als seine Zunge in meinen Mund glitt, konnte ich mich auf nichts anderes mehr fixieren, als das leidenschaftliche Gefühl, was in mir wuchs und schnell zur Gier wurde. Gier nach mehr. Ich presste mich während unserer leidenschaftlichen Küsse immer weiter an ihn. Seine Hände wanderten über meinen Rücken, streichelten über den dicken Stoff meiner Jacke. Sein Gewicht wurde zunehmend schwerer, je mehr ich im Sitz versank und je mehr er über mich kletterte. Der Gurt war im Weg, also schnallte ich mich mit einer etwas umständlichen Handbewegung ab. Schnell zischte er nach hinten, sodass ich mehr Bewegungsfreiraum hatte. »Ja«, hauchte ich in seine weißen Haare, während er meinen Nacken und Hals mit Küssen übersäte. Ich fuhr mit meinen Händen über seine Schultern und glitt an seinen Armen entlang. Er machte ein zischendes Geräusch, das ich nicht ganz einordnen konnte, fuhr jedoch fort und beglückte mich weiterhin mit seiner vielen Küsse. Schließlich begann ich mich gänzlich auf die Rücklehne zu legen, sodass er zwischen meine Beine rutschte. Oh Gott, würden wir wirklich in einem Taxi Sex haben? Doch ehe ich diese Frage für mich beantworten konnte, blieb der Wagen stehen. Rund zehn Minuten waren vergangen, seitdem wir eingestiegen waren. Das sah ich an der Uhr beim Fahrer. Der sagte nichts, blieb einfach stehen und räusperte sich verlegen. Santa sah sofort aus dem Fenster und schien die Gegend wieder zu erkennen. Sein Gesicht war wie immer: ruhig, gelassen. Etwas gebräunt, keine Anzeichen von Röte. Bis auf seine Lippen, die im Laternenlicht mit etwas Speichel benetzt glitzerten, deutete nichts daraufhin, dass er mich gerade verführt hatte. »Ich muss hier aussteigen«, sagte er leise und beugte sich noch einmal zu mir vor, um mich intensiv zu küssen. Der Kuss artete erneut in einem leidenschaftlichen Zungenkuss, bis er sich tatsächlich von mir löste und dem Taxifahrer einen Schein in die Hand drückte. »Nein, nein, ich zahle das schon«, sagte ich hektisch und versuchte das Geld zu erhaschen. Doch ich war zu betrunken, also griff ich daneben. »Ich muss doch eh noch weiter!« »Schlafen Sie gut, Mr. Lewis«, sagte Santa stattdessen in seiner dunklen, beruhigenden Stimme. »Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen.« Mit einem letzten Lächeln stieg er schließlich aus und machte die Tür zu. Der Taxifahrer blieb stehen und wartete wohl, dass ich ihm sagte, wohin er fahren sollte. Murmelnd nannte ich ihm meine Adresse, sodass er vorsichtig losfuhr, während ich Santa dabei zusah, wie er die dunkle Straße entlang ging und schließlich hinter einer Ecke verschwand. Mein betrunkenes Gehirn dachte noch sehnsüchtig an die Knutscherei. Und meine Erektion tat es ebenso. Kapitel 10: Was nun? -------------------- Ich war heilfroh, dass Santa am Tag nach der Weihnachtsfeier frei hatte. Sein Stuhl war leer, das Schild mit den Uhrzeiten platziert und seine Engel streiften ohne ihn durch das Erdgeschoss. Ich wusste nämlich nicht, wie ich reagiert hätte, wären wir uns begegnet. Meine Erinnerung war nämlich lückenhaft. Natürlich erinnerte ich mich an das Flirten, die zweideutigen Bemerkungen und das anschließende, heiße, leidenschaftliche und wirklich ekstatische Rumgeknutsche auf der Rückbank des Taxis. Ich erinnerte mich aber leider auch an meine peinliche Erektion, dass ich mich breitwillig hab auf der Rückbank verführen lassen und dass ich sofort bereit war, mich in einem Taxi durchnehmen zu lassen. Ich erinnerte mich leider auch daran, dass er noch einige Straßen in der Dunkelheit entlang gehen musste, weil er das Taxi keinen zu großen Umweg fahren lassen wollte, und trotzdem die komplette Fahrt zu mir mit einem saftigen Trinkgeld gezahlt hatte, als er ausgestiegen war. Leider erinnerte ich mich nicht mehr so genau an seine Reaktion. Wie war sein Gesichtsausdruck? War er glücklich? War er genervt? Hatte er Spaß oder war das eine Mitleidstour? Wieso wollte er auf einmal so schnell aussteigen? Hatte ich etwas Falsches gemacht? War ich zu betrunken? Wollte er einfach nicht Gefahr laufen, meine Situation auszunutzen? Während ich apathisch hinter der Kasse stand und die Ware wie abwesend scannte, kam Cindy zu mir, um die Schlange etwas zu verkürzen. Als dann endlich die meisten Kunden weg waren und die Mittagszeit begann, in der sowieso weniger Kunden als üblich Luxusgegenstände einkaufte, kam sie zu mir rüber. »Hi, Kyle«, begann sie, »Heute mal wieder einer deiner schlechten Tage?« »Vermutlich«, murmelte ich und massierte meine rechte Schläfe. Die drei Aspirin am Morgen ließen langsam nach. Der Kater machte meine Gemütslage nur noch schlimmer. Also kramte ich in meiner Hosentasche nach einer anderen Schmerztablette. »Hast du Schmerzen? Schon wieder?« Ich nickte, als ich die kleine Tablette Ibuprofen mit ordentlich Wasser in mich reinkippte. »Ja, aber heute sind es Kopfschmerzen. Zu viel Alkohol gestern gehabt.« Da wurde sie hellhörig. »Du warst gestern weg? Spannend… Mit deinem Date von Letztens?« Ich überlegte kurz, wen sie genau meinte, da ich schon so lange kein Date mehr gehabt hatte. Dann erinnerte ich mich an das kleine Missverständnis mit Alexej Wolkow, wo ich sie hab im Glauben lassen, dass er mein Date war. »Oh, nein, Gott bewahre«, lachte ich hysterisch und fasste mir instinktiv an die Lippe. Das ganze Küssen hatte sie wieder etwas aufgerissen, aber im Großen und Ganzen heilte sie gut ab. … oh diese Küsse. Ob ich jemals wieder in den Geschmack von ihm kommen würde? »Du wirst rot, Kyle«, kicherte Cindy und kam noch ein Stückchen näher. »Wer war es dann? Eine Frau oder ein Mann?« »Wieso ist es so wichtig für dich zu wissen, ob es eine Frau oder ein Mann war?«, fragte ich genervt und spielte am Schraubverschluss meiner Wasserflasche. Sie zuckte mit den Schultern und tat so, als wäre es absolut nicht wichtig. »Bin nur neugierig. Mir hast du damals ja immerhin den Laufpass gegeben. Vielleicht magst du Frauen ja doch nicht so, wie du immer dachtest.« »Cindy, das damals war eine andere – « »Alles gut«, unterbrach sie mich mit einer gewissen Anspannung. »Ich bin mittlerweile froh drum. Gott, du bist so exzentrisch und anstrengend manchmal – das hätte nie mit uns geklappt. Also hat sich am Ende doch alles zum Guten gewendet.« Mir fiel darauf nicht wirklich etwas ein, sodass ich ihr einfach einen genervten Blick zuwarf. »Komm schon, Kyle. Ich erzähl dir auch immer alles von meinen Lovern. Gib mir wenigstens eine Story. Nur die eine. Sonst sag ich allen, es war der Weihnachtsmann, den du seit Tagen so anstarrst.« Ich weiß nicht mehr genau, was mich verraten hatte: mein hochrotes Gesicht, welches pro Sekunde nur noch intensiver wurde, oder das hohe Quieken, als dein Spitzname fiel. Beides jedenfalls enorm peinlich. »Oh mein Gott«, war dann noch alles, was Cindy sagte. Tatsächlich kam dann für mehrere Sekunden nichts mehr. Sekunden wurden Minuten. Schließlich brach ich die unangenehme, fast erdrückende Stimmung: »Ja, okay, es war der Weihnachtsmann. Wir waren gestern auf der Weihnachtsfeier hier im Center. Er hatte mich gefragt, ob ich mitkommen würde, also… wieso nicht?« »Du warst da und hast es mir nicht gesagt?! Wolltest du mich etwa nicht dabei haben?«, giftete Cindy berechtigt und stemmte ihre Hände in die Hüfte. »Du hattest doch nur Angst, ich hätte ihn dir weggeschnappt!« Ein leises Kichern entfuhr meinen Lippen. »Nein, ich denke nicht…« »Wie bitte?« »Ich denke nicht, dass du ihn mir weggeschnappt hättest. Die Avancen kamen definitiv nicht von mir.« Da schwieg sie erneut. Also fuhr ich fort. »Wir hatten einen netten Abend, ich habe viel getrunken, er auch, aber er war wie nüchtern, während ich sturzbesoffen war.« »Hattet ihr Sex?«, plärrte sie zwischen meine Erzählungen, als könnte sie nicht abwarten, bis ich zu diesem Punkt gelangte. »Nein…«, atmete ich langgezogen aus und tippte mit dem Zeigefinger etwas nervös auf der Tischplatte rum. »Aber wir … wir haben… « War das wirklich eine gute Idee, Cindy davon zu erzählen? Sie arbeitete hier, sie war ein Klatschmaul, sie würde es allen erzählen. Aber was würde schon passieren? Wir wüssten alle davon, dass ich eine Schwäche für den Weihnachtsmann hatte und er für mich. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre … Klatsch? »Wir haben uns geküsst.« »Mit Zunge?« Ich schloss meine Augen, um die Fassung zu wahren. »Cindy… wieso… wieso ist das wichtig?« »Keine Ahnung? Weil ein normaler Kuss auf den Mund nicht zählt«, erklärte sie und verschränkte die Arme. »Ach? Und wieso nicht?« »Weil es Kindergarten ist. Also… Zunge?« »Ja, Herrgott.« »Dann ist doch alles gut! Seht ihr euch wieder?« »Notgedrungen, ja. Er arbeitet hier, vergessen? Spätestens morgen sehe ich ihn wieder.« »Dir kann man auch echt nicht mehr helfen…«, seufzte sie und verdrehte die Augen. »Willst du ihn wiedersehen?« Da zögerte ich und sah aus dem Schaufenster, wo er eigentlich sitzen müsste. »Das weiß ich noch nicht…« »War es denn so schlecht?« »Nein«, sagte ich sehr energisch und schüttelte den Kopf. »Es war… fantastisch. Aber ich war betrunken und vielleicht habe nur ich das so gesehen.« »Tja«, zuckte Cindy mit den Schultern, »da musst du jetzt durch. Ein Gespräch werdet ihr führen müssen. Wenn es zu keinem kommt, hast du jedenfalls auch deine Antwort.« Ja und die wäre sehr schmerzhaft, dachte ich. »Hoffen wir also, es kommt zu einem Gespräch.« »Ich drück dir die Daumen. Hast du eigentlich herausgefunden, wie er heißt?« Peinlicherweise musste ich den Kopf schütteln. »Nein, ich habe das Gefühl, da macht er ein Spiel draus.« »Haha«, lachte sie laut auf. »Du knutschst also echt wissentlich mit dem Weihnachtsmann rum und nennst ihn auch noch so?« »Nein, ich habe ihn nie… ich habe ihn nie so genannt, jedenfalls nicht in seiner Gegenwart!« »Okay, pass auf, ich such dir den Namen raus, okay? Chris arbeitet in der Personalabteilung, er wird ihn wissen.« Eigentlich wäre ich sofort auf das Boot aufgesprungen und hätte verlangt, dass wir gleich zu Chris gehen, aber… »Ich möchte den Namen von ihm hören.« »Hoffnungslos romantisch, hm?« »Nein, eigentlich absolut gar nicht«, sagte ich langsam und hob beide Augenbrauen. »Ich weiß, woher er kommt und wie alt er ist. Seinen Namen finde ich auch noch raus, sowas braucht eben Zeit.« »Der Name ist normalerweise das erste, was sich zwei Personen sagen, wenn sie sich kennenlernen.« »Normalerweise trifft ja wohl auch kaum auf diese Situation zu…«, murmelte ich und starrte erneut ins Erdgeschoss. »Der erste Berührungspunkt, den wir hatten, war auf seinem Schoß. Ich saß auf seinem Schoß noch bevor wir irgendwie miteinander anständig kommuniziert hatten. Während er als Weihnachtsmann verkleidet war.« Da seufzte Cindy langatmig aus und starrte in die Ferne, als würde sie sich gerade an ihren Abschlussball erinnern. »Ja, das war absolut süß.« Ich knurrte irgendetwas von ‚Ging so‘, ließ das Thema dann aber soweit fallen. Im Grunde erzählte ich ihr dann, was wir so miteinander besprochen hatten, wie der Abend verlief, wo du herkamst, wie alt du warst (‚So alt? So alt sieht er gar nicht aus!‘) und was dann letztendlich am Abend passiert war. Sie bewertete das ganze nicht einmal ansatzweise so dramatisch, wie ich es tat, aber vermutlich war das einfach die Sichtweise eines Dritten, der nicht dabei war. Der Tag fühlte sich länger als andere Tage an. Mein Kopf kreiste um so viele Dinge, dass die Kopfschmerzen nicht besser wurden. Ich betäubte mich regelmäßig mit Schmerzmitteln, bis mich mein Chef nach Hause schickte. Da war immer noch Irina Iwanownas Verschwinden. Ihre Geiselnahme dauerte schon viel zu lange. Bisher kamen noch keine Forderungen – jedenfalls informierte mich Freya nicht. Generell bekam ich keinerlei Informationen von ihr. Weder über den Fall, noch über meine vorzeitige Entlassung zum Fall. Die Kugelschreiberfabrik mit den seltsamen Riten über den Zusammenbau. Geheime Codes, von wem auch immer, verschlüsselt in diesen Kulis. Ob man an einen der Kulis rankommen würde? Sicher nicht, allein das Lager schien gut versteckt worden zu sein. Die behinderten Mitarbeiter waren nicht mehr eingestellt und der einzige, der anscheinend davon etwas wissentlich mitbekommen hatte, war der junge Inder, der uns die Story erzählt hatte. Ob sie nun stimmte, war auch wieder ein anderes Thema. Aber würde man von einem hohen Wahrheitsgehalt ausgehen, wäre Irina Iwanowna in etwas verwickelt worden, von dem sie eigentlich von vornherein wusste. Oder sie wusste es und wurde gezwungen? Machte freiwillig mit? Wieso verständigt sie dann die Polizei? Wieso wurde sie auch erst einige Tage verfolgt, bis sie schließlich entführt wurde. Und wieso sah diese ‚Entführung‘ eher wie ein Escort aus? Aber all die Gedanken um die Arbeit wurden von ihm verdrängt. Von Santa. Vom Weihnachtsmann. Von seinen Augen, den Händen, dem Körper über mir und der Zunge in mir. Ich erwischte mich schließlich doch dabei, wie ich an mir herumspielte, während ich faul auf dem Sofa saß und den Fernseher anhatte. Mein Schwanz war bereits steinhart, als ich ihn in die Hand nahm. Ich fühlte mich furchtbar, als ich daran dachte, wie ich den Weihnachtsmann küsste und wie er mich anfasste. Aber so war nun mal deine Verkleidung! Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt nicht einmal dein wahres Gesicht gesehen – wie konnte ich also annehmen, wie du sonst aussahst? Also ging ich zurück ins Taxi. Stieg mit dir ein und hörte dich die Straße sagen, die ich nicht kannte. Das Auto fuhr los und sofort spürte ich deinen heißen Mund auf meinem. Gierig und leidenschaftlich bewegen sich deine Lippen gegen meine. Deine heiße Zunge fuhr in mich und spielte mit meiner. Die großen Hände um meine Hüfte drückten mich in die weichen Ledersitze des Taxis, öffneten meine Jacke und strich sie von meinen Schultern. Darauf folgten mein Hemd und meine Hose. Beides öffnetest du nur so weit, wie es nötig war, um mich zu ficken. Meine Hände fanden deinen Schritt und ich spürte deine große Beule unter der engen Jeans. Schnell öffnete ich deinen Gürtel, fummelte am Reißverschluss und holte dein hartes Glied raus. Ich keuchte und stöhnte gegen deine heiße Haut, während du mich mit Küssen übersätest. »Leg dich auf den Bauch«, flüstertest du in deiner dunklen, erotischen Stimme mit dem charmanten Akzent in mein Ohr. Ich schauderte, bewegte mich wie in Zeitlupe und klammerte mich an dir fest, als würde mein Leben daran hängen. Schließlich schaffte ich es mich auf den Bauch zu legen, sodass du guten Zugang zu meinem Hintern hattest. Dein Bart kratzte an meinen Backen, doch deine Zunge macht das Gefühl wett. Du lecktest großzügig über meinen Eingang, machtest mich feucht und bereit für dich. Ein Finger glitt in mich rein und ich stöhne ekstatisch in meine Arme, in die ich mein Gesicht vergruben hatte. Panisch sah ich nach vorne zum Taxifahrer, doch der fuhr einfach stur weiter. Seine Musik trällerte die ganze Zeit in meinen Ohren. Du ließt dich nicht beirren und glittest mit einem zweiten Finger in mich. Schnell und gekonnt weitetest du mich, sodass ich allein von diesem Gefühl her hätte kommen können. Der Druck in mir wuchs und ich bettelte dich an, es schnell zu tun. »Bitte… ich… ich brauche… « »Was brauchst du?«, fragtest du mich und schienst das Spiel der Dominanz zu genießen. »Sag es und du sollst es bekommen.« Wieder spähte ich zum Taxifahrer, doch irgendwie schien er taub gewesen zu sein, denn er regte sich nicht. »Nimm mich«, sagte ich schließlich in heiserer Stimme. »Dring in mich ein und… und nimm mich hart ran. Ich brauche das… jetzt!« Du fackeltestest nicht lange rum und entzogst deine Finger. Ich hörte dich in deine Hände spucken und es war seit langem das erotischste, was ich gehört hatte, denn ich wusste, wofür die Spucke gedacht war. Du gingst einige Male über dein steifes Glied, befeuchtetest es großzügig mit Speichel, bis du deine Eichel an meinen Eingang drücktest. Mit einem Rutsch warst du dann in mir drin und das Gefühl war enorm. Du warst so groß, so ausfüllend und so gut. Ich stöhnte laut auf und bettelte dich erneut an, endlich loszulegen. »Bitte«, sagte ich immer wieder wie ein Mantra und bewegte mich schon von alleine. Immer wieder rammte ich mich gegen deine Hüfte, sodass dein Schwanz immer wieder feste in mich reinglitt. Wie auf Drogen drehte sich der ganze Raum, während ich mich energisch gegen dich bewegte. Schließlich griffst du nach meinen Hüften und übernahmst das Tempo selber. Du warst schnell, hart und ruppig. Deine Stimme wurde rau und heiser zugleich. Das dunkle Brummen erinnerte mich an etwas anderes. Doch es turnte mich enorm an. Ich spürte meinen Orgasmus näherkommen, je länger du in mich hineinstießt. Unaufhaltsam, wie ein Tier, ficktest du mich auf der Rückbank eines Taxis, dessen Fahrer von all dem nichts mitbekam. »Ich… Ich komme!«, stöhnte ich laut und schloss meine Augen. Gerade, als der Orgasmus kam und ich in meine Hand abspritzen wollte, lehntest du dich zu mir vor, sodass ich deine stramme Brust auf meinem Rücken spürte. Dein heißer Atem war in meinem Nacken. Deine heisere und brummende Stimme flüsterte mir etwas ins Ohr. »Прочь отсюда.« Ich öffnete meine Augen. Das war der seltsamste Orgasmus meines Lebens gewesen. Er war intensiv, gut und befriedigend. Aber der bittere Nachgeschmack meiner Fantasien tötete all die Endorphine, die mein Körper ausgeschüttet hatte, binnen weniger Sekunden. Die Feuchte in meiner Hand wurde unangenehm, sodass ich ins Bad ging und mich sofort unter die Dusche stellte. Ein einfaches Taschentuch hätte nicht einmal Ansatzweise die Schande abwaschen können, mit der ich befleckt war. Nicht nur, dass ich mir vorstellte, hart vom Weihnachtsmann durchgenommen zu werden – nein, ich stellte mir auch noch vor, dass es Alexej Wolkow war, der mich in der Mangel hatte. Und anscheinend seinen Schwanz in mir drin. Dabei war ich zu dem Zeitpunkt, an dem er die Waffe auf mich gehalten hatte, zutiefst in Panik gewesen. Nichts davon war erotisch oder ansatzweise erregend gewesen. Wieso also in Gottes Namen musste das kommen? Nach der Dusche setzte ich mich resigniert an den Schreibtisch. Bisher hatte Ethan mir nichts Neues vom Fall berichtet. Weder von Mrs. Iwanowna noch von Wolkow. Da ich mich aber erneut an die Worte erinnerte, die er mir gesagt hatte – jetzt noch deutlicher als vorher – versuchte ich selbst mein Glück mit einem Übersetzungsportal. Natürlich schrieb ich das Wort vollkommen falsch, sodass ich keine Übersetzung fand. Erst nach mehreren Google Anfragen fand ich dann schließlich ein Portal, was es erlaubte gesprochene Sprache zu schreiben. Sobald ich die richtige Schreibweise hatte, könnte ich schnell herausfinden, was es hieß. Also sagte ich mehrmals das Wort, bis mir endlich die kyrillischen Zeichen angezeigt wurde. »Прочь отсюда«, las ich vor und fügte es ins Wörterbuch ein. Die Übersetzung machte keinen Sinn, also gab ich es erneut ein. In eine andere Suchmaschine. In ein anderes Wörterbuch. Schließlich sprach ich erneut in die Diktierfunktion der Onlineseite. Ich suchte mir eine zweite. Doch alle kamen zum gleichen Ergebnis. Ich fing an, an mir zu zweifeln. Vielleicht erinnerte ich mich doch nicht mehr so gut an seine Worte. Ich dachte, er hätte mir gedroht. Mir böse Beschimpfungen vorgeworfen. Denn er sagte die Worte immer wieder, auch während unseres Kampfes. Doch alles, was er sagte war: »Verschwinde.« Kapitel 11: Lagerraum --------------------- Am nächsten Tag schneite es endlich. Dicke Flocken flogen vom Himmel und landeten sanft auf Straßen, Gärten, Häusern und besonders Schienen. Der Nahverkehr wurde wie immer sofort lahmgelegt, sobald auch nur eine Flocke irgendwo eine Oberleitung oder eine Schiene traf. Ich kam zu spät zur Arbeit, mein Chef und Cindy waren bereits voll im Gange. Das Center war vollgestopft mit Menschen, die sich bei dem kalten Wetter in der warmen Shopping Mall die Zeit vertreiben wollten. Denn irgendwie hatte ja nie irgendwer zu arbeiten. »Sie sind zu spät«, bemerkte mein Chef und verließ die Kasse, an der ich stehen sollte. Schnell sprang ich für ihn ein. »Sorry«, brummte ich und begann die Kundin zu begrüßen, die mir bereits ihren Berg an Kleidung auf die Tischplatte schlug. Cindy warf mir einen dramatischen, wehleidigen Blick zu und blinzelte mehrmals in meine Richtung. Der Sarkasmus floss förmlich aus ihren Augen. Die Kunden kamen und kamen – man hatte kaum Zeit irgendetwas zu trinken oder sich mal kurz zu unterhalten. Cindy machte davor aber keinen Halt und tratschte trotzdem hier und da, auch wenn Kunden anwesend waren. »Und? Schon mit dem Weihnachtsmann gesprochen?«, sprach sie das Thema an, welches ich seit gestern Abend verdrängt hatte. Wolkow und seine Worte schwirrten noch lange in meinem Kopf. Vielleicht auch seine blauen Augen und sein Gesicht im generellen. Die Fantasie, dass er (oder war es doch Santa?) mit mir Sex gehabt hat, hat mich die letzten Stunden nicht mehr klar denken lassen. Dass die Knutscherei mit Santa im Taxi nicht zur Fantasie gehörte, sondern Realität war, kam mit Cindys dämlicher Frage erneut hoch. »Noch nicht«, brummte ich, während ich Seidenpapier in eine Tragetasche stopfte. Die Kundin beäugelte mich kritisch, doch ich machte einfach weiter. »Er ist nämlich heute da. Hab ihn schon gesehen«, kicherte Cindy. »Er war sogar vorhin kurz hier oben und hat hineingespäht. Ganz zufällig und beim Vorbeigehen natürlich. Sah aber etwas enttäuscht aus, dass du noch nicht da warst.« Sie wollte mir sicherlich nur Hoffnungen machen, wo eigentlich keine waren. Er wirkte nicht wie der Typ, der nach einem heißen Kuss gleich Nummern, Adressen und Ringe austauschen wollen würde. Ganz im Gegenteil: Irgendwie hatte ich im Gefühl, er würde einen auf schwer zu kriegen machen. Und darauf hatte ich keinen Bock. »Nachher vielleicht«, murmelte ich und überreichte die nicht sehr schön eingepackte Tragetasche der Dame. Sie nahm sie mehr oder weniger freundlich an und warf Cindy noch einen bösen Blick zu: ‚Wie können Sie nur in meiner Gegenwart eine normale und gesittete Konversation über einen Mann führen?‘. In dem Moment, wo tatsächlich für einige Minuten keine Kundin in Sicht war, rückte Cindy zu mir. »Willst du seinen Namen wissen?«, hauchte sie mir entgegen. Ich hielt die Luft an. »Ich war gestern als du weg warst noch schnell bei Chris. Haben nett geplaudert. Danach habe ich hintenrum gefragt, wie eigentlich unser Weihnachtsmann hieße; er würde da so ein Geheimnis draus machen.« Ich hielt noch immer die Luft an. »Chris lachte und meinte, es sei Teil seiner Fassade. Um das mit dem Weihnachtsmann glaubwürdiger spielen zu können. Wegen der Kinder und so.« Langsam sah ich Sternchen. Cindy fing an zu kichern. »Mein Gott, ich töte dich gleich vor lauter Spannung. Er heißt Jurijus Bluvšteinas. Herrje, ich kann das kaum aussprechen…« Langsam entließ ich die Luft, die sich in meiner Lunge angesammelt hatte. Mein Herz pochte so schnell, dass meine Hände etwas zitterten. »Alles klar?«, fragte meine Kollegin und hob beide Augenbrauen. »Hätte ich es dir nicht sagen dürfen? Mensch, den Namen hast du sowieso gleich wieder vergessen. Den kann sich doch kein Schwein merken. Ich musste ihn mir aufschreiben. Hier, schau«, sagte sie und zeigte mir den kleinen Zettel mit dem Namen, den offensichtlich ein Mann (Chris) für sie geschrieben hatte. Vorsichtig nahm ich den Zettel aus ihren Fingern. »Danke«, hauchte ich angespannt und las den Namen mehrmals durch. Wieso war ich so nervös? Es war nur ein Name. Früher oder später hätte er ihn mir sowieso gegeben. Dachte ich zumindest. Es sei denn die Liebelei würde bald enden. Oder gar nicht erst anfangen. »Frag ihn doch einfach nach seinem Namen, das nächste Mal. Wenn er ihn dir nicht sagen will, weißt du ihn zumindest.« Ich nickte stumm und packte den Zettel weg. Cindy fing dann an darüber zu spekulieren, dass man Jurijus auf Juri abkürzen könnte und ob man das überhaupt in Litauen so macht, weil der Name in ihren Ohren weiblich klang. Mein Chef kam irgendwann dazu und spekulierte, dass der Name interessant sei und nie gedacht hätte, Santa so zu nennen. Alles, was mir dazu einfiel: Warum hatte ich auf einmal mit so vielen Menschen aus dem näheren Osten zu tun? Irina Iwanowna, Alexej Wolkow und jetzt Jurijus Bluvšteinas. Meine Mittagspause rückte immer näher, sodass ich sie immer weiter hinauszögerte. Irgendwann wurde ich fast gewaltsam rausgeschmissen, damit ich endlich meine Pause nehmen würde. Zuerst spekulierte ich auf die Ausrede ‚Ich war so beschäftigt und als ich dann Pause hatte, musste ich einfach kurz Ruhe haben‘ (was nicht mal so gelogen war). Dann eher auf ‚Mensch, ich habe das einfach total vergessen, ich bin voll im Stress!‘. Schließlich ‚Ich dachte, wir sollten da lieber irgendwo drüber reden, wo es ruhiger ist. Das Center eignet sich dafür nicht so, deswegen bin ich nicht zu dir gekommen‘. Letztendlich saß ich auf der Bank, auf der wir die letzten paar Male immer saßen. Er war wie immer mit Kindern beschäftigt, die ihn zutexteten, plärrten oder weinten. Meine Pause wurde immer kürzer. Ich starrte einfach nur zu ihm rüber. Vielleicht würde er mich auch einfach nicht sehen, wenn ich weit genug in die Pflanze neben mir kriechen würde. Doch das Glück war wie immer nicht mit mir. Er entdeckte mich und riss die Augen auf. Er lächelte nicht. Schlechtes Zeichen. Ich bemühte mich, nicht ganz so panisch und ängstlich auszusehen, als er tatsächlich zu mir kam. Er kannte keine Scham – er drückte das Kind einfach von seinem Schoß, lächelte sein charmantes Lächeln und klopfte der Mutter auf die Schulter. Danach stellte er das Schild auf den Stuhl, obwohl noch eine Menge Familien anstanden. Sein Engelchen, was die Schokolade an die Kinder verteilte sah ihm mit überraschten großen Augen hinterher. »Mr. Lewis«, begrüßte er mich etwas angespannt, dennoch freundlich. »Hi«, hauchte ich fast tonlos und blinzelte zu ihm auf, während er neben mir stand, als wüsste er nicht, was er tun sollte. Es folgte eine sehr, sehr unangenehme Stille. Niemand wagte es, sie zu brechen. Stattdessen kreischten Kinder, Eltern schimpften, betrunkene Frauen gackerten, ebenso betrunkene Männer grölten. »Wollen wir«, begann ich leise und merkte, dass er mich nicht verstanden hatte, da er sich zu mir vorlehnte und den Kopf neigte. »Wollen wir«, schrie ich nun viel zu laut, sodass er sich wieder etwas zurücklehnte. »woanders hingehen?« Er antwortete nicht sofort, sodass ich mich hinstellte, um wenigstens auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Oder was das auch immer war, was unser Größenunterschied zuließ. Schließlich nickte er stumm und lächelte ein eher krampfhaftes Lächeln. Oh, dachte ich, das wird nicht gut ausgehen. Schade. Wir quetschten uns durch die Massen der Menschen, die immer wieder mit ihren riesigen Taschen im Weg waren. Einige davon hielten Santa auf, wollten ein Foto von ihm, doch er negierte, da er offiziell Pause hatte. Auf einmal war er nicht mehr so freundlich. Eher kühl. Sogar etwas abweisend. Ich fühlte mich furchtbar. Schließlich erreichten wir einen kleinen Raum, der zurzeit für die Weihnachtsdekoration genutzt wurde. Santa hatte einen Schlüssel – vermutlich, weil man hier auch die Schokolade lagerte. In dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel und es mucksmäuschenstill um uns wurde, musste ich mich räuspern. »Also«, begann ich und starrte auf den Boden. Seine Schuhe waren heute wieder schwarz. Sahen trotzdem toll aus. Vermutlich teuer. Die Nähte waren enorm sauber gestickt worden. Während ich fasziniert auf sein Schuhwerk blickte, kam er einen Schritt auf mich zu. Schnell blickte ich auf und sah in seine warmen, braunen Augen. Das Licht in der Kammer war gedämpft, sodass ich nicht wirklich erkennen konnte, ob er unter dem Bart lächelte oder nicht. »Mr. Lewis«, sagte er sanft meinen Namen. »Sie wirken angespannt. Wollen Sie über den Abend reden?« Unfassbar, dass wir noch so förmlich waren. Doch ich schob diese Kleinigkeit beiseite und räusperte mich erneut, um meine Stimme wiederzufinden. »Ja, also… finden Sie nicht, dass wir darüber reden sollten?« Da hob er eine Schulter an und legte den Kopf schief. Ich nahm das als ein ‚nicht unbedingt‘. »Hören Sie«, begann ich und sah erneut auf den Boden. So fühlte ich mich sicherer, als wenn ich in seine Augen sehen müsste. »Normalerweise mache ich so etwas nicht. Ich… ich weiß gar nicht, was mit mir los war. Sie sind wirklich nett und ich mag Sie und der Alkohol… senkte meine Hemmschwelle enorm, also… kam es eben dazu, dass wir im Taxi… na ja, Sie wissen schon.« »Ich weiß«, nickte er zustimmend, sagte aber sonst nichts, sondern hörte ruhig zu. Also verteidigte ich meine Position noch ein Stückchen mehr. »Ich denke einfach… wir waren da ein bisschen schnell. Voreilig. Weil… wir kennen uns ja gar nicht. Ich weiß nicht mal Ihren Namen. Oder wie Sie aussehen. Ich kenne Sie nur als Weihnachtsmann.« Da grinste er. »Das ist wahr.« Als erneut nichts kam, sah ich doch in seine Augen. Sie strahlten Wärme, aber auch etwas Belustigung aus. Er verstand den Grund für das Gespräch wohl nicht so ganz. Ich ja eigentlich auch nicht. Es würde nie irgendetwas werden. Ich war beim Geheimdienst. Eine Beziehung mit dem Weihnachtsmann war da absolut nicht möglich. Nachdem wir beide schwiegen und uns nur in die Augen sahen, ergriff er das Wort. »Ist das denn so schlimm?« Nein, eigentlich nicht, antwortete ich in meinem Kopf. Es war mir sogar ziemlich egal, wie man gesehen hatte. Ich knutschte mit ihm rum, egal, wie er darunter aussah oder wie er hieß. Jetzt kannte ich zwar seinen Namen, aber immer noch nicht sein Aussehen. Und traurigerweise spielte das für mich weiterhin keine Rolle. »Es ist nicht unbedingt schlimm«, antwortete ich etwas zittrig, »aber ich wüsste trotzdem gerne mehr über Sie. Einfach, um Sie besser einschätzen zu können.« »Bisher haben Sie mich doch auch so ganz gut eingeschätzt«, konterte er und kam noch einen Schritt auf mich zu. »Mir gefiel, was wir getan haben. Und ich will es erneut tun.« Seine dunkle Stimme vibrierte förmlich auf meiner Haut. Der Atem, der mich zwischendurch berührte, brannte jeglichen Zweifel weg. Und was hatte er da gerade gesagt? »Sie… Sie wollen es…?« Mehr bekam ich nicht raus. Santa stand nur wenige Zentimeter vor mir und presste mich mit seiner Aura gegen irgendein Regal. »Ja«, sagte er bestimmend und griff schließlich nach meiner Hüfte. »Sie nicht?« Da wurden meine Beine wie Pudding. Gut, dass er mich hielt. In seinem festen Griff. In seinen großen Händen. Mit seinen starken Armen. Ich fühlte mich wie die Jungfrau in Nöten, die gerade von ihrem Helden gerettet wurde und nun auf den wichtigsten Teil ihres Lebens wartete: Die Entjungferung. Als ich nichts sagte, sondern mich an das Regal krallte, als könne es mir mit der Entscheidung helfen, beugte er sich vor und küsste sanft meinen Mundwinkel. Romantisch war er also auch noch. Fordernd, etwas dominant, sehr kinderlieb, sanftmütig, immer freundlich und hatte einen Sinn für Romantik, wenn er nicht zu direkt sein wollte. Wo war der Haken? Wo verdammt nochmal war der Haken? Vorsichtig ließ ich meine Hände über seine Brust gleiten und griff nach seinem Nacken. Mehr als ein zittriges »Doch, ich auch« bekam ich nicht raus. Für ihn vermutlich nur eine verbale Bestätigung für das sowieso Offensichtliche. Denn in dem Moment, wo ich meine Zustimmung gegeben hatte, verschmolzen unsere Lippen erneut und bewegten sich wild aneinander. Hungrig, leidenschaftlich und etwas aggressiv spürte ich seine Küsse auf mir. Ich legte meine Arme um seinen Nacken und presste mich an ihn. Zwischendurch bekam ich kaum Luft, musste meinen Kopf regelrecht wegdrehen, damit er mich atmen ließ. Das auf den Zehenspitzen Stehen wurde auch immer anstrengender, sodass ich mich irgendwann nur noch an ihn klammerte, um nah genug an seine Lippen heranzukommen. Seine großen Hände berührten mich überall, am Rücken, im Nacken und am Hintern. Er griff durch meine Jeans zwischen meine Backen und ließ mich aufkeuchen. Jeder Teil von ihm brannte auf mir. Er war wahnsinnig besitzergreifend in seiner Art mich anzufassen. Wenn meine Hand störte, zerrte er sie beiseite. Wenn er keine Lust mehr hatte, mich von oben herab zu küssen, griff er nach meinen Oberschenkeln, hievte mich hoch und presste mich gegen das Regal, sodass er leichteren Zugang hatte. Dass ein Mann mich so einfach irgendwo hochheben konnte, zwischen meinen Beinen rieb und mich dabei gnadenlos küsste, trieb mich in eine zeitlose Ekstase, aus der ich das Gefühl hatte, niemals wieder erwachen zu würden. Für einen kurzen Moment, in dem er mich wieder auf den Boden ließ, dachte ich an die Geräusche, die wir fabrizierten. Immer wieder stöhnte und keuchte ich laut auf. Jeder, der an diesem Raum vorbeigehen würde, hätte einen Live-Porno, dem er zuhören konnte. »Ich«, begann ich, brach jedoch ab, als ich nicht wusste, was ich eigentlich sagen wollte. Santa sah zu mir und küsste mich erneut. Verlangend und intensiv. »Wir haben nicht viel Zeit«, brummte er mit tiefer Stimme. Sie war angespannt. Deutlich zittriger als vorher, auch wenn er alles tat, um noch immer ruhig zu wirken. Ich war mir nicht sicher, ob wir wirklich jetzt Sex haben würden, aber als er nach meiner Erregung griff und sie feste in der Hand hielt, musste ich laut aufstöhnen. »Oh, fuck«, pustete ich aus und klammerte mich an seine Ärmel. Er zischte auf und entzog sich mir für einen kurzen Moment. »Nicht da«, sagte er angespannt. »Hier.« Damit nahm er meine Hände und legte sie in seinen Nacken. »Entspannen Sie sich.« Mein Atem war so angeregt und aufgeheizt, dass ich einfach nur nickte. Er öffnete meinen Gürtel, dann meine Hose und zog schließlich meine Unterhose ein Stück runter, sodass mein steifes Glied ihm entgegen sprang. Ich beobachtete sein Tun für einen Moment, schämte mich enorm, dass ich nur vom Küssen so hart war, aber als er dasselbe bei sich tat und seinen erregten Schwanz rausholte, verflogen jegliche Sorgen. Er war groß. Und feucht. Voller Flüssigkeit, die bereits aus seiner Eichel tropfte. Er zog seine Ringe aus und steckte sie sich in die Jackentasche. Schließlich fuhr er mit seinen Fingerkuppen über mein Gesicht, sah mir tief in die Augen und küsste mich erneut. Unsere Schwänze berührten sich dabei und ich stöhnte in seinen Mund. Ich spürte, wie er seine Zunge vorsichtig durch seine Finger ersetzte und in meinen Mund eindrang. Er spielte mit mir, ließ meinen Speichel an seiner Hand herunterfließen und leckte schließlich liebevoll und großzügig die Tropfen weg, die an meinem Kinn entlangflossen. Noch immer hing ich an ihm, als würde mein Leben davon abhängen. Würde ich loslassen, wäre ich zu Boden gegangen. Er legte eine Hand um meinen Torso und hievte mich ein Stück hoch, sodass unsere erregten Glieder auf gleicher Höhe waren. Schließlich presste er sie der Länge nach aneinander und begann seine Hand um uns zu schließen. Mit pumpenden Bewegungen begann er uns beide gleichzeitig zu streicheln. »Oh, ja«, seufzte ich genüsslich und knabberte an seiner Wange. Der Plastikbart störte wieder einmal enorm, aber er gehörte wohl von nun an dazu. Santa war leise – sehr leise. Hier und da entwich ihm ein kleiner Seufzer oder ein erregter Atemzug, aber mehr auch nicht. Er konzentrierte sich auf den Akt, während ich ihm alle möglichen Dinge ins Ohr stöhnte. »So gut… «, säuselte ich, während ich ein Bein anhob und es um seine Hüfte legte. Er wurde schneller, wilder und unkoordinierter mit seinen Bewegungen. Der Orgasmus war greifbar und ich sehnte mich förmlich nach ihm. Gerade, als wir uns erneut die Zunge gegenseitig in den Mundraum schoben, kam ich intensiv in seiner Hand. Ich stöhnte und keuchte, während er die letzten Tropfen aus mir herauspresste. Sofort fühlte ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Santa ließ sofort los und stellte sicher, dass ich auf eigenen Beinen stehen konnte. Es dauerte für mich einen Moment, bis ich feststellte, dass er noch nicht gekommen war. »Lass mich«, säuselte ich noch immer ekstatisch vor mich hin. Wankend kam näherte ich mich ihm und küsste ihn leidenschaftlich auf die bereits geschwollenen Lippen. Er ließ es geschehen, sagte aber nichts. Erst, als ich nach seinem Schwanz griff und ihn feste pumpte, seufzte er dunkel. Für einige Sekunden gab ich ihm einen Handjob, bis ich aus meinem lustvergifteten Gehirn die Idee rauskramte, ihm einen zu blasen. Also kniete ich mich vor ihn und öffnete meinen Mund. Santas Augen weiteten sich um das Doppelte, als er mich seinen Schwanz in den Mund nehmen sah. Doch er griff nicht ein, sagte nichts oder schlug Verbesserungen vor. Stattdessen legte er eine warme Hand in meinen etwas schwitzigen Nacken und presste mich gegen ihn. Mit pumpenden Handbewegungen unterstützte ich meine schnellen Lippenbewegungen um seinen Schaft. Während ich ihn leckte und lutschte, spürte ich den Druck in meinem Nacken stärker werden. Schließlich wurde sein Atem schneller, seine Hüftbewegungen ruppiger, bis er meinen Mund vögelte und ich kaum atmen konnte. Doch es dauert nicht lange, da entzog er sich mir und kam in seiner Hand. Bis auf, dass er die Augen schloss und genießend den Kopf in den Nacken legte, zeigte er kaum Anzeichen, dass er gerade einen Orgasmus hatte. Für einige Sekunden atmeten wir einfach schwermütig, bis er neben sich in ein Regal griff und eine Packung Servierten aufmachte. Er reicht mir einen Stapel, sodass ich mich sauber machen konnte. Liebevoll half er mir zurück auf die Beine, sagte aber nichts. Schweigend richteten wir uns wieder her, schmissen die verbrauchten Servierten in einen Müllsack und glätteten die Kleidung. Noch immer pulsierten meine Adern. Ehe ich über irgendetwas nachdenken konnte, lehnte sich Santa vor und küsste mich. Sanft und liebevoll. Fast etwas zurückhaltend. »Es war sehr schön. Bis bald, Mr. Lewis«, flüsterte er gegen meine Lippen und öffnete dann schließlich die Tür, um aus ihr zu verschwinden. Ich stand noch für einige Minuten im Lagerraum und verarbeitete, was gerade passiert war. Sex. Mit dem Weihnachtsmann. In meiner Mittagspause. In einem Weihnachtslagerraum im Center, wo ich arbeitete. Nachdem ich fast eine halbe Stunde zu lange Pause gemacht hatte und mein Chef mir eine Predigt hielt, dass ich dafür an einem anderen Tag eine halbe Stunde eher kommen sollte, gesellte sich Cindy zu mir und hob beide Augenbrauen. Die Scham und die Schande lagen noch zu tief in meinen Knochen, sodass mir keine kluge Lüge einfallen würde, wieso es so lange gedauert hat. ‚Wir haben so lange geredet‘ oder ‚Es dauerte eben etwas, bis wir alles geklärt hatten‘ kam mir nicht in den Sinn. Das einzige, was in meinem Kopf war, waren die erregenden Bilder von Santa, wie er unsere Schwänze im Griff hatte und mich leidenschaftlich küsste. Cindy fragte nicht weiter. Mein Zustand war wohl genug Antwort. Kapitel 12: Putzraum -------------------- Auch der nächste Tag machte mich nicht ruhiger. Oft hieß es ja, man solle eine Nacht darüber schlafen, sich erholen und alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen – dann sähe die Welt am nächsten Morgen immer sehr viel besser aus. Pustekuchen. Ich war noch nervöser als am Tag davor. Denn jetzt wusste ich, dass ich in einer Beziehung mit dem Weihnachtsmann war. Scheiße, wir haben sogar in einer Abstellkammer rumgemacht. Von 0 auf 100 in nur wenigen Tagen. Das war eigentlich absolut nicht meine Art. Aber dieser Mann… er hatte was. Etwas, was ich nicht beschreiben konnte. Der Akzent, die Stimme, die Hände, seine Augen. Alles an ihm war faszinierend. Als würde er mich anziehen, wie das schillernde Licht die Motten. Ich kam eine halbe Stunde früher in die Arbeit, so wie der Chef es wollte. Natürlich war er schon da, hatte den Laden aufgesperrt und begann Kartons der neuen Ware auszupacken. Schweigend tat ich es ihm gleich und räumte alles in die Regale und Ständer. Die Zeit verging so enorm schnell. Irgendwann tapste dann auch Cindy rein und seufzte langgezogen. Das tat sie so lange, bis ich endlich fragte, was los sei. »Mein Date gestern war furchtbar gewesen«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Er wohnt noch zu Hause und lässt sich von Mami bekochen. Und das mit 32.« Ich schmunzelte vorsichtig und tat verständnisvoll, während ich kleine Parfümpackungen an die Kasse stellte. Die ersten Kunden strömten bereits rein und suchten sich ihre nächste sinnlose Anschaffung aus. »Wie läuft es mit dir und Juri? Du warst gestern total neben der Rolle, da habe ich mich gar nicht getraut zu fragen. Gab’s Stress? Oder lief es gut?« Ich schluckte schwermütig und stellte die letzte Packung mit etwas mehr Kraft als nötig auf die Theke. »Es gab keinen Stress.« Cindy hob ihre Augenbrauen. »Also lief es gut? Oder war das so ein super unangenehmes Gespräch von wegen ‚Wir wissen auch nicht so ganz, was das ist, also schauen wir mal, was daraus wird‘?« Ich räusperte mich unangenehm berührt. Unser Chef blickte immer mal wieder zu uns rüber und war mit bösen Blicken, dass wir endlich arbeiten sollten. Schnell nahm ich mir also eine weitere Kiste mit kleinen Schmuckartikeln und drapierte sie liebevoll auf einen Ständer. »Wir… wir haben nicht viel geredet.« Da wurde meine Kollegin natürlich hellhörig. »Du warst fast über eine Stunde weg. Wenn ihr nicht geredet habt… was habt ihr dann gemacht?« »Oh, Cindy, wirklich?«, raunte ich und verdrehte die Augen, dass es mir fast wehtat. »Was werden wir wohl getan haben?!« Sie gluckste laut und erhaschte so einige neugierige Blicke von Kunden. »Ohr, Gott, wo habt ihr’s getrieben?« Erneut konnte ich sie nur ermahnen, nicht weiter zu fragen. Als sie merkte, dass ich nicht weiter auf das Thema einging, schlug sie mir liebevoll gemeint, aber viel zu hart auf die Schulter. Meine blauen Flecken ziepten dabei enorm. »Okay, keine schmutzigen Details. Aber du hast es echt mit ihm gemacht? Hier im Center? Ihr seid schon zwei dreckige Biester«, kicherte sie, während sie mit gedämpfter Stimme in mein Ohr sprach. »Wenn das die Eltern der Kinder wüssten, dass sie ihre Schätze gerade auf genau den Schoß setzen, der vorher noch –« »Cindy, nein«, unterbrach ich sie und schüttelte den Kopf. »Lass es. Wir haben rumgemacht, aber mehr auch nicht. Es wird auch nicht noch einmal vorkommen. Ich schätze mal, das nächste Mal wird entweder bei ihm oder bei mir stattfinden.« »Du bist dir also sicher, dass das jetzt was Festes ist?« »Fest? Nein, keine Ahnung. Aber er hat deutlich gemacht, dass er Gefallen an mir gefunden hat.« Cindy zog ihre Augenbrauen zusammen und legte die Stirn in Falten. »Das klingt nicht sehr fest. Eher nach einer… Liebelei.« Ich zuckte mit den Schultern und spürte auf einmal mein Handy in der Hosentasche vibrieren. Wer rief mich denn auf der Arbeit an? »Und wenn schon«, sagte ich, »ist mir eh lieber. So haben wir beide etwas Spaß und danach kann man immer noch mal schauen.« Nicht, dass ich irgendeine Wahl auf mehr hätte. Spätestens, wenn es um Gefühle gehen würde, müsste ich das ganze abbrechen. Freya wäre absolut erbost, wenn sie herausfinden würde, dass ich mit dem Weihnachtsmann aus dem Center eine innige Beziehung führen würde. Und ihn in alles einweihen? MI6, Geheimakten, Doppelleben? Auf keinen Fall. Mein Handy vibrierte erneut, sodass ich den Schmuck weglegte und das Telefon aus der Tasche holte. »Oh, ist es wichtig? Sonst geh ran, ich halte hier so lange die Stellung«, sagte Cindy in dem Moment, wo sie mein Stirnrunzeln wahrnahm. »Danke«, murmelte ich abwesend und ging mit dem Blick fixiert auf dem Bildschirm aus dem Laden. Draußen auf dem Gang stellte ich mich etwas beiseite und nahm das Gespräch an. »Ethan«, begann ich und sah dabei ins Erdgeschoss. Santa war noch nicht da gewesen. Seine Schicht würde wohl erst später beginnen. »Kyle, hi«, begrüßte er mich. »Sorry, stör ich?« »Ich bin auf der Arbeit«, brummte ich, während einige Passanten mich ansahen, als wäre ich der schlimmste Mensch der Welt, weil ich mit dem Telefon am Ohr neben einem Schaufenster stand. »Oh, ok, ich dachte, heute wäre dein freier Tag gewesen«, murmelte er und klickte hörbar etwas am Computer an. »Na, es geht schnell. Wir haben eine Spur zu Mrs. Iwanowna.« Ich drehte mich zur Wand, um verdeckter zu sprechen. »Was haben wir genau?« »Wolkow wurde wieder gesichtet. Auf einer Kamera in der Nähe vom West End. Allerdings hatte er einige Tragetaschen in der Hand. Wir gehen davon aus, dass er einkaufen war.« Ich grinste in den Hörer. »Sicherlich keine Shopping Tour.« »Vielleicht doch«, negierte Ethan und klickte erneut Dinge an. »Freya vermutet, dass sie eventuell das Land verlassen wollen. In den nächsten Tagen. Eine Verkleidung wäre da sicherlich angebracht.« Ich schluckte. Wenn sie wirklich das Land verlassen wollen würde, hätten wir ein Problem. Bis die Bürokratie mit anderen Ländern beiseite geschafft wurde, wären sie längst über alle Berge. Aber wie wollen sie eine Geisel über die Grenzen bringen? »Und die Spur ist jetzt welche? Dass er einkaufen war, hilft uns herzlich wenig«, murmelte ich und sah im Augenwinkel einige Frauen kichern. »Wir könnten in dem Laden nachfragen, wo er einkaufen war. Auf der Tüte ist ein Logo.« »Nein, was bringt das? Er wird sicherlich bar bezahlt haben. Die Verkäuferin wird sich nichts gemerkt haben. Ich kenne auch nicht jede Kundin, die bei mir einkauft. Das hilft uns nicht.« Ethan seufzte traurig in den Hörer. Ich spürte regelrecht, dass er enttäuscht von sich selber war. Mehrere Frauen kicherten erneut auf und ich fragte mich langsam, ob ich noch Toilettenpapier am Schuh kleben hatte. »Aber ich habe deine russischen Worte übersetzen lassen«, ergriff Ethan mit neuer Hoffnung das Gespräch. »Es heißt so etwas wie ‚Raus hier‘ oder ‚Geh‘.« Ich brummte in den Hörer. »Ja, ich weiß. Hab’s auch gegoogelt.« Ethan seufzte erneut ziemlich niedergeschlagen. »Ach so… ich dachte, ich könnte dir jetzt etwas Neues sagen.« »Wenn du herausfindest, wieso er wollte, dass ich verschwinde, hilfst du mir enorm.« »Wie soll ich das herausfinden? Fragen kann ich ihn ja nicht! Ich vermute, er wollte einfach, dass du gehst? Hast deine Nase ja immerhin nicht in seine Angelegenheiten zu stecken.« Ich massierte meinen Nasensteg. »Er hätte mich auch einfach umbringen können. Er ist eine Tötungsmaschine, Ethan, er hätte mir das Genick in circa zwei Sekunden brechen können. Hat er nicht. Stattdessen riet er mir immer wieder, dass ich verschwinden sollte. Wieso sollte ein russischer Gangster das tun?« Ethan schwieg. Stattdessen hörte ich eine Frau so laut lachen, dass ich nicht anders konnte, als mich umzudrehen. Und da stand er. Santa. Mit einem Engelchen und einem Korb Schokolade. Die Frau, die so laut gekichert hatte, wurde gerade von ihm umarmt und machte ein Selfie. Mir blieb die Sprache im Hals stecken. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er vor meinem Laden stehen würde. Nach allem, was passiert war. So … lässig. Leger. Sorglos. Als hätten wir gestern nur geplaudert. Nichts weiter. War doch normal seine Liebelei am Morgen auf der Arbeit zu besuchen, richtig? »Kyle?«, hörte ich Ethan entfernt aus dem Hörer fragen. Ich hatte ihm nicht zugehört. Meine Aufmerksamkeit galt ganz Santa, der langsam zu mir herüberblickte. Seine braunen Augen starrten mich an. Für eine ganze Weile. Bis er schließlich anfing zu lächeln. »Ich muss Schluss machen, Ethan«, sagte ich schnell und fügte noch schnell hinzu, bevor ich auflegte: »Trotzdem vielen Dank!« Sobald ich aufgelegt hatte, kam Santa zu mir rüber. Die Frauen ignorierte er sofort, sodass sein Engelchen sich kurzerhand um sie kümmerte und ihnen Schokolade schenkte. »Mr. Lewis«, begrüßte er mich wie immer höflich und blieb mit genug Abstand zu mir stehen. »Ich wollte Sie nicht in Ihrem Telefonat stören.« »Alles in Ordnung«, sagte ich tonlos und spürte, wie meine Lippen immer weiter auseinander fuhren. Mein Blick rutschte zum Engelchen, das langsam weiterging. »Sind Sie wieder auf Tour?« Santa sah sich ebenfalls kurz um und nickte schließlich. »Ja, die Rückmeldung war erstaunlich gut. Man bat uns das nun häufiger zu machen. Es ist jedenfalls noch genug Schokolade da… wie Sie gestern im Lager gesehen haben.« Oh, er war der Meister des Subtilen. Er wusste ganz genau, dass ich einen Scheiß gesehen hatte von dem kleinen Raum mit der Weihnachtsdeko, weil sein Bart, seine Haare und eigentlich er im Gesamten vor mir waren und wir wild rumgeknutscht haben, während wir uns ekstatisch aneinander gerieben haben. Doch er sagte es trotzdem. Ganz bewusst. »Mhm«, war alles, was ich sagen konnte. Ich biss mir auf die Lippe, um der sexuellen Anspielung nicht zu antworten. Denn eigentlich hätte ich gerne anders reagiert. Zum Beispiel ‚Da war noch Schokolade? Habe ich gar nicht gesehen. Vielleicht zeigen Sie es mir nachher noch einmal?‘. »Wann haben Sie nachher Pause?«, fragte Santa in einem ruhigen Ton. »Wann ich Pause haben möchte. Oder eher, wann die Kunden es zulassen. Vermutlich so um halb eins.« »Gut«, war alles, was er sagte, bevor er sich zu mir runter lehnte und mich sanft auf die Wange küsste. »Dann bis später, Mr. Lewis.« Damit ging er. Und ich stand noch wie angewurzelt auf dem Gang mit dem Handy in der Hand. Erst, als ich reinging, erinnerte ich mich, dass wir vor der Fensterscheibe des Ladens standen und uns jeder sehen konnte, der sich in Kassennähe befand. Das waren mein Chef und Cindy. Meine Kollegin grinste über beide Ohren, während mein Chef etwas angewidert, aber hauptsächlich schockiert in mein Gesicht blickte. Die Pause näherte sich mit großen Schritten und erneut wollte ich sie lieber noch weiter hinausschieben oder gar ausfallen lassen, als sie tatsächlich antreten. Denn ich wusste: Santa würde auf mich warten. Nicht, dass ich ihn nicht sehen wollen würde – ganz im Gegenteil. Ich konnte die Finger ja kaum von ihm lassen, sobald wir für zwei Minuten allein waren. Doch genau das war der Punkt: Wollte er es auch? War ich die treibende Kraft dahinter? Sollten wir das nicht viel lieber irgendwo machen, wo man es auch machen sollte? Und nicht in… Gott weiß wo in diesem Center? Man würde uns rigoros kündigen, sollte jemand davon erfahren. Fristlos. Cindy zwinkerte mir zu und wünschte mir viel Spaß. Sie sagte etwas von Lagerräumen, die selten benutzt würden und dass wir vorsichtig sein sollen. Ich lief rot an und ging einfach. Auf dem Weg ins Erdgeschoss fragte ich mich, wie viel Santa vom Gespräch mitbekommen hatte. Immerhin war ich sehr offen, was das umdrehen von Genicken anging. Vielleicht würde er mich darauf ansprechen? Wenn nicht, würde ich das Thema jedenfalls dankend unter den Tisch fallen lassen. Santa saß noch auf seinem Stuhl und begrüßte die Kinder, die ihn umgaben. Wie immer wirkte er ruhig und gelassen, als wäre er voll in seinem Element. Ich stellte mich einfach etwas abseits dazu und beobachtete ihn für eine Weile. Dass ich erst nach unserem Gespräch essen würde, war mir klar. Mein Hunger verschwand auch in dem Moment, wo seine braunen Augen mich erspähten und mich durchbohrten. Er zögerte wie immer nicht lange und kam auf mich zu. Die Kinder und alle anderen um ihn herum ließen es einfach geschehen. Niemand schien sich je beschweren zu wollen. Nicht, dass ich jemals die Eier dazu gehabt hätte, wäre ich in ihrer Position gewesen. Der Mann war fast zwei Meter groß und gefühlt genauso breit. Mit dem legte man sich nicht an. Es war vermutlich seine liebevolle Art mit allem umzugehen, was mich darüber hinwegsehen ließ, dass er eigentlich nicht mein Typ war. Als alter Mann verkleidet ja schon drei Mal nicht. »Mr. Lewis«, sagte er sanft und griff sofort nach meinem Handgelenk. »Gehen wir?« Ich wollte eigentlich fragen ‚Wohin denn?‘, aber ich nickte einfach nur. Was brachte es eigentlich, dass man hunderte Situationen durchging um am Ende doch ganz anders zu reagieren? Wie oft hatte ich mir schon Konversationen ausgedacht, in denen ich Santa verbal auszog und er mir endlich alles sagte, was ich hören wollte. Stattdessen blieb ich ein stummes, kleines Mäuschen und ließ mich einfach wie ein Kind am Handgelenk durch das Center schleifen. Schließlich blieben wir in einer ruhigeren Ecke mit Sitzgelegenheiten stehen. »Wollen wir uns setzen?« Erneut nickte ich stumm und ließ mich zur Bank führen. Dort setzten wir uns nah beieinander. Seine Hand lag noch immer auf meinem Handgelenk. Santa nahm schließlich seine rote Bommelmütze ab und steckte sie in seine Jackentaschen. »Es ist so warm mit diesem Ding«, murmelte er und grinste dabei schelmisch, als wäre das Abnehmen der Mütze eigentlich nicht erlaubt gewesen. »Es ist sowieso beeindruckend wie gut Sie mit diesen tausend Schichten Kleidung in der Hitze des Centers klarkommen«, bemerkte ich neunmalklug und deutete auf die mit weißem Plüsch gefütterte Weihnachtsmannjacke. Santa schmunzelte. »Und ich dachte schon, Sie hätten Ihre Stimme verloren.« Etwas peinlich berührt sah ich auf den Boden. Seine schönen Schuhe erhaschten erneut meine Aufmerksamkeit. »Sie machen mich nervös«, platzte es aus mir heraus. Sofort kniff ich meine Augen zusammen und zog die Mundwinkel nach unten. »Also, nein, nicht im negativen Sinne – ich bin einfach… ich kann nicht so gut –« »Ist schon in Ordnung. Sie sind nicht der erste, der mir das sagt«, lächelte Santa wie immer sehr aufrichtig. Ich hatte das Gefühl er rollte das R heute extrem. Sein Akzent wirkte stärker als sonst. Hatte er eine Zeit lang wieder viel in seiner Muttersprache gesprochen? »Entschuldigen Sie«, sagte ich knapp und sah schließlich zu ihm auf. Er zwinkerte mir zu und fuhr mit seinen warmen Fingern über meine Hand. Schließlich umschlang er meine Finger und drückte sie liebevoll. Die Gestik allein ließ mich sehnsüchtig seufzen. So viel Liebe in nur einer Bewegung hatte ich lange nicht mehr gespürt. War es denn schon Liebe? Herrgott, nein, aber … es fühlte sich so an. »Entschuldigung akzeptiert. Es liegt nicht in meiner Intention Sie in irgendeiner Weise zu verunsichern. Glauben Sie mir, ich habe eigentlich das genaue Gegenteil im Sinn.« Seine Worte surrten in meinen Ohren wie Musik. Die dunkle Stimme und die warmen Finger um meinen machten mich ruhiger. Er wusste genau, wie er mich gefügig machen konnte. »Was«, begann ich leise und starrte dabei auf unsere Hände, die fest miteinander verbunden waren. Passanten sahen neugierig zu uns, sagten aber nichts. »Was ist das hier eigentlich?«, fragte ich schließlich und trat mich mental eine Sekunde später für diesen eloquenten Auslauf. Santa blieb wie immer ruhig, schien zu überlegen und sagte erst einmal nichts. Erst, als ich verunsichert zu ihm aufblickte, ergriff er erneut das Wort. Das Lächeln war jedoch aus seinem Gesicht verschwunden. »Was wollen Sie denn, was es ist?« Fragespielchen waren oft eine Form von Unsicherheit. Er war sich also selbst nicht so ganz sicher, was das hier war und wollte daher meine Meinung wissen. Die traurige Wahrheit, dass das nie etwas Festeres werden könnte, war keine Option für das jetzige Gespräch. Gesünder wäre es gewesen, das ganze zu beenden, bevor es überhaupt Formen einer Beziehung annehmen konnte. Aber ich wollt nicht. Es war lange her, dass mich jemand so in den Bann gezogen hatte, wie es Santa tat. Und seine Art und Weise mit mir umzugehen, gefiel mir enorm. Höflich, liebevoll und wenn es schmutzig wurde, dominant und griffig. Eben das, was man sich immer von seinem Partner wünschte, nicht wahr? Ich suchte noch immer nach dem Haken. Vermutlich war es genau das. Er wollte eine Beziehung, vielleicht sogar eine Familie gründen. Und all das konnte ich ihm nicht geben. »Etwas lockeres«, sagte ich schließlich. Er blickte in seine Augen und sah etwas Verwirrung, also räusperte ich mich und fügte hinzu: »Ich will es locker angehen. Ich mag Sie. Wirklich sehr. Aber ich weiß noch nicht, ob man sich sofort in etwas Festes stürzen sollte, wenn wir uns eigentlich noch gar nicht wirklich kennen.« Da schmunzelte Santa. Es war das Grinsen, was man formte, wenn man wusste, dass der andere Falsch lag und man es besser wusste. »Das verstehe ich.« »Wirklich?«, hakte ich nach und zog die Augenbrauen zusammen. »Wenn Sie sich dabei unwohl fühlen, weil Sie lieber etwas … Festes wollen, dann sagen Sie es bitte.« »Ich bin absolut zufrieden mit dem, was Sie mir geben können, Mr. Lewis. Denn es ist bereits mehr, als ich gehofft hatte.« Seine Ehrlichkeit haute mich wie immer vom Hocker. Manche Menschen bräuchten Stunden für diese Aussage und er haute sie einfach so raus. Alarmierend war nur, dass es bereits nach mehr Gefühlen klang, als gedacht. »Sie kennen mich doch gar nicht… Wie können Sie sich bereits schon so in mich… verguckt haben?«, hauchte ich und bemerkte erst jetzt, wie nah wir uns wieder gekommen waren. Sein Atem lag auf meiner Haut und brannte förmlich vor Hunger. »Ich kenne Sie genug, Mr. Lewis, um zu wissen, dass ich Sie attraktiv und reizvoll finde. Sie haben seit der ersten Minute eine Anziehungskraft auf mich, die ich nicht abstreiten kann. Ich bin Ihrer Kollegin sehr dankbar, dass sie Sie gezwungen hat, zu mir zu kommen.« Da musste ich leise kichern. Oh, Cindy, hörst du? Er ist dir dankbar. Du hast ihn zwar nicht persönlich bekommen, aber du hast dafür deinen Kollegen mit ihm zusammengebracht. »Cindy hat dafür wohl ein Talent«, murmelte ich vor mich hin und sah erneut auf den Boden. Santas Daumen streichelte meinen Handrücken, wie es sonst nur Paare tun. Doch es war angenehm, ich wollte die Hand nicht wegziehen, nur weil es so verdammt romantisch war. Trotzdem legte sich ein Grinsen auf meine Lippen, während ich uns beide im gegenüberliegenden Schaufenster sitzen sah. Santa folgte meinem Blick und sah mir dabei in die Augen. »Was erheitert Sie so?«, fragte er neugierig und blinzelte einige Male in unsere Reflexion. »Dass ich mit dem Weihnachtsmann Händchen halte«, kicherte ich vor mich hin und sah schließlich wieder zu ihm. »Ob ich Sie irgendwann einmal ohne diese Verkleidung sehen werde?« Santas Blick galt wieder mir. Seine braunen Augen voller Erheiterung. »Zumindest haben Sie schon einen Teil von mir unverkleidet gesehen. Ich bin mir sicher, dass sich das im Laufe der Zeit noch ausweiten wird.« Ah, ja. Die sexuelle Anspielung. Erneut. Er konnte gut mit dem Subtilen umgehen, das sah ich ein. Aber konnte er auch mit Direktheit umgehen? »Im Laufe der Zeit? Sie wollen so lange warten, bis wir intimer werden?«, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue. »Wir sind doch schon auf der Autobahn. Wollen Sie jetzt etwa abfahren und Rast machen?« Santas Augen weiteten sich einige Millimeter. Da hatte ich ihn wohl für einige Sekunden sprachlos gemacht. »Ist das eine Einladung?«, fragte er schließlich nach. In seiner Stimme bebte etwas Hungriges, Verlangendes. Er hatte meine Anspielung wohl sofort verstanden. Ich grinste breit. »Brauchen Sie etwa eine Einladung? Ich schicke Ihnen gerne meine Einverständniserklärung schriftlich zu, sodass Sie –« Da lehnte er sich vor und unterbrach mich mit seinen Lippen. Der Kuss kam so überraschend, dass ich noch einige Wortlaute in seinen Mund brummte. Sein Körpergewicht verlagerte sich zum Teil auf mich, sodass ich entweder hinten überkippen würde oder nach ihm greifen müsste. Ich entschied mich für die zweite Variante, da heißes miteinander Rummachen absolut unangebracht für die Situation war, in der wir uns befanden. Ein Kind kam mit seiner Mama an uns vorbei und starrte uns neugierig an. Musste sicher gut aussehen. Der Weihnachtsmann mit einem anderen Mann. Als ich seine Zunge an meinen Lippen spürte, wie sie höflich um Einlass bat, ging ich auf Abstand. »So gerne wie ich Sie küsse«, begann ich, sah mich dabei verstohlen um und räusperte mich einige Male, »sollten wir das vielleicht nicht hier machen.« »Der Lagerraum ist heute besetzt. Wir werden keinen Platz haben«, brummte er, während er einzelne Küsse auf meiner Wange und meinem Nacken verteilte. Wieder einmal stellte er den Elefanten in den Raum und tat so, als hätte er eine Fliege gesehen. Seine Antwort und das damit verbundene Unaufhaltsame, was er nicht aussprach, aber mit jedem seiner Worte mitschwang, machte mich um Nu rollig. Die Vorstellung wieder irgendwo in der Öffentlichkeit verbotenerweise intim zu werden, machte mich an. Dabei war ich eigentlich kein Exhibitionist. Ich erinnerte mich an Cindys Vorschläge. »Es gibt kaum genutzte Lagerräume Richtung Parkhaus.« Santa hielt für einen Moment inne, sah mir tief in die Augen und küsste mich schließlich sanft auf die Lippen. Er war anders, als die hungrigen und unkoordinierten von davor. Dieser hier war durchdacht, liebevoll und fast etwas kitschig. »Zeigen Sie mir den Weg«, bat er schließlich und stand auf. Meine Hose wurde erneut etwas eng, also brauchte ich einen kurzen Moment, bis ich es ihm gleichtat und mit ihm an der Hand durch die Gänge ging. Mein Herz klopfte wie wild in meinem Brustkorb, dass ich dachte, er zerspränge gleich. Wir gingen mit schnellen Schritten zum Parkhaus, wo wir durch einen Hintereingang in die Personalgänge verschwanden. Als die Tür zuklappte, griff Santa mich sofort an und küsste mich erneut leidenschaftlich auf den Mund. Gott, das war so heiß. Ich fühlte mich zwar wie ein Teenager, der gerade seine Libido gefunden hatte, aber ich ignorierte den Gedanken und konzentrierte mich auf die heiße und feuchte Zunge, die immer wieder in meinen Mund fuhr und mit meiner spielte. Während er mich an die kalte Betonwand presste und sein Körpergewicht auf mir lag, erforschte er neugierig meine Mundhöhle mit seiner Zunge. Immer wieder entwich mir ein Stöhnen. »Oh, ja…« Er brummte etwas vor sich hin, was ich nicht verstand, dem Ganzen aber keine weitere Bedeutung mehr schenkte. Wir standen noch immer mitten im Gang. Irgendjemand der Angestellten hätte hier rein kommen können. Auch wenn meine perverse Seite den Nervenkitzel enorm genoss, so fing meine noch logisch denkende Seite an etwas nervös zu werden. Nur mit viel Willenskraft konnte ich mich von Santa lösen. »Lass uns irgendwo rein gehen. Wo nicht unbedingt jemand hinkommt«, keuchte ich völlig außer Atem. Meine Hände hatten sich an seine Brust gekrallt und ließen erst los, als er sich von mir löste, um nach einem leeren Raum zu suchen. Mit schnellen, aber tollpatschigen Schritten huschten wir den grauen, dunklen Gang entlang, bis wir einen Putzraum fanden, der zwar mit Putzutensilien gefüllt, aber sonst genug Platz bot, dass wir uns darin einschließen konnten. Sie Putzfrauen kamen sowieso immer erst, nachdem das Center geschlossen hatte. Und wenn ein Kind irgendwo gerade kotzen sollte – Pech. Das kann warten. Wir stolperten küssend in den kleinen dunklen Raum, den Santa sofort hinter sich schloss. Mit meiner Karte verriegelte ich den Raum von innen. Sicher war sicher. »Kommen Sie«, brummte Santa und packte mich an der Hüfte. Er stemmte mich auf eine Ablage, die zwar gefährlich wackelte, aber sonst stabil genug zu sein schien, um mich zu halten. Mit gespreizten Beinen drückte ich mich an seinen warmen Körper. Mein halbsteifes Glied zuckte bei jeder Berührung, die ich durch seine Hüften erfuhr. Immer wieder küssten wir uns hungrig auf die Lippen und verschmolzen förmlich miteinander. Ich presste ihn mit meinen Beinen näher an mich und begann irgendwann seine Jacke aufzuknöpfen. Er hielt mich nicht auf, also arbeitete ich mich weiter nach unten, bis die Jacke offen war und darunter ein schwarzes T-Shirt hervorblitzte. Ich streifte ihm die Jacke ab, sodass sie an seinen Armen entlang glitt und er sie schließlich auf den Boden fallen lassen konnte. Doch er tat es nicht. Er behielt die Ärmel an. Stattdessen schob er mein schwarzes Poloshirt hoch und fuhr mit seinen Händen über meinen erhitzten Körper. Mein Verstand wurde im Nu blank, sodass ich mich wie eine Puppe ausziehen ließ. Santa küsste mich an jeder freien Stelle sanft auf die nackte Haut. Er zog mich nicht komplett aus, sondern schob das Shirt nur so weit hoch, wie es nötig war, damit er an meine Brustwarzen kam. Er zog liebevoll an ihnen, sodass ich ein sehnsüchtiges Stöhnen nicht vermeiden konnte. »Oh ja…«, säuselte ich und biss auf die Unterlippe. Mit erstaunlich flinken Fingern öffnete ich seine Hose und zog sie ein gutes Stück runter, sodass ich den Umriss seines erregten Gliedes durch die enge Boxershorts erkennen konnte. Der Anblick sendete elektrische Stöße direkt in meinen Schritt. Ehe ich nach dem Bund der Boxershorts greifen konnte, versperrte Santa mir den Weg mit seinen Armen. Er griff nach meiner Hose, zog sie im Nu runter und mir ihr gleich meine Unterhose. Mein Schwanz tropfte bereits vor Lust und zuckte, wann immer er Aufmerksamkeit bekam. »Mh«, brummte ich in Santas Mund, als ich seine Hand um meinen Schaft spürte. Durch die leichte Feuchte wurde das darauffolgende Pumpen extrem angenehm. Er übte ordentlich Druck aus, sodass meine Vorhaut immer wieder über meine Eichel rutschte und mich Schwarz sehen ließ. »Oh ja!«, keuchte ich und klammerte mich an seinen Nacken. »S-Schneller…« Santa biss liebevoll in meinen Hals und leckte gierig über meine salzige Haut. »Gefällt Ihnen das, Mr. Lewis?« Seine Stimme vibrierte förmlich in meinem Brustkorb. Seine große Hand rieb unaufhaltsam an mir, dass ich meinen Orgasmus bereits spürte. »Wollen Sie schon kommen?« Sein Ton war rau und direkt. Es war klar, dass er mich eigentlich noch nicht kommen lassen wollte, selbst wenn ich nun genickt hätte. Vor Lust benebelt sah ich in seine Augen und schüttelte sanft den Kopf. »Gut. Wir wollen doch nicht, dass der Spaß so früh endet«, surrte er in mein Ohr und fuhr mit seiner Zunge über mein Ohrläppchen. Ich stöhnte erneut auf und konnte nur hoffen, dass niemand den Personalgang benutzen würde. Mit einem Ruck drückte Santa mich auf den Rücken. Einige Putzmittel, oder was auch immer auf der Ablage stand, fielen auf den Boden. Doch keinen von uns interessierte es besonders, ob gerade Meister Proper auslief oder nicht. Santa drückte meine Beine zu mir, sodass ich fast meine Knie im Gesicht hatte. Er beugte sich über mich, küsste mich erneut und fuhr mit seiner Zunge gierig über meine Lippen. Schließlich löste er sich von mir, sah mir tief in die Augen und wanderte mit seiner feuchten Hand an meinem Schwanz vorbei. Er gab meinen Eiern einen festen Griff, was mich aufkeuchen ließ. In dem Moment, wo ich die Augen voller Lust schloss, hörte ich wieder seine dunkle Stimme. »Nein, sehen Sie mich an, Mr. Lewis«, bat er ruhig, auch wenn er innerlich zu beben schien. Mit viel Mühe öffnete ich meine Augen und sah erneut in sein Gesicht. Der Plastikbart schien sich langsam um den Mund herum zu lösen. Das viele Küssen tat dem Kleber wohl nicht gut. »Sagen Sie Nein und ich höre sofort auf«, brummte er mit entgegen, als seine Finger noch weiter an mir herunter rutschten und schließlich an meinem Eingang stehen blieben. Ich konnte nicht anders, als leise kichern, während ich noch immer nach Luft suchte. »Das hier ist nicht mein erstes Mal. Und ich bin nicht aus Porzellan, glauben Sie mir.« Da erwiderte Santa mein Grinsen und fuhr mit einem Finger direkt bis zum Knöchel in mich ein. Ich seufzte laut und ließ den Kopf nach hinten fallen, als er tief in mein Innerstes eindrang. »Das glaube ich Ihnen… sofort.« »Hmm«, summte ich, während er in einem angenehmen Tempo in mich hineinstieß. »Mehr…« »Sie sind eher ungeduldig, oder?«, fragte er, als wäre er die Ruhe in Person. »Tun Sie‘s«, säuselte ich und erkannte dabei meine eigene Stimme kaum. »Ich mag… mag es…« Sein zweiter Finger glitt in mich rein. Sofort danach sein dritter. Es tat etwas weh, so schnell gedehnt zu werden, doch die heißen Küsse, die ich immer wieder von Santa bekam, lenkten mich genug vom Schmerz ab. Außerdem war es ein Schmerz, den ich nur zu gerne beim Sex begrüßte. Gott, dachte ich. Würden wir wirklich vögeln? Ehe ich mich weiter fragen konnte, ob wir es tatsächlich tun würde, beantwortete Santa die unausgesprochene Frage für mich, in dem er sich aus mir herauszog und seine Boxershorts ein Stück runtergleiten ließ. Ich öffnete erneut meine Augen und sah ihm dabei zu, wie er sich ein Kondom überstülpte. Erneut musste ich etwas grinsen. So, so. Wie kommt das denn in die Hosentasche? Dass er so vorbereitet war, machte mir nur in der ersten Sekunde etwas Sorgen. Wollte er also von Anfang an nur Sex? Spielten wir dieses liebevolle Spiel nur, damit er an meinen Hintern durfte? In dem Moment, wo er sich wieder zwischen meine Beine begab und die Feuchtigkeit meiner Liebesflüssigkeit nahm, um sich selbst damit einzureiben, schob ich die Unsicherheit beiseite. Und wenn er nur wegen des Sexes so war – ich hatte ihm ja sehr deutlich gemacht, dass ich erst einmal nichts Festes wollte. Also war Sex eine ziemlich gute Lösung. Denn das letzte Mal… war bei mir bereits peinlich lange her. Santa brachte sich in Position und presste schließlich seine Eichel gegen meinen Eingang. Etwas mehr Gleitgel hätte uns beiden gut getan. Nichtsdestotrotz fühlte sich sein Eindringen in mich göttlich an. Wie sehr ich dieses Gefühl vermisst hatte. Er tastete sich langsam vor und presste sich Stück für Stück in mich hinein. »Ja«, stöhnte ich und krallte mich an seiner Hüfte fest, die ich näher an mich zog. »Tiefer…« Schließlich drückte er sich komplett in mich hinein und verharrte für einen Moment. Ich schloss erneut die Augen und genoss das füllende Gefühl in mir. »Sehen Sie mich an, Mr. Lewis«, bat Santa erneut. Doch dieses Mal war seine Stimme ungeduldig und kratzig. Seine Selbstbeherrschung schien zu bröckeln. Ich öffnete die Augen und sah in seine Braunen, die mich anstarrten, als wäre ich seine Beute, die er gleich zerfleischen würde. Ein leichter Schauer durchfuhr mich, als ich nicht eindeutig einschätzen konnte, was genau er versucht mir zu vermitteln. Doch der Moment ging so schnell wie er gekommen war. Er begann sich aus mir herauszuziehen, nur um wieder in mich einzudringen. Sein Tempo wurde extrem schnell und unaufhaltsam, sodass ich Schwierigkeiten hatte, mich irgendwo festzuhalten und nicht von der Ablage zu fallen. Seine starken Arme um meine Beine hätten das sicherlich verhindert, doch ich wurde trotzdem immer weiter auf der Platte durch seine Stöße verschoben. »Oh ja! Weiter… genau da!«, stöhnte ich laut und konnte nicht an mich halten. Eigentlich war ich kein lauter Mensch beim Sex, aber das… war nicht nur Sex. Das war vögeln. Ficken. Wie ein Tier stieß er in mich rein. Als würden nur noch seine Urinstinkte mit ihm sprechen und ihm sagen: Fick ihn hart und bring ihn zum Schreien. »Ich… Oh«, kam immer wieder aus mir raus. Wortfetzen, keine wirklichen Sätze. Die Ablage, auf der wir es trieben, wackelte immer wieder gefährlich gegen ein anderes Regal und gegen die Wand. Wir waren so laut, dass uns mit Sicherheit jeder hören würde, der an unserer Tür vorbeiginge. Der Krach, den wir veranstalteten, schien Santa nur noch mehr anzuspornen. Er hatte eine Ausdauer… das war unbegreiflich. Immer wieder traf er meine sensible Stelle, ließ mich keuchen und stöhnen und schien sich nicht daran zu stören, dass wir beide anfingen zu schwitzen. Der Bart ging immer weiter ab, bis fast eine Ecke nur noch herunterhing. Ich konnte zum ersten Mal einen Teil seines Gesichts sehen. Doch das fade Licht und die Tatsache, dass er mich gerade ordentlich durchnahm, verhinderten eine genauere Sicht. »Ich- Ich… bald… ich kann…«, stöhnte ich und begann meinen Rücken durchzudrücken, damit mein erregtes Glied irgendeine Art von Berührung bekam. Ich wollte kommen. So sehr, dass es mich innerlich fast zerrissen hätte. »Kümmern Sie sich drum«, knurrte er lusterfüllt und griff nach meinem Handgelenk. Fast schon grob führte er meine Hand an meinen Schwanz. Schnell umgriff ich ihn und begann ihn zu streicheln. Santa wurde immer härter und der Griff um meine Oberschenkel immer fester. Er war also kein sehr liebevoller Liebhaber. Das, was er nach außen scheinen ließ, war er im Bett nicht. Aber genau das machte mich enorm an. So dauerte es auch nicht lange und ich spürte den Orgasmus. »Ich- Ich komme! Oh – Oh ja!«, rief ich und warf den Kopf in den Nacken. Großzügig ergoss ich mich in meiner Hand, während Santa weiterhin in mich hineinstieß. Irgendwann vernahm ich nur noch das Klatschen unserer bereits feuchten Haut. Binnen weniger Sekunden – oder waren es Minuten? – kam dann auch Santa, während er noch in mir war. Für einige Sekunden hatte ich Angst, dass das eine riesige Sauerei geben würde, doch dann erinnerte ich mich an das Kondom. Ich rang nach Luft und versuchte wieder Speichel in meinem Mund anzusammeln, da der im Laufe meines vielen Stöhnens und Atmens völlig vertrocknen war. Santa zog sich derweil aus mir zurück, was mich sehnsüchtig seufzen ließ, als die Wärme davonging. Er rollte das Kondom ab und knotete es fest zu. Schließlich reichte er mir ein Taschentuch, damit ich meine Hände abwischen konnte. Schweigend zogen wir uns wieder an. Meine Beine waren wie Pudding, dabei hatte ich überhaupt nichts getan, außer auf dem Rücken zu liegen. »Können Sie gehen?«, fragte Santa schließlich in einer fürsorglichen Stimme. Er schien sich wie immer schnell gefangen zu haben als ich. Denn meine Stimme war noch immer zittrig. »J-Ja… ich denke schon.« Trotzdem griff er nach meinem Arm und hakte mich bei ihm ein. Gemeinsam verließen wir vorsichtig den Putzraum. Niemand war auf dem Gang zu sehen. Wenn wir Glück gehabt haben, hat uns auch davor niemand gehört. Ich schielte auf dem Weg zurück kurz auf die Uhr. Die Pause war wieder einmal um ein paar Minuten überzogen. Vielleicht würde es jedoch diesmal unbemerkt bleiben. Kurz bevor wir wieder am Weihnachtsmarkt ankamen, drückte Santa mir einen Kuss auf die Lippen. Als er sich löste, löste sich auch der Bart etwas und blieb stattdessen an mir kleben. Ich lachte sofort los, während Santa versuchte seine Verkleidung zu retten. »Das sollten Sie vielleicht noch einmal neu ankleben«, schlug ich vor und drückte meine Handfläche auf seine Wange, damit der Kleber noch etwas halten würde. Santa grinste. »Da haben Sie Recht«, stimmte er zu und beugte sich erneut zu mir vor. Ein langer und liebevoller Kuss folgte. »Bis bald, Mr. Lewis.« »Bis bald, Santa«, sagte ich erheitert und ließ ihn schließlich gehen. Er kicherte dunkel und ging schließlich zurück zum Weihnachtsmarkt. Im Augenwinkel sah ich, wie er kurz mit den Engeln sprach und dann in eine andere Richtung verschwand. Vermutlich den Bart neu ankleben. Als ich im Laden ankam, wartete nur Cindy. Der Chef hatte nichts bemerkt. »Wie war’s? Du hast wieder ein bisschen überzogen…«, grinste sie breit und beugte sich ein Stück zu mir vor. »Hattet ihr wieder ein langes Gespräch?« Ich räusperte mich etwas unangenehm berührt und spitzte die Lippen, als wüsste ich nicht, wovon sie sprechen würde. »Vielleicht.« »Stell den Kragen vielleicht hoch«, schlug sie vor und zeigte dabei auf mein Poloshirt. »Man sieht, dass ihr ein langes Gespräch hattet.« Meine Wangen wurden kochend heiß, mein Selbstbewusstsein so klein wie eine Maus mit Hut und meine Hände zittriger wie zuvor. Schweigend stellte ich meinen Kragen auf. »Besser?« »Naja«, seufzte sie und begutachtete meinen Hals. »Man sieht’s immer noch ziemlich deutlich, aber… fällt jetzt nicht mehr so auf wie davor. Man hätte meinen können, ihr habt euch geprügelt.« Ich schmunzelte, obwohl ich noch aufgeregt um mich herum sah. »Vielleicht haben wir das ja auch?« »Ja klar«, sagte Cindy sarkastisch und verdrehte die Augen. »So nennt man das also heutzutage. Unfassbar, Kyle.« Da sah ich zu ihr auf. Sie schüttelte nur den Kopf und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Du vögelst echt mit dem Weihnachtsmann.« Kapitel 13: Toilette -------------------- Eigentlich war es mein freier Tag, aber ich nutzte ihn wie immer, um doch zu arbeiten. Die letzten Tage waren atemberaubend schön gewesen, auch wenn der Sex im Putzraum eher einer schnellen Nummer glich, so war der liebevolle Abschied mit den gefühlt tausend Küssen wieder ein Silberstreif am Horizont. Doch sobald ich das Büro betrat und meinen mit Akten zugemüllten Schreibtisch sah, erinnerte ich mich daran, wieso eine innige Beziehung nicht möglich war. Zum ersten Mal seit Langem hatte der Job einen bitteren Beigeschmack. »Kyle, gut, dass du da bist!«, begrüßte mich Ethan etwas hektisch und winkte mich zu sich. Er stand am anderen Ende des Raumes und kam wohl gerade aus einer Besprechung. Mit langsamen Schritten schlurfte ich auf ihn zu. »Was ist?«, brummte ich und stellte mich schon auf weitere nutzlose Informationen ein, die mir Ethan auf dem Silbertablett präsentierte. »Besprechung mit Freya. Es geht um Mrs. Iwanowna. Wir wissen, wo sie sich befinden könnte.« Meine Augen weiteten sich. »Wir wissen, wo sie sein könnte?«, wiederholte ich und verhaspelte mich fast an meinen eigenen Worten. »Ja, komm mit«, sagte er aufgeregt und winkte mich auf den Gang Richtung Besprechungsraum. »Ich dachte, man hat mich vom Fall abgezogen«, merkte ich an, folgte ihm trotzdem. »Nicht offiziell. Du weißt, dass ich das nur mitgehört habe und dass es eine Art… Empfehlung war.« Ich seufzte, als ich mich mit Ethan der Tür näherte. »Klang damals eher nicht so…« Im Besprechungsraum saßen Freya und noch ein paar andere Kollegen. Sie waren nur zum Teil meine Vorgesetzten. Einer davon war sogar völlig unbekannt und saß etwas abseits. Ich nickte allen Beteiligten zu, während ich mich still neben Ethan an den Tisch setzte. Freya stand vorne und zeigte gerade eine Karte von einem Londoner Stadtteil. Sie würdigte mich eines kurzen Blickes, dann sprühte sie ihr Gift in die Runde. »Mr. Lewis, schön, dass Sie uns beehren.« Ich rieb meine Hände aneinander und quetschte sie zwischen meine Oberschenkel. »Heute ist mein freier Tag. Ich wäre eigentlich gar nicht hier. Aber Ethan hat mich gerade kur aufgeklärt, um was es geht.« »Wir wollten Sie anrufen lassen, aber das hat dann wohl jemand vergessen.« Ihr Blick ging dabei ins Leere und ich wusste, dass es eine Lüge war. Niemand wollte mir Bescheid geben. Es war also eher unschön für sie, dass ich da war. Glaubte sie also tatsächlich immer noch, ich hätte irgendetwas mit Wolkow zu tun? Oder den Russen generell? »Fahren Sie bitte fort«, sagte schließlich der unbekannte Mann am anderen Ende des Tisches mit einem stark russischen Akzent. »Wir haben nicht ewig Zeit.« Freya nickte und deutete mit ihrem Laserpointer auf die Karte. »Dort werden wir morgen Nachmittag zuschlagen. Nach unseren neuesten Erkenntnissen, wird das Haus nur sehr früh morgens und sehr spät abends verlassen. Wir werden also die besten Chancen haben, wenn wir sicher sein können, dass sich Mrs. Iwanowna auch im Haus befindet.« Ich fixierte den roten Punkt, als würde er das Portal in eine andere Dimension öffnen. Die Adresse sagte mir etwas. Kam mir bekannt vor. »Wie genau kamen wir darauf, dass Mrs. Iwanowna sich dort befindet?«, fragte ich leise meinen Kollegen. Natürlich nicht leise genug, Freya übernahm sofort die Antwort. »Wenn Sie die Akten lesen würden, die ich Ihnen auf den Tisch gelegt habe, wüssten Sie den neuesten Stand der Dinge.« Ich räusperte mich und versuchte zu Lächeln. Knirschend quetschte ich aus meinen Zähnen: »Ich war bei meinem anderen Job, das wissen Sie. Und man informierte mich ja sowieso nicht mehr über die neuesten Sachen, weil man mich vom Fall absetzen wollte.« Freyas Blick wurde schlagartig kalt. Mit meinem konternden Verhalten hatte sie vor versammelter Mannschaft nicht gerechnet. »Darüber reden wir jetzt nicht, Mr. Lewis. Das Thema ist hier fehl am Platz.« Noch ehe ich antworten konnte, erbarmte sich ein Kollege aus der Spurensicherung und gab mir eine kurze Zusammenfassung. »Alexej Wolkow wurde erneut in einer U-Bahn gesichtet. Unser Mann folgte ihm unauffällig zu diesem Haus. Wir konnten bestätigen, dass es sich um Lee Greens Anwesen handelt, der in Verbindung mit Mrs. Iwanowna stand.« Lee Green – das war sein Haus. Seine Adresse. Daher kam sie mir so bekannt vor. Der Nachhilfelehrer, bei dessen Exfrau ich zum zweiten Mal auf Wolkow traf. Er schien tiefer in die Sache verwickelt worden zu sein, als gedacht. Trotzdem machte es wenig Sinn: Wieso sollte ihr Nachhilfelehrer bei der Geiselnahme helfen? Oder war er selbst eine Geisel? »Ich finde es etwas befremdlich, dass ein Profi wie Wolkow immer ohne Tarnung in London rumläuft, wo doch jeder weiß, dass hier an jeder Straßenecke Kameras sind«, merkte ich vorsichtig an und wartete die Reaktionen ab. Als keine wirkliche Rückmeldung kam, fügte ich hinzu: »Vielleicht ist es eine Falle.« »Da denken Sie ein bisschen zu extrem, Mr. Lewis. Alexej Wolkow ist zwar ein guter Schütze, er kann auch gut mit seinen Fäusten umgehen, aber sehr intelligent ist er nicht. Ich bin mir sicher, er hat über so etwas nicht nachgedacht. Sein Aussehen ist ja nicht besonders auffällig«, erzählte ein anderer Kollege und schmunzelte vor sich hin, als würde er sich daran ergötzen, Alexej Wolkow vor uns zu erniedrigen. »Was hätten sie denn auch davon uns in ein falsches Haus zu locken?«, fragte Ethan und zog die Schultern hoch. Ein Zeichen, dass er mir eigentlich nicht widersprechen möchte, es aber trotzdem aus Gruppenzwang tat. »Ich merke es nur an. Denn als ich das letzte Mal zu einem Ort gefahren bin, wo man Irina Iwanowna angeblich festhielt, war da offensichtlich nur Wolkow. Niemand sonst hat sich eingemischt. Wären ihm da nicht noch ein paar Leute zur Hilfe gekommen, wenn wirklich –« »Mr. Lewis«, unterbrach mich Freya mit einem harschen Ton, »Sie waren auf einem unautorisierten Außeneinsatz, der enorm schief ging. Hätten Sie einfach die nächste Station informiert oder einen von uns angerufen, wäre dieser Fall längst geklärt.« Ich schwieg. Freya hatte das pathologische Bedürfnis immer Recht zu haben und ich wollte ihr nicht vor allen in einer wichtigen Besprechung Parole bieten. Stattdessen presste ich meine Lippen zusammen und nickte. War Wolkow wirklich so dumm? Oder zeigte er sich so öffentlich aus einem bestimmten Grund? Während ich noch in meinen Gedanken über Wolkows Motive nachdachte, fuhr Freya mit ihrem Plan fort. »Wir werden morgen Nachmittag das Gebäude mit zwei Truppen stürmen. Eine von dieser Seite, die andere von dieser Seite. Das Grundstück wird umstellt. Mehrere Wagen werden bereit stehen und den Verkehr blockieren, sollten sie ein Fluchtauto dabei haben.« Ich hörte ihren weiteren Anweisungen zu. Erst dann stellte ich fest, dass all die Kollegen hier Teamleiter waren. Vermutlich sollten Sie dann ihre Mitarbeiter einweisen, wann und wie morgen die Razzia durchgeführt wird. Ethan hörte aufmerksam zu, sodass ich mich fragte, ob er hier war, um mich einzuweisen, oder ob er nur da war, um Hilfe aus der Ferne anzubieten. Er war immerhin unser Informant. Kein sehr guter, aber … ein Informant. »Vielen Dank, dass sie Zeit haben. Sie werden hier und vor Ort übersetzen, sollten wir in eine Verhandlungssituation kommen«, sagte meine Chefin, als sie auf den unbekannten Mann deutete, der daraufhin nur nickte. Er schien ein russischer Vertreter zu sein und sollte als Dolmetscher arbeiten. Nun, ein Wort konnte ich zumindest schon verstehen. Bei den anderen war ich mir noch immer unsicher, was Wolkow mir eigentlich sagen wollte. Verschwinde. Schützte er mich? Schützte er jemand anderen? Schützte er sich selber? Er hätte mich töten sollen, doch das tat er nicht. Wusste er, wer ich war? Hatte er Angst? Da kicherte ich kurz auf. Ethan sah mich neugierig an, doch ich schüttelte den Kopf. Er hatte sicher keine Angst. Das hatte einen anderen Grund. Und tief in mir drin wuchs das Bedürfnis ihn zu fragen. Ich wollte es wissen. Wieso hast du mich nicht getötet? Wieso hast du mich gehen lassen? Freya handelte noch weitere Dinge ab, bis die Besprechung schließlich aufgelöst wurde. Circa zehn Minuten danach ging ich auf meine Chefin zu und stellte sie zur Rede. »Bin ich überhaupt dabei?«, fragte ich, legte die Schultern nach hinten, den Brustkorb nach vorne und reckte meinen Hals gefühlte Zentimeter in die Höhe, um Freya nicht nur verbal die Stirn bieten zu können. Mit ihren Pumps war sie immer ein gutes Stück größer als ich. Das machte mich manchmal nervös. »Nein«, war ihre klare, dennoch völlig unzureichende Antwort. »Wieso nicht?« »Mr. Lewis«, seufzte sie langgezogen, als hätte sie mir schon tausendmal verboten, die Hand auf die heiße Herdplatte zu legen, und hätte mich gerade wieder dabei erwischt. »Sie sind ein guter Mann und Sie haben uns im Fall sehr geholfen. Aber ihre waghalsige Aktion beim Außeneinsatz war unbedacht, verantwortungslos und gefährlich für die gesamte Mission. Außerdem weiß ich, dass Sie mit Mr. White in der Fabrik waren, in der Mrs. Iwanowna gearbeitet hatte, und haben eine unautorisierte Befragung potentieller Involvierter durchgeführt. Ich kann und werde das nicht gutheißen. Daher werden Sie morgen nicht dabei sein. Die Situation ist genauestens durchgeplant – so wie ich Sie kenne, würden Sie alles nur sabotieren und ruinieren.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich. Nachdem Freya erneut seufzte und mein Schweigen als Akzeptanz hinnahm, ging sie an mir vorbei und verschwand aus dem Besprechungsraum. Ethan blieb noch am Tisch stehen und wartete, dass ich ihm folgte. »Tut mit echt leid, Kyle. Aber ist vielleicht besser so. Weißt du? Es wird sicher gefährlich. Und du bist ja nicht so erprobt im Nahkampf. Ich weiß, dass dich das mit Wolkow juckt, aber… lass es einfach mal gut sein. Das ist es nicht wert.« Ethan hatte natürlich recht. Ich könnte einfach morgen ganz normal zur Arbeit, meinen Weihnachtsmann anstarren, ihm schöne Augen machen und mit ihm erneut in irgendeiner Abstellkammer vögeln. Wäre ein toller Tag geworden. Aber der Fall interessierte mich einfach ein Stückchen mehr. Ich hatte ihn angefangen und ich werde ihn auch zu Ende bringen. Oder zumindest dabei sein, wenn er zu Ende gebracht wird. »Hast ja Recht«, zirpte ich freundlich und bemühte mich um ein Lächeln. Ich steckte meine Hände in die Hosentasche und ging an Ethan vorbei. Er seufzte laut und packte mich am Ärmel. »Kyle, ich weiß, dass du da morgen auftauchen wirst. Lass es«, zischte er mir zu. Ich lehnte mich zu ihm und zischte genauso angeregt in sein Gesicht. »Ich werde da sein – ob mit oder ohne Freyas Erlaubnis!« »Sie wird dich kündigen.« »Na und? Dann mache ich den Job im Center eben Vollzeit. Nachdem sie mich so hintergangen hat, steht mir sowieso alles bis hier oben!« Dabei deutete ich über meinem Kopf einen imaginären Wasserspiegel an. »Sie lügt, Ethan. Sie lügt, dass sich die Balken biegen. Ich kann nur noch nicht den Finger draufhalten. Auf jeden Fall unterschlägt sie Informationen, die wichtig für den Fall sind. Es macht immer noch alles keinen Sinn, verstehst du?« Ethan nickte zwar, doch ich wusste, dass er das nur tat, damit ich mich wieder beruhigte. »Ich werde hausfinden, was Sache ist«, sagte ich in einem drohenden Ton. »Und wehe du sagst irgendetwas Freya!« »Das würde ich niemals tun und das weißt du«, murmelte Ethan und ließ endlich meinen Ärmel los. Schließlich nahm er mich fest in den Arm. Die Gestik überrannte mich ein wenig, sodass ich steif in seinen Armen stand. Er flüsterte mir leise ins Ohr: »Morgen um 15 Uhr wollen Sie Mr. Greens Haus stürmen. Vermutlich werden Sie bereits gegen 14.30 Uhr alles absperren. Wenn du da sein willst… mach es davor.« Damit ließ er los und ging ohne einen weiteren Blick in mein Gesicht an mir vorbei. Ich hörte seine schnellen Schritte über das Linoleum noch eine ganze Weile schallen, bis ich mich schließlich ebenfalls in Bewegung setzte. Der Tag war noch jung, also sammelte ich bereits alles, was ich brauchen würde. Munition, Schussweste und einen Waffengürtel, um alles zu verstauen, was ich an Waffen so mitbringen würde. Niemand bekam wirklich mit, dass ich mich eindeckte, während alle anderen Eingeweihten ebenfalls im Raum waren. Sie wussten wohl nicht, dass ich nicht dabei sein durfte. Ich schleppte alles nach Hause und bereitete mich vor. Natürlich spielte ich mit meinem Glück. Entweder würde Wolkow erneut Erbarmen zeigen und mich verschonen oder… mein letztes Stündlein hätte bald geschlagen. Ich peilte daher meine Ankunft so an, dass ich genügen Puffer hätte, um vor Freya anzukommen, aber dennoch im Notfall auf ihre Hilfe zählen konnte. Vielleicht würde ich auch endlich mehr über die Hintergründe erfahren. Für Freya galt nur die Festnahme und Immobilisation der Feinde. Für mich war der Grund wichtig. Nicht, dass es die Schuld der Beteiligten mildern würde. Aber es beruhigte meine Neugierde. Als ich am späten Nachmittag auf meiner Couch saß und angespannt aus dem Fenster starrte, dachte ich kurz daran, Santa zu schreiben. Doch dann fiel mir ein, dass ich seine Nummer nicht hatte. Herrgott, dachte ich, diese Beziehung ist ein einziges Wrack. Vermutlich würde es für immer bei Sex bleiben. Aber würde der Sex auch so leidenschaftlich sein, wäre das kein Problem. Jedenfalls vorerst nicht. Kurzerhand beschloss ich noch ins Center zu fahren. Ich brauchte Ablenkung vor dem Fall. Ich hätte noch den ganzen morgigen Tag, um meinen Plan zu verfeinern. Denn im Groben stand er ja bereits fest: Vor Freya an Mr. Greens Haus sein. Die Baupläne vom Gebäude hatte ich mir bereits von Ethans Rechner geklaut. Alles andere… musste ich sowieso dem Zufall überlassen. Das Center war wie immer brechend voll. Besonders an einem kalten, schneevollen Nachmittag suchten viele die warmen Hallen auf, um zu shoppen. Ich schlenderte durch die Gänge und genoss es enorm mal Besucher und nicht Angestellter zu sein. Obwohl ich mir manchmal Sorgen um mein Privatleben machte. Wenn ich den freien Tag schon nicht auf der einen Arbeit verbracht, verbrachte ich ihn freiwillig auf der anderen Arbeit. Das konnte nicht gesund sein. In dem Moment, wo ich jedoch Santa wie immer fröhlich lächelnd auf seinem Stuhl sitzen sah, war ich froh hergekommen zu sein. Ich holte mir einen Glühwein und setzte mich auf die Bank, an der ich bisher immer saß, wenn ich ihn beobachten wollte. Es dauerte auch nicht lange, bis mich ein Engelchen sah. Die junge Dame konnte mich wohl noch nicht ganz einordnen und verteilte einfach weiter Schokolade. Als sie dann zu zweiten Mal hersah und mich genauer betrachtete, begann sie zu lächeln. Ob aus Höflichkeit oder weil sie mich wirklich erkannt hatte, wusste ich nicht. Ich erwiderte das Lächeln einfach mal. Kurz bevor mein Glühwein leer war, flüsterte sie Santa auf einmal etwas ins Ohr. Just in dem Moment ging sein Kopf hoch und er sah in meine Augen. Mein Herz klopfte auf einmal stärker und mir wurde warm. Santa lächelte breit und winkte mir zu. Ich winkte zurück und schämte mich sofort für die peinliche Aktion, sich einfach herzusetzen und nur zu starren. Vermutlich wäre es klüger und netter gewesen, einfach zu ihm gegangen zu sein. Aber ich war nun mal Mr. Sozial-Inkompetent. Er sprach mit seinen Engelchen, die prompt seinen Platz einnahmen und die Kinder weiterhin mit Schokolade versorgten. Mit großen und schnellen Schritten kam er auf mich zu. »Mr. Lewis«, sagte er wie immer und griff sofort nach meinem Arm. Ich stand schnell auf und wurde mit einem innigen Schmatzer begrüßt. »Was machen Sie denn hier? Haben Sie nicht heute frei?« Für einen kurzen Moment war ich sprachlos. Er kam extra für mich her, stellte dafür seine Engelchen hin, küsste mich in aller Öffentlichkeit auf den Mund und machte damit sehr deutlich, was wir waren und … wusste, wie meine Arbeitszeiten waren? »Ich… ich wollte etwas Ablenkung und … dachte, ich komme mal vorbei«, murmelte ich, während ich in seinen Armen wankte. Meine Beine wurden wieder etwas wackelig. »Sie wollten mich also sehen?«, fragte Santa und grinste breit. Meine Wangen färbten sich etwas rosa, als ich vorsichtig nickte. »Sie sind wundervoll, Mr. Lewis.« Es pochte in mir und ich wusste, dass das Rosa schnell zu Rot wurde. »Wie lange sind Sie noch hier?«, fragte er und ließ mich schließlich los. »Ich hatte meine Pause schon. Hätte ich gewusst, dass Sie noch kommen, dann –« »Nein, oh Gott, nein«, unterbrach ich ihn. »Ihre Pause nehmen Sie bitte, wann Sie sie brauchen. Ich bin sicherlich noch eine Weile hier. Haben Sie denn bald Schichtende?« »Leider erst, wenn das Center schließt.« Ich starrte auf die Uhr. Das waren noch drei Stunden. Eine lange Zeit, die ich eigentlich nicht im Center verbringen wollte. »Ach, ich wollte Sie einfach nur kurz sehen. Mehr nicht. Ich würde mir sowieso wünschen, wir würden uns vielleicht mal woanders treffen.« Da lachte ich nervös auf und kratzte mich am Hinterkopf. Meine roten Wangen pochten. Santa schwieg. Als nach einigen Sekunden nichts kam, sah ich unsicher in seine Augen. »Nein…?«, hauchte ich vorsichtig und zog die Augenbrauen zusammen. Sein Blick war unergründlich. Irgendwie neutral und doch angespannt. Er schien nachzudenken, tief in seinem Verstand zu wühlen, was er als Nächstes sagen sollte. Wollte er wirklich diese Sexbeziehung im… Center führen? »Mr. Lewis«, sagte er schließlich sehr leise. »Ich werde nach Weihnachten zurückgehen. Nach Litauen.« Mein Atem stockte. Oh, natürlich. Da war endlich der Haken. Er würde nicht mehr in London sein. Die Enttäuschung musste mir wohl fast aus dem Gesicht gelaufen sein, denn er griff sofort nach meinen Wangen und küsste mich liebevoll auf die Lippen. Ich fühlte mich wie überfahren. Dass es so ein Ende nehmen würde, hätte ich nicht gedacht. »Ich bleibe nicht lange, es ist nicht für immer«, versicherte er mir und bemühte sich um ein Lächeln. Der Plastikbart zog sich dabei erneut nach oben. »Wenn ich wieder da bin… bin ich mir sicher, können wir uns außerhalb dieser vier Wände sehen. Nur jetzt… im Moment geht es einfach nicht.« Ich nickte stumm. Seine warmen Hände lagen noch immer auf meinen Wangen, während seine Daumen über meine Haut streichelten. »Eventuell«, flüsterte ich schließlich und begann an den morgigen Tag zu denken. »bin ich morgen auch weg. Ich weiß es noch nicht.« Santas Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Langsam glitten seine Hände auf meine Schultern. »Wohin gehen Sie, Mr. Lewis?« Seine Stimme war auf einmal dunkel und wirkte sehr viel weniger freundlich als vorher. Ich hob die Schultern an, um meine Unsicherheit zu unterstreichen. »Ich weiß es noch nicht. Morgen ist ein… wichtiger Tag. Eventuell … können Dinge passieren, auf die ich keinen Einfluss habe.« Sein Blick wurde düster. Er sagte einige Momente lang nichts, sodass ich unsicher zu ihm aufsah. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte ich vorsichtig und tastete nach seinem Oberkörper. Alles in ihm schien angespannt zu sein. Seine Muskeln und sein Gemüt. »Nein«, sagte er langgezogen und musterte dabei intensiv mein Gesicht. »Sie sagen es nur so… determiniert. Ich habe Angst, Sie reiten sich da in etwas rein.« Jetzt war ich an der Reihe die Augenbrauen zusammenzuziehen und verwirrt zu schauen. Zwar war ich schon das ganze Gespräch über extrem neben der Rolle, doch nach Santas Besorgnis intensivierte sich der Zustand enorm. »In etwas reinreiten?« »Vergessen Sie‘s«, sagte er auf einmal und lächelte, als wäre nichts geschehen. »Ich habe da vielleicht etwas zu viel reininterpretiert.« Ich nickte langsam und bemühte mich auch um ein Lächeln. »Ich wollte Sie einfach sehen…« Santas braune Augen wurden auf einmal weich. Sie schimmerten im Licht der Girlanden um uns herum. Sie wirkten fast traurig. »Ich möchte Sie noch einmal lieben«, sagte er schließlich und griff nach meinen Händen. »Lassen Sie es noch einmal zu?« »I-Ist das… ist das jetzt schon das Ende?« Mein Herz schlug so feste gegen meine Brust, dass ich Angst hatte, er würde es selbst über die Lautsprecher und die Menschen um uns herum hören. »Sagen Sie es mir«, hauchte er dunkel. Erneut war da diese Stimmung zwischen uns. Etwas Elektrifizierendes und doch Verstörendes. Etwas, von dem ich nicht wusste, wie ich es einordnen sollte. »Also eigentlich«, begann ich und drückte seine Hände, »wollte ich das zwischen uns noch eine Weile aufrechterhalten. So lange… wie es eben geht.« Santa lächelte. »Sie klangen gerade so nach Abschied.« »Ich weiß«, lachte ich unangenehm berührt. »Ich weiß einfach nicht, was morgen passieren wird. Vielleicht komme ich auch nicht wieder, aber… ich denke schon.« Sein Kieferknochen bewegte sich merklich hin und her, als würde er Worte mit Kraft zurückhalten wollen. »Sie dürfen mich noch einmal lieben«, sagte ich schließlich und presste mich näher an ihn, sodass sich unsere Körper berührten. »Aber nur unter einer Bedingung.« Santas Augen weiteten sich. »Die da wäre?« »Ich will Ihre Handynummer.« Wie immer brauchte Santa nicht viel Überzeugungskraft, um sich einfach so mit mir davon zu machen. Die Engelchen kicherten alle etwas verlegen, ließen ihn dann jedoch gehen. Interessant, wie sie am Anfang noch um ihn buhlten und es jetzt mit Leichtigkeit hinnahmen, dass er schwul war. Vermutlich war es für sie einfacher zu akzeptieren, als eine Konkurrentin. Er zog mich liebevoll, aber bestimmend durch die vollen Gänge. Schließlich blieb wir erneut beim Personalgang stehen. »In den Putzraum können wir nicht«, sagte er leise. »Die Putzkräfte werden bald kommen und ihre Sachen holen.« Mein Herz hämmerte ungnädig gegen meinen Torso. Suchten wir gerade etwa erneut nach einem Ort im Shopping-Center, wo man ungestört Sex haben konnte? Ich sollte vielleicht ein Buch darüber schreiben, dachte ich beiläufig. Während wir händchenhaltend den Personalgang entlang gingen, erreichten wir irgendwann den Ausgang zum Parkdeck. Dort war ein Schild für eine Toilette. »Ich wusste gar nicht, dass hier eine Toilette ist«, murmelte ich beiläufig und stierte das Schild an. »Ich auch nicht. Aber ich arbeite hier auch nicht seit drei Jahren. Vielleicht wissen mehrere Leute nicht, dass hier ein WC ist.« Mit diesen Worten zog er mich Richtung Toiletten. Er merkte sich die Dinge, die ich ihm sagte. Wie lange ich hier arbeitete hatte ich ihm mal ganz zu Beginn verraten. Ein gutes Gedächtnis hatte er also schon mal. Die Räumlichkeiten waren nicht sehr schön – Kabinen an Kabinen reihten sich aneinander. Die Wände ungepflegt und die Kacheln teilweise schon abgetragen. Diese Toilette wurde tatsächlich nur selten benutzt und wohl auch nur selten gewartet. »Nicht sehr schön hier«, säuselte ich leise, während ich das Innere mit den Augen abfuhr. Santa setzte sofort zum Gehen an. »Dann suchen wir etwas anderes.« »Nein«, grinste ich und zog ihn wieder zu mir, »es ist in Ordnung. Irgendwann…«, da sah ich in die weite Ferne jenseits seiner Schulter, »… werden wir es in einem warmen, gemütlichen Bett tun. Auf diesen Tag freue ich mich schon.« Ich wollte ironisch sein und kicherte laut, um meinen Punkt zu untermalen. Doch Santa sah etwas zerknautscht in meine Richtung. »Das wünsche ich mir auch…« Seine so sensibel ausgesprochenen Worte machten mich stutzig. »Irgendwie klingt es so nach Abschied…« »Ja«, stimmte er mir knapp zu. »Vielleicht ist das ein Abschied.« Auf einmal war die erotische Stimmung wieder verloren gegangen. Wir standen aneinander geklammert inmitten der Toilette und starrten uns an. Schließlich beugte sich Santa vor und küsste mich sinnlich auf die Lippen. Vorsichtig knabberte er an meiner Unterlippe, bevor er sie wieder mit seiner vereinte. Der Kuss wandelte sich überraschenderweise doch schnell in ein heißes Zungenspiel. Seine starken Arme griffen nach mir, hoben mich ein Stück hoch und ließen mich förmlich über den Boden schweben, während er uns beide in eine der hinteren Kabinen beförderte. Mit einer schnellen Bewegung schloss er ab und presste mich gegen die kalte Toilettenwand, an der einige Dinge mit Alkoholmarker geschrieben waren. Wir küssten uns, als gäbe es kein Morgen. Er griff nach meinen Hüften, presste sie an sich und knetete dabei meinen Hintern. »Mh… oh… ja…«, säuselte ich bereits im Delirium und klammerte mich an seine Schultern. Es dauerte nicht lange und er begann mich auszuziehen. Mit fast hektischen Bewegungen tat ich es ihm gleich und knöpfte seine Jacke auf, um an seine Hose zu kommen. Schnell packte ich sein halbsteifes Glied aus und begann es zu streicheln. Er seufzte schwermütig und küsste derweil meinen Nacken entlang. Inzwischen hatte er auch meine Männlichkeit befreit und gab ihr einige druckfeste Berührungen. Ich seufzte sehnsüchtig in seinen Mund und vereinnahmte gänzlich seine Zunge mit meinen Lippen. »Mr. Lewis«, seufzte Santa auf einmal auf, löste sich von mir und deutete mir mit einer Handbewegung an, dass ich mich umdrehen sollte. Ich tat sofort, wie von mir verlangt und fühlte mich im Nu wie eine Hure, die man auf der Straße aufgesammelt und nun in eine nächstgelegene Toilette gezerrt hatte, um sie dort hart ranzunehmen. Und wenn ich ganz ehrlich war: Der Gedanke turnte mich an. Santa drückte meinen Rücken in Position und griff nach meiner Hüfte. Mit einer schnellen Bewegung schob er meine Füße mit seinen noch ein Stück auseinander, sodass ich extrem breitbeinig vor ihm stand – mit meinem Hintern in der Höhe. Er musste etwas in die Knie gehen, um mich gut erreichen zu können, doch das schien ihm nichts auszumachen. Letztendlich beugte er sich sogar zu mir vor und leckte einmal großzügig über meinen Eingang. »Oh! Oh, das ist… mhh…«, stöhnte ich gedämpft auf; wissend, dass jederzeit jemand hereinkommen konnte. »Fühlt es sich nicht gut an?«, hakte Santa mit rauer Stimme nach und leckte erneut über die Stelle. Ich spürte, wie die Spitze seiner Zunge in mich eindrang. »Oh doch… ja… das fühlt sich… enorm gut an«, seufzte ich sehnsüchtig und streckte mich nach den Berührungen. Er leckte und küsste so lange meinen Eingang, bis er feucht genug war, um einen Finger einzuführen. Der ging so einfach in mich hinein, dass er gleich einen zweiten einführte. »Tu es…«, raunte ich und drehte mich ein Stück zu ihm. »Fick mich einfach. Du darfst nicht so lange weg sein.« »Ich bin so lange weg, wie ich weg bin«, knurrte er gefährlich, als hätte ich ihn in seiner Lieblingsbeschäftigung gestört. Er fingerte mich zwar noch einige Momente in absolute Ekstase, nahm sich meinen Vorschlag aber wohl doch zu herzen und zog sich schnell aus mir heraus, als eigentlich nötig gewesen wäre, um mich auf ihn vorzubereiten. Doch ich liebte den leichten Schmerz, der durch meinen unteren Rücken zog, wenn jemand unvorbereitet in mich eindrang. Und genau das tat Santa, nachdem er mit flinken Fingern das Kondom übergezogen hatte. »Oh, fuck, ja!«, stöhnte ich nun doch laut auf, obwohl ich mir das Gegenteil fest vorgenommen hatte. »Genau da!« Er fackelte nicht lange und stieß mit kräftigen und ruppigen Bewegungen in mich rein. Da war es wieder: das Tier. Die ganze Zeit hing eine Regenwolke über uns, es klang nach Abschied und er schien absolut enttäuscht darüber zu sein. Zärtlich, liebevoll und fürsorglich hatte er mich mehrmals geküsst und mich darum gebeten ‚noch einmal mit ihm Liebe zu machen‘. Und dann vögelte er mich so hart gegen eine dreckige Toilettenwand, dass die schwarze Schrift des Alkoholmarkers und die Sternchen, die ich sah, in meinem Blickfeld eins wurden. Das dubiose daran: Ich mochte beide Seiten an ihm sehr gerne. Keuchend und stöhnend gaben wir uns dem rauen Sex hin. Ich stöhnte immer wieder vor mich hin, während von ihm nur leises Brummen oder Seufzen zu hören waren. Er kam so tief in mich rein, dass ich das Gefühl hatte, er traf bald auf meine Magengegend. Gerade, als ich in meinem nebeligen Kopf darüber nachdachte, mich selbst anzufassen, zog er sich aus mir raus. Ich keuchte auf, drehte mich hastig um und sah ihn mit fragendem Blick an. War es schon vorbei? War er gekommen? Hatte ich was nicht mitbekommen? »Kommen Sie«, sagte er etwas außer Atem und deutete mir mit Händen an, dass ich mich wieder umdrehen sollte. Mit wackeligen Beinen tat ich, wie von mir verlangt und lehnte schließlich erschöpft an der Toilettenwand. Er zog meine Hose noch ein gutes Stück weiter runter, bis er ein Bein von mir packte und es aus dem Hosenbein zerrte. Das Ganze verlief etwas unkoordiniert und hektisch, als könnte er keine Sekunde länger warten. Mit einem tiefen Seufzer hob er mich hoch und presste mich erneut gegen die Wand. Sein Schwanz berührte bereits meinen feuchten Eingang. »Ich will Ihr Gesicht sehen, wenn Sie kommen«, säuselte er mir entgegen und küsste mich leidenschaftlich auf die Lippen. Ich umschlang seinen Nacken mit den Armen und ließ mich einige Zentimeter in seinem Griff fallen. Langsam glitt er erneut in mich ein, bis er vollständig in mir drin war. Nach nur wenigen Korrekturen unserer Position begann er in mich hineinzustoßen. Das stetige auf und ab ließ mich noch mehr Sternchen als zuvor sehen. Mein Kreislauf fuhr mit dem ganzen Gestöhne, den leichten Schmerzen und dem Herzklopfen ordentlich Achterbahn. Unsere Münder fanden regelmäßig zueinander. Wir küssten uns, bissen uns und leckten uns bis wir beide nach Atem ringen. Es war leidenschaftlich, wild und irgendwie primitiv. Nicht, dass wir sonst so hoch anspruchsvolle Gespräche geführt hatten, doch einen gewissen Intellekt hatte ich nie abgelegt. Hier schon. »Oh, fuck, ja… genau da… ja!«, keuchte ich in sein Ohr und klopfte mir dabei selber auf die Schulter, wie eloquent ich wieder einmal war. Das stetige Reiben und Berühren brachten mich zügig zum Orgasmus. Gerade, als ich ihn vorwarnen wollte, dass ich kurz davor stand zu kommen, hörte ich ihn dunkel stöhnen. Er kniff die Augen zusammen und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Ich küsste ihn hungrig auf die Lippen, als auch ich meinen Orgasmus zuließ. In letzter Sekunde dachte ich daran, meine Hand als Schutzschild vor etwaigen Spermaflecken auf unserer Kleidung zu verwenden. Für einige Sekunden verharrten wir in unserer innigen Umarmung und suchten nach Luft. Schwer atmend schwiegen wir, bis Santa sich mit mir von der Wand löste. Er glitt langsam aus mir heraus, während wir uns langsam voneinander lösten. Der tiefe Augenkontakt folgte sofort. »Mr. Lewis«, begann Santa mit leiser, rauer Stimme. »Nennen Sie mich doch wenigstens beim Vornamen«, kicherte ich schwächlich und strich liebevoll über seinen Nacken. Die weißen Plastikhaare hatten sich etwas verknotet. Santa sagte nichts, sondern starrte einfach nur weiter in meine Augen. Irgendwann, nachdem er erneut einfach nur für mehrere Momente schwieg, küsste er mich mit viel Druck auf die Lippen. Es war ein einfacher Kuss, der schnell kam und schnell endete. Vorsichtig setzte er mich auf dem Boden ab und machte sicher, dass ich einen guten Stand hatte. Schließlich zogen wir uns wieder an und richteten die Kleidung, um wieder ansehnlich in die Öffentlichkeit gehen zu können. Unsicher spähte ich aus der Kabine, doch war mir sicher, dass währenddessen niemand hereingekommen war. Und wenn doch – er hatte wohl sofort wieder kehrt gemacht. Santa nahm mich an die Hand und begleitete mich aus der Toilette. Ich lächelte ihn zwischendurch mal an. Er erwiderte das Lächeln nur zögernd. Das war wohl wirklich ein Abschied. Irgendwie tat es weh. So schnell wie es gekommen war, so schnell endete es? Nur, weil ich die Andeutung auf den morgigen Tag gemacht hatte? »Bitte wissen Sie, dass ich es nicht so ernst mit morgen meinte«, sagte ich schließlich aus heiterem Himmel und erhoffte mir eine milde Reaktion. »Ich wollte nicht andeuten, dass ich verschwinde oder… Sie verlasse.« Santa blieb stehen und sah mir dabei tief in die Augen. Seine Schokoladenbraunen Augen glitzerten erneut im Licht der Weihnachtsbeleuchtung des Centers. »Sie wirkten unsicher über das Ergebnis der morgigen Begebenheit.« »Das… bin ich noch immer, aber –« »Dann tuen Sie es nicht«, sagte Santa auf einmal sehr bestimmend. »Kommen Sie morgen einfach zu mir. Wir trinken einen Tee zusammen. Und dann… suchen wir uns einen schöneren Ort für unsere Zweisamkeit.« So schön wie das klang, so sehr wusste ich auch, dass es nicht ging. Ich musste Mrs. Iwanowna helfen. Und Wolkow wollte ich eins auswischen. Ich wollte ihn zur Rede stellen. Vermutlich würde ich mich bis in mein Grab darüber ärgern, wenn ich bei der Razzia nicht dabei gewesen, sondern stattdessen mit Santa gevögelt hätte. »Ich muss«, sagte ich sanft und lächelte mein bestes Lächeln. »Aber ich will Sie wiedersehen.« Santa seufzte langgezogen, als hätte er diese Antwort bereits erwartet. Er klang so, als wüsste er, was morgen passieren würde. Tat er das? Wusste er … über mich Bescheid? Nein, oder? »Das werden Sie auch«, versicherte er mir schließlich und löste sich von mir. Er kramte in seiner Hosentasche nach seinem Handy und reichte es mir schließlich. »Geben Sie mir Ihre Nummer. Ich schicke Ihnen eine SMS. Dann haben Sie meine.« Ich grinste breit und vergaß alles, was ich vorher gedacht hatte und tippte meine Nummer ein. Als Santa es wieder zurück nahm, nickte er und tippte einige Worte, bis er es schließlich wieder zurück in die Tasche fallen ließ und ich ein Vibrieren in meiner Tasche spürte. »Bis morgen, Mr. Lewis«, verabschiedete er sich wie er es immer tat und küsste mich sehnsüchtig auf den Mund. Ich schloss die Augen, sog noch einmal seinen herben Geruch ein und musste schließlich in den Kuss grinsen. Ein bisschen Dramatik und ich hatte zumindest seine Handynummer bekommen. Was ich wohl für den Rest alles tun müsste? Meinen Tod vortäuschen? »Bitte passen Sie auf sich auf«, fügte er seiner Verabschiedung noch hinzu. Letztendlich lächelten wir uns noch einmal an, bis er wieder zurück zu seinem Stuhl ging, wo die Engelchen ihn schon sehnsüchtig erwarteten. Ich sah ihm noch eine Weile hinterher, bis ich schließlich das Center verließ. Noch am selben Abend suchte ich seinen Namen in unserer Datenbank. Niemand wurde gefunden. Er war also schon mal keiner von Freyas Spitzeln, die sie gerne und häufig auf mich und andere ansetzte, wenn sie vermutete, dass wir Geheimnisse hatten, die wir nicht hätten haben dürfen. In der normalen Online Suche fand ich nur einen Jurijus Bluvšteinas, der Kriminologe und Professor in Litauen war. Aber der war bereits tot. Ansonsten gab es nichts um diesen Namen. Nun ja, das war keine Seltenheit, dass Menschen nicht online waren. Vielleicht mochte er Facebook und Co. gar nicht. Erst im Bett dachte ich daran auf mein Handy zu schauen. Da war noch Santas SMS, die ich schnell öffnete und las. »Tun Sie es nicht.« Kapitel 14: Mr. Green --------------------- Ich war aufgeregt, als ich den Wecker ausschaltete, noch bevor er klingelte. Mit rauer Stimme rief ich Cindy an und sagte ihr, dass ich krank sei. Sie traute dem Braten nicht, sagte aber – wie es sich für eine gute Kollegin hielt – dem Chef Bescheid, dass ich Magen-Darm hätte. Zwar wäre mir eine bessere Ausrede eingefallen, aber dann war es eben Magen-Darm. Als ich unter der Dusche stand und über den gestrigen Tag nachdachte, erschien mir alles etwas merkwürdig. Nicht nur, dass Santa auf einmal so besorgt war, was ich tun würde, sondern auch, dass er es mehrmals wiederholte. Erst jetzt registrierte ich vollends, dass ich nichts über ihn wusste. Sein Aussehen, seine Herkunft, seinen richtigen Namen? Wer weiß – er hätte über alles Lügen können, ich hätte keine Ahnung gehabt. Es könnte stimmen, es könnte auch nicht stimmen. Aber wieso sollte er seine so gut gepflegte Identität auf einmal auffliegen lassen, nur weil ich heute etwas Gewagtes tue? Gut, vielleicht habe ich etwas übertrieben, als ich ihm erzählte, dass ich eventuell nicht wiederkomme. Jeder Normalsterbliche hätte da vermutlich auch das Schlimmste erwartet. Trotzdem: Santa war ein für mich völlig unbekannter Mann. Dass er so akribisch sein Aussehen verschleierte machte mich sowieso stutzig. War er also doch einer von uns? Ein Gefühl von Wut und Trauer machte sich in meiner Magengegend breit. Wenn er wirklich nur ein Spitzel von Freya war… hätte er mich nicht so um den Finger wickeln müssen. Und was, wenn er es nicht war? Wenn ich wieder einmal Dinge überinterpretiere? Cindy hatte ich am Anfang auch für eine Agentin gehalten. War sie natürlich nicht. Aber ich war mir erst sicher, als ich ihre gesamte Bude auf den Kopf gestellt hatte, als sie arbeiten war und ich frei hatte. Bis heute bin ich mir jedoch nicht sicher. Jedenfalls nicht zu 100%. Am Mittag rief mich Ethan an. Er klang etwas nervös und deutete mehrmals daraufhin, dass ich es vielleicht doch lieber lassen sollte. »Was, wenn das schief läuft? Was, wenn Wolkow dich sofort erschießt?«, bangte er um mein Wohlergehen. »Er hat es die letzten zwei Male nicht getan. Wieso sollte er es jetzt tun?«, seufzte ich, während ich die Kugeln zählte, die ich für meine Waffe hatte. »Weil er es nie getan hat, heißt nicht, dass er es nie tun wird«, gab Ethan seinen Einwand, »Ich mache mir einfach nur Sorgen, Kyle. Außerdem wird Freya außer sich sein, wenn sie dich dort findet.« »Sie wird mich nicht dort finden. Ich werde vorher weg sein.« »Ich dachte, du willst sie alle auf eigene Faust festnehmen?« »Nein, ich will Antworten. Freya wird sie mir nicht geben.« Mein Kollege seufzte laut ins Telefon, sodass ich den Hörer einige Zentimeter vom Ohr halten musste. »Und Wolkow wird dir die Antworten geben? Das ist kein James Bond Film, Kyle, wo die Bösewichte am Ende erst mal eine halbe Stunde reden und den ganzen Plan erzählen, um dann in letzter Sekunde gestoppt zu werden.« Ich antwortete nicht sofort, sondern starrte aus dem Fenster. Es hatte erneut in der Nacht geschneit und der Stadt eine gute Schicht Neuschnee geschenkt. Sollten sie fliehen wollen, wäre es zumindest nicht einfach. Die Wetterverhältnisse waren enorm schwierig. »Das weiß ich, Ethan«, sagte ich monoton, während mein Blick auf der Welt jenseits des Fensters haften blieb, »Aber ich habe da so ein Gefühl. Ein ziemlich schlechtes. Irgendwie passt hier nichts zu einander, weißt du, was ich meine?« »Nein«, antwortete Ethan prompt und lachte verängstigt. »Du folgst also deinem Bauchgefühl? Ich habe das Gefühl, dass es dich in den Tod reißen wird.« Das Gespräch lief dann noch eine gute halbe Stunde auf diese Art und Weise. Ethan äußerte seine Bedenken, ich äußerte meine und am Ende des Gesprächs waren wir beide ziemlich unsicher über ungefähr alles. Doch ich wollte nicht zu Hause bleiben und abwarten, was passierte. Wolkow würde vermutlich sofort erschossen werden. Mrs. Iwanowna wird man in Gewahrsam nehmen und sofort dem Zeugenschutzprogramm unterstellen. Wer auch immer noch in dem Haus sein wird – Mr. Green zum Beispiel – wird man festnehmen und dazu anhalten, der Presse etwas ganz anderes zu sagen. Für die Sicherheit der Nation versteht sich. Lügen, um Massenpanik zu vermeiden. So wie es eben auch die letzten Jahre immer passierte. Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Wenn man auf etwas wartete, dauerte es umso länger. Ich aß in aller Stille etwas, trank einen Schluck Whiskey und begann mich auszurüsten. Die Waffen und die Munition waren schwerer als ich dachte, also entschied ich mich, ein Magazin zu Hause zu lassen. Sollte es zur Schießerei kommen, hätte ich sowieso keine Chance, wenn mehr Leute anwesend waren. Und ich hatte keine Ahnung wie viele es werden würden. Nach dem Bericht und den Beobachtungen zu urteilen vielleicht noch zwei oder drei weitere Männer neben Wolkow. Doch Wolkow allein würde schon eine Herausforderung werden. Allerdings hatte ich kein Bedürfnis ihn umzulegen. Quid pro quo wie es so schön hieß: er ließ mich am Leben, ich werde ihn am Leben lassen. Als es dann endlich soweit war, stieg ich mit zittrigen Händen ins Auto. Die Coolness, die ich mir über die Jahre hab aneignen lassen, verflüchtigte sich, je näher ich Mr. Greens Haus kam. Die Straßensperrungen waren in der Tat noch nicht aufgestellt worden – ich kam problemlos durch. Keine von Freyas Männern war zu sehen. Entweder sie versteckten sich extrem gut oder sie waren tatsächlich noch nicht da. Ich parkte in einer Seitenstraße und verharrte für einen Moment. Das Haus war ruhig, ein Auto stand davor; dasselbe wie damals. Ein gepflegter Mittelklassewagen. War es also Mr. Greens Auto oder Wolkows? Mein Herz pochte und mein Atem beschleunigte sich. In ein paar Minuten würde ich in das Haus eindringen und Wolkow zur Rede stellen. Dieses Mal war ich vorbereitet: Der Weg durch das Kellerfenster war am günstigsten. Angeblich waren es nur Gitter, die man einfach herausnehmen konnte. Im unteren Bereich wurden dann ebenfalls nur Gitter verbaut, keine Scheiben oder sonstiges. Ich könnte ungestört eindringen und dann… versuchen mich unbemerkt durch das Haus zu schleichen, in der Hoffnung, dass man mich nicht sofort umlegte. Mit etwas zittrigen Händen holte ich mein Handy raus. Ich wusste, dass Santa gerade arbeitete, trotzdem schrieb ich ihm eine SMS. »Auch wenn Sie dagegen waren, muss ich es tun. Wir sehen uns auf jeden Fall morgen wieder, das verspreche ich.« Ein starkes Versprechen, aber ich war gewillt es einzuhalten. Mit einem schweren Herzen stieg ich aus dem Auto und schloss die Tür so leise ich konnte. Mit großen Schritten stapfte ich durch den hohen Schnee zum Nachbarhaus von Mr. Green. Ich beobachtete dabei die Fenster. Sie waren mit Vorhängen bedeckt, sodass man nicht direkt reinsehen konnte. Das Licht war noch nicht an und draußen war es noch zu hell. Da aber sonst niemand zu sehen war, stieg ich über den Zaun und landete schließlich in einem Gebüsch. Es war so wahnsinnig kalt, dass ich das Gefühl hatte, die nasse Kälte kroch durch meine Kleidung. Erneut wartete ich einige Sekunden ab, ob jemand herauskam. Ich zückte mein Brecheisen aus dem Gürtel und hechtete zum Kellerschacht. Das Gitter war mit Schnee bedeckt, doch den konnte ich schnell entfernen. Immer sondierte ich die Lage um mich herum. Dass man mich von hinten angriff würde ich nicht noch einmal riskieren. Tatsächlich konnte ich das Gitterfenster öffnen und beiseiteschieben. Der Schacht war klein und dreckig, aber ich passte rein. Mit einem kleinen Spiegel versuchte ich in den Keller zu blicken. Das untere Gitter war einfach verbaut, sodass ich auch dieses ohne weitere Schwierigkeiten entfernen könnte. Im Kellerraum war niemand. Nur Kisten und Werkzeug. Eingestaubte Weihnachtssachen und anderen Kram, den jeder so im Keller hatte. Was, wenn ich gerade in Mr. Greens Haus einbrach und der eigentlich gar nichts damit zu tun hatte? Ich ließ mich nicht weiter beirren und kletterte runter. Dort knackte ich das Gitter und quetschte mich durch die offenen Drähte. Es dauerte einige Momente länger, als ich dachte, doch niemand bemerkte mich, während ich elegant wie ein toter Fisch in den Kellerraum glitt. Dort angekommen hielt ich den Atem an. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich war drin. Der Kellerraum war offen, sodass ich in den kleinen Flur des Kellers ging. Ein ganz normales Einfamilienhaus mit einer Treppe, die nach oben führte. Oben hörte ich Stimmen. Eine männliche. Noch eine männliche. Dann eine weibliche. Das musste Irina Iwanowna sein. Schließlich hörten die Stimmen auf. Eine Tür wurde geschlossen. Ich zog meine geladene Waffe und hielt mich auf Position. Der Moment der Wahrheit war gekommen, dachte ich. Was machte ich, wenn Wolkow nicht da war und man tatsächlich einfach so auf mich schießen würde? Im Keller konnte man die schweren Türen aufgrund von Brandschutz gut verriegeln. Vielleicht wäre das eine Chance. Mit vorsichtigen Schritten tastete ich mich die Treppe hoch. Es wurde enorm still im Haus, sodass ich Angst hatte, jemand könnte mich hören. Die Nässe meiner Arbeitsschuhe half dabei herzliche wenig. Ich hinterließ sogar kleine Pfützen. Sollte also jemand hierherkommen, wüsste er sofort, dass ein Einbrecher im Haus war. Oben angekommen stand ich in einem schmalen Flur. Eine weitere Treppe ging in den ersten Stock, zwei Türen gingen vom Flur aus weiter ins Erdgeschoss. Ich hatte keine Ahnung, woher die Stimmen kamen. Doch der zweite Stock barg Risiken: Wenn ich das Erdgeschoss nicht vorher gesichert hatte, konnte man mich von zwei Seiten angreifen. Der Keller war sicher, das wusste ich nun. Am klügsten war es also, dass ich mich ums Erdgeschoss kümmerte. Ich haderte eine der Türen zu öffnen. Vermutlich ging eine ins Wohnzimmer und die andere in die Küche. Vor meinem geistigen Auge versuchte ich den Umriss von Mr. Greens Haus noch einmal durchzugehen. Ich packte nach der linken Tür und war mir sicher, dass sie ins Wohnzimmer führte. Es war ein großer Raum, etwas Schlauchförmig. Rechts davon war die Küche. Abgetrennt durch eine Schiebetür. Sollten sich die Personen in einem der beiden Räume befinden, sollte ich vielleicht mit dem kleineren anfangen. Da war die Wahrscheinlichkeit von mehreren Seiten angegriffen zu werden, geringer. Also ließ ich die Wohnzimmertür los und öffnete stattdessen vorsichtig die Küchentür. Ich sah Küchenzeilen. Eine Spülmaschine. Einen Tisch. Mehrere Stühle und schließlich ein großes Fenster, was den hinteren Bereich des Hauses zeigte. Ich öffnete die Tür ganz und sprang in den Raum. Sofort erschrak ich, als ein Mann ganz gelassen in meinem Augenwinkel vom Tisch aufstand. Ein Vorratsschrank hatte ihn verdeckt. Panisch richtete ich die Waffe auf ihn. Er verharrte in seiner Bewegung. »Alexej Wolkow«, zischte ich seinen Namen. Mein Puls beschleunigte sich wieder und pochte in meinen Ohren. Der große Mann mit den eisblauen Augen starrte einfach nur in meine Richtung. Er trug ein einfaches schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans. Eine weiße Bandage blitzte an einem Oberarm hervor. Vermutlich die Schnittwunde, die ich ihm an dem einen Abend im Garten zugefügt hatte. Mein lauf zitterte, doch ich versuchte die Fassung zu wahren. Auch wenn die Gerüchte umhergingen, dass der Mann ein gefährliches Tier war – bewiesen hatte er es bisher nicht. Manchmal waren Gerüchte auch eben nur Gerüchte. Er sagte nichts. Stand einfach nur da. Erst auf dem zweiten Blick erkannte ich, dass er eine Waffe in der Hand hatte. »Wo ist Irina Iwanowna?«, fragte ich die gleiche Frage wie beim letzten Mal. Erneut antwortete er nicht. Sein Blick war finster. Doch etwas spiegelte sich in seinen Augen, was ich nicht deuten konnte. Er zögerte. Irgendetwas ließ ihn mit sich hadern. »Почему ты здесь?«, fragte er in seiner dunklen Stimme. »Ich verstehe kein Russisch«, quetschte ich aus meinen knirschenden Zähnen. »Sprechen Sie etwa kein Englisch?« »Я сказал тебе уйти.« »Herrgott, Sie verstehen wirklich kein Englisch, oder?«, raunte ich und sah zu, wie er sich einen Schritt Richtung Fenster bewegte. Er sah angespannt zu Boden und schien vor Wut zu brodeln. »Я сказал тебе не делать этого«, knurrte er gefährlich und ging mit langsamen Schritten durch die Küche, ohne sich mir zu nähern. »Hören Sie, ich verstehe Sie nicht. Sagen Sie mir einfach, wo Mrs. Iwanowna ist, dann werden wir eine Lösung finden«, schlug ich vor. Noch immer umklammerte ich meine Waffe. Er redete mit mir, anstatt mich umzubringen. Er kämpfte nicht einmal. War es eine Falle? Wollte er Zeit schinden? Vielleicht sollte ich einfach ins Wohnzimmer gehen? »Но ты меня не слушал!«, donnerte auf einmal seine Stimme durch die Küche. Ich erschrak dermaßen, dass ich meine Waffe fast fallen gelassen hätte. Mit aufgerissenen Augen kam er auf mich zu, packte nach meiner Waffe und presste sie gewaltsam nach unten. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er agierte. »Nein!«, rief ich und schoss aus Verzweiflung auf den Küchenboden. Die Fliesen zersprangen im Nu und zerbrachen durch die Druckwelle eine nach der anderen. »Прочь отсюда!«, schrie er mir ins Gesicht und presste mich dabei einige Schritte zurück. »нет!«, schrie ich zurück. Wolkow erstarrte für einige Sekunden. »Ich habe dieses Wort übersetzt. Ich verschwinde nicht, Mr. Wolkow. Ich bleibe hier. Und ich will wissen, wo Irina Iwanowna ist!« Noch bevor Wolkow mir antworten konnte, öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer. Es war Mr. Green, der aufgeregt in unsere Richtung sah. »Sie sind hier! Sie – «, da verharrte er, als er mich in Wolkows tödlichem Klammergriff sah. »Wer ist das? Kennen Sie ihn? Gehört er zu uns?« »Mr. Green – wo ist Irina Iwanowna?«, rief ich ihm zu. Immerhin konnte er mich verstehen. Aber Moment – er sprach auch mit Wolkow Englisch. Der Typ verstand mich also die ganze Zeit? Wieso antwortete er nicht auf Englisch?! Wolkow ließ mein Handgelenk los und steckte seine Waffe in den Hosenbund. Genervt ging er ins Wohnzimmer und spähte durch die Vorhänge in den Vorgarten. »Sind Sie einer von uns? Wer sind Sie?«, fragte mich Mr. Green aufgeregt, während ich Wolkow folgte. »Ich gehöre zum MI6. Und ich werde Sie jetzt zum letzten Mal fragen: Wo ist Irina Iwanowna?«, zischte ich ihm entgegen. Niemand tötete mich. Niemand griff mich an. Was zur Hölle war das hier? »Vom MI6? Was? Aber… Aber wieso – «, stotterte der ältere Herr und fummelte nervös an seinem Hosenbund. Er schien keine große Hilfe zu sein. Als ich mich umdrehte und in das große Wohnzimmer sah, stand auf einmal eine junge Frau vom Sofa auf und starrte mich mit großen Augen an. »Sie sind vom MI6?« Ich vergaß für einen Moment zu atmen. »Irina Iwanowna?«, fragte ich tonlos und konnte meinen Augen kaum trauen. Da stand die vermeintliche Geisel – ohne Fesseln, ohne Knebel, ohne Wunden. Ihre Haare lagen gut und sie war geschminkt. Ihre Kleidung war unversehrt. Sie trug sogar ein sehr schönes Kleid. Was in Gottes Namen – »Sie sollten hier nicht sein! Sie haben sie hergeholt, oder?«, verfiel Mr. Green immer weiter der Panik. Als ich mich zu ihm umdrehte, hielt er die Waffe auf mich gerichtet. Wolkow donnerte auf einmal wieder irgendetwas Russisches durch den Raum und zeigte warnend auf Mr. Green. Mrs. Iwanowna drehte sich prompt um und antwortete etwas auf Russisch. Auf einmal löste sich eine hitzige Diskussion zwischen den beiden los, die ich nicht auch nur ansatzweise verstand. »Was geht hier vor sich«, murmelte ich vor mir her, während Mr. Green noch immer eine Waffe auf mich richtete. »Verschwinden Sie jetzt. Und sagen Sie ihren Kollegen, dass Sie sich raushalten sollen!«, sagte der alte Mann hastig und schluckte mehrmals nervöse Klumpen runter. Sein Lauf zitterte noch mehr als meiner. »Raushalten? Mrs. Iwanowna hat uns doch beauftragt, ihre Verfolger ausfindig zu machen!« Es war sonst nicht meine Art geheime Auftragsdaten einfach so weiterzugeben, aber… was zur Hölle war hier los? Draußen ertönten Sirenen und Motoren. Sie waren schon da. Ich spähte auf die Uhr. Eine halbe Stunde zu früh. Wieso…? »Sie werden gleich hier sein«, hauchte ich und ging das Zimmer mit den Augen entlang. Würden sie mich hier unversehrt zwischen all den Verdächtigen sehen, war klar, für was sie mich halten würde. Also zückte ich erneut meine Waffe und richtete sie auf Wolkow. »Geben Sie mir Irina Iwanowna und das ganze hier wird glimpflich ausgehen!«, forderte ich und ging einige Schritte auf ihn zu. Doch er drehte sich nicht einmal mehr zu mir, sondern behielt den Blick auf Mrs. Iwanowna, die ihm eine … Standpauke hielt? »Заткнись!«, rief er dazwischen und griff erneut zu seiner Waffe. » Прости?«, fragte Mrs. Iwanowna empört, doch Wolkow schüttelte sofort den Kopf und winkte ab. Er ging etwas nervös auf und ab, spähte noch einmal durch das Fenster, dann zu Mrs. Iwanowna und mir. »Wussten Sie etwa davon?«, fragte Mr. Green zittrig und ließ seine Waffe um einige Zentimeter sinken. »Wussten Sie, dass Sie kommen? Wieso sind wir dann noch hier?« »Weil er sein neues Haustier noch einmal sehen wollte«, rief Mrs. Iwanowna angewidert und gestikulierte zu mir. »Er setzt die ganze Mission aufs Spiel wegen ihm!« Ihr Akzent kam mir so bekannt vor. Sie sprach fast wie – »Alexej Wolkow, Sie sind umstellt. Kommen Sie mit erhobenen Händen raus und wir werden nicht schießen. Sollten noch weitere Personen im Haus sein, werden diese gebeten, ebenfalls mit erhobenen Händen rauszukommen!«, kam die Lautsprecherdurchsage von draußen. Panik machte sich im Nu breit. Auf einmal stürmten noch zwei Männer in den Raum, die offensichtlich vom oberen Stockwerk auf uns zukamen. Sie sprachen laut und hektisch auf Russisch, Wolkow antwortete in Russisch, Irina Iwanowna antwortete in Russisch und nur ich stand daneben und wusste nicht mehr, ob ich schießen, rennen oder einfach mitschreien sollte. Ein Mann zeigte auf mich und sprach aufgeregt in Wolkows Richtung. Der kam auf mich zu, drückte meine Waffe erneut zu Boden, obwohl sie auf niemanden mehr gerichtet war. Dieses Mal schoss ich nicht, sondern ließ ihn einfach machen. Er war offensichtlich nicht in der Stimmung, mich umzubringen. Niemand hier war das. Die Durchsage kam erneut. In weniger als zwei Minuten würden sie das Haus stürmen. »Sie werden gleich hier sein«, sprudelte es aus mir heraus. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich das gesagt hatte. Das waren meine Feinde, richtig? Sie hielten Irina Iwanowna gefangen, richtig? Und Wolkow… Wolkow war… Die Männer griffen ein paar Taschen, die am anderen Ende des Wohnzimmers standen. Sie sagten irgendetwas auf Russisch zu Mr. Green, der sofort nickte und ihnen den Weg zum Flur zeigte. Mrs. Iwanowna zischte uns irgendetwas zu, schnappte sich dann auch eine Tasche und verließ das Wohnzimmer. Wolkow griff ebenfalls nach einer Tasche und zog sich seinen schweren Mantel an. Das Fell wedelte ihm dabei im Gesicht. Die zerzausten, längeren Haare fielen dabei nach vorne. Er wollte schon den anderen Folgen, als er sich noch einmal zu mir umdrehte und mir tief in die Augen sah. Sein Blick allein machte mir Angst. Die blauen Augen starrten mich an, als wäre er ein Psychopath. »Пойдем со мной«, sagte er sanfter, als zuvor, aber noch immer extrem angespannt. Mein Herz schlug gegen meine Brust. Die Türen sprangen auf. Bewaffnete Männer stürmten rein. Ich konnte meine Augen nicht von ihm nehmen. Was auch immer er gesagt hatte, es – Die ersten Schüsse fielen. Wolkow brach den Augenkontakt. Er hechtete in den Flur, schoss auf unsere Leute. Sie gingen sofort zu Boden. Alles Kopfschüsse. Meine Beine bewegten sich nicht. Sie waren festgewachsen mit dem Boden unter mir. Um mich herum brach Chaos aus und ich wusste nicht wohin. Ich beobachtete, wie alle in den Keller sprinteten, also tat ich es ihnen gleich. Auf dem Weg zur Treppe hin, sah ich Mr. Green, wie er von einem meiner Kollegen festgehalten wurde. Er zappelte, wehrte sich und schrie. »Alexej! Alexej!«, rief er immer wieder. Wolkow war schon halb auf der Treppe, da drehte er sich um und schoss dem Mann hinter ihm in den Kopf, sodass Mr. Green sich befreien konnte. Seine Treffgenauigkeit war beängstigend. »Er kommt nicht mit!«, schrie Mrs. Iwanowna und zeigte auf mich, als ich im Kellerbereich angekommen war. »Mrs. Iwanowna – wieso haben Sie uns…, wenn Sie doch gar nicht –«, versuchte ich eine Erklärung für alles zu finden, denn die gute Frau sah nicht so aus, als würde man sie zwingen irgendwohin zu gehen. Ganz im Gegenteil. Die Einsatzkräfte kamen die Treppe runter. Wolkow erledigte einen nach dem anderen. Die zwei anderen Männer griffen nach Mrs. Iwanowna und zogen sie in einen Kellerraum. Dort verschwanden sie tatsächlich in einer Wand. Ein Tunnel. Vielmehr ein wirklich gut ausgebauter Notausgang. Wohin auch immer der führen würde. Mr. Green kam auf mich zu. Er warf mir einen verängstigten Blick zu. »Wieso haben Sie das getan? Wir versuchen sie doch nur zu beschützen!«, jammerte er und packte nach meinem Kragen. Wolkow schrie ihm irgendetwas zu, was ich erneut nicht verstand. Sekunden wurden zu Minuten. Alles um mich herum war Chaos. Schüsse fielen. Wolkow tötete unsere Männer. Unsere Männer töteten sie. Mr. Green ging auf einmal zu Boden. Ein Scharfschütze hatte ihn von außen getroffen. Er lag auf dem Boden und hatte durch ein Kellerfenster geschossen. Leblos ging sein Körper zu Boden. Ich stand einfach nur da und beobachtete, wie er fiel. Meine Augen fingen an zu wässern. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu weinen, richtig? Ich war hergekommen, um Antworten zu finden. Doch was habe ich bekommen? Wolkow kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Er packte meinen Oberarm und zerrte mich in den Raum, wo alle in der Wand verschwunden waren. »Nein!«, rief ich und leistete Widerstand. »Ich komme nicht mit! Ich werde nicht Ihre Geisel sein!« Wolkow blieb abrupt stehen, packte aggressiv nach meinem Hals und drückte zu. Ich dachte für einen Moment, dass er mich nun doch umbringen würde. Mir mein Genick brechen würde, sodass ich nie jemandem erzählen könnte, was hier eigentlich vorgefallen war. Stattdessen zog er mich zu sich und presste mir einen festen, unkoordinierten Kuss auf die Lippen. Ehe ich reagieren konnte, wurde erneut geschossen. Wolkow wurde getroffen. Wo genau konnte ich gar nicht ausmachen. Er keuchte in den Kuss hinein, beugte sich etwas zu mir vor und verlor fast den Halt. Instinktiv griff ich nach ihm und versuchte nicht mit ihm umzufallen. Er drehte sich um und schoss dem Schützen in die Brust. Für einen Kopfschuss wankte er zu viel. Mit letzter Kraft drückte er mich von sich und rannte zum versteckten Tunnel. Ein letzter verzweifelter Blick durchbohrte mich, als er schließlich verschwand. Die Einsatzkräfte stürmten schlussendlich das komplette Haus. Bewaffnete Männer folgten dem Tunnel. Ich brach zusammen. Danach wurde einfach alles schwarz. Kapitel 15: Wo bist du? ----------------------- Erneut war da nur weiß um mich herum. Das kahle Krankenzimmer, mit dem ich all die Jahre fast schon Freundschaft geschlossen hatte, fühlte sich auf einmal klinischer an, als sonst. Fremdartig. Als würde ich nicht hierher gehören. »Kyle«, hauchte Ethan meinen Namen. Er saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und sah sowohl erleichtert, als auch besorgt aus. »Schön, dass du wach bist.« Ich brummte irgendetwas und schloss erneut meine Augen. Da lag eine Last auf mir, die ich nicht benennen konnte. Kein Schmerz, einfach nur… Schwere. »Du bist einfach so zusammengebrochen. Sie sagten vom Schock«, erklärte Ethan und bemühte sich um ein Lächeln. »Sie fanden dich im Keller von Mr. Greens Haus. Freya war außer sich. Sie ist ziemlich wütend.« Langsam öffnete ich wieder meine Augen. Neben Ethan standen mein Tropf und eine Uhr. Es war kurz vor zehn am Abend. Noch derselbe Tag. »Sie vermutete, dass du zu ihnen gehörst. Weil du unverletzt warst und… sie nicht aufgehalten hast, als sie flohen. Ich konnte ihr erklären, dass du von vornherein vorhattest, eher da zu sein, weil du … wütend warst, dass sie dich nicht eingesetzt hat. Sie glaubte mir nicht wirklich. Jetzt überlegt sie, ob sie dich einfach nur feuern oder gar den Prozess machen soll.« Ich seufzte langgezogen, antwortete aber nicht. Stattdessen starrte ich auf die Glastür, an der immer mal wieder Ärzte oder andere Kollegen vorbeigingen. »Die Kollegen sagten, es war ein Blutbad. Wolkow hat wohl ziemlich viele von uns erlegt.« Bei seinem Namen zuckte ich zusammen. Ethan redete weiter, wie viele Leute wir verloren hatten und wie beeindruckt er von Wolkows Schießfähigkeiten war. Doch ich driftete ab. Und dachte an den Kuss. Der schnelle, einfache und doch so innige, irgendwie schöne Kuss. Wieso hat er das getan? War das eine Art der Zuneigung in Russland? Andere Männer einfach so küssen? »Jedenfalls müssen wir ganz schön viele neue rekrutieren und das wird Mr. Williams überhaupt nicht gefallen, weil –«, erzählte Ethan weiter und kam gar nicht mehr aus seinem Redefluss raus, bis ich ihn heiser unterbrach. »Wo ist… er?« Mein Kollege hielt inne. Für einige Momente lang schwieg er. »Wolkow?«, fragte er schließlich vorsichtig nach. Ich nickte. »Weg. Genauso auch Irina Iwanowna und die anderen beiden Männer. Ihre Flucht ist gelungen.« Ethans Ton war platt und verhieß nichts Gutes. Ein Stein fiel mir vom Herzen, auch wenn es unangebracht war, erleichtert zu sein, wenn die Feinde geflohen waren. »Glaubst du auch… ich habe ihnen geholfen?«, fragte ich leise nach und sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Er haderte offensichtlich mit sich und knibbelte an seinen Fingernägeln. »Du warst der einzige, der unverletzt blieb, während alle um dich herum erschossen wurden, Kyle. Wieso hat Wolkow dich verschont? Wieso hast du Irina Iwanowna nicht geholfen?« Ich brach den Augenkontakt. Eigentlich hätte ich ihm gerne alles erzählt. Von Anfang an. Wie ich erst mit Wolkow sprach und wie er mir indirekt sagte, dass wir nicht kämpfen werden. Wie Mr. Green reinkam, nicht wusste, was los war und wieso der MI6 bei ihm zu Hause stand. Wie Irina Iwanowna unversehrt und aus freien Stücken bei ihnen war. Wie sie diskutierten, wie sie sich gemeinsam halfen. Wie Wolkow mich mitnehmen wollte, angeschossen wurde. Und mich am Ende küsste. Doch ich wusste nicht wie tief Ethan verwickelt war. Er war eine Vertrauensperson, ein Freund – manchmal fühlte es sich sogar wie Familie an. Aber ich konnte nicht sicher sein, ob er nicht doch mit Freya unter einer Decke stand. »Hast du… Freya gesagt, dass ich dort war? Die Einsatzkräfte… waren eine halbe Stunde zu früh dort«, murmelte ich leise und sah wieder zu ihm. »Kyle…, wenn du die Frage nicht beantwortest, werde ich mir selber meine Antwort denken müssen«, seufzte Ethan und ließ resigniert die Schultern fallen. »Das muss ich dann wohl auch«, entgegnete ich ihm und sah wieder in die Ferne. Er schwieg. Seufzte leise. Knibbelte weiter an seinen Nägeln. »Ich hatte Angst«, hauchte er auf einmal in die stille Luft des Krankenzimmers. »Ich hatte Angst, sie würden dich umbringen. Also bin ich zu Freya und hab ihr gesagt, dass du auf eigene Faust los bist. Eine halbe Stunde früher als alle anderen, um Wolkow zu stellen. Sie ist ausgerastet, aber behielt ihre Professionalität – du kennst sie ja. Schließlich sind sie alle früher angerückt. Anscheinend aber nicht früh genug.« Ich schnaubte aus und lehnte meinen Kopf zur Seite, sodass Ethan mein Gesicht nicht sehen konnte. Diese Ungewissheit, was eigentlich passierte und wieso es passierte, machte mich verrückt. Ich habe den Kaninchenbau gesehen, aber nicht betreten, weil man mir sagte, dass es falsch sei. Nach allem, was ich gesehen hatte, wollte ich unbedingt wissen, was sich genau in diesem Kaninchenbau befand. Wolkow und Irina Iwanowna? Die anderen Männer? Die russische Mafia? Gangster? Oder doch etwas ganz anderes? Ethan wünschte mir dann eine gute Besserung und verließ das Zimmer. Kurz vor Mitternacht entließ ich mich selber, indem ich die Infusion aus dem Arm zog und das Gebäude verließ. Man hielt mich nicht fest – ich hatte auch keine Ambitionen abzuhauen. Außerdem würde man mich sofort an der Grenze festhalten. Da müsste ich schon mit gefälschten Papieren und einer Menge krimineller Energie vor einer Sache fliehen, die ich ja sowieso nicht begangen hatte. Ich habe ihnen nicht geholfen. Ich war einfach nur… passiv dabei gewesen. Zu Hause angekommen trank ich ein paar Gläser Whiskey. Der Alkohol machte mich müde und doch enorm wach. Immer wieder dachte ich über die Ereignisse nach und was passiert wäre, wäre ich mitgegangen. Mrs. Iwanowna hatte mich als Wolkows Haustier beschimpft. So oft waren wir uns doch gar nicht begegnet, dass er einen solchen Gefallen an mir hätte finden können, oder doch? Mr. Green wollte, dass ich sie in Ruhe lasse. Aber Mrs. Iwanowna hat uns doch beauftragt, oder nicht? So viele Fragen schwirrten durch meinen Kopf, dass es fast wehtat weiter nachzudenken. Der Alkohol machte es nicht einfacher. Im Laufe des Abends kramte ich mein Handy aus der Tasche. Ich hatte es vor dem Vorfall im Auto liegen lassen und erst jetzt wieder in die Hand genommen. Eine Nachricht von Santa. »Sie hätten es nicht tun sollen. Aber ich will Sie wiedersehen.« Immer wieder las ich über diese Zeilen. Las ich gerade eine SMS von Santa oder von Wolkow? Die Grenzen verschwammen auf einmal. Mein Herz pochte. Ich wurde nervöser, je öfter ich die Nachricht las. Sie kam erst um 18 Uhr an. Nachdem alles gelaufen war. Nachdem sie geflüchtet waren und ich vermutlich schon im Krankenhaus lag. Konnte Santa wirklich ein so gutes Timing gehabt haben? War es Zufall? Für den Moment wollte ich nicht weiter darüber nachdenken. Es war bereits drei Uhr in der Früh. Nach weiteren drei Gläsern Whiskey schlief ich dann endlich auf dem Sofa ein. Am nächsten Morgen bekam ich sofort einen Anruf von Freyas Sekretärin. Sie teilte mir mit, dass ich bis auf unbestimmte Zeit suspendiert war und dass ich meine Waffen und Ausweise bitte sofort vorbeibringen sollte. Zähneknirschend nahm ich die Kündigung hin und packte alles zusammen. Auf der Arbeit ignorierte man mich oder man sah mir finster hinterher. Freya war nicht persönlich zugegen, als man mir alles nahm, was ich für diesen Job bekommen hatte. Selbst den Ausweis für den Aufzug nahm man mir weg. Ethan stand weiter weg und beobachtete alles. Er sah traurig aus und klammerte sich an einen Stapel Akten, als könnten sie ihm Halt geben. Später kam er dann noch kurz zu mir, bevor man mich eskortierte. »Kyle, es tut mir so leid«, sagte er hastig und drückte mich feste an sich. »Ich wollte nicht, dass das passiert!« »Ist schon okay, ich bin ja selber schuld«, murmelte ich und löste mich von ihm. Sein Parfüm oder Deodorant roch viel zu intensiv. »Ich werde mit Freya reden. Sobald wir Mrs. Iwanowna haben und Wolkow hinter Gittern oder unter der Erde ist… wird sie dich bestimmt wieder holen. Du hast deine Arbeit bisher ja immer umwerfend gut gemacht! Es wäre eine Schande, dich einfach so zu feuern!« Mehr als ein müdes Lächeln blieb mir nicht übrig. Die Unterschrift zur Verschwiegenheit hatte ich bereits gegeben. Vermutlich hatte man mir sogar schon eine Abfindung aufs Konto überwiesen, damit ich mich auch ja aus zukünftigen Angelegenheiten raushalten würde. Als ich wieder im Auto saß und mich ziemlich elendig fühlte, weil ich gerade den besten Job der Welt verloren hatte und noch immer in einem Pool voller Fragen saß, entschied ich mich ins Center zu fahren. Mir war nach starken Armen, die mich festhielten und mir sagten, dass alles wieder gut werden würde. Und weil ich wusste, dass Santa das gut konnte, wollte ich ihn sehen. Im Center angekommen bereute ich die Entscheidung immens. Es war voll, stickig und einfach unerträglich. Weihnachten war nur noch eine Woche entfernt und die Leute wurden panisch. Oder waren einfach in Stimmung eine Menge Geld auszugeben. Ich fuhr in den ersten Stock und besuchte Cindy. Sie stand mit einer Aushilfe, die nur für Weihnachten engagiert wurde, an der Kasse. Es dauerte eine Weile, bis sie mich erkannte und strahlend auf mich zukam. »Na? Magen-Darm überstanden?«, kicherte sie und zwinkerte mir zu, während wir uns in ein ruhigeres Eck im Laden stellten. Als ich nur traurig lächelte, verstummte ihre Freude. »Was ist los?« »Hab gerade meinen Zweitjob verloren«, nuschelte ich in meinen Kragen und hob beide Augenbrauen hoch, um nicht in Tränen auszubrechen. Nicht, dass ich nah am Wasser gebaut war. Aber… das Ganze war einfach zu viel. »Oh, fuck«, entfuhr ihr aus den Lippen. »Das ist ja scheiße.« Ich nickte zustimmend, sagte jedoch nichts. »Frag am besten, ob du auf Vollzeit gehen darfst. Ich mein – ich würde mich freuen! Dann sehen wir uns öfter«, lachte sie aufbauend und streichelte meinen Arm. »Bin mir sicher, du darfst aufstocken. Und für die Dauer findest du bestimmt wieder was anderes.« Erneut nickte ich und bemühte mich, ihr Lächeln zu erwidern. »Danke, Cindy. Ich geh mich jetzt ein bisschen trösten«, sagte ich deutete auf den Ausgang des Ladens. »Vielleicht kann mich der Weihnachtsmann ein bisschen aufheitern.« Cindy presste ihre Lippen aufeinander. »Der ist heute gar nicht da. Schätze mal, er hat frei.« »Nicht? Aber… eigentlich ist doch heute sein Arbeitstag…« »Ja? Ich habe keine Ahnung. Da musst du Chris fragen«, sagte sie und zuckte mit ihren Schultern. »Vielleicht hat er Stunden getauscht. Ich hab ihn jedenfalls heute noch nicht gesehen.« Meine Vorfreude auf ihn und eventuell guten Sex sank sofort auf den Boden. »Ich … geh einfach mal fragen«, murmelte ich und verabschiedete mich dann. Eine kurze Umarmung folgte, bis ich dann schließlich den Laden verließ. Mit großen Schritten versuchte ich mich durch die Menge zu quetschen. Im Erdgeschoss standen dann die Engelchen und verteilten Schokolade. Gerade, als mir eine blonde Frau im Kostüm ein Täfelchen geben wollte, erkannte sie mich. »Oh, Sie sind doch Jurijus‘ Freund«, bemerkte sie und legte das Täfelchen wieder zurück. »Der ist heute nicht da.« »Ich verstehe …«, murmelte ich und nickte, als würde ich es tatsächlich verstehen, tat ich aber eigentlich nicht. »Ich dachte eigentlich, dass er heute Schicht hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Nee, also man hat uns heute Morgen gesagt, dass er nicht da ist. Vielleicht gab es eine Änderung.« Damit drehte sie sich wieder um und begrüßte kleine Kinder. Ich ließ es damit bleiben. Dann war er eben nicht da. Stattdessen schrieb ich ihm eine SMS. »Ich wollte Sie heute sehen, aber leider waren Sie nicht da. Vielleicht dann ein anderes Mal?« Auf diese SMS bekam ich allerdings den restlichen Tag über keine Antwort. Auch am nächsten Tag erhielt ich keine Rückmeldung. Nach einem großzügigen Frühstück machte ich mich erneut auf zur Shoppingmall. Meine Spätschicht begann erst in einer halben Stunde, als nutzte ich die Zeit und fuhr als erstes ins Erdgeschoss. Doch ich stieß erneut nur auf die Engel. »Nee, der ist heute wieder nicht da. Glaube, er ist krank. Keine Ahnung, da müssen Sie in der Personalabteilung mal fragen.« Da dafür allerdings keine Zeit war, stand ich meine Schicht über stumm und etwas angesäuert hinter der Kasse. »Hast du denn nicht seine Nummer?«, fragte Cindy, während sie Waren scannte. Die Aushilfe packte derweil alles schön ein. »Doch«, antwortete ich grimmig und faltete Seidenpapier über eine viel zu teure Jeans. »Aber er hat gestern nicht geantwortet und heute auch nicht. Ich will keine Klette sein.« »Naja, Klette«, zuckte Cindy mit den Schultern, »ist etwas ganz anderes. Du schreibst ihm ja nicht stündlich. Außerdem kannst du ja nach seinem Befinden fragen, sollte er wirklich krank sein. Und er hätte ja mal Bescheid sagen können. Wobei … er ist ein Mann, die denken oft nicht so weit.« Darauf folgte ein dramatischer Seufzer. Sowohl von ihr als auch von der weiblichen Aushilfe. »Ich bin auch ein Mann, sollte es niemandem hier aufgefallen sein. Und ich verstehe auch nicht, wieso er nicht antwortet oder mir Bescheid gibt, dass er krank ist. Allerdings waren wir auch nicht fest verabredet. Er hat auch keine Pflicht mir gegenüber, sich über sein Befinden zu äußern oder seinen Standort abzugeben. Ich will ihn einfach nur wiedersehen nach so viel… Ärger.« Und das war wahr. Ich wollte ihn einfach wiedersehen. Nach meiner gefühlt unendlich langen Schicht, ging ich zu Chris in die Personalabteilung. Er wollte schon seine Sachen packen und gehen, da hielt ich ihn in der Tür auf. »Chris, hast du eine Minute?«, fragte ich aufgebracht, in der Hoffnung, er würde sich erweichen noch etwas zu bleiben, wenn es dringend zu sein schien. »Äh, also eigentlich …«, druckste er rum und zog seine Tasche über die Schulter. »Es geht um den Weihnachtsmann. Er war gestern und heute nicht da. Weißt du wieso?« Da zuckte er die Schultern. »Na, er ist halt krank. Ist zwar nicht so cool gerade so vor Weihnachten, aber erwischt halt viele. Wir suchen gerade noch nach einem Ersatz. Hast du vielleicht Lust?« »Nein«, sagte ich sofort. »Hat er gesagt, was er hat?« »Nö.« Damit drückte mich Chris aus der Tür und schloss das Personalbüro ab. Er wünschte mir noch einen schönen Abend und sagte, ich könne ja morgen nochmal vorbeikommen, sollte mein Weihnachtsmann immer noch krank sein. Als ich zu Hause war, schickte ich ihm erneut eine SMS. »Ich habe gehört, Sie sind krank. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen eine gute Besserung. Bitte melden Sie sich doch.« Und nachdem ich aus Verzweiflung eine halbe Flasche Rum geleert hatte, fügte ich noch hinzu: »Ich vermisse Sie.« Am nächsten Morgen stand ich extra früh auf, ging vor meiner Schicht ins Personalbüro und wartete darauf, dass Chris erschien. Es war bereits der dritte Tag und Santa meldete sich nicht. Langsam machte ich mir Sorgen. Sowohl um das eine als auch das andere. Denn Wolkow und die anderen hatte man seither auch nicht gefunden. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Man hatte die Grenzen abgesichert und überall Fotos von ihnen verteilt, damit auch Dritte sie finden konnten. Das alles hatte ich von Ethan. Er hatte mich in meinem traurigen Suff angerufen und mir alles erzählt, was er wusste. Er entschuldigte sich mehrmals und hoffte immer noch, ich würde wiederkommen. Meine Vermutung, er würde mit Freya unter einer Decke stecken, verflüchtigte sich zunehmend. Trotzdem konnte ich ihm noch nicht vollends trauen. Also behielt ich die haarigen Details des einen Nachmittags doch lieber für mich. Chris kam etwas zu spät, seufzte aber sofort, als er mich an der Tür stehen sah. »Okay, es ist dir also echt wichtig«, brummte er, während er das Büro aufschloss. »Komm rein.« Ich folgte ihm in das kleine Kabuff und wartete, bis er seine Sachen organisiert hatte. Meine Schichte fing gleich an, ich würde definitiv zu spät kommen. Aber das war es mir wert. »Also, was willst du wissen?« »Ist er krank? Heute auch?« »Ja. Also nein«, seufzte er. »Er hat gekündigt. Eigentlich hätte er eine Kündigungsfrist gehabt, aber er war ja noch in der Probezeit. Also… ja. Er kommt nicht mehr.« Für einen Moment blieb die Welt stehen. Es war also tatsächlich ein Abschied gewesen. »Okay…«, hauchte ich tonlos in den stillen Raum. Ich blinzelte ein paar Mal, bis Chris angewidert gluckste. »Bitte heule jetzt nicht, Kyle. Er ist nur eine Aushilfe gewesen.« »Ja, sicher…«, schniefte ich leise, ohne eine Träne aus meinem Auge zu lassen. Ich kämpfte regelrecht gegen mich selber, damit ich nicht in Tränen ausbrach. »Er hätte nur wenigstens etwas sagen können. Wir waren gut… befreundet.« Da zuckte er emotionslos mit den Schultern. »Wenn ihr so gut befreundet wart: wieso gehst du ihn dann nicht besuchen und ihr redet drüber? Wie Freunde das so machen?« »Ich weiß… nicht wo er wohnt.« Traurigerweise. Chris seufzte langgezogen und schaltete den Computer ein. Er tippe eine Weile darauf rum und gerade, als ich mich verabschieden wollte, weil nichts mehr passierte, winkte er mich zu sich. »Hier, das ist seine Adresse«, murmelte er und kritzelte auf einem Zettel. »Eigentlich darf ich dir sowas nicht geben, aber ich kenn dich ja jetzt lang genug. Du machst damit keinen Scheiß, ja?« »Niemals«, nickte ich zustimmend und nahm den Zettel mit beiden Händen dankend an. »Hast du seine Nummer?« »Ja, die habe ich… « »Gut, dann hab wenigstens die Güte und kündige dich vorher an«, brummte Chris, bohrte kurz gelangweilt in seiner Nase und drehte sich zurück zum PC. Danach ignorierte er mich, also nahm ich das als Indiz zu gehen. Ich hechtete zum Laden, wo mein Chef mich sofort rügte, dass ich pünktlicher sein sollte, wenn ich mehr Stunden haben wollen würde. Cindy lächelte schwach und winkte mich sofort zur Kasse. »Hab schon alles für dich gemacht«, sagte sie leise und begann die ersten Kunden zu bedienen. »Kasse ist gezählt, alles sauber gemacht und aufgeräumt.« »Ich danke dir vielmals, Cindy«, säuselte ich niedergeschlagen und begann meine Arbeit. Sie warf mir noch einen traurigen Blick zu, sagte jedoch nichts mehr. Wenn die ganze Situation nicht so abgrundtief schmerzlich gewesen und ich nicht wie ein Trauerkloß durch die Weltgeschichte gelaufen wäre, hätte sie mich vermutlich mit meiner plötzlich auftretenden Höflichkeit aufgezogen. Die Tage vergingen wie in Trance. Immer wieder dachte ich an Santa. Und dann an den Tag, an dem mich Wolkow küsste. An dem er mich mitnehmen wollte. Offensichtlich nicht als Geisel. Sondern als Begleiter? Wir hatten uns doch erst drei Mal gesehen! Und alle die Male davor wirkte er nicht sehr freundlich. Ganz im Gegenteil – wir haben uns gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Ich hatte ihn sogar schwer verletzt. Er war wütend gewesen, das hatte ich sofort gesehen. Aber sonst? Und dann verschwand Santa. Genau zur selben Zeit. Nach allem, was er mir sagte und schrieb, stieg in mir die Vermutung, dass die beiden sich kannten und miteinander zu tun hatten. Die Adresse, die mir Chris gegeben hatte, war tatsächlich die, an der wir am Abend, wo alles begann, mit dem Taxi angehalten hatten. Nur ein paar Straßen weiter entfernt war seine Wohnung gewesen. Obwohl mir Chris geraten hatte, Santa vorzuwarnen, tat ich es nicht. Stattdessen steckte ich mir meine Pistole ein, die ich mir vor Jahren eigenständig gekauft hatte – wo man mir ja meine Dienstwaffe genommen hatte. Sie war kleiner und vermutlich nicht so einschüchternd wie die andere, aber sie erfüllte ihren Zweck, sollte sich meine schlimmste Vermutung bestätigen. Vor Santas Wohnkomplex blieb ich stehen und parkte direkt vor der Tür. Es war eine nette Gegend. Nicht besonders schön, aber auch nicht besonders hässlich. Das Wohnhaus, in dem er leben sollte, war ein typischer Betonbau. Die Miete war vermutlich günstiger als woanders. Mit schwerem Herzen und einer Menge Panik trat ich zum Klingelschild. Sein Name war mit einem weißen Zettel auf das Plastik geklebt und teilweise vom Schnee beschäftigt worden. Er schien also noch nicht lange hier zu wohnen. Was sollte ich überhaupt sagen? Er würde mir nicht aufmachen, sobald er meine Stimme hörte. Er ignorierte mich. Wieso sollte er mich dann auf einmal reinlassen? Also klingelte ich bei jemand anderem. »Hallo?«, erklang eine junge Damenstimme. Perfekt. »Hallo, ich bin Paketbote und habe ein Päckchen abzugeben. Die Empfänger sind wohl nicht da, daher würde ich das Päckchen gerne in den Flur stellen, wenn das in Ordnung geht. Es würde sonst in dem ganzen Schnee einweichen und nass werden. Wenn Sie mich also kurz reinlassen könnten?« »Oh, ja aber sicher! Kein Thema!«, sagte sie schnell und drückte tatsächlich den Knopf für die Eingangstür. »Vielen Dank!«, schrie ich noch in die Sprechanlage, dann trat ich ein. Ich hörte noch ein glucksendes »Bitteschön!« von draußen, als die Tür dann zufiel. Das Treppenhaus war schon etwas in die Jahre gekommen, aber sah soweit gepflegt aus. Einige Mieter hatten kleine Schuhschränke oder andere Möbel in den Flur gestellt. Ich ging leise die Treppen hoch und inspizierte jedes Türschild. Eine Menge Namen, teilweise ausländisch, teilweise englisch kamen mir unter. Bis ich schließlich im dritten Stock auf seinen Nachnamen traf. Ich lehnte mich leise an die Tür, um zu horchen. Als ich nichts hörte, klingelte ich mit zittrigen Händen. Eine Hand lag auf meiner Waffe, die im Hosenbund hinter der Jacke steckte. Gerade, als ich erneut klingeln wollte, hörte ich Schritte. Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. »Ja?«, hörte ich seine Stimme, als die Tür aufging. »Santa?«, fragte ich erleichtert und lächelte bereits breit. »Entschuldigung, dass ich Sie so überfalle, aber –« Blaue Augen. Längeres lockiges Haar, was ihm in den Augen hing. Drei-Tage-Bart. Schwarzes T-Shirt mit schwarzer Hose und einer Bandage am Arm und einer weiteren deutlich sichtbaren unter dem T-Shirt am Torso. Kapitel 16: FSB --------------- »Nein«, flüsterte ich ihm entgegen. »Mr. Lewis«, sagte er ebenfalls völlig aus der Bahn geworfen. »Nein«, wiederholte ich stärker und griff nach meiner Waffe. Sofort richtete ich sie auf ihn und kam auf ihn zu. Er ließ sich von mir zurück in die Wohnung leiten, ging einige Schritte zurück und hob beide Hände in die Höhe. »Mr. Lewis, bitte, geben Sie mir einen Moment –« »Sie!«, drohte ich ihm und betrat die Wohnung. Aggressiv schlug ich die Tür hinter mir zu. »Sie!« »Was ist hier los?«, hörte ich eine andere Männerstimme. »Alles in Ordnung«, rief Wolkow in ein hinteres Zimmer ohne die Augen von mir zu nehmen. »Nur ein Nachbar.« Irgendetwas wurde gesagt, doch ich verstand es wieder nicht. Es war Russisch. »Sie…«, wiederholte ich erneut, doch meine Stimme brach langsam weg. Da waren so viele Dinge, sie ich sagen wollte, aber keines davon kam raus. Der Lauf zitterte gegen seine Brust. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt abdrücken könnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Alles schien auf einmal stehen zu bleiben. Meine Glieder, meine Nerven, mein Blut, meine Gedanken. »Kyle… «, hauchte er zum ersten Mal meinen Vornamen und nahm langsam die Hände runter. Der manische Blick, den er sonst immer drauf hatte, war nicht ansatzweise zu erkennen. Es waren die liebevollen und fürsorglichen Augen, die er immer als Santa hatte. Nur, dass sie jetzt blau anstatt braun waren. »Komm«, sagte er leise und deutete an, dass ich ihm in ein Zimmer folgen sollte. Ohne die Waffe runterzunehmen tat ich, was er von mir verlangte. Wir gingen in ein Schlafzimmer, wo ein großes Bett in der Mitte stand. Ansonsten war der Raum kahl. Niemand wohnte hier wirklich. Die Bude war nur da, um eine Adresse zu haben. Das war mir jetzt bewusst. »Bitte, setz dich«, sagte Wolkow und deutete auf das Bett. Unterdessen ging er an mir vorbei und schloss die Tür. Meine Waffe war noch immer auf ihn gerichtet. »Nein danke«, zischte ich, auch wenn es weitaus verzweifelter aus mir herauskam, als gedacht. Erneut kämpfte ich mit der Feuchte in meinen Augen. Das durfte einfach alles nicht wahr sein. Wie konnte ich nur so blind sein?! »Kyle, es war nie meine Absicht«, begann er, doch er wusste ganz genau, dass dieser Satz kein gutes Ende nehmen würde, also stoppte er sich selber. »Die Wahrheit«, sagte ich mit zittriger Stimme und blinzelte mehrmals in seine Richtung. Da kam sie dann – die erste Träne. Santa – nein, Wolkow. Alexej? Stand völlig überfordert neben dem Bett und zuckte immer wieder mit den Händen, als wolle er etwas tun, um die Situation aufzulockern. Es war als würde ich mit Santa sprechen und nicht mit Alexej. Aber ich sah nicht den liebevollen Weihnachtsmann vor mir, der mich schon mehrmals geküsst und genommen hatte, sondern den Mann, der mich fast umbringen wollte. »Die Wahrheit!«, rief ich kurz vor dem Zusammenbruch. »Jurijus Bluvšteinas? Toller Name, Alexej Wolkow. Und die Verkleidung? Wirklich erste Sahne. Niemand hätte je gedacht, dass der kinderliebe Weihnachtsmann eigentlich ein eiskalter Killer ist. Und hast du dir tatsächlich braune Kontaktlinsen reingetan? Nur für diese Verkleidung? Wirklich?« Er blinzelte zu mir, als wolle er mir sagen, dass es nun mal nötig war, um mich zu täuschen. »Die Wahrheit«, wiederholte ich zum letzten Mal. Meine Stimme zitterte und klang so verletzt wie ich mich fühlte. »Du hast zehn Minuten bis ich abdrücke.« Damit gestikulierte ich mit meiner Waffe in seine Richtung. Alexej verharrte in seiner Position und zog die Augenbrauen zusammen. »Sag mir erst, was du weißt. Dann erzähle ich dir alles, was du nicht weißt.«, sagte er in einer ruhigen Stimme und schien sich nicht an meiner Waffe oder Drohung zu stören. Wir schwiegen uns beide für einen Moment an, bis mich die Kraft in den Armen verließ und ich die Waffe ein kleines Stück senkte. Trotzdem blieb sie abschussbereit in meiner Hand. War es klug ihm von meinem Auftrag zu erzählen? Aber wieso nicht? Ich hatte ihn an der Leine. Wenn ich ihn erschießen wollen würde, könnte ich es tun. Sofort und ohne Vorwarnung. Sollte er also irgendetwas machen, was ich nicht guthieß, würde ich abdrücken. So wie angekündigt. Jedenfalls redete ich mir ein, dass ich das tun würde. Ich holte tief Luft und sortierte meine Gedanken. »Irina Iwanowna hat sich bei der Polizei gemeldet, weil sie Angst hatte, verfolgt zu werden. Man vermutete, dass russische Aktivitäten dahinter steckten, also hat man den Geheimdienst auf den Fall angesetzt. Schließlich wurde vermutet, dass Mrs. Iwanowna eure Geisel ist, als man herausfand, dass… du«, ich stockte für einen kurzen Moment, als ich verinnerlichte, wen ich eigentlich mit du meinte, »darin verwickelt warst.« Alexejs Mundwinkel zuckten leicht. Ob aus Belustigung oder Beunruhigung wusste ich nicht. Er schwieg weiterhin und ließ mich ausreden. Unsere Blicke trennten sich nicht für auch nur eine Sekunde. »Ich habe persönlich herausgefunden, dass Mrs. Iwanowna in einer Kugelschreiberfabrik mit Geheimcodes in Verbindung kam.« Die blauen Augen weiteten sich auf einmal. »Welche Codes es waren und wem sie gehörten weiß ich nicht. Aber ich vermutete, dass es mit der britischen Regierung zu tun hat, sonst hätte man nicht den MI6 drauf angesetzt.« Alexej schwieg noch für eine ganze Weile. Als es mir zu bunt wurde, schnaubte ich laut aus. »Also? Deinen Teil der Geschichte bitte. Ich bin nämlich sehr gespannt, was du zu erzählen hast. Auch wenn ich mir nicht sicher bin…«, und da brach meine Stimme noch einmal weg, »… ob du mir überhaupt die Wahrheit sagst, wenn alles, was wir bisher besprochen hatten, eine einzige Lüge war.« »Es war nicht alles eine Lüge«, fand Alexej endlich seine Stimme wieder. »Ich musste dich im Unwissen halten, Kyle. Wir befinden uns noch immer auf gefährlichem Boden.« »Dann erzähl mir jetzt die Wahrheit. Das ist deine Chance. Erzähl mir alles und … wir werden vielleicht eine Lösung finden«, sagte ich aufgebracht und blinzelte immer wieder einzelne Tränen aus meinen Augen. Wäre ich nicht so verdammt wütend und traurig zugleich gewesen, hätte ich mich für mein Geheule in Grund und Boden geschämt. Aber wenn sich die schlimmste Befürchtung bewahrheitet hatte – was blieb dann noch? »Irina ist meine Cousine. Deswegen bin ich hier«, begann er und deutete auf die geschlossene Tür. »Sie ist nicht unsere Geisel. Wir beschützen sie.« »Wieso sollte sie dann zum MI6 kommen und sagen, sie würde von russischen Gangstern verfolgt werden?« Alexej schmunzelte vorsichtig. »Ich bin mir sicher, dass sie das niemals gesagt hat. Sie wird verfolgt, ja. Aber nicht von russischen Gangstern.« »Ach nein?«, lachte ich sarkastisch auf, »Und wer seid dann ihr?« »Vom russischen Geheimdienst.« Ich lachte noch einmal laut auf und brach zum ersten Mal seit Minuten den Augenkontakt, um belustigt in die Ferne zu sehen. Schnell wischte ich mir über mein Gesicht, um die Feuchte zu beseitigen. »Guter Witz! Sehr gut.« Alexej lachte nicht. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Da kam langsam wieder die Kälte in seine Augen zurück. Er ignorierte meinen sarkastischen Ausbruch und fuhr fort. »In dieser Fabrik werden seit Jahren geheime Botschaften zwischen britischen Politikern hin und her geschoben. Es geht dabei um Korruptionen, Geldwäsche und Waffenhandel. Die Regierung weiß mit Sicherheit nichts davon – oder zumindest gingen wir davon aus. Irina hat davon Wind bekommen und hat die Codes gelesen. Sie fing an sie an uns weiterzugeben. Ihr Vater arbeitet ebenfalls beim FSB. Wir nutzten diese Informationen zu unserem Vorteil. Und bevor du uns verurteilst: So ist das nun mal, wenn zwei Länder sich nicht besonders gut riechen können.« Die Nüchternheit, mit der Alexej alles erzählte, ließ mich verstummen. Die Geschichte klang noch immer absolut lächerlich, doch ich wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Der etwas manische Blick kam in seine Augen zurück. Vermutlich war das der Blick eines russischen Agenten, der nur sein Ziel vor Augen hatte. »Die Kugelschreiber wurden in ganz spezielle Hände gegeben, damit die Informationen unter den Leuten blieben, die sie produzierten und konsumierten. Irgendjemand hat Irina dann verpetzt. Dass sie eigentlich die Arbeit der Menschen machte, denen man zutraute, dass sie sich an nichts Besonderes erinnern würden.« Die behinderten Menschen, fiel mir sofort ein. Deswegen war der Fabrikleiter auch so unsicher, als er uns rumführte. Er wusste sicher Bescheid, dass es hier um Codes von Politikern ging. »Nachdem Irina verpfiffen worden ist, kam vermutlich zeitgleich der Fall bei euch rein. Man versuchte natürlich mit allen Mittel solche dunklen Informationen geheim zu halten. Und im Geheimhalten seid ihr ja ganz gut.« Mehr als ein dramatischer Augenaufschlag fiel mir nicht ein. Solche Worte kamen von dem Mann, der mir mehrere Wochen vorgaukelte ein ganz normaler Mann mittleren Alters in einem Weihnachtskostüm zu sein. »Deine Informationen zum Fall sind vertauscht worden. Ich kann dir versichern, dass Irina niemals als Geisel gehalten worden ist. Ganz im Gegenteil: Ich und andere Kollegen sind extra hierher gekommen, um sie zu beschützen. Sie hat viele Jahre diese Codes an uns weitergegeben. Sie war von großem Wert. Und sie ist meine Cousine. Bei Familie hört der Spaß auf.« Er machte eine kurze Pause, um tief Luft zu holen. Für einen Moment dachte ich, er würde auf mich zukommen, doch er blieb stehen, wo er auch die ganze Zeit stand. Wie eine Statue erzählte er regungslos weiter. »Du solltest sie für die britische Regierung kriegen und in Gewahrsam nehmen. Vermutlich hättet ihr sie auseinander genommen und gefoltert, um mehr aus ihr herauszubekommen. In welchen Verhältnissen sie zur russischen Regierung stand und in welche Beziehungen sie reingerutscht war. Lee Green war ein toller Mann. Er kannte sie seit vielen Jahren und war ihr treu. Er half uns in der Stunde der Not. Es ist eine Schande, dass ihr in umgebracht habt. Ein weiterer guter Mann musste für so eine lächerliche Aktion sein Leben lassen. Ich will seit Tagen verschwinden, doch wir können nicht einfach so euer Land verlassen. Die Grenzen sind für uns gesperrt worden. Wir brauchen Aliase.« »Noch mehr… Lügen?«, hakte ich scheinheilig nach, auch wenn ich genau wusste, dass es nicht unbedingt eine Lüge war, wenn es zum Schutz der eigenen Person diente. Es war wie ein eigenes Zeugenschutzprogramm. »Kyle. Die Regierung will meine Cousine hängen sehen. Wir werden sie aus dem Land schaffen und dann untertauchen. Deine Befehle waren fehlleitend. Alles, was man dir gesagt hat, war eine Lüge.« »Du warst eine Lüge«, quetschte ich bitter aus meinen Zähnen. Auch wenn ich wusste, dass ich gerade unter die Gürtellinie ging, wollte ich ihn wissen lassen, dass ich verletzt war. »Ja, ich war eine Lüge. Aber zu deinem Schutz«, sagte er und kam auf einmal einen Schritt auf mich zu. Sofort hob ich die Waffe an und hielt sie ihm ins Gesicht. Er blieb stehen, sah mir aber noch in die Augen. »Ich sollte dich beobachten, nachdem du an dem Abend vor Irinas Tür standst. Also verkleidete ich mich und beobachtete dich. Es war nie meine Absicht, dass wir überhaupt miteinander in Berührung kommen würde. Ich wollte nur beobachten.« »Meine Kollegin hat also alles in die falschen Wege geleitet?« Ich konnte den bitteren Unterton einfach nicht abstellen. Erneut sammelten sich Tränen in meinen Augen. »Im Grunde… ja. Es war nicht geplant gewesen, dass wir in Kontakt treten würden.« Ich seufzte und ließ erneut die Waffe sinken. »Und doch sind wir es. Und du hast es in eine sehr… eindeutige Richtung laufen lassen.« Mein Blick fiel zu Boden. Ich dachte an die vielen Küsse und den heißen Sex. Auf einmal war ich nicht mehr wütend. Ich war traurig, dass man sich so betrogen und benutzt hatte. »Du warst sehr nett, Kyle. Netter, als ich dachte. Man sagte mir, du seist der Feind – derjenige, der Irina wehtun würde. Aber du warst ganz anders. Freundlich, vielleicht etwas exzentrisch, aber ich mochte das.« Da lächelte er auf einmal wie Santa es immer getan hatte. »Ich wollte nicht, dass wir uns so nah kommen würden. Aber als du an dem Abend nach der Feier… mich gebeten hattest mit ins Taxi zu steigen…« Ich wusste nicht wieso, aber ich musste sein Lächeln erwidern. »Ja, du hast ziemlich lange überlegt.« »Es war sicherlich die dümmste Entscheidung, die ich je getroffen hatte«, gab er mit einem breiten Grinsen zu. »Mit deinem Feind zu knutschen?« »Und zu schlafen.« »Ja… willkommen im Club«, murmelte ich und konnte meine Mundwinkel kaum wieder nach unten ziehen. Alles wirkte auf einmal so lächerlich. Da waren so viele Probleme und wir fokussierten uns natürlich wieder auf das wohl banalste. Das Problem, was am wenigsten Schwierigkeiten machen würde. Unsere Liebelei. Mein Blick wanderte in seine blauen Augen, die mich noch immer warm ansahen. Der manische Gesichtsausdruck hatte ihn wieder verlassen. Hier stand wieder Santa, nicht Alexej Wolkow. »Ich weiß überhaupt nicht, wer du bist. Bist du jetzt Alexej Wolkow? Oder bist du Santa? Eine Mischung aus beiden? Woher kommst du eigentlich? Aus Litauen? Oder aus Russland?« »Ich komme aus St. Petersburg.« Ich hob beide Augenbrauen. »Oh wow, eine Information, die ich über dich bekommen habe, stimmte!« »Wirklich?«, grinste Alexej und kam noch ein kleines Stückchen näher an mich ran. »Was weißt du noch?« »Dass du deine eigenen Eltern ermordet, die Mafia hintergangen, dort eine Menge Menschen getötet hast, in ein Ausbildungslager gekommen und schließlich ins Mafia Geschäft eingestiegen bist. Oh, und du tötest Menschen mit bloß deinen Händen.« An Alexejs Blick konnte ich sehen, dass das meiste davon absoluter Humbug war. Er grinste über beide Ohren. »Ich habe niemals meine Eltern umgebracht«, begann er ruhig zu erzählen, während er die Waffe in meiner Hand fixierte. »Sie wurden von der Mafia getötet. Sie schuldeten ihnen Geld. Mehr weiß ich auch nicht. Letztendlich war ich dann Waise, also nahm man mich in die Familie auf. Eine Zeit lang ging das auch gut, aber irgendwann wurde es mir zu viel. Ich gab Informationen an den russischen Geheimdienst weiter, die einen großen Teil der Mafia zerschlagen konnte. Man trachtete mir nach dem Leben, also kämpfte ich mich mehrere Jahre so durch. Ich vermute von diesen Angelegenheiten kommen die Geschichten über mich.« Ich hörte ihm aufmerksam zu und fragte mich, ob das wirklich seine Vergangenheit war. Wieso sollte er mich jetzt wieder anlügen? Er sah nicht so aus, als würde er erneut mit meinem Vertrauen spielen wollen. »Wieso hast du nichts gesagt?«, murmelte ich, während ich seine Augen suchte. »Wieso hast du nicht sofort gesagt, wer du warst. Ich hätte ganz anders reagiert. Allein in Mr. Greens Haus. Hättest du sofort gesagt, dass du –« »Nein, Kyle«, unterbrach er mich bestimmend. »Deine Welt wäre in alle Teile gesprungen, so wie es vor ein paar Minuten passiert ist. Allerdings hätten wir in all der Hektik nicht die Zeit gehabt, die Dinge klären zu können, so wie wir es jetzt tun. Ich hätte dich zwingen müssen, mitzukommen und das wollte ich nicht.« »Wie nett…«, brummte ich und presste meine Lippen aufeinander. »Du hast das Spiel also lieber weiter gespielt. Wieso?« »Wieso ich dir nicht gesagt habe, dass ich ein Doppelleben führe und eigentlich für den russischen Geheimdienst arbeite?« »Ja«, sagte ich ungeduldig und nickte wie ein Wackeldackel. Alexej kam noch einen kleinen Schritt auf mich zu. Erst jetzt registrierte ich, wie nah er eigentlich an mir dran war. Viel zu nah, um noch die Waffe auf ihn richten zu können, sollte er mich außer Gefecht setzen wollen. »Ich hätte dich töten müssen«, sagte er finster und sah mir dabei tief in die Augen. »Mein Job war es, dich zu beobachten und falls nötig, zu eliminieren. Niemand hier war begeistert, dass ich das nicht getan hatte. Sondern dir ganz im Gegenteil noch genug Anlass gegeben hatte, weiter nach mir zu suchen. Ein Fehler von meiner Seite, den mir hier niemand so wirklich verzeiht. Es hätte uns viel Stress erspart und –« »Du bist ohne Verkleidung durch Londons Straßen gerannt. Wir haben dich gesehen. Nur deswegen wussten wir, wo wir euch suchen mussten. Nicht, weil ich dich verpfiffen habe. Meine Chefin hat bisher kein Wort von mir gehört, welches ich über dich verloren hätte.« Seine Augen weiteten sich. »Ist das so? Ihr habt wirklich eine Menge Kameras.« »Die haben wir.« Das Thema fand abrupt ein Ende. Niemand sagte mehr etwas. Ich musste über die Tatsache schmunzeln, dass Alexej wirklich so dumm gewesen war und unverkleidet durch die Straßen gewandert ist. Er hatte sich so viel Mühe mit seiner Identität als Jurijus gegeben – und schlampte dann bei den wirklich wichtigen Sachen. Ich schien ihm mehr den Kopf verdreht zu haben, als gedacht. Immerhin hatte er die Mission riskiert, nur um in meiner Nähe bleiben zu können. Er hat mich gar drei Mal gehen lassen, anstatt mich direkt beim ersten Mal zu töten. Das ‚Verschwinde‘, welches er mir immer zu geworfen hatte, bekam auf einmal eine ganz andere Bedeutung. »Man hat mich gefeuert«, sagte ich schließlich in den stillen Raum und packte resigniert die Waffe weg. »Ich bin nicht mehr für euch zuständig. Und jetzt, wo ich weiß, dass beide Seiten ein falsches Spiel gespielt haben, bin ich froh, dass ich meine Finger nicht mehr in euren Topf voller Dreck halten muss.« Alexej sah mich verwirrt an. »Weswegen haben sie dich gefeuert?« »Sie dachten, ich würde mit euch arbeiten und unter einer Decke stecken. Immerhin sind alle Leute des MI6 in deiner Nähe wie tote Fliegen auf den Boden gefallen, während ich quick lebendig an deinem Rockzipfel hing.« »Ich wollte dich nicht umbringen. Das dürfte dir doch wohl klar geworden –« »Natürlich«, unterbrach ich ihn erneut recht aufgebracht. »Ich habe das jetzt verstanden. Ich war dein süßer Zeitvertreib, der sich als wesentlich interessanter herausgestellt hatte, als gedacht. Aber das wissen meine Vorgesetzten nicht. Und ich werde es ihnen auch nicht sagen. Denn, wenn rauskommt, dass ich mit dir geschlafen habe, wird es ein Fiasko vom anderen Stern geben. Und ich wäre mittendrin! Niemand würde mir glauben, dass ich… so blind vor Liebe war und nicht gesehen habe, dass Santa eigentlich der böse Wolf ist.« Ich stemmte meine Arme in die Hüfte und blinzelte erneut die Feuchte aus den Augen. »Ich hatte mich schon gefragt, wo der Haken in dieser sonst perfekten Beziehung sein würde und ich muss sagen… das ist ein verdammt großer Haken.« Alexej sagte einfach nichts. Stand nur da und sah mich an, als hätte ihn gerade jemand mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen. »Ich werde jetzt gehen«, verkündete ich und ging aus Alexejs Nähe. »Und ich werde mich nicht mehr einmischen. Denn ich finde keine Zugehörigkeit. Weder… weder zu dir noch zum MI6. Ihr seid beide falsch. Ich habe den Job verloren, also ist es vorbei. Und weil du mich belogen hast… ist es auch mit uns vorbei. Ich kann das nicht vereinbaren. Außerdem warst du ein Arsch. Wieso hast du nicht mal eine SMS geschrieben?« »Ich wurde angeschossen«, knurrte Alexej auf einmal los und deutete auf seinen Torso. »Ich wäre fast gestorben. Ich kann kaum aufrecht gehen. Die Schmerzen sind fast unerträglich.« Ich presste die Lippen aufeinander. Ja, natürlich. Das erklärte auch, wieso er nicht mehr als Weihnachtsmann zur Arbeit kam. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben. »Man kann auch im Liegen kurz auf sein Handy schauen und antworten.« »Kyle, wir haben gerade andere Probleme. Die britische Regierung ist uns auf den Fersen und die werden nicht zögern zu schießen. Sie werden uns umbringen. Und ich will meine Cousine sicher aus diesem Land schaffen.« Ich zuckte mit den Schultern, als hätte die Diskussion um eine dämliche Rück-SMS gar nicht stattgefunden. »Dann gehst du ja sowieso. Hat sich also mit uns erledigt. Ist dann vielleicht besser, wenn du auch in Zukunft nicht auf meine SMS antwortest. Es werden auch keine weiteren mehr kommen.« Ich schniefte ein letztes Mal und strich über meine Augen. Alexej hob seinen Arm und wollte mich an der Hand berühren, hielt jedoch wenige Zentimeter vorher in seiner Bewegung an. »Komm mit mir«, sagte er auf einmal so sanft, dass ich mich langsam fragte, wie viele Persönlichkeiten in ihm lebten und ob er sie alle so schnell wechseln konnte, wie er es gerade tat. »Mit dir mitkommen? Wohin? Nach Russland? Ins Exil?«, posaunte ich raus und zog die Augenbrauen zusammen. »Du machst Witze.« »Nein«, hauchte er und sah mich an, als könnte er meine Reaktion nicht ganz verstehen. »Ich meine das ernst. Komm mit mir.« Ich öffnete und schloss meinen Mund mehrere Male, bis ich einen Ton von mir gab, der ein Lachen, Weinen oder einfach ein erschrockenes Glucksen hätte sein können. Es klopfte an der Tür. »Mit wem redest du da, Alexej?«, fragte die Männerstimme von vorhin. »Der Nachbar?« Ohne zu antworten öffnete er die Tür. Der Mann erstarrte binnen Sekunden, als er mich im Raum stehen sah. Er sagte irgendetwas in Russisch und wedelte mit den Händen in der Luft. »Er weiß Bescheid«, sagte Alexej ruhig. »Er arbeitet nicht mehr beim MI6.« Der Mann redete sich weiter in Rage, während Alexej ruhig blieb. Und erst jetzt realisierte ich, dass er mir alles im Vertrauen erzählt hatte, obwohl er noch gar nicht wusste, dass ich gekündigt wurde. War es das Vertrauen, was er zurückgewinnen wollte? Oder ein Trick, der mich ins Boot holen sollte, um mich bei passender Gelegenheit erneut zu benutzen? »Das weiß ich nicht«, sagte Alexej auf einmal und sah zu mir. »Ich denke im Moment nicht.« Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. »Du willst nicht bei uns bleiben. Aber du wirst uns auch nicht verraten, oder? Uns gehen nämlich langsam die Orte aus, an denen wir uns verstecken können.« »Wenn du versprichst, keine Menschen mehr zu töten… denke ich darüber nach, niemandem etwas zu sagen«, legte ich den Deal offen, der mir in letzter Sekunde eingefallen war. »Das kann ich nicht versprechen, Kyle«, murmelte Alexej und sah mir so ehrlich wie er konnte in die Augen. »Wenn wir angegriffen werden oder man auf uns schießt… werde ich uns verteidigen. Und zwar mit allen Mitteln.« Ich nickte stumm und ließ das Thema einfach sein. Ob er nun Menschen töten würde oder nicht – ich würde sie nicht verraten. Denn ich war mir sicher, dass es mir den Job nicht wiederbringen würde. Ganz im Gegenteil: ich würde die Aufmerksamkeit wieder auf mich ziehen und allen deutlich zeigen, dass ich mit Alexej unter einer Decke steckte. Gerade, als ich realisierte, dass das tatsächlich bereits der Fall war, hörte ich weitere Schritte auf uns zukommen. »Er muss gehen«, kam Irinas Stimme aus dem Flur. Ihr Gesicht erschien auf einmal hinter dem Rücken des anderen Mannes. »Du kannst nicht hierbleiben. Geh.« »Das wollte ich sowieso gerade tun«, murrte ich und ging mit gesenktem Kopf an Alexej vorbei. Ich sah im Augenwinkel, dass er mich gerne aufgehalten, nach mir gegriffen oder mich umarmt hätte. Doch er blieb starr stehen und sah mir hinterher, wie ich in den Flur marschierte und schließlich die Tür zum Flur öffnete. »Viel Erfolg bei der Flucht«, sagte ich noch und verließ ohne eine Antwort der Personen abzuwarten die Wohnung. Das Klacken der Tür hallte im Treppenhaus nach, als wäre damit ein Kapitel beendet worden. Ein Teil von mir wollte zurückgehen. Alexej in die Augen sehen und sagen, dass ich doch mitkommen würde. Dass ich bereit war, das Leben hier hinter mir zu lassen. Besonders jetzt, wo ich das Gefühl hatte, nichts mehr zu haben und niemandem mehr trauen zu können. Doch dann erinnerte ich mich an Cindy. An den Laden im Center. Daran, dass die Welt nicht unterging, nur weil man einen Job verloren hatte, der einem viel bedeutete. Dass das Leben weiterging, auch wenn man den Fang seines Lebens mit dem Mörder seiner Kollegen vertauscht hatte. Ich lief schweigend zum Auto zurück. Als ich einstieg und die Zündung betätigte, sah ich Alexej am Fenster stehen und auf mich herabsehen. Sein Blick war unergründlich, sodass ich nicht einschätzen konnte, ob er sauer, glücklich oder traurig war, dass ich mich gegen ihn entschieden hatte. Aber wer würde denn schon nach so eine Aktion die Seite der Feinde einnehmen? Er hatte mich benutzt, belogen und betrogen. Von seiner Seite aus hätte er alle Avancen sofort im Keim ersticken müssen. Stattdessen hat er nachgegeben und sich auf mich eingelassen. Er hat mich verführt, geküsst und gefickt. Und das alles in nur wenigen Wochen. Ich fühlte mich misshandelt und irgendwie benutzt, obwohl Alexej keinen wirklichen Vorteil aus unserer Beziehung gezogen hatte. Ganz im Gegenteil: Er hat sich das Leben nur unnötig schwer mit mir gemacht. Waren die Gefühle also echt gewesen? War das keine Lüge gewesen? Während der Fahrt hörte ich traurige Rocklieder, um mich noch mehr in die dramatische Stimmung einzufinden. An einer roten Ampel sah eine Dame aus einem anderen Auto sehr verstört in meine Fahrerkabine. Ich saß einfach nur stoisch da und heulte mir die Augen aus. Eigentlich hätte ich bei den Wetterverhältnissen nicht Autofahren dürfen, doch ich wollte nach Hause und meinen Kummer in Alkohol ertränken. Genau das tat ich und verlor mich dabei auf dem Sofa. Ich bemühte mich nicht mal, das Licht im Zimmer anzumachen. Nur die Straßenlaternen und der Mond schenkten mir genug Licht, sodass ich die Flasche nicht am Mund vorbeiführte. Kurz bevor ich einnickte, hörte ich mein Handy brummen. Ich dachte erst, es mir eingebildet zu haben, aber als es erneut vibrierte, kramte ich es aus meiner Jackentasche. »Es tut mir leid, Mr. Lewis.« Und: »Es war wunderschön mit Ihnen.« Mein betrunkenes Gehirn sendete noch mehr Tränen in meine Augen und ließ mich für weitere Stunden heulen. Es war schön gewesen – ja. Und es tat mir genauso leid. Alles hätte so schön werden können. Die ersten schüchternen Dates außerhalb des Centers, obwohl man schon heißen Sex in einer Abstellkammer hatte. Die liebevollen Umarmungen und Küsse zu Hause. Das vertraute Beisammensein und sich Kennenlernen. All das würde nie passieren. Denn er war der Weihnachtsmann, der Menschen tötete. Kapitel 17: Rat und Tat ----------------------- Am nächsten Morgen erwachte ich zerknautscht und mit einem wahnsinnigen Kater. Doch der Schmerz in meinem Kopf reihte sich zu dem Schmerz in meinem Herzen, sodass ich letztendlich einfach nichts spürte. Es war wie ein dauerhaftes Summen in mir, was mich in einen tranceartigen Zustand versetzte. Alexej, Santa, Irina, Mr. Green, Freya, Ethan, Cindy… so viele Personen in meinem Umfeld, die mir so nah standen und doch so fern waren. Ich kam zu spät zur Arbeit, sodass der Tag bereits mit einer Standpauke vom Chef begann. Doch ich stand einfach nur da, starrte auf den Boden und ließ es über mich ergehen. Alles rasselte einfach so auf mich herab. Und immer wieder fragte ich mich, ob Alexej und die anderen bereits aus dem Land waren. Natürlich nicht – ich hatte ihn ja gestern erst gesehen, wo er mir sehr deutlich gemacht hatte, dass gefälschte Pässe nicht mal eben mit Amazon Prime in den Briefkasten geflogen kamen. »Heute nicht dein Tag, hm?«, fragte Cindy vorsichtig und musterte mich von oben bis unten. »Du siehst ziemlich fertig aus. Hast du gestern nicht viel Schlaf bekommen?« »Hab mich betrunken«, sagte ich frei raus und ergatterte mir sofort einen entsetzten Blick einer Kundin. »Frust und so.« »Oh, Kyle…«, seufzte sie und packte eine Tragetasche. Ihre glitzernden Tannenbaumohrringe waren das einzige, was ich an dem Tag schön fand. Total kitschig, aber irgendwie passte es zu ihr. Alles andere konnte zur Hölle fahren. Als es für einen Moment ruhiger wurde, ging sie zum Chef und informierte ihn über irgendetwas. Er schüttelte erst den Kopf, ließ sich dann doch erweichen. Immer wieder huschte sein Blick zu mir. Einen Augenblick später kam Cindy wieder und lächelte mich breit an. »Wir dürfen nachher gemeinsam in die Pause. Jack kommt wieder hoch und ich geh dann später für ihn runter. Was sagst du?« »Wow«, lächelte ich müde. »Du hast ihn echt vorher gefragt und er hat zugestimmt?« »Chefchen kann eben doch mal nett sein«, kicherte sie und zupfte an ihrem Rollkragenpullover. »Also? Gemeinsam auf einen Glühwein?« Ich stöhnte wehleidig auf. »Vielleicht für mich eher nur einen Kinderpunsch.« »Ist vielleicht besser ja. Wie viel hast du gestern denn getrunken?« Meine Hand wedelte durch die Luft, als wolle ich nicht darüber reden. »Viel.« Cindy nickte nur noch und hob die Augenbrauen, als wolle sie mir indirekt sagen, dass ich in diesem Falle selber schuld war. In der Pause, die wir tatsächlich gemeinsam auf dem Weihnachtsmarkt verbrachten, starrte sie mich wehleidig an. Nach einigen Minuten, in denen ich mich enorm anstrengen musste, nicht an dich zu denken, brach sie die Stille. »Okay, frei raus. Ich will’s wissen. Was ist passiert? Du hast deinen Job verloren, okay. Aber… das mit Santa? Jurijus? Was ist da los?« Ich sah sie an, als hätte ich ihr nicht zu gehört. »Sieh mich nicht so an, Kyle. Du bist furchtbar depressiv. Und ich verstehe, wenn du mir sagst, dass es mich nichts angeht. Aber dann sprich mit jemand anderen.« Ihr warmer Blick tat weh. Und die Erkenntnis, dass ich im Grunde nicht wirklich jemanden hatte, dem ich davon erzählen konnte, tat noch mehr weh. All die Jahre kein Privatleben zu haben musste ich auf einmal hart bezahlen. »Er hat gekündigt«, murmelte ich und deutete auf den leeren Stuhl am Tannenbaum. »Ohne mir etwas zu sagen.« »Echt? Er hat gekündigt? Ich dachte, er sei einfach nur krank?«, wunderte sich Cindy mit großen Augen und beugte sich ein Stück zu mir vor. »Er ist auch krank«, sagte ich in einer Art Halbwahrheit. »Aber eben längerfristig. Er kann den Job nicht mehr ausüben. Er wird vermutlich auch bald zurückgehen. Nach… Lettland.« »Oh Shit«, flüsterte Cindy. »Man, das gibt’s doch nicht. Was ein Arschloch.« Da musste ich lachen. Es war ein verzweifeltes, trauriges, wieder einmal kurz vor dem Heulen Lachen, aber es tat gut, Cindys Meinung zu hören. »Das kannst du laut sagen.« »Hat er sich also nie dazu geäußert, dass ihr euch nahestandet? Ich mein… du hast nie viel erzählt, aber wann immer ihr euch gesehen habt, sah es super süß aus. Und jeder hier wusste, dass ihr was hattet. Ich mein… ihr habt euch in aller Öffentlichkeit abgeschleckt. Was ich klasse finde, aber du weißt schon. Zieht halt die Runde im Center.« Für einen kurzen Moment musste ich nachdenken, was ich eigentlich sagen sollte. Erneut eine Halbwahrheit? Die komplette Wahrheit war keine Option. Aber eine Lüge war auch nicht gut. Es hatte genug Lügen in den letzten Tagen gegeben. »Doch, schon. Wir haben kurz darüber gesprochen. Er schien mich sehr gern zu haben«, begann ich und seufzte langgezogen. »… aber?«, fragte Cindy neugierig nach. »Aber er muss nun mal zurück. Familiäre Gründe. Und er ist krank. Das ganze hier war von vornherein zum Scheitern verdammt gewesen. Er hat es einfach nur gut kaschieren können.« »Arschloch«, wiederholte Cindy sehr deutlich und kassierte einen finsteren Blick einer Mama ein, die mit ihrem Kind neben uns stand und Crêpes aß. Doch meine Kollegin scherte sich wenig um unsere Nachbarn. Ich nickte einfach nur. »Du findest wen besseren, Kyle. Ganz sicher«, versuchte mich Cindy aufzubauen und griff nach meiner Hand. »Typen, die meinen, eine Lüge sei okay, wenn sie andere schützen, wissen oft nicht, was sie damit anrichten. Lügen bleiben Lügen. Und ich bin mir sicher, du hättest Verständnis für seine Lage gehabt, hättet ihr da vorher drüber gesprochen.« »Er hätte mich einfach nicht so nach ranlassen dürfen, das ist alles«, murmelte ich und entzog Cindy langsam meine Hand. »Jetzt ist es vorbei. Und … vielleicht ist das gut so.« »Vielleicht? Kyle, du wirkst nicht so, als wäre es gut.« Ich zuckte mit den Schultern und lächelte müde. »Er hat mich gebeten, mit ihm zu kommen.« Cindys Atem blieb stehen. Ihre Augen weiteten sich um das Doppelte. »Bitte was?« Nervös knibbelte ich an der Tasse Kinderpunsch vor mir. »Er hat mich gebeten, mit ihm mit zu kommen. Nach… Litauen. Oder Russland. Wo auch immer hin, ich hab’s schon wieder vergessen.« »Er will dich mitnehmen? Wow, Kyle… die ganze Zeit über dachte ich, er hätte dich einfach nur als schnellen Fick gesehen«, sagte sie und erntete erneut einen finsteren Blick. Schließlich ging die Mutter mit ihrem Kind einige Meter weiter. »Aber… das klingt ziemlich ernst. Das klingt so, als würde er dich heiraten wollen oder so. Du weißt schon. ‚Komm mit mir in ein fremdes Land, verlasse alles für mich, denn ich werde dir alles geben, was du dir je erträumt hast‘.« »Das klingt ein bisschen wie aus einem schlechten Liebesfilm. Aber vermutlich ja. Das wird seine Intention gewesen sein. Er will mich bei sich haben. Und heiraten«, lachte ich leise und spürte, wie es in mir kribbelte. Die Vorstellung, dass wir beide im Exil in Russland wären, machte mich enorm nervös und doch beruhigte es mich. Ich kannte den Mann keinen Monat und dachte schon darüber nach, mein Leben in seine Hände zu geben? Was sagte das über mich aus? Was sagte das über ihn aus? »Du denkst darüber nach«, stelle Cindy fest und hob beide Augenbrauen. »Du denkst wirklich darüber nach.« »Nein, tue ich nicht«, schüttelte ich den Kopf und trank meinen Punsch aus. »Das ist keine Option. Er hat mich belogen und betrogen. Er hat mir seine wahre Identität«, und da wäre mir fast die Wahrheit rausgerutscht, »bis zum Schluss vorenthalten. Seinen Namen kenne ich nur, weil wir danach gesucht haben. Das ist kein guter Start in eine so feste Bindung. Ich kenne ihn ja gar nicht.« »Und trotzdem denkst du drüber nach.« »Nein, ich –« »Es ist okay. Manchmal verliebt man sich Hals über Kopf in eine Person und weiß nicht mal wieso. Ihr saht so verträumt aus, wann immer ihr zusammen wart. Wie wahre Liebe manchmal eben aussieht. Vielleicht war sie stürmisch, immerhin hattet ihr mehrmals Sex hier im Center.« Da drehten sich wieder einige Leute um. Es war definitiv zu voll für so ein sensibles und privates Gespräch. »Aber es war intensiv. Und ich kann mir vorstellen, dass das manchmal auch das Richtige sein kann.« Ich schmunzelte vorsichtig. »Klingt, als würdest du hier aus Erfahrung sprechen.« Cindy erwiderte mein Schmunzeln und sah an mir vorbei, hoch in unseren Laden. Ich drehte mich um und sah den Kopf unserer Aushilfe an der Kasse stehen. Und Jack. »Wow«, hauchte ich. »Ist es Jack? Oder die Aushilfe?« »Sie heißt Lisa«, säuselte Cindy und biss sich auf die Unterlippe. »Sie ist toll.« Überrascht entließ ich aufgestaute Luft aus dem Mund. »Das… glaube ich dir…« Für einige Sekunden starrte sie verliebt nach oben, während ich mich unangenehm berührt räusperte. »Jedenfalls«, fing sich Cindy wieder und haute mit der flachen Hand auf den kleinen runden Tisch. »musst du eine solche Entscheidung für dich treffen. Geh mit ihm mit, wenn dir danach ist. Du kannst immer wieder zurück.« Und genau da war der Punkt. Nein, das konnte ich nicht. Einmal in Russland mit Alexej Wolkow – immer in Russland mit Alexej Wolkow. Man würde mich sofort festnehmen, wenn ich Großbritannien auch nur mit einem Zeh betreten würde. Auch wenn das Gespräch mit Cindy keine wirklich neuen Erkenntnisse gebracht hatte, fühlte ich mich etwas besser. Sie hatte Recht gehabt – mit anderen Menschen über seine Probleme sprechen half tatsächlich. Doch sie kannte keine Einzelheiten. Sie kannte eigentlich nicht einmal mehr die Wahrheit, wer Santa eigentlich war und was er getan hatte. Denn ich war mir sicher, dann würde sie mir nicht so blauäugig vorschlagen, mit ihm nach Russland zu fliehen. Nachdem ich mir für den Rest des Tages ansehen musste, wie Cindy und unsere Aushilfe Lisa miteinander flirteten, fuhr ich schließlich wieder etwas traurig nach Hause. Gerade als ich erneut zum Alkohol greifen wollte, klingelte das Telefon. Es war Ethan. Er begrüßte mich enorm vorsichtig und fragte, wie es mir ginge. Als ich nur ein Brummen als Antwort gab, verkündete er seine Sorgen und ob er vorbeikommen dürfte. Er hätte vielleicht einige Informationen, die er mir geben wollte. Ich hielt es für keine gute Idee, dass wir noch so regen Kontakt hielten, aber Ethan schien sich der Konsequenten bewusst zu sein, da er sagte: »Ich traue Freya auch nicht mehr. Sie strick da einen Pulli, in den niemand hineinpasst, weil es kein Pulli ist, sondern ein Sack mit Geheimnissen.« An seinen Analogien musste er dringen feilen. Als er schließlich vor meiner Tür mit einer Flasche Wein stand, erweichte sich mein Herz und ich fühlte mich wieder besser. So viel Aufmerksamkeit von Freunden war ich gar nicht gewohnt. Das letzte Mal, wo Ethan mich zu Hause besucht hatte, war vor vielen Jahren, als ich einen komplizierten Bruch im Oberschenkel hatte und mich kaum bewegen konnte. Er brachte mir so etwas wie Hausaufgaben vorbei. Und eine Menge Alkohol. Ich schenkte ihm ein großzügiges Glas Wein ein und setzte mich zu ihm aufs Sofa. Er trank einige große Schlucke und sah schließlich zu mir rüber. »Wie geht es dir?« »Immer noch beschissen, danke der Nachfrage.« »Na wenigstens bist du ehrlich«, lachte er und trank noch einen Schluck vom Wein. Wollte er sich die Zunge lockern? »Du sagtest, du wolltest mir etwas sagen?«, kam ich direkt zum Punkt, weil ich keine Lust auf Mitleid hatte. Jedenfalls nicht noch mehr, als man mir eh schon von allen Seiten zuwarf. Ethan nickte und sah dabei in die rote Flüssigkeit. »Freya sucht immer noch nach Wolkow und Irina Iwanowna. Haben sich gut versteckt.« Ich nickte, wissend, dass das nicht wirklich stimmte. Aber ich hoffte, dass Alexej sich meinen Hinweis mit den Kameras zu Herzen nahm und von nun an wenigstens eine Kapuze oder Mütze tragen würde. Hoffte ich das wirklich? Wollte ich sie nicht alle hinter Gittern sehen? »Freya hat angefangen den Typen, den du angeschossen hattest, zu foltern. In der Hoffnung, er würde ihr Antworten geben können.« Eine unangenehme Stille machte sich zwischen uns breit. »Sie foltert ihn?«, fragte ich nach und legte meine Stirn in Falten. »So etwas tun wir nicht.« »Sie schon«, seufzte Ethan und zog die Mundwinkel in ein komisches Lächeln hoch. »Niemand hat verstanden, wieso sie auf einmal zu solchen Mitteln griff. Sie wirkte so… verzweifelt. Ich konnte das nicht gutheißen und habe mich für heute krankgemeldet. Auch für die nächsten Tage. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Jetzt, wo du weg bist, haben sich die Dinge sowieso geändert. Alle sprechen nur noch von diesen Codes. Dafür, dass sie sonst darüber kein Wort verloren haben, sind sie auf einmal sehr offen darüber.« »Weil ich ja nichts darüber wissen sollte«, knurrte ich und stierte in Ethans Gesicht. »Ich sollte ihnen einfach nur Irina bringen. Mehr nicht.« Mein Kollege hielt inne. Er sah mich mit großen Augen an und schüttelte vorsichtig den Kopf. »Kyle? Weißt du… weißt du mehr? Hast du noch etwas herausgefunden?« Mein Blick blieb eisern. Für einige Augenblicke sahen wir uns einfach nur in die Augen und warteten ab, ob der jeweils andere etwas sagte. Irgendwann blinzelte Ethan in meine Richtung und legte den Kopf schief. »Du… weißt etwas, ja?«, hauchte er. »Was weißt du? Hat es mit Freya zu tun? Irina Iwanowna? Alexej Wolkow?« Nach reiflicher Überlegung stellte ich mein Weinglas ab und nahm Ethans an mich, um es ebenfalls abzustellen. Ich deutete ihm mit einem Handzeichen an, aufzustehen. Er tat wie verlangt und ließ sich abtasten. »Ich bin nicht verkabelt, Kyle. So etwas würde ich nie tun«, sagte er ruhig, ließ sich trotzdem weiter von mir durchsuchen. »Ich weiß. Aber ich kenne Freya. Sie steckt uns doch gerne mal was zu, was wir nicht haben wollen.« Nach dem Hinweis half mir Ethan, seine Sachen zu untersuchen. Schließlich fing er an sich auszuziehen. »Okay, was… was tust du da?«, fragte ich verwirrt und sah meinem Kollegen dabei zu, wie er seine Hose auszog. »Wenn hier irgendwo eine Wanze ist, dann weiß Freya nun, dass wir Geheimnisse voreinander haben. Ich bin also raus«, murmelte er. »Deswegen schmeiß ich jetzt die Sachen beiseite und wir unterhalten uns in einem anderen Raum.« »Willst du vielleicht einen Bademantel haben oder so?«, fragte ich auf einmal sehr scheu und sah zur Seite. Ethan stand nun nackt in meiner Wohnung. »Zieh dich auch aus.« Ich zog scharf die Luft ein. »Ich will sichergehen, dass du auch nicht verkabelt bist«, waren seine Worte, die auf einmal harscher klangen, als vorher. »Du bist mein bester Freund, Kyle, und ich respektiere dich. Aber nach allem, was passiert ist… will ich sichergehen, dass wir uns nicht gegenseitig anlügen.« Schließlich sah ich zu ihm. Mit aller Kraft versuchte ich, meinen Blick in seinem Gesicht zu lassen. »Ich schätze, das ist nur fair.« Also begann ich mich ebenfalls auszuziehen. Was soll’s, dachte ich. Es war Ethan. Mein Kollege. Wir hatten uns schon nackt gesehen. Nur nicht so… intim. Als wir beide nackt im Wohnzimmer standen und offensichtlich nicht verkabelt waren, deutete ich die hinteren Räume der Wohnung an. »Badezimmer oder Küche?« »Badezimmer«, sagte Ethan und nickte zur Tür. »Lass uns baden.« »Wir passen nicht beide in die Badewanne«, bemerkte ich trocken, ging trotzdem Richtung Bad. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir da reinpassen. Wir sind doch beide nicht sehr groß.« »Hallo?«, raunte ich ihn von der Seite an. »Wir sind durchschnittlich, okay? Nenn uns nicht klein.« Ethan schmunzelte und sah mich eine Weile lang an. »Sowas kann ich auch echt nur mit dir machen.« Langsam ließ ich warmes Badewasser in die Wanne und verschloss den Stöpsel. Mir war bewusst, dass ich mich gerade enorm nach vorne beugte und Ethan mich dabei beobachtete. Als ich mich wieder zu ihm umdrehte und gerade ansetzen wollte, dass wir vielleicht doch kurz darüber sprechen sollten, was wir gleich tun würden, machte er einen großen Ausfallschritt auf mich zu und presste seine Lippen auf meine. »Hm!«, brummte ich gegen seinen Mund. Der Kuss dauerte vielleicht einige Sekunden, bis er sich wieder von mir löste. »Ich weiß, dass du auch Interesse an Männern hast, Kyle«, flüsterte er gegen meine Lippen. Ich konnte mich kaum auf seine Stimme konzentrieren. Da war definitiv zu viel nackte Haut. »Und ich weiß, dass ich nie eine Option für dich war.« »Ethan«, begann ich, doch er unterbrach mich und küsste mich erneut. »Jetzt, wo wir beide quasi unseren Job verloren haben… wollte ich es dir einfach mal sagen. Das ist der Hauptgrund, wieso ich heute hier bin. Alles, was passiert ist, tut mir so unendlich leid. Ich hätte Freya nicht sagen dürfen, dass du da warst. Stattdessen hätte ich dir helfen sollen. Aber ich hatte Angst… Angst um dich.« Wir sahen uns eine Weile in die Augen, während das warme Wasser in die Wanne lief. Durch den Badezusatz bildete sich bereits weißer Schaum. »Ich habe dich wirklich gern, Kyle«, sagte Ethan schließlich und lächelte mich an. »Ich hoffe, du kannst damit umgehen.« Mir fehlten die Worte. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Das kam alles so plötzlich. »Nach all den Jahren«, murmelte ich und nahm etwas Abstand zu ihm. Dass sich unsere Glieder während dieses Gesprächs berührten, machte die Sache nicht einfacher. »Wieso hast du es mir nicht früher gesagt?« Er zuckte mit den Schultern. »Hab mich nicht getraut. Und es war gut, wie es war. Ich himmelte dich aus der Entfernung an und es war schön. Mehr wollte ich eigentlich nie haben. Und ich wusste nie, wie du reagieren würdest. Ich wollte dich nicht verlieren. Aber jetzt, wo so viele verrückte Dinge passiert sind, dachte ich…, dass ich dann vielleicht das geringste Übel für dich sein würde.« Ich konnte ein zaghaftes Lächeln nicht vermeiden. »Das bist du allerdings.« Ethan grinste mich an. »Ist das also in Ordnung für dich?« »Ja«, nickte ich zustimmend. »Ich mag dich auch Ethan. Zwar nicht… unbedingt so«, damit gestikulierte ich auf uns beide, wie wir nackt im Bad standen, »aber du bist ein sehr guter Freund für mich.« Er sah mir glücklich in die Augen. Für einen kurzen Moment blitzte die Enttäuschung auf, doch sie verschwand so schnell wie sie gekommen war. Ich verstand diese Art der Beziehung, die er mir ohne Worte vorschlug. Es würde nie etwas Festes werden, aber es war etwas Inniges. Wir würden uns immer mögen, egal was passieren würde. Es war kein romantisches Interesse, aber es war auch keine einfache Freundschaft. Es war etwas dazwischen. »Deswegen will ich dir alles erzählen«, führte ich fort und deutete auf die mittlerweile halbvolle Badewanne. Wir stiegen mehr schlecht als recht in die Wanne und verhakten unsere Beine, sodass wir uns ansehen konnten. Ich stellte das Wasser nach ein paar Minuten ab und spielte mit dem Schaum. Ethan tat es gleich und sah dabei verliebt in meine Richtung. »Darf ich dich trotzdem noch vorher etwas fragen?« Ich sah auf und nickte. »Nur zu.« »Bist du gerade in einer festen Beziehung?« Da musste ich schmunzeln. »Nein… also… nicht wirklich. Es ist kompliziert. Dazu komme ich gleich noch.« Ethans Augen weiteten sich. »Es hat mit dem Fall zu tun?« »Leider ja.« Die Leichtigkeit der Konversation verflog im Nu. Er sah mich erschrocken an, sagte jedoch nichts mehr. »Es ist so verrückt, wie es klingt«, seufzte ich und versuchte mein Gesicht im Schaum zu verstecken. »Das denke ich mir«, murmelte er. »Fang bitte von vorne an. Als ich dir den Fall gab…« »Ja«, sagte ich sinnierend und zerdrückte den Schaum in meinen Fingern. »Da fing alles an.« Als ich anfing vom Fall zu sprechen und dabei immer wieder Santa erwähnte, ahnte Ethan schon das Schlimmste. Schnell wurde ihm klar, dass Alexej Wolkow und Santa ein und dieselbe Person waren. Diese Erkenntnis hatte ich nur leider nicht so früh und mein Freund willigte ein zu verstehen, dass es vermutlich nicht so offensichtlich war, wie ich es in meiner Erzählung darstellte. Ich erzählte von Wolkow, wie er mich immer verschonte, wie er mir nicht wehtun wollte und wie er letztendlich von mir verlangte, mit ihm mitzukommen. Ethan, der vorher noch immer mal wieder einen Kommentar eingeworfen hatte, verstummte sofort. Trotzdem erzählte ich weiter. Wie ich mit Santa Sex hatte und wie wir beide liebevoll miteinander umgingen. Wie sehr ich ihn mochte und wie sehr er mich mochte. Und dass die ernüchternde Wahrheit nun über uns beiden lag wie ein unheilvolles Zeichen. Schließlich fragte Ethan das, was auch Cindy fragte. »Willst du mit ihm mitgehen?« Ich zog erneut scharf die Luft ein, konnte jedoch keine passende Antwort finden. Das starke Nein vom Vormittag blieb auf einmal in meinem Hals stecken, nachdem ich die ganze Geschichte im Schnelldurchlauf noch einmal durchgegangen war. »Du weißt, dass du dich damit zum russischen Geheimdienst bekennst. Kannst du dir überhaupt sicher sein, dass Alexej nicht lügt? Nicht erneut?« »Ich bin mir ziemlich sicher. Was hätte er davon, mich anzulügen? Jeder andere wollte mich nicht dabei haben, Alexej schon. Er ging Risiken ein, indem er mich nicht tötete. Und jetzt würde er lügen, weil… er will, dass ich mitkomme? Weswegen? Für was? Ich bin nicht mehr bei euch. Ich bin ein normaler Kassierer.« »Vielleicht will dich der FSB rekrutieren?« Da hob ich eine Schulter an. »Vielleicht. Aber auch eher unwahrscheinlich. Bisher hat mich niemand anders als Alexej kontaktiert.« Ethan verstummte erneut. Die ganzen neuen Informationen lagen ihm schwer in der Magengegend, das sah ich ihm an. Der Schaum verdünnte sich langsam und unsere Haut wurde schrumpelig. Nachdem auch mehrere Minuten nach meiner Erzählung nicht mehr wirklich etwas von Ethan kam, stieg ich aus der Wanne. Er folgte mir, sodass wir uns abtrockneten und in Bademäntel schmissen. Nachdem ich unsere Weingläser geholt hatte, setzten wir uns ins Schlafzimmer auf das Bett. Geistesabwesend schwank Ethan die rote Flüssigkeit im Glas hin und her, bis er schließlich aufblickte und determiniert in mein Gesicht sah. »Freya hat uns hintergangen und uns angelogen, nur um einigen Politikern das dreckige Geschäft weiterhin zu vereinfachen.« »Du glaubst ihm also auch?« »Wenn du ihm glaubst, glaube ich ihm auch«, sagte er entschlossen und trank sein Weinglas aus. »Es stört mich zwar«, und da lachte er kurz auf, »dass er dich so um den Finger wickeln konnte, aber ich erkenne aus deinen Erzählungen, dass er sich damit nur selber eine Grube gegraben hat, in der ihr nun beide sitzt.« »Ich sitze mit in der Grube?«, hakte ich verwundert nach und trank auch meinen Wein aus. »Das würde bedeuten, ich hätte mich bereits entschlossen, wegzugehen.« »Freya wird dir den Prozess machen«, sagte Ethan schließlich und stellte das leere Glas weg. »Sie wird dir das Leben zur Hölle machen für das, was du getan hast. Man hat mich bereits jemand anderem zugewiesen. Aber ich will niemand anderen als Partner. Ich will nur dich. Und wenn du gehst, dann gehe ich auch.« »Wow, Ethan«, begann ich und wusste wieder einmal für einen Moment nicht, was ich sagen sollte. »Das ist ein bisschen zu viel Loyalität, findest du nicht? Der Job ist super, wieso willst du ihn jetzt aufgeben? Und vor allen Dingen… dieses Leben?« »Nach allem, was passiert ist – diese tausend Ungereimtheiten, diese Heimlichtuerei und das, was Freya da abzieht – habe ich das Vertrauen in unseren Laden verloren. Die Leute arbeiten doch nur für die hohen Tiere, um sie noch vermögender zu machen, als sie eh schon sind. Das kann ich nicht mit mir vereinbaren. Wir haben all die Jahre gute Arbeit geleistet und damit dankt man es uns jetzt.« »Trotzdem etwas vorschnell, Ethan, findest du nicht –« »Nein«, unterbrach er mich mit einem traurigen Lächeln. »Ich dachte mir schon, dass irgendetwas faul war. Dass Alexej und Irina unter einer Decke standen, hatte ich auch schon vermutet.« Mein Blick weitete sich. »Sie ist freiwillig mit ihm mitgefahren. Mehrmals. Nie hat man ihre Schreie gehört oder sonst irgendetwas, was gezeigt hätte, dass man sie mit Gewalt festhielt. Jetzt fügt sich alles zusammen. Und es macht Sinn«, erklärte er und rutschte ein Stück auf mich zu. Schließlich kniete er vor mir und sah mir tief in die Augen. »Wenn du gehst, gehe ich mit dir, Kyle. Es sei denn du sagst mir jetzt ins Gesicht, dass du mich nicht dabei haben willst. Dann sehen wir uns nie wieder.« Mein Atem stockte. »Dir ist schon klar…, dass du gerade indirekt für mich entschieden hast, dass ich nach Russland gehe. Mit Alexej Wolkow und Irina Iwanowna. Und dass wir nie wieder hierher zurückgehen können.« »Nie wieder ist übertrieben, aber… ja. Ich weiß, dass du das willst, Kyle. Ich sehe es in deinen Augen und ich habe es in deinen Erzählungen rausgehört. Und was hat er dir geschrieben? ‚Es war schön mit Ihnen‘? Herrje, wie spannend. Ihr beide habt wirklich den Hang zur Dramatik.« »Das musst du gerade sagen«, prustete ich los. »Du hast mich völlig aus dem Nichts geküsst. Nach fast zehn Jahren gemeinsamer Arbeit kommst du auf einmal mit… sowas.« »Sowas?«, fragte er neckisch und drückte mir erneut seine Lippen auf. Der Kuss intensivierte sich, als er mir seine Zunge durch die Lippen schob und vorsichtig das Innere meines Mundes erforschte. Ich wusste nicht wieso ich es zuließ. Es war irgendwie falsch, das mit meinem besten Freund und ehemaligen Kollegen zu tun. Auf der anderen Seite… wieso nicht? Er wusste um Alexej Bescheid. Er schlug mir ja sogar vor, dass ich mit ihm gehen sollte. Das war kein Zurückgewinnen. Das war einfach… Lust. Als wir uns nach einem langen, intensiven Zungenkuss trennten, sah ich ihm tief in die Augen. »Dir ist schon klar, dass du das dann nicht mehr machen kannst, wenn Alexej dabei ist, richtig?« Ethan schmunzelte, während seine Hände über meine Wangen fuhren. »Ja, ich weiß. Aber ich bin lieber bei dir und weiß, dass ich dich nicht haben kann, als dass ich gar nicht bei dir bin und nie wissen werde, ob ich dich jemals wiedersehen kann. Ich liebe dich nicht, Kyle«, sagte er streng und biss mir spielerisch in die Unterlippe. »Aber ich brauche dich an meiner Seite. Wir sind ein tolles Team und du bist alles, was ich habe. So ist das leider nun mal beim Geheimdienst in höchster Sicherheitsstufe. Wir haben kein Privatleben. Wir haben nur uns.« Ich nickte zustimmend. »Und während ich so an deiner Seite bin, kann man ja auch ein bisschen Spaß haben, hm?«, neckte ich ihn und deutete auf unsere halb offenstehenden Bademäntel. »Du kannst ruhig zugeben, dass du mich heiß findest.« »Ich finde dich auch heiß«, kicherte Ethan und küsste mich erneut innig auf die Lippen. »Und eigentlich will ich dich auch nur ungerne mit jemanden teilen.« »Tut mir leid, Ethan. Aber ich befürchte… Alexej wird das genauso sehen.« »Schauen wir mal«, summte er und küsste mich am Hals entlang, während er meinen Bademantel von den Schultern streifte. »Vielleicht, wenn wir uns alle näher kennen gelernt haben, könnte er sich zumindest erweichen, dich für ein paar Minuten herzugeben.« »Ethan«, brummte ich gefährlich, während ich mich anstandslos ausziehen ließ. »Du malst dir gerade wieder deine Wunschzukunft aus, von der ich dir sagen kann, dass es sie nicht geben wird. Denn Gesetz den Fall, dass Alexej uns überhaupt noch dabei haben will und Irina das zulässt, werden wir für die nächsten Monate auf der Flucht sein. Wir werden falsche Pässe haben und falsche Identitäten.« »Spannend, nicht?«, raunte er gegen mein Ohr, als er an meinem Ohrläppchen knabbert. »Oh Gott«, raunte ich genervt auf. »Du bist einfach nur rollig. Du hörst mir überhaupt nicht zu.« »Vielleicht höre ich dir nachher zu. Du hast selbst gesagt, du bist in keiner festen Beziehung«, warf er ein und sah mir wieder in die Augen. »Nur heute. Okay? Nur dieses eine Mal.« Ich war auch erregt, keine Frage. Nicht so, wie mit Alexej, aber Ethans flinke Finger fanden schnell Zugang zu meinem besten Stück und rieben es großzügig. »Nur heute. Nur dieses eine Mal«, wiederholte ich seine Worte. »Wenn du den eifersüchtigen Freund spielen wirst…« »Werde ich nicht, Kyle. Ich bin nicht so besitzergreifend, wie du vielleicht denken würdest. Lass dich von Alexej durchficken, das ist mir egal. Und wenn du mal Bock hast zu tauschen, kommst du einfach zu mir.« Ich wusste nicht, was ich darauf noch sagen sollte, außer das, was bereits gesagt wurde. So einfach würde es nie im Leben werden, aber… sei es drum. Ich ließ Ethan in seinen sexuellen Fantasien über das Exil und drei Männern auf engstem Raum. Wir streiften unsere Bademäntel ab und kamen gleich zur Sache. Ethan ließ sich bereitwillig fingern, nachdem er mir einen zugegebenermaßen wirklich guten Blowjob gegeben hatte. Der Sex selber war stürmisch und unbeholfen. Ich war nicht so dominant wie Alexej es war und einfach alles in die Hand nahm, was man in die Hand nehmen konnte, sodass Ethan mehrmals die Führung übernahm, auch wenn ich derjenige war, der den aktiven Part spielte. Er ritt mich irgendwann in die gefühlte Bewusstlosigkeit, als dann endlich mein Orgasmus kam. Großzügig spritzte ich in das Kondom, während ich noch in ihm war. Ein schönes Gefühl, was ich lange nicht mehr genießen durfte. Ethan selbst rieb sich dann noch einige Momente länger, bis auch er schließlich auf meinem Bauch kam. Wir küssten uns noch einige Male, bis ich mich aus dem Bett erhob und Taschentücher suchte. Tatsächlich war Ethan keine Klette. Er wollte nicht kuscheln oder noch mehr Küsse. Ganz im Gegenteil, er ging zufrieden mit sich selbst und der Situation durch meine Wohnung und schenkte sich noch etwas Wein ein, den er schnell austrank. Schließlich zog er sich wieder an und verabschiedete sich, als hätten wir nicht gerade wie wild miteinander gevögelt. »Danke, Kyle«, sagte er sanft und küsste mich doch noch einmal sinnlich auf den Mund, als er an der Tür stand. »Danke für dein Vertrauen.« »Brich es nicht«, war alles, was ich dazu sagen konnte. »Niemals«, versicherte er mir und schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln. »Ich will bei dir bleiben. Als Freund oder Gefährte, das ist mir egal. Lass mich einfach helfen, wenn ich helfen kann. Zum Beispiel das mit den Pässen. Das krieg ich schnell hin.« Bei dem Kommentar musste ich aufhorchen. Vorsichtig legte ich meine Stirn in Falten. »Ach ja?« »Kannst du dich noch an diesen chinesischen Gangster erinnern, der dieses Tattoostudio hatte?« Ich nickte. Ein Fall aus vergangener Zeit. Bestimmt mehrere Jahre her. »Wir haben den Typ damals zurück nach China geschickt, weil er Drogen in seiner Bude hatte.« »Ja, richtig. Na ja, der ist jedenfalls wieder hier.« Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. »Woher weißt du das?« »Hab mit ihm letzte Woche noch einen Cocktail getrunken«, lachte Ethan und zwinkerte mir zu. »Schau nicht so überrascht. Ich habe dir wohl vorhin sehr deutlich gemacht, dass ich auch auf Männer stehe.« »Oh Gott, Ethan, du hast nicht wirklich –« »Psht«, zischte er aus seinen Lippen und legte mir einen Finger auf den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. »Du hast da nichts zu melden. Du bist mit einem russischen Geheimagenten am Shakern.« Ja, da hatte er Recht. »Jedenfalls hat mein kleiner süßer Chinese nicht nur Drogen verkauft. Er hat auch gefälschte Pässe gemacht.« »Unfassbar… du hast all die Zeit den Geheimdienst betrogen?« »Ich würde es nicht betrogen nennen. Wenn ich nichts gesehen habe, war es auch nicht da. Außerdem nahm niemand Schaden. Hätten Personen darunter gelitten, hätte ich das schon gemeldet, glaube mir.« Mir blieb einfach nur ein Kopfschütteln übrig. »Okay… dann… kannst du dich um Pässe kümmern?« »Ja, aber das klären wir am besten irgendwann alle zusammen ab. Geh erst mal zu Alexej und rede mit ihm. Sag ihm, was Sache ist. Und gib mir dann Bescheid.« Seine Finger spielten mit meinem Bademantel, während er mich erneut küsste. So ganz glaubte ich ihm noch nicht, dass er die Finger von mir lassen könnte, wenn Alexej dabei wäre – jetzt, wo er mal probieren durfte. Schlussendlich ging er und ließ mich mit meinen Gedanken alleine. Noch am selben Abend verfasste ich eine SMS an Alexej, in der Hoffnung, er würde sie noch lesen. »Ich will dich wiedersehen. Bitte gib mir Bescheid, ob wir uns noch einmal treffen können. Eventuell können ich und ein Freund euch helfen.« Mitten in der Nacht vibrierte dann mein Handy. Halb im Schlaf las ich seine Antwort: »Morgen 20 Uhr in meiner Wohnung. Wir werden alleine sein. Ich will dich noch einmal für mich haben.« Mit sehr schmutzigen Gedanken an Alexej schlief ich letztendlich noch einmal ein. Dafür, dass ich so viele Jahre keinen Sex hatte, hatte ich auf einmal sehr viel davon. Und trotz der gefährlichen Situation, in der wir uns nun alle befanden, genoss ich es enorm. Die Traurigkeit der vergangenen Stunde war wie verflogen, da ich mich nun für die andere Option entschieden hatte. Manchmal war dir rationalste Lösung eben nicht die beste Lösung. Kapitel 18: Gefangener ---------------------- Mein Leben war furchtbar. Diese Höhen und Tiefen machten mich fertig. All die Konstanten, die mich in so vielen Jahren begleitet haben, glitten mir nach und nach aus den Fingern. Und nur, weil ich mich vom Weihnachtsmann hab durchvögeln lassen. Mit einem Kaffee in der Hand saß ich gedanklich abwesend auf dem Sofa und starrte den ausgeschalteten Fernseher an. Alles, was ich besaß… würde in den nächsten Tagen verschwinden. Ich sollte vielleicht lieber Vorbereitungen treffen, als apathisch in der Ecke zu hocken. Im Laufe des Vormittags packte ich also die wichtigsten Dinge zusammen. Meine echten Papiere und mir bedeutende Gegenstände. Kleidung, aber nicht zu viel. Letztendlich hatte ich drei große Koffer gepackt und seufzte schwermütig. Das fiel nicht unter leichtes Gepäck und war für eine Flucht aus dem Land absolut undenkbar. Je länger ich mit meinen Gedanken und mir selbst alleine war, desto größer wurden die Zweifel. Was, wenn Alexej uns nun die Gesellschaft verweigern würde? Was, wenn Irina nicht zustimmte? Dann würden Ethan und ich hier bleiben – mit dem eigenen Geheimdienst im Nacken. Der verhielt sich erstaunlich ruhig. Weder Freya noch jemand anders hatte sich bei mir gemeldet. Niemand wollte an mein Hab und Gut und niemand wollte mich ins Gefängnis stecken. Ich war irgendwo froh drum, aber… … das mulmige Gefühl im Magen wollte nicht weggehen. Stattdessen fing ich auf einmal an darüber zu zweifeln, was Alexej mir gesagt hatte. Was, wenn das auf einmal alles eine Lüge war? Und eigentlich gar nichts von dem stimmte, was er mir gesagt hatte? Oder was, wenn alles eine Halbwahrheit ist? Ich verrannte mich in Gedanken, die mich unsicher werden ließen. In einer solchen Zeit hatte ich Angst überhaupt jemandem zu trauen. Das mag an meiner naturgegebenen paranoiden Art liegen oder einfach den Umständen geschuldet sein – helfen tat es mir jedoch nicht in der Entscheidung meines Lebens. Alexej und ich waren in eine intensive Liebelei geraten, aber wie lange würde das wohl gutgehen? Würde es tatsächlich den Strapazen einer Flucht standhalten? War ich überhaupt bereit mich in eine feste Beziehung zu stürzen, die auf Lügen und Betrug aufgebaut wurde? Ich wollte mich keiner wirren Zukunftsvision hingeben, die niemals stattfinden würde. Die ruhigen Momente mit ihm in einem Haus am Stadtrand mit vielleicht zwei Hunden würde es nicht geben. Ruhige Momente generell würden vermutlich sehr rar werden. Ich kannte Russland nicht. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Und ich hatte Angst davor. Angst, mich in eine Fremde mit einem Fremden zu begeben, dem ich eigentlich nicht wirklich trauen konnte. Und dann war da noch Ethan. Gott, Ethan. Als ich an ihn dachte, musste ich laut in den stillen Raum seufzen. Wieso hatte ich das zugelassen? Er war mein Freund, beziehungsweise Ex-Kollege, und nun hatten wir eine Grenze überschritten, die weder das eine noch das andere war. Zu allem Übel wollte er auch noch mitkommen. Er wollte alles aufgeben, nur, um bei mir zu bleiben. Das klang mit sehr viel mehr Abstand betrachtet enorm nach Liebe. Nach Anhimmeln und Anschmachten. Seine Worte waren eindeutig, aber konnte ich ihnen auch glauben? War er sonst auch noch ein Spitzel von Freya? Würde er tatsächlich so weit gehen und mit mir schlafen, nur um Informationen für sie zu beschaffen? Nachdem ich mich bis in den Nachmittag hinein verrückt gemacht hatte, packte ich schließlich meine Sachen zu Ende und räumte die Bude auf. Ich verbrannte Dinge von denen Freya nie etwas wusste und auch nie etwas wissen sollte. Meine Wohnung zu durchsuchen würde vermutlich eins der ersten Aktionen sein, die sie anordnen würde. Beim Aufräumen des Wohnzimmers blieb auf einmal etwas im Staubsauger hängen. Ich schaltete ihn aus und packte genervt in den Schlauch, als mir Ethans kleine Schlüsselkarte entgegen kam. Sie war für unser Büro, für den Aufzug – für eigentlich alles. Hatte er sie wirklich verloren? Das Ding war doch sonst immer an seinem Schlüssel befestigt? Oder… hatte er sie bewusst hier gelassen? Da ich mir nicht sicher war, schrieb ich Ethan eine SMS. Die Rückantwort ließ auch nicht lange auf sich warten. »Nimm sie und sei vorsichtig. Sieh dir die Dinge an, die Freya tut. Dann wirst du verstehen, wieso ich nicht mehr dabei sein möchte.« Er ging nicht darauf ein, ob er sie nun absichtlich oder aus Versehen verloren hatte, aber der Hinweis, ich solle noch einmal zurück zum Büro fahren, war eindeutig. Ohne wirklich darüber nachzudenken, schnappte ich meine Waffe und hechtete zum Auto. Während der Autofahrt dachte ich daran, mir Akten zu stehlen. Oder irgendetwas anderes, was ich irgendwann einmal gegen Freya verwenden könnte. Oder gegen den Geheimdienst generell. Doch dann klickte es in meinem Kopf. Gerade, als ich am Straßenrand nahe dem Gebäudekomplex parkte. Der Gefangene. Ich sollte mir den Gefangenen ansehen. Sergej Kusmin. Am Aufzug wurde ich mit einem Nicken des Hauptmannes begrüßt. Hatte man ihn nicht darüber informiert, dass ich gefeuert worden bin? Oder… war das auch wieder Teil eines Plans, bei dem ich unwissentlich so gut mitspielte? Mit zittrigen Knien betrat ich den Aufzug und fuhr direkt in die Etage der Zellen. Ob Kusmin überhaupt noch da war? Freya wollte ihn doch sicher so schnell es ging ins Hauptgefängnis schicken. Unten angekommen liefen einige Menschen hektisch umher, während man Inhaftierte laut reden hörte. Ich zog meinen Kragen etwas weiter ins Gesicht und hoffte einfach, dass mich niemand erkennen würde. Die Kameras am Eingang und im Aufzug hatten mich sicherlich schon registriert und würden bald Alarm schlagen. Immerhin hatte man mir die Schlüsselkarte weggenommen. Entweder ich ritt mich also gerade noch sehr viel weiter in den dreckigen Sumpf des Verrats rein oder Ethan wollte mir tatsächlich helfen. Er habe immerhin schnell behaupten können, ich hätte sie ihm weggenommen oder geklaut. Sein Wort stand gegen meins. Doch erneut fragte ich mich: Würde er das wirklich tun? Als ich das Abteil betrat, in dem ich Kusmin das letzte Mal vermutet hatte, sah ich auch wieder die junge Dame, mit der ich bereits zwei Mal das Vergnügen hatte. Molly Smith. »Hi Molly«, kam ich lächelnd auf sie zu. Es dauerte einen Moment, bis sie mich erkannte. Ihre Gesichtsfarbe wurde sofort bleich. »Was machen Sie hier?«, flüsterte sie harsch und sah sich nervös um, ob irgendjemand ihrer Kollegen sie sehen würde. »Sie dürfen gar nicht hier sein!« »Ja«, sagte ich räuspernd, »erneut. Ich weiß. Anweisung von oben, richtig?« »Sie wurden unehrenhaft entlassen, wurde mir gesagt«, flüsterte sie noch immer aufgeregt und spielte mit ihrer Uniform. Ich hatte derweil das Funkgerät im Auge, welches auf ihrem Tisch lag. Allerdings war ich mir nicht sicher, was ich tun würde, wenn sie tatsächlich danach greifen würde. »Unehrenhaft? Wie gemein«, lachte ich dunkel und verfluchte Freya nur noch mehr. »Das ist so nicht ganz richtig, aber ja: ich arbeite hier eigentlich nicht mehr.« »Dann sollten Sie gehen«, wiederholte Molly und sah deutlich zum Aufzug. »Bevor Sie noch jemand sieht.« »Ich muss zu Kusmin«, sagte ich ohne weitere Umschweife. »Ist er noch hier?« »Mr. Lewis, ich kann –«, begann sie, doch ich brach sie harsch ab, indem ich sie am Arm packte und in die Ecke zu ihrem Tisch drängte. »Ich weiß, dass Sie das nicht dürfen und ich will auch ihren Job nicht riskieren. Sagen Sie mir einfach, ob er noch da drin ist.« Molly schluckte hörbar und sah mich an, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Ich schändete das arme kleine Mädchen vermutlich viel zu sehr, aber es gab Wichtigeres zu tun, als sie in den Arm zu nehmen und ganz lieb Bitte, Bitte zu sagen. »Ist er noch hier?«, wiederholte ich streng und sah ihr tief in die Augen. Sie nickte schließlich und zog die Mundwinkel runter. »Bitte tun Sie mir nicht weh, Mr. Lewis…« »Herrgott, Molly, ich werde Ihnen nicht wehtun…«, seufzte ich und ließ demonstrativ ihren Arm los. »Ich möchte, dass Sie jetzt auf Toilette gehen und sich dann mit einem Kollegen unterhalten. Nur kurz. Ich brauche vielleicht zwei oder drei Minuten, nicht mehr.« »Was?«, hauchte sie verwirrt. »Sie haben mich verstanden. Gehen Sie jetzt. Die Kameras haben mich eh schon gesehen. In diesem Winkel wird man vielleicht vermuten, dass ich sie bedroht habe. Sie dürfen also auch gerne zusammenbrechen und erst einmal den Schock verarbeiten, den sie erlitten haben und dann Hilfe holen. Ich werde einen Weg hinausfinden.« Dabei sondierte ich sofort die Notausgänge. Vermutlich würde es in ein paar Minuten sehr haarig werden. Ich ritt mich tatsächlich immer mehr in die Scheiße. »Ich weiß, Sie haben Regeln, an die Sie sich halten. Die hatte ich auch. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass hier ordentlich was im Gang ist. Freya Hill betrügt uns. Sie hat mich betrogen und sie wird es erneut tun. Der Mann, der da drin sitzt, ist ein Agent des FSB. Ich muss mit ihm sprechen. Über Wolkow und über alle anderen, die darin verwickelt sind. Verstehen Sie das?« Molly sah mich mit großen Augen an. Sie blinzelte immer mal wieder etwas Feuchte in ihren Augen weg, als sie schließlich langsam nickte. »Woher wissen Sie das alles?« »… gute Recherche«, log ich und sah zur Tür. »Also bitte, lassen Sie mich rein. Zwei Minuten, mehr nicht. Holen Sie danach Hilfe, gehen Sie kurz auf Toilette – tun Sie einfach irgendetwas, was Ihnen den Job retten kann, sofern Sie ihn noch ausüben wollen, nachdem man hier einen Gefangenen gefoltert hatte.« »Ich- Ich war nicht dabei. Ich war krank, ich hätte das sonst nie zugelassen«, begann sie, sich zu rechtfertigen, obwohl sie tatsächlich in keinerlei Schuld stand. Ihre Meinung hätte herzliche wenig ausrichten können, selbst wenn sie dabei gewesen wäre. Sie redete sich in eine Art Ekstase, sie hörte gar nicht mehr auf. Schließlich packte ich einfach an ihren Gürtel und zog die Karte ab, mit der sie die Türen drinnen öffnen konnte. Molly erschrak und griff auf einmal nach ihrem Funkgerät. Als ich schon danach greifen wollte, ließ sie es fallen. Einige Plastikteile zerschmetterten und sprangen in alle Richtungen. Sie sah schockiert zu Boden und dann zu mir. »Hab ich es kaputt gemacht?« »Vermutlich«, knurrte ich und deutete auf ihre Kollegen in den anderen Gängen. »Gehen Sie das mal lieber klären.« Damit drehte ich mich um und öffnete die Tür zum Zellentrakt. Molly sprintete tatsächlich davon, allerdings war ich mir jetzt nicht sicher, ob sie mich verpfeifen oder beschützen würde. Die nächsten Minuten würden es zeigen. Mit pochendem Herz und immer noch ziemlich wackeligen Beinen machte ich mich auf in den schmalen Zellengang. Viele Zellen waren leer oder standen offen. Auf dem Weg sah ich einige Kollegen, die Gefangenen Essen oder sonst irgendetwas gaben. Sie beachteten mich nur beiläufig – vermutlich gingen sie davon aus, dass ich hier sein durfte. Immerhin hatte ich es reingeschafft. Das würde schon richtig so sein. Ich ging jede Zelle mit meinem Auge ab, jedoch fand ich niemanden, der so wie Kusmin aussah. Allerdings musste ich dann kurz innehalten und feststellen, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wie Kusmin eigentlich aussah. »Halli Hallo«, begrüßte mich ein Mann und lehnte sich gegen die Stäbe der Zelle. Er lächelte mich süffisant an. »Sie sind doch mein Schütze.« Ah, da ist er. Vielen Dank, lieber Mr. Kusmin, dass Sie mich gefunden haben. »Hallo Sergej Kusmin«, begrüßte ich ihn und kam näher an die Zelle. »Wie ich sehe, hat mein Kollege Sie nicht erledigt. Interessant. Normalerweise passiert das nicht«, sagte er mit einem amüsierten Unterton, während er lässig an den Stangen lehnte. Sein russischer Akzent war stark rauszuhören. »Alexej und ich sind Freunde. Er hatte keinen Grund mich umzubringen.« »Freunde?«, hakte Kusmin nach und hob beide Augenbrauen. »Er hat Sie nie erwähnt.« »Ist auch erst während ihrer Gefangenschaft passiert«, seufzte ich und kam noch ein Stück näher, damit uns keiner der anderen Arbeiter hören konnte. »Hören Sie, ich will, dass Sie mir erklären, was hier vor sich geht. Alexej hat mir schon einiges berichtet, aber ich will es auch noch einmal aus Ihrem Mund hören. Wenn das alles stimmt, was ich gehört habe… Werde ich Irina und Alexej helfen.« Kusmins süffisantes Grinsen verließ mit jedem Wort, was ich sagte, seinen Mund. Erst jetzt, wo ich ihm so nah stand, sah ich die Schnittwunden und Prellungen auf seinem Körper. Vermutlich verdeckte die Kleidung das Meiste von den Schändungen, die er erlitten haben musste. »Alexej vertraut Ihnen also?«, murmelte er und musterte mich genauestens. »Was hat er Ihnen erzählt?« »Dass Irina Codes von britischen Politikern über ihre kleinen dreckigen Geschäfte gefunden hat und sie jahrelang an den russischen Geheimdienst weitergegeben hat. Das kam raus und«, da kam ich noch näher, um zu flüstern, »der britische Geheimdienst ist nun hinter ihr her.« Kusmin, der nur noch wenige Zentimeter entfernt stand und einzig von ein paar Gitterstäben aufgehalten wurde, musterte mich noch immer, als müsste er noch entscheiden, ob ich vertrauenswürdig war oder nicht. Als er nicht antwortete, fuhr ich fort. »Alexej hat in einem Shoppingcenter als Weihnachtsmann gearbeitet, richtig? Er hat diesen Job angenommen, damit er mich beobachten und im Notfall eingreifen konnte. Nun, wir haben uns kennen gelernt und sind uns sehr nah gekommen. Ich erzähle ihnen das, weil ich …«, und da blieben mir erneut die Worte im Hals stecken und ich blickte in den Zellengang. Ich atmete einige Male ein und aus, sah dann wieder zu Kusmin und versuchte nicht wie ein kleines Mäuschen zu klingen. »Ich will mit Alexej gehen. Nach Russland. Oder wo auch immer unser Exil sein wird.« »Das ist auch ratsam«, sagte Kusmin auf einmal und lehnte seinen Kopf nach hinten, sodass er mich durch Schlitze ansah. »Die werden Sie umbringen, sollten Sie herausfinden, dass Sie mit Alexej Wolkow zu tun haben.« Ich schluckte und spürte meine Beine immer weicher werden. »Alexej wird Ihnen schon keine Märchen erzählt haben, oder? Will er, dass Sie mitkommen?« Ich nickte. »Und Irina?« Da haderte ich einen Moment. »Sie wollte, dass ich gehe.« »Oh, Sie haben sie schon kennengelernt?« »Mehrere Male. In Alexejs Wohnung. Und ich war bei der Razzia in Mr. Greens Haus. Aber ich war nicht auf der eindringenden Seite… jedenfalls nicht offiziell…« Kusmin begann wieder zu grinsen. »Da hat Alexej Sie ja bereits ganz schön mit rumgeschleppt. Das wird Irina nicht gefallen.« »Nein, sie mag mich wohl auch nicht besonders. Ich habe ihrem Cousin immerhin schon ein Messer in den Arm gejagt.« Da lachte er laut auf. Ich hatte Angst, es würde die Aufmerksamkeit der anderen auf uns ziehen, doch niemand kam. Sowieso war ich überrascht, dass keine Einsatzkräfte den Zellenblock stürmten. Molly beschützte mich also. Gutes Mädchen. »Ich kann Sie hier rausholen«, sagte ich auf einmal und suchte nach einer Möglichkeit, die Zelle zu öffnen. »Nein, das können Sie nicht«, seufzte er und humpelte weiter ins Licht. Er hielt mir seinen Oberschenkel hin, an dem sonst nichts mehr dran war. »Mit nur einem Bein bin ich niemandem mehr nützlich. Wenn ich Glück habe, erschießen sie mich bald und lassen mich nicht noch weiter leiden.« »Oh Gott«, hauchte ich und wusste nicht, wohin ich sehen sollte. »Haben… Haben wir das Ihnen etwa angetan?« »Wer sonst? Hannibal habe ich hier jedenfalls noch nicht gesehen«, lachte Kusmin dreckig auf und humpelte wieder in seine vorherige Stellung. »Es tut mir so… so leid…, dass ich sie angeschossen habe«, murmelte ich und starrte noch immer auf das fehlende Bein. »Sie haben Ihren Job gemacht. Das haben wir alle«, summte er und deutete mit seinen Fingern ein Trommeln auf den Gitterstäben an. »So ist die Welt. Grausam und gefährlich.« Ich schnaubte aus und sah mich erneut nervös um. Der Notausgang war in nächster Nähe. Ich sollte ihn auch bald erreichen. Die Zeit drängte. »Alexej hat Ihnen nichts als die Wahrheit gesagt, wenn Sie ihn bereits in der Wohnung besuchen und Irina sehen durften. Wenn er Sie sogar dabeihaben will – wow, ich glaube der Mann meint es echt ernst. Wie heißen Sie überhaupt?« »Kyle Lewis…«, flüsterte ich, während ich die Tür, aus der ich gekommen war, im Blick hatte. »Oh«, sagte Kusmin erstaunt. »Sie sind der Mr. Lewis. Von dem hier alle behaupten, er habe mit ‚den Russen‘ zutun. Interessant, dass sie damit Recht hatten. Sie haben mit den Russen zu tun.« »Seien Sie still«, knurrte ich auf einmal los und ballte meine Fäuste. »Es war nie meine Absicht da hineinzugeraten, aber Alexej musste mich ja mitziehen. Jetzt bin ich drin und ich werde ihm auch helfen, aber dazu muss ich ihm vertrauen können. Sie müssen verstehen, dass er dieses Vertrauen mit seiner ganzen Lügerei über sich selbst und dem Job im Center auf ein Minimum herunter gebrannt hat.« »Ja, das verstehe ich«, summte Kusmin und ich bekam langsam das Gefühl, er war high auf Schmerzmitteln. Niemand war so glücklich über ein amputiertes Bein und den baldigen Tod in einer angeranzten Zelle. »Sie werden ihm auch nie gänzlich vertrauen können. Doch das beruht auf Gegenseitigkeit. Damit müssen Sie leben.« »Irina Iwanowna«, begann ich meinen letzten Satz, da ich lauter werdende Stimmen hörte, »ist die Cousine von Alexej und hat jahrelang geheime britische Informationen weitergegeben, richtig? Und wird nun vom FSB beschützt, damit sie heil und gesund wieder in Russland ankommt?« Kusmin nickte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Das bedeutet… ich wurde von beiden Seiten betrogen. Niemand ist gut oder böse und ich muss mich jetzt entscheiden«, hauchte ich ehrfürchtig und spürte Gänsehaut auf meiner Haut. Erneut nickte Kusmin. »Ich denke, das haben Sie schon, Mr. Lewis.« Die Tür sprang auf und Einsatzkräfte kamen reingestürmt. Ich packte meine Beine und sprintete den Gang entlang. Sie schrien nach mir und drohten, ich solle stehen bleiben, sonst würden sie schießen. Doch ich wusste ganz genau, dass sie nicht schießen würden – zu eng. Die Kugel könnte abprallen und jemand anderes treffen. Ich rammte die Tür des Notausganges mit meinem ganzen Gewicht und stemmte sie auf. Sofort befand ich mich in einem hellerleuchteten Gang, der vermutlich sonst als Personaleingang für Putzkräfte oder anderes diente. Er erinnerte mich an den im Center, wo Alexej und ich – »Bleiben Sie stehen, Mr. Lewis!«, schrie ein Kollege und schoss tatsächlich neben mir auf den Boden. Die Kugel prallte ab und landete zum Glück in der Wand neben mir. Der Mann erschrak so sehr wie ich und blieb stehen. Ich rannte weiter. Da war keine Zeit zum Wundern. Erneut presste ich eine Tür auf und folgte hektisch den Notausgangschildern. Im Hintergrund ging der Alarm los. Ob ich mein Auto erreichen könnte? Alles verging auf einmal so schnell. Ich sprintete durch die letzte Tür und rutschte fast auf dem nassen Asphalt aus, der noch immer teilweise mit Schnee bedeckt war. Sicherheitsleute zückten ihre Waffen und richteten sie auf mich, während ich an den Häuschen vorbeizischte. Einige schossen und ich konnte nur beten, dass mich niemand treffen würde. Als ich um die Ecke bog und den Sicherheitsbereich verließ, sah ich mein Auto noch am Straßenrand stehen. Mit absoluter Erleichterung zückte ich den Schlüssel aus der Manteltasche, öffnete den Wagen und sprang in die Fahrerkabine. Mit zittrigen Händen betätigte ich die Zündung und war zum ersten Mal seitdem ich das Auto besaß froh, dass man den Schlüssel nicht mehr irgendwo einstecken musste. Mit quietschenden Reifen fuhr ich davon. Die Einsatzkräfte schossen noch auf mich. Und wie es natürlich kommen musste, ging einige Kugeln durch die Scheiben. Ich spürte einen kurzen Schmerz, fuhr aber weiter. In absoluter Hektik fuhr ich zu meiner Wohnung und wusste, dass es keine Stunde dauern würde und man hätte sie umstellt. Ich griff nach meinen drei Koffern und warf sie ins Auto. Mental Abschied nehmen konnte ich nicht. Dafür war einfach keine Zeit. Also hoffte ich, dass mein neues Leben mir mehr Glück schenken würde, als ich erneut ins Auto stieg und mit Kohlen unter den Füßen die Straße entlang fuhr. Während der Autofahrt rief mich Ethan an. »Du warst dort«, begrüßte er mich mit einer Tatsache. »Wir haben alle höchste Alarmstufe aufs Handy bekommen. Was hast du angestellt? Hast du jemanden getötet?« »Scheiße, nein!«, keifte ich gegen mein Lenkrad. »Ich habe nur mit Kusmin gesprochen, mehr nicht!« »Freya übertreibt wieder einmal maßlos. Sie will wirklich deinen Kopf rollen sehen. Was hat Kusmin gesagt?« »Genau dasselbe wie Alexej.« »Dann stimmt es also?« »Ja«, seufzte ich und fuhr auf den Parkplatz des Shopping-Centers. Ich parkte zwischen tausend anderen Autos und kramte meinen Schal und Mütze raus. »Ich bin jetzt auf der Flucht Ethan. Sie werden unser Gespräch nachverfolgen können. Du bist also auch nicht mehr sicher, wo du bist.« »Wo bist du gerade?« »Auf dem Parkplatz des Shopping-Centers, wo ich gearbeitet habe. Ich werde mir schnell ein Prepaid Handy kaufen und mich von Cindy verabschieden. Danach werde ich zu Alexej fahren.« »Gut«, murmelte Ethan. »Ich werde es dir gleichtun. Wie bleiben wir in Kontakt?« »Wir treffen uns morgen um 16 Uhr am großen Tannenbaum im Center.« »Bist du verrückt? Da werden überall Menschen sein! Vermutlich auch Einsatzkräfte!« »Deswegen ja«, murmelte ich und versteckte meine braunen Haare in der Mütze. »Wir können in der Masse verschwinden. Glaub mir, es wird morgen unerträglich werden. Heilig Abend ist in zwei Tagen. Die Leute werden ausrasten.« Ethan seufzte deutlich hörbar, willigte dann jedoch ein. »Na gut. Morgen um 16 Uhr am Baum. Ich werde verkleidet kommen.« »Ja, ich auch. Aber wir erkennen uns, da bin ich mir sicher.« »Alles Gute, Kyle. Lass dich nicht töten.« Da musste ich traurig lachen. »Du dich bitte auch nicht.« Dann legten wir auf. Das Handy ließ ich im Auto ausgeschaltet liegen. Sollten sie es orten, dann würden sie nur meinen leeren Wagen finden. Auf dem Weg ins Center mit meinen drei Koffern fühlte ich mich nicht sehr unauffällig. Allerdings schenkten mir kaum irgendwelche Leute Aufmerksamkeit, da sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ich machte Halt bei der Bank und leerte mein Konto. Die Dame sah mich verwundert an, doch ich bat sie inständig darum. Eine Unterschrift hier und eine Unterschrift da und ich hatte einen Teil meiner Ersparnisse in der Hand. Meine Kreditkarte ließ ich sofort sperren. Und über mein Konto in Luxemburg wusste niemand etwas. Die dazugehörigen Dokumente hatte ich verbrannt. Vermutlich würde es trotzdem nicht lange dauern, bis man es finden würde. Doch das musste nun warten. Ich kaufte ein Prepaidhandy Mit Startguthaben und speicherte sofort alle wichtigen Nummern, die ich vorher in einem Notizbuch notiert hatte. Alles, was ich tat, wirkte auf einmal so fern. Wie in Watte gepackt. Ich realisierte noch nicht so wirklich, dass ich gerade mein Leben aufgegeben hatte. Dass ich nichts mehr besaß, außer das, was ich in den Händen hielt. Cindy stand mit ihrer neuen Liebe hinter der Kasse und unterhielt sich freudestrahlend mit ihr. Ich ging nicht rein, sondern blieb einfach vor dem Fenster stehen. Sie sah mich nicht und vielleicht war das auch gut so. Die Zeit drängte, also schnappte ich meine drei Koffer und machte mich auf dem Weg zur U-Bahn. Dieses Leben, so wie es war… … war nun vorbei. Alle Konstanten waren verloren gegangen. Es blieb also an mir neue zu finden. Kapitel 19: Gemeinsam --------------------- Die U-Bahnfahrt war die Hölle. Nicht nur, weil sie brechend voll war und ich mich mit drei Koffern und einer dicken Jacke wie in einer Sardinenschale gefühlte habe, sondern auch wegen der vielen Blicke, die ich zugeworfen bekam. Nach ein paar Stationen wurde es dann endlich leerer, als ein junges Mädchen zu ihrer Mutter sprach: »Mama, der Mann verliert Blut«, sagte sie so laut, dass ich es über die Entfernung verstehen konnte. Die Mutter blickte panisch in meine Richtung und sah einzelne Bluttropfen meine Hand herunterlaufen. »Meine Güte, geht es Ihnen gut?«, fragte sie und kam einige Schritte auf mich zu. Ich brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass ich tatsächlich blutete und ich mit meiner Hand alles beschmutzte. »Oh, das… ist kein Blut. Da ist wohl was ausgelaufen von heute Mittag beim Essen«, lachte ich nervös und kramte aus meiner Jackentasche ein Taschentuch. Schnell wischte ich die sichtbaren Bluttropfen ab und stopfte das benutzte Taschentuch in den Ärmel – in der Hoffnung, es würde die größte Sauerei aufsaugen. Als endlich die Station kam, an der ich aussteigen musste, hechtete ich panisch raus und schleifte die Koffer unachtsam hinter mir her. Etwas Blut war bereits auf den Stoff geflossen. Ich spürte keine Schmerzen. Vermutlich hatte ich noch mehr als genug Adrenalin im Blut, sodass mein Körper seine eigenen Schmerzmittel durch die Adern schoss. Der Weg fühlte sich ewig an. Zwischendurch hatte ich Angst, mich verlaufen zu haben. Außerdem war es noch keine 20 Uhr gewesen. Ob Alexej überhaupt schon da war? Sonst würde ich eben das gleiche Spiel mit dem Postboten noch einmal spielen, um zumindest im warmen und sicheren zu sitzen, während ich auf ihn wartete. Meine Füße taten weh, der Weg war beschwerlich und je länger ich über das Blut nachdachte, was sich so langsam wieder über meinen Handrücken verteilte, desto größer wurde das unbehagliche Gefühl, dass ich vielleicht doch schwerer verletzt war, als gedacht. Erneut stopfte ich ein Taschentuch in den Ärmel, um den Blutfluss zu stoppen. Nach einer halben Unendlichkeit kam ich endlich an Alexejs Wohnung an. Mein Kreislauf war am Ende. Ich hatte kaum etwas gegessen und getrunken, war seit Stunden auf der Flucht und wollte einfach nur schlafen. In Alexejs Arme fallen. Und Ruhe haben. Mit letzter Kraft klingelte ich bei Jurijus Bluvšteinas. Der Name zauberte mir tatsächlich ein Schmunzeln auf die Lippen. Was für ein Drama. »Ja?«, kam seine Stimme durch den Lautsprecher. »Hey«, hauchte ich in die Gegensprechanlage. »Ich bin zu früh… ich weiß… sorry, aber… darf ich trotzdem rein? Ich habe vielleicht etwas… ziemlich dummes getan.« Ich erkannte meine eigene Stimme kaum. Sie krächzte und ich hatte das Gefühl jeden Augenblick zusammenzubrechen. »Bitte…« »Kyle?«, fragte Alexej nach und klang auf einmal nervös. »Ich komm runter. Warte.« Damit endete er das Gespräch. Die Tür ging nicht auf. Traute er mir nicht? Nun, es war sein gutes Recht. Immerhin war ich viel zu früh dran und klang, als hätte man mich durch den Reißwolf gezogen. Nach nur wenigen Sekunden wurde die Haustür geöffnet. Alexej stand mit aufgerissenen Augen vor mir und musterte mich. »Was ist passiert? Kyle, du siehst furchtbar aus«, sagte er hektisch und griff sofort nach mir. Als ich in seinen Armen lag und wusste, er würde mich halten, gab ich auf. Mein Körper klappte zusammen und ich spürte, wie die Schwärze erneut mein Bewusstsein übermannte. Mit Kopf- und Schulterschmerzen wachte ich aus meiner Ohnmacht auf. Ich sah an eine vergilbte Decke. Jemand hatte sehr viele Jahre sehr viel in diesem Raum geraucht. Mein Blick fiel zur Seite und ich erkannte, dass ich in einem Bett lag. Dem Duft nach zu urteilen Alexejs Bett. Das Zimmer war sonst leer. Es war das, was ich bereits kannte. Wo er und ich das ernste Gespräch über die Wahrheit geführt hatten. Alles fühlte sich auf einmal so weit weg an. Als wäre das vor tausenden von Tagen gewesen. Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt. »Kyle?«, hörte ich die bekannte Stimme. »Alexej«, murmelte ich seinen Namen und versuchte mich aufzusetzen. Meine Schulter tat enorm weh. Erst, als ich sie anfassen wollte, sah ich den dicken Verband. Verwundert musterte ich ihn und traute mich nicht mehr, ihn anzufassen. »Du wurdest angeschossen«, sagte Alexej leise und schloss die Tür hinter sich. »Nicht tief, aber … ich musste die Wunde nähen. Es wird vermutlich eine Narbe geben.« »Oh«, sagte ich, als könne ich noch nicht ganz fassen, wie das passieren konnte. Alexej setzte sich derweil neben mich aufs Bett und sah mich durchdringend an. Seine blauen Augen stachen in dem fahlen Licht hervor, als würde er mich gleich fressen wollen. »Wie geht es dir?« »Gut«, hauchte ich und bemühte mich um ein schwaches Lächeln. »Entschuldige, dass ich unangekündigt vor deiner Tür stand und… auch noch verletzt war.« »Mach dir darüber keine Sorgen.« Sein Blick wanderte zu meinen drei Koffern, die neben dem Bett standen. »Ich nehme an… du verreist?« Ich hob beide Augenbrauen und sah ebenfalls zu den Koffern. »Ja? War das nicht der Plan?« Er sagte nichts, sondern griff nach einem Kissen, schüttelte es auf und klemmte es hinter meinen Rücken, sodass ich aufrecht sitzen und mich anlehnen konnte. »Ich weiß nicht? Was war denn dein Plan? Was ist überhaupt passiert? Wer hat auf dich geschossen?« Seine Stimme klang angespannt. Trotzdem hörte ich einen Funken Sorge raus. »Ich bin noch einmal ins Büro. Mit der Schlüsselkarte eines Freundes. Dort habe ich mit Sergej gesprochen.« Bei dem Namen wurde Alexej hellhörig. »Wie geht es ihm?«, fragte er sofort aufgebracht. Er und Sergej schienen Freunde gewesen zu sein. Oder zumindest gute Bekannte. »Nicht gut«, gab ich zu und legte meine Stirn in Falten. »Sie haben ihn gefoltert. Und Ihm ein Bein abgenommen.« Nun verdunkelte sich auch Alexejs Blick. »Mistkerle.« »Aber er lebt«, murmelte ich und sah in seine Augen. »Vielleicht können wir ihn rausholen.« »Nein, können wir nicht«, seufzte er und presste seine Lippen aufeinander. »Das würde alles unnötig komplizierter machen. Und die Erfolgschancen sind sehr gering. Wenn er klug ist, bringt er sich selber um.« »Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte ich völlig überrannt und wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte, um Alexej deutlich zu machen, dass der komplette Satz einfach nur falsch war. »Aber so ist es doch. Glaubst du, sie werden ihn irgendwann freilassen? Oder ihm Tee und Kuchen in die Zelle bringen?«, sagte Alexej sarkastisch und schüttelte den Kopf. »Sergej war ein guter Freund, aber solche Dinge passieren nun mal in diesem Job. Scheiße gelaufen.« Und ich war schuld daran. Hätte ich Sergej nicht angeschossen, wäre er nie in unserem Gefängnis gelandet. Aber woher hätte ich das alles wissen sollen? »Also«, begann Alexej erneut und rutschte ein Stück auf mich zu. »Was ist passiert?« Ich wusste nicht wirklich, wo ich anfangen sollte. Ob mit Ethan oder Freya oder Sergej oder der Flucht oder meiner Entscheidung oder meinen Zweifeln. Also erzählte ich von vorne. Nachdem wir uns getrennt hatten. Dass ich an allem Zweifel bekam. Und dass ich mich nicht mit der Entscheidung abfinden konnte, ihn nie wieder zu sehen. Du warst immerhin alles für mich geworden. Später berichtete ich dann von Ethan. Wer er war und was uns beide verband. Alexejs Augenbrauen zogen sich dabei immer wieder zusammen. Dass ich mit Ethan geschlafen hatte, ließ ich aus. Das mussten wir nun wirklich nicht sofort klären. Diese etwas haarige Konstellation würden wir irgendwann einmal genauer durchgehen, wenn es die Zeit erlauben würde. »Er will mitkommen?«, fragte Alexej zwischendrin und knirschte mit den Zähnen. »Woher wissen wir, dass wir ihm vertrauen können?« »Woher weißt du, dass du mir vertrauen kannst?«, stellte ich eine Gegenfrage und sah ihn mit großen Augen an. »Woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann?« Seine blauen Augen wurden schmal. »Du bist wiedergekommen. Ohne den MI6. Nur du. Du wurdest angeschossen beim Versuch einem FSB Agenten zu verhören. Und du hast offensichtlich gepackt, um mit mir mitzukommen, richtig?« Ich nickte. Alexejs Gesichtszüge verhärteten sich. Er blinzelte zu den Koffern und schien nachzudenken. Ich wartete geduldig auf eine Antwort, doch alles, was nach mehreren Momenten kam, war die Aufforderung für mich weiter zu erzählen. »Danach bin ich zu Sergej«, sagte ich und führte dann aus, wie schief das ganze gelaufen war. Dass man mich entdeckt hat, dass ich verfolgt wurde, aber schlau genug war, sie abzuhängen. Dass ich nun mit allem, was ich besaß, auf der Flucht vor meinem alten Arbeitgeber war und gehofft hatte, doch noch mitkommen zu dürfen. Alexej schmunzelte auf einmal. »Da hast du ganz schön hoch gepokert. Nach unserem letzten Treffen war ich davon ausgegangen, dass wir uns nie wieder sehen würden.« »Das dachte ich auch«, säuselte ich vor mich hin und knibbelte an meinen Nägeln. Sie waren teilweise gesplittert und dreckig. »Und jetzt willst du doch mit. Plus deinem Freund.« »Wir können ihm trauen. Er hat mir die Schlüsselkarte gegeben. Und er besorgt uns Pässe. Er kennt da jemanden.« Er seufzte langgezogen und massierte sich die Schläfen. »Irina wird dagegen sein.« »Kannst du sie nicht überzeugen? Irgendwie?« »Willst du wirklich mit, Kyle?«, fragte er auf einmal sehr ernst und lehnte sich zu mir. »Dort, wo wir hingehen werden, wird es genauso chaotisch werden, wie hier. Eventuell müssen wir sogar für einige Monate untertauchen. Irgendwohin, wo sonst niemand ist. Raus in die Tundra oder sonst wohin. Dort wird es keine schicken Läden geben, wo du deine Designerkleidung kaufen kannst. Dort wirst du deine Nägel nicht machen können und dort gibt es auch keinen schicken Friseur.« »Du tust gerade so, als wäre ich eine absolute Diva…«, murmelte ich, während mir die Schamesröte ins Gesicht glitt. »Du bist keine Diva, aber du bist sehr verwöhnt. Bisher hattest du immer alles und alles war erreichbar. Das Leben war gemütlich. Das wird es nicht mehr sein, wenn du meinen Weg einschlägst.« »Ich weiß«, sagte ich leise und stierte nachdenklich auf meine Hände, die noch immer aneinander herumknibbelten. »Meine Entscheidung, dich zu verlassen und einfach ein ruhiges Leben zu führen hat mich unfassbar unglücklich gemacht. Ich war so traurig wie noch nie. Und in dem Moment, wo Ethan kam und mir alles erzählte – dass er bereit war, mitzukommen und mir damit die Entscheidung abgenommen hat, doch zu fliehen – war alles wie verflogen.« »Ich habe nur Angst, dass du diese Entscheidung aus dem Affekt heraus getroffen hast und es später bereuen wird. Denn es wird kein Weg zurück geben, Kyle. Wenn du mitkommst… ist das final«, erklärte mir Alexej die Tatsachen. Erneut nickte ich und sah wieder in seine besorgten Augen. »Ich weiß.« Er schwieg und sah mich einfach nur an. Sein Kieferknochen bewegte sich und ich konnte nur erahnen, dass er gerade mit sich selber rang, ob er mich überhaupt mitnehmen sollte oder nicht. Nach allem, was vorgefallen war, konnten wir uns gegenseitig kaum noch trauen. »Ich kenne dich erst seit ein paar Wochen«, begann ich leise zu sprechen und griff vorsichtig nach seiner Hand, »aber ich mag dich wirklich gern. Du hast mir mehrmals wehgetan, aber du hast mir auch Gutes getan. Ich weiß bis heute nicht wie viel grausamer Wolf und wie viel Santa in die steckt, aber ich bin bereit das herauszufinden. Denn wenn ich ehrlich bin… finde ich die Mischung extrem gut.« Ich musste mich davon abhalten nicht das Wort ‚geil‘ zu verwenden, um nicht gleich wieder als Perverser dazustehen. Auch wenn der Zug, mich als anständigen Mann darzustellen, schon lange mit den vielen Malen Sex im Center abgefahren war. Alexej erwiderte meinen zarten Händedruck und strich mit dem Daumen über meine Knöchel. Sein Blick sah noch nachdenklich aus. So als wäre er gerade ganz woanders. »Wenn es nicht funktioniert, kann ich ja immer noch gehen, richtig?«, versuchte ich ihm die Entscheidung zu erleichtern. »Dann gehen wir eben getrennte Wege. Ich werde mich schon in Russland zurechtfinden.« Er schnaubte leise aus und schmunzelte bei meinen Worten. Vermutlich wollte er mir indirekt damit sagen: Das glaube ich weniger, mein Lieber. Aber vielleicht interpretierte ich auch zu viel rein. »Ich möchte es versuchen, Alexej. Mit dir. Möchtest du mich auch noch haben?« Blaue Augen sahen streng in meine. Und auf einmal erweichten sie. Das waren die Augen von Santa. »Ich würde dich immer besitzen wollen«, gab er zu und drückte meine Hand. »Was auch immer du mit mir getan hast, es hat gut funktioniert. Am Anfang dachte ich wirklich, wir hätten die Rollen getauscht.« Da sah ich ihn fragend an. Er kicherte dunkel. »Dass du mich um den Finger wickeln willst, um mehr aus mir herauszukriegen und nicht andersrum.« »Oh«, sagte ich sarkastisch, »du wolltest mich also um den Finger wickeln, um mehr aus mir rauszukriegen?« »Nein, Kyle. Ich wollte nie in Kontakt mit dir treten. Aber als es trotzdem passiert ist… hatte ich das Gefühl nicht mehr ganz die Kontrolle über die Situation gehabt zu haben. Du hast mich angesehen«, und damit gestikulierte er mit den Händen, als hätte ich das jemals getan, »mir irgendetwas freches gesagt und schon hatte ich das Bedürfnis dir dein kleines freches Mundwerk zu stopfen.« Ich lachte leise auf. Meine Schulter stach dabei etwas. »Was ich dann ja auch getan habe«, seufzte Alexej und schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, dass wir tatsächlich mehrmals Sex gehabt haben. »Als du mich geküsst hast, war ich schon sehr unsicher über unsere Mission. Und als du mir auch noch einen geblasen hast… Ach, verdammt.« Da lachte ich etwas lauter. »Hoffen wir, dass du dich nicht von jedem Agenten so schnell um den Finger wickeln lässt!« »Da bin ich mir sehr sicher«, brummte er und rutschte noch ein Stück näher zu mir, sodass er mich in das Kissen drücken konnte. »Diese Faszination hast irgendwie nur du gehabt.« Vorsichtig strich ich über seine Wangen und sah ihm tief in die Augen. »Das kann ich nur zurückgeben.« Wir legten unsere Stirne aufeinander und schlossen für einen Moment die Augen. Sein herber Duft umschloss mich wie eine warme Decke der Erinnerungen. Wie wir uns liebten, als noch alles in Ordnung war. Und wie viel Nervenkitzel dabei war, wann immer wir es verbotenerweise in irgendeiner Abstellkammer taten. »Weißt du noch, wovon ich geträumt habe?«, kicherte ich schlussendlich gegen seine warmen Lippen. »Von was genau?«, fragte er nach und strich mit seiner Nasenspitze liebevoll über meine Wangen. »Dass wir irgendwann einmal Sex in einem warmen, gemütlichen Bett haben werden.« Da lachte sogar er das erste Mal, seitdem ich wieder da war, beherzt auf. »Ist das jetzt der Wink mit dem Zaunpfahl?« »Vielmehr der Schlag auf den Kopf mit dem ganzen Zaun«, hauchte ich ihm entgegen und küsste schließlich seine Lippen. Wir versanken in einen liebevollen und ruhigen Kuss, der mehr Leidenschaft in sich trug, als all die anderen davor. Denn nun wusste ich endlich wer er war. Diese Klarheit zwischen uns befreite mich förmlich. Alexej rutschte weiter aufs Bett und schob die Decke beiseite, die mich vorher warm gehalten hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nur ein sehr großes T-Shirt und meine Unterhose trug. »Du hast mich umgezogen?«, fragte ich überrascht und sah an mir herunter. »Ich musste schauen, ob du noch weitere Verletzungen hattest oder ob die Schusswunde die einzige war«, erklärte er und küsste meinen Hals. Schließlich grinste ich ihm entgegen. »Dann will ich jetzt dich sehen.« »Endlich, hm?«, spaßte er und lehnte sich zurück, um auf seinen Fußballen zu knien. »Endlich«, stimmte ich zu und packte sofort nach seinem schwarzen Shirt. Vorsichtig zog ich es über den dicken Verband am Torso. »Wird es überhaupt gehen? Du hast immerhin auch eine große Wunde…« »Ja«, hauchte er und schälte sich aus seinem T-Shirt – bedacht, keins der Verbände mitzureißen. »Allerdings werden wir es ruhig angehen müssen. Deine Stiche sind noch frisch, sie könnten aufgehen.« Ich nickte und begutachtete Alexejs Körper, während er sich die Hose auszog. Muskulös und stämmig. Nicht sehr definiert, aber da war viel Masse. Viel Kraft unter dieser Haut. Da waren sogar einige Tattoos und … »So viele Narben«, murmelte ich, während ich eine Hand ausstreckte und eine davon an seiner Schulter berührte. »Viele Außeneinsätze«, sagte er und war offensichtlich bemüht um ein Lächeln. »Da kann man schon mal verletzt werden.« »Vermutlich hast du im Gegensatz zu deinen Gegnern noch die geringsten Schäden davon getragen, denke ich.« Alexej nickte und grinste mich breit an. Meine Vermutung wurde damit bestätigt. Er half mir sehr bedacht aus meinem Oberteil, welches er zu den restlichen Sachen auf den Boden warf. Wir küssten uns erneut sehr zärtlich, bis ich meine Zunge mit seiner vereinte und es schlagartig hitziger wurde. Immer wieder stöhnte ich leise in seinen Mund, während er meine Beine auseinanderschob und sich dazwischen legte. Ich rutschte das Kissen runter und spürte endlich wieder seinen schweren Körper auf mir. Er war sehr bedacht, nicht an meine Schulter zu kommen, so wie ich versuchte, nicht seinen Arm oder seinen Torso zu harsch zu berühren. Doch es dauerte nicht lange, da wurden wir etwas nachlässiger mit unserer Fürsorge. Alexejs Tier erwachte wieder einmal, als er mir die Unterhose von den Beinen riss und hungrig über mein steifes Glied leckte. »Oh…«, seufzte ich zufrieden und legte eine Hand in seinen warmen Nacken. Er küsste und leckte an meinem Schaft entlang, bis er meine Eichel langsam in seinen heißen Mund führte. Ich schloss die Augen und genoss das gute Gefühl, was sich in meinem Bauch breit machte. Er griff nach meinen Beinen und presste sie regelrecht auf die Matratze, damit ich so breitbeinig wie möglich unter ihm liegen konnte. Nach einigen Momenten löste er sich von mir und leckte sich über seine feuchten Lippen. »Ein weiterer Vorteil nicht im Center zu sein«, murmelte er etwas amüsiert und griff in ein Schränkchen neben dem Bett. Er holte eine kleine Tube Gleitgel raus. »Ein absolut guter Vorteil«, kicherte ich und kraulte seinen Kopf. Dabei verwuschelte ich seine dicken Haare. »Obwohl ich deine ruppige Art sehr mochte.« »Dann beruhigt es dich sicher sehr, wenn ich dir sage«, und damit glitt er wieder zwischen meine Beine und verlor keine Zeit, mich mit dem wässrigen Gel einzuschmieren, »dass dieses ganze Vanille Zeug nicht so mein Fall ist.« Gerade, als ich beherzt auflachen wollte, glitt er mit zwei Fingern in mich rein. Aus dem Lachen wurde dann ein beherztes Stöhnen, was Alexej zum Schmunzeln brachte. Er verwöhnte mich einige Minuten, bis ich bereits meinen Orgasmus spüren konnte. Vorsichtig griff ich nach seinen Haaren und zog etwas am Ansatz. »Nicht…«, hauchte ich und öffnete meine mit Lust benebelten Augen. Alexej verstand sofort, was ich sagen wollte, und löste sich von mir. Dass seine Finger auch mein Innerstes verließen, ließ mich sehnsüchtig seufzen. Als es dann auch noch dauerte, bis ich irgendeine erneute Berührung erfuhr, sah ich den gedankenverlorenen Ausdruck in Alexejs Gesicht. »Was ist?«, fragte ich vorsichtig und setzte mich auf. Er musterte mich und das Bett. »Ich überlege, wie wir es am besten bewerkstelligen, ohne dass…«, da verstummte er allmählich. »Wegen deiner Wunde?«, hakte ich nach und legte vorsichtig meine Hand auf seinen Torso. »Du würdest sie zu stark belasten, oder?« Er nickte vorsichtig und zog mich schließlich zu sich. »Es wird schon gehen.« »Nein, nein«, sagte ich und kletterte an ihm vorbei. »Leg dich hin. Das wird doch gehen, oder?« Er sah mich mit großen Augen an. »Wenn du liegst? Geht das doch, oder nicht? Ich pass auch auf. Ich komm nicht mit meinen Beinen dran. Versprochen.« Noch immer sah er mich mit großen Augen an, legte sich jedoch mit vorsichtigen Bewegungen trotzdem auf die Matratze. »… oder soll ich dich nicht reiten?«, fragte ich unsicher und kniete neben ihm. »Ich bin selten unten«, gab er mit einem etwas verknirschten Gesichtsausdruck zu. »Das letzte Mal, wo ich beim Sex unter jemandem war, hat man mich danach erdolcht.« Ein erschrockener Ton entfuhr meinen Lippen. »Herrgott, Alexej, ich … wieso sollte ich das tun?« »Ich weiß nicht. Ich habe auch nicht verstanden, wieso sie es damals getan hat.« Sein Blick wurde unergründlich. »Dann… dann lassen wir es. Komm, ich verwöhne dich einfach so. Der Rest kann warten«, begann ich und griff nach seinem großen Schwanz, der mir schon die ganze Zeit entgegenzuckte. »Nein«, sagte Alexej bestimmend und griff nach meiner Hand, um sie wieder von sich zu entfernen. »Ich vertraue dir, Kyle. Das ist vermutlich der Punkt, wo wir langsam anfangen sollten, das gegenseitige Vertrauen wieder aufzubauen. Ich fange jetzt damit an. Komm, du hast jetzt die Zügel in der Hand.« Es war nur eine Kleinigkeit in den Augen jedes anderen, aber ich ahnte, was es für Alexej bedeutete, die Kontrolle aufzugeben, nachdem jemand sie so schamlos ausgenutzt hatte. Ich griff noch einmal nach der Tube Gleitgel, schmierte Alexej großzügig damit ein und rieb ihn eine Weile, bis er fast schon aggressiv Luft aus der Nase entließ. Bedacht, nicht an seine Wunde zu kommen, stieg ich auf seine Hüfte und führte ihn langsam an mich ran. Hätten wir ein Kondom verwenden sollen? Ach… jetzt war es auch zu spät. »Sag, wenn ich dir wehtue«, murmelte ich und setzte mich langsam auf ihn drauf. Seine Hände, die vorher leger auf meinen Oberschenkeln lagen, griffen auf einmal angespannt in meine Haut. »Das wirst du schon nicht…«, hauchte er angespannt und beobachtete extrem genau mein Tun. Ich wusste nicht, ob er so angespannt war, weil er die Schmerzen kaschieren wollte oder weil er einfach so wahnsinnig rollig war und es kaum erwarten konnte, von mir geritten zu werden. Ich schloss für einen Moment die Augen genoss das Gefühl von Fülle in mir. Nach nur wenigen Sekunden saß ich vollständig auf ihm drauf und sah tief in seine Augen. Er fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen und fixierte mich, während ich langsam anfing, mich zu bewegen. Meine Schulter ziepte hier und da, doch ich vergaß schnell, dass ich eigentlich eine Wunde hatte. Das Gefühl, wie sein Schwanz immer wieder glitschig in mich hineinglitt, fühlte sich einfach fantastisch an. Mein Atem wurde schneller und mein Kreislauf rebellierte gehen die Anstrengung. Doch die Ekstase hielt mich aufrecht und ließ mich immer schneller und immer grober auf ihn herabsinken. Meine Oberschenkel brannten sogar irgendwann vom wilden Ritt, doch Alexejs Gesicht zu sehen, wie er in absoluter Lust verschwand, ließ mich jeden Schmerz vergessen. Endlich sah ich das Gesicht vor mir, was mich all die Wochen begleitet und geliebt hatte. Jetzt, wo ich genauer darüber nachdachte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Geruch, die Stimme und das schmerzhafte Zucken, wann immer ich seinen Arm berührt hatte. Die Schnittwunde war wohl doch tiefer gewesen, als gedacht. »Oh, Alexej«, stöhnte ich seinen Namen und rieb mich selbst im Rhythmus des Ritts. Er gab wie immer nur wenig von sich – ein erregtes Schnaufen oder ein sehnsüchtiges Seufzen, aber mehr nicht. Einzig seine Finger, die sich weiterhin in meine Oberschenkel bohrten und mir bei den Bewegungen etwas halfen, zeigten mir, wie sehr er es genoss und wie weit weg er gerade mit seinen Gedanken war. Das Bett quietschte unangenehm laut, während ich ebenso laut vor mich hin stöhnte. Schließlich kam ich großzügig in meiner Hand und spritzte teilweise auf Alexejs Bandage. Er fixierte mich noch immer mit seinem Blick, während ich versuchte den Rhythmus beizubehalten. Das war gar nicht so einfach, wie ich dachte, da meine Beine langsam aufgaben. Alexej schnappte sich meine Hüfte, presste mich auf einmal nach hinten und stürzte mich auf den Rücken. Ich schrie erschrocken auf und spürte, wie er aus mir herausrutschte. Doch just in dem Moment, wo ich die Orientierung wiedergefunden hatte, presste er sich wieder in mich rein. Mit Gewalt hielt er meine Beine fest und drückte meine Knie auf die Matratze neben meinem Kopf. Einmal in der Hälfte geknickt lag ich ausgeliefert unter ihm, während er noch einmal gnadenlos in mich hineinstieß. »Oh fuck, Alexej!«, rief ich und krallte mich am Laken fest. Da war ich also nicht der einzige, der für einige Momente vergessen hatte, dass da noch Wunden waren. Er begann tatsächlich leise zu stöhnen, als er sich vorbeugte und mich innig küsste. Sein Gewicht verlagerte sich komplett auf mich, sodass ich weiter in die Laken gedrückt wurde. Schließlich hauchte er meinen Namen und stieß ein letztes Mal in mich rein, als ich seine heiße Flüssigkeit in mir spürte. Völlig außer Atem und etwas schwitzig verblieben wir für einige Sekunden, bis er sich von mir löste und meine Beine losließ. Ich streckte mich wieder aus und blieb wie ein toter Fisch liegen. Alexej kniete sich hin und ließ ebenso erschöpft die Schultern sinken. Erst nach einigen Momenten griff er erneut nach mir und streichelte meine Oberschenkel. »Geht’s?«, fragte er leise und schien sich schnell zu beruhigen als ich. Ich nickte apathisch und sah auf seine Bandage am Torso. »Sorry«, murmelte ich. »Den müssen wir wohl gleich mal erneuern.« Er sah an sich runter und schmunzelte. »Wir sollten vielleicht sowieso duschen. Dann kann ich unsere beiden Verbände erneuern. Sex war vielleicht nicht die beste Idee.« »Sex ist immer eine gute Idee«, gab ich meinen Einwand und kicherte sofort wie ein verliebtes Mädchen los. »Du musstest am Ende doch nochmal die Zügel in die Hand nehmen, oder?« Er zuckte mit der Schulter. »Ich hatte das dringende Bedürfnis dich noch einmal hart ranzunehmen. Sonst hätte irgendwie etwas gefehlt.« Langsam setzte ich mich auf. »Das üben wir noch.« »Sag mir, dass du es nicht magst, und ich werde daran feilen«, sagte er schelmisch – genau wissend, dass ich es vermutlich sehr, sehr, sehr gerne hatte, wenn er mich so hart rannahm. Ich gab ihm einen dramatischen Augenaufschlag als Antwort und kroch aus dem Bett. Er folgte mich etwas langsamer und ging gekrümmt ins Badezimmer. Als er die Tür öffnete, hielt ich für einen Moment die Luft an. »Sind die anderen… weg?«, fragte ich neugierig. »Aber natürlich«, sagte er sofort und sah mich mit großen Augen an. »Glaubst du, wir haben harten Sex, wenn meine Cousine nebenan auf der Couch sitzt?« Da zog ich beide Schultern hoch. »… weiß nicht?« »Kyle, nein. Natürlich nicht. Sie sind nicht hier. Sie sind in einer anderen Wohnung. Ich wusste ja nicht…«, und da stockte er für einen Moment, »ob du nicht doch mit dem MI6 zurückkehren würdest.« »Oh«, war dann noch alles, was ich dazu zu sagen hatte. Klar. Ich hätte ihn ja auch hintergehen und die anderen auf die Wohnung ansetzen können. Er beließ das Thema dabei und führte mich in das kleine Badezimmer. Alles an der Wohnung war offensichtlich in die Jahre gekommen, aber es sollte genug sein. Tief in mir wusste ich, dass es bald öfter vorkommen würde, keine Dusche zu haben. Also war ich froh, überhaupt duschen zu können. Alexej klebte mir meine Wunden ab und tat dasselbe bei sich selbst. Danach stiegen wir in die zugeben kleine Dusche und quetschten uns unter den Brausestrahl. Trotzdem alles so eng war und nicht ganz perfekt, war es doch schön. Wie er meine Haare wusch und das Shampoo in meinen Locken verteilte war unglaublich angenehm, dass ich fast in seinen Armen eingeschlafen wäre. Wir rieben uns gegenseitig mit Duschgel ein und wäre ich nicht erst vor wenigen Minuten gekommen, wäre ich sofort hart geworden. So glitschig und rutschig wie unsere Körper aneinander glitten, konnte ich auch nicht lange an mich halten und musste ihn küssen. Zwar schmeckte der Kuss stark nach Duschgel, doch wir ließen uns nicht beirren. Als wir uns schließlich abtrockneten und ich vorsichtig die Folie von meiner Schulter abzog, spürte ich einen innigen Kuss auf meine gesunde Schulter. Durch den Spiegel hindurch sah ich in deine blauen Augen. Du warst so schön. Auf deine eigene Art und Weise. »Ich liebe dich«, murmeltest du gegen mein noch nasses Ohr. Es war viel zu früh und viel zu dumm, so etwas zu sagen, nachdem so viele dumme Dinge passiert waren. Aber es war, als hättest du bereits an dem Zeitpunkt gewusst, was bald auf uns zukommen würde und hast entschieden, dass nun der perfekte Moment dafür war. Und das war er. »Ich dich auch«, hauchte ich zurück und lächelte dich durch den Spiegel an. Es war dieser eine Moment, den ich nie vergessen werde, als wir uns fest umarmten und froh waren, dass wir einander hatten. Kapitel 20: Aufbruch -------------------- Nachdem Alexej und ich nach dem Sex noch etwas gegessen hatten, fielen wir tot ins Bett. Ich schlief wie ein Stein und träumte von nichts. Als ich erwarte, sah ich in die blauen Augen, die mich neugierig beobachteten. »Oh Gott«, raunte ich, auch wenn ich bereits lächelte. »Wie lange beobachtest du mich schon?« »Nicht lange«, antwortete Alexej und grinste mich zufrieden an. Vermutlich in dem Wissen, dass es bereits mehrere Minuten sein mussten, in denen er mir beim Schlafen zusah. »Du schläfst sehr süß.« »Oh, tu ich das? Habe ich gesabbert oder geschnarcht?« Da zuckte er mit einer Schulter, als wäre er sich nicht ganz sicher. »Von beidem ein bisschen.« »Na toll«, kicherte ich und legte meinen Arm über das Gesicht. Das Bett war noch schön weich und warm, dass ich gar nicht ans Aufstehen denken wollte. Sowieso fühlte ich mich wie auf Wolken, als Alexej sich vorbeugte und mir einen sanften Kuss auf den Arm gab, der über mir lag. Ich blinzelte ihn an und zog ihn zu mir. Wir versanken in einen liebevoll, wenn auch zurückhaltenden Kuss. Die Worte von letzter Nacht schwirrten noch frisch in meinem Kopf rum. ‚Ich liebe dich‘ sind drei schwere Worte, die man nicht leichtsinnig herumwerfen sollte. Doch ich war mir sicher, dass Alexej das nicht tun würde. Dafür war er nicht der Typ. Viel zu hart für sowas. »Wir müssen deine Bandage wechseln«, hauchte er gegen meine Lippen. »Außerdem will ich mir die Nähte ansehen.« Er richtete sich auf, sodass ich mich ebenfalls aufsetzen konnte. Vorsichtig zog er an der selbstklebenden Bandage und entfernte sie langsam von meiner Haut. »Kennst du dich damit aus?«, fragte ich neugierig und beobachtete seine auf einmal sehr filigran wirkenden Hände. »Das sollte ich, ja«, schmunzelte er und legte den Verband beiseite. Auf dem Nachttisch lagen bereits neue Bände. Er war also zwischendurch schon mal aufgestanden. »Ja? Wird euch das in die Wiege gelegt? Oder war das Teil… deiner Ausbildung?« »Es war Teil meiner Ausbildung«, sagte er emotionslos, während er meine Stiche begutachtete. Ich traute mich nicht runterzuschauen. Sah bestimmt super eklig aus. Gerade als ich dachte, voll ins Fettnäpfchen getreten zu haben, lächelte er mich an und sah mir tief in die Augen. »Ich bin Arzt.« Meine Augen weiteten sich. »Du verarschst mich.« »Nein«, schüttelte er belustigt den Kopf über meine Wortwahl. »Ich studierte, während ich noch in der Familie der Mafia war, die meine Eltern umgebracht hatte. Sie ließen es zu, in der Hoffnung, ich würde irgendwann mit diesem Wissen von Nutzen sein.« Mit einem Wattestäbchen desinfizierte er vorsichtig die Stiche. Es tat kaum weh. Er war wirklich sehr achtsam. »Tatsächlich ist dieses Wissen sehr von Nutzen«, erklärte Alexej konzentriert und griff schließlich nach einem neuen Verband, den er mir gewissenhaft umwickelte. »Das sehe ich«, murmelte ich noch immer völlig von den Socken. »Ich hätte nie gedacht, dass du… einen so schwierigen Beruf gelernt hast.« »Wirke ich nicht so, als könnte ich das?«, sagte er amüsiert und nahm Augenkontakt zu mir auf. Ich errötete und spitzte meine Lippen. Noch bevor ich mich verteidigen konnte, lachte er dunkel auf und schüttelte den Kopf. »War nur ein Witz, Kyle. Ich weiß, dass ich nicht so aussehe. Und ich gebe zu, ich hätte es auch nie gemacht, wenn ich nicht gewusst hätte, was für einen enormen Vorteil es mir im Leben bringen würde. Bezüglich meiner anderen Berufswahl.« »War es denn überhaupt eine Wahl?«, fragte ich vorsichtig und beobachtete seine Gesichtszüge. Tatsächlich verhärteten sie sich für einen kurzen Moment, lockerten sich aber genauso schnell wieder. »Nicht wirklich, da hast du Recht.« Er klopfte mir einmal liebevoll auf die Bandage, um mir zu zeigen, dass sie fest verbunden ist. »Fertig. Es wird im Laufe der Zeit noch weiter anschwellen, aber der Druckverband sollte das Schlimmste vermeiden. Sollte es stechen, brennen oder anderweitig mehr Schmerzen verursachen, als üblich, sag bitte Bescheid. Dann muss ich eventuell Wundflüssigkeit entlassen.« Mein Gesicht wurde bleich. »Das ist nichts Schlimmes. Schlimmer wäre eine Entzündung«, erklärte Alexej und versuchte zu lächeln. Machte mich nicht unbedingt ruhiger. »Soll ich dir bei deinen Wunden helfen?«, fragte ich und deutete auf seine Verbände. Alexej überlegte einen Moment, nickte dann tatsächlich und begann sich die Verbände abzunehmen. »Die Stichwunde wird langsam abgeheilt sein. Da wird ein einfaches Pflaster reichen. Aber hier könntest du mir beim Binden helfen. Dann geht es schneller.« Als ich seine Wunde sah, musste ich die Luft anhalten. Sie war blau, grün, rot und violett. Die Stiche waren grob und man sah sofort, dass er sich selber genäht hatte. »Wie hast du das nur geschafft?«, fragte ich eher mich selbst als ihn. Doch er antwortete, während er sich selbst desinfizierte und mit Jod einschmierte. »Viel Adrenalin im Blut und eine hohe Schmerzgrenze.« »Eine enorm hohe Schmerzgrenze…« Ich half ihm die Schusswunde zu verarzten und stattete ihn mit einer Bandage aus. Danach sahen wir uns die Schnittwunde an. Tatsächlich war nur noch ein roter Strich auf der Haut zu sehen. »Ist gut verheilt«, sagte er und strich trotzdem noch etwas Wundheilsalbe drauf. »Da hab ich dich ganz schön erwischt«, murrte ich leise und fühlte mich auf einmal sehr schuldig. Alexej schmunzelte. »Ist schon okay. So habe ich eine stetige Erinnerung an dich.« »Oh, wie romantisch, nicht wahr?«, sagte ich sarkastisch und handelte mich tatsächlich einen finsteren Blick ein. »Willst du, dass ich lieber böse auf dich bin?« »Nein, nein«, ruderte ich sofort zurück. »Ich bin froh, dass du es so siehst. Und… nicht böse auf mich bist, dass das passiert ist. Weil… ich wusste zu dem Zeitpunkt ja nicht, wer du warst, also…« »Das ist wohl wahr. Aber hättest du es gewusst, hättest du vermutlich noch viel tiefer geschnitten. Einfach aus Trotz.« Ich wollte schon zum Konter ansetzen, als ich kurz darüber nachdachte, wie ich mich in dem Moment gefühlt hatte, wo er die Tür öffnete und ich eigentlich Santa erwartet hatte. »Vielleicht«, gab ich dann kleinlaut zu. Nachdem unsere Wunden versorgt waren, schlupften wir in bequeme Kleidung und aßen eine Kleinigkeit. Alexej hatte nicht viel da, aber es reichte, um den Hunger zu stillen. Während wir schweigend nebeneinander am Küchentisch saßen, überkam mich ein Schwall von Wärme. Ich lächelte vor mich hin, als Alexej nachfragte. »Bist du glücklich?«, hakte er sanft nach und sah mich dabei intensiv an. »Ja«, hauchte ich zurück und stützte meinen Kopf mit der Hand ab. »Wir sind so… häuslich im Moment. Das gefällt mir.« »Nach all dem Ärger und dem Stress ist es eine willkommene Abwechslung.« Ich dachte an all den Ärger und den Stress, den er meinte, musste aber unweigerlich immer wieder an unsere Zweisamkeit denken, als ich noch Mr. Lewis und er Santa war. »Eigentlich warst du ein richtig schlechter Schauspieler«, sagte ich auf einmal und kicherte, während ich aus dem Fenster in die graue Welt sah. Alexejs Augen sahen mich verwirrt an. »War ich das? Du hast es bis zum Schluss nicht gemerkt, also gehe ich davon aus, habe ich meinen Job ganz gut gemacht.« »Rückblickend betrachtet warst du mehr als Offensichtlich darüber, wer du warst. Besonders gegen Ende. Aber auch am Anfang«, sagte ich amüsiert und trank noch einen Schluck Instant Kaffee. Die scheußlichste Brühe wurde auf einmal enorm trinkbar, wenn ich wusste, dass du sie gemacht hattest. Noch immer sahen mich zwei blaue Augen starr an und wollten eine Erklärung. Also gab ich ihm eine. »Nicht nur, dass du zum selben Zeitpunkt aufgetaucht bist wie Alexej Wolkow – nein, du hast auch noch immer dann nicht nachgefragt, wenn es um meinen Zweitjob oder um meine Schmerzen ging, die ich auf einmal nach einem Kampf mit dir hatte, wenn es drauf angekommen wäre. Du Witzbold hast ja sogar eine Schmerztablette von mir genommen.« Da holte ich tief Luft. »Herrgott, du bist den ganzen Tag mit dieser Schnittverletzung rumgelaufen? Kein Wunder, dass du Schmerzen hattest!« »Hohe Schmerzgrenze. Sag ich doch«, bemerkte Alexej selbstzufrieden und schenkte uns beiden noch etwas Kaffee nach. Ich schüttelte nur den Kopf. »Jedenfalls wurdest du gegen Ende immer weniger subtil. Ich dachte an einem Punkt sogar, du wärst vom MI6 und solltest nachprüfen, ob ich mit Alexej Wolkow was zu tun hatte.« »Hattest du ja auch. Kannst froh sein, dass ich dich nicht deiner Chefin gemeldet habe«, zwinkerte er mir zu und grinste breit. Ich kicherte erst mit, bis ich verstummte. »Woher weißt du, dass ich eine Chefin habe?« »Woher weiß ich, dass du im Center gearbeitet hast und Kyle Lewis hießt und vom MI6 warst? Ich gehöre auch einer geheimen Organisation an, erinnerst du dich? Wir haben unsere Informanten wie ihr eure habt«, erklärte Alexej in einem ruhigen Ton und sah mich eine Weile lang nachdenklich an. Schließlich zwinkerte er mir zu und sagte: »Und du hast an einem Tag sehr laut mit einem Kollegen telefoniert. Ich habe jedes Wort mitgehört. Das war sehr nachlässig von dir.« Ich seufzte langgezogen. »Oh, man… Ja… das war nicht besonders schlau von mir.« »Wer war das am Telefon? Dein Freund, der mitkommen will?« »Ja, Ethan«, bejahte ich und nickte, während ich in die Kaffeetasse starrte. »Mit ihm treffe ich mich heute Nachmittag um 16 Uhr am Tannenbaum im Center. Bis dahin sollte ich mir eine Verkleidung zulegen.« Alexejs Mund verzog sich ein Stück. »Du willst dich wirklich dort treffen, wo man uns beide schon so oft zusammen gesehen hat?« »Es wird voll sein. Sehr viele Menschen. Wir beide werden uns verkleiden und tarnen. Vielleicht gehe ich sogar als Frau, damit wirklich niemand Verdacht schöpft.« Da lachte Alexej leise. »Ich verstehe. So gerne ich das sehen würde, so ist es vermutlich besser, ich halte hier die Stellung und benachrichtige die anderen.« »Willst du Ethan nicht erst kennenlernen? Oder ich die anderen?« Da schüttelte er den Kopf. »Das dauert zu lange und würde zu viel Logistik verlangen. Wir bereiten alles vor, was nötig ist und werden sowieso getrennt voneinander reisen. Mit keinem großen Abstand, aber groß genug, um keine Aufmerksamkeit zu erhaschen, wenn auf einmal eine Gruppe von sieben Leuten mit teilweise russischer Abstammung die Grenze passieren will.« »Sieben Leute? Wow…«, murmelte ich und begriff zum ersten Mal die Größe der Aktion. »Ihr zwei seid frisch hinzugekommen.« »Irina wird das nicht wollen.« »Dann hat Irina Pech gehabt«, sagte Alexej auf einmal ernst und trank seinen Kaffee aus. Mit flinken Fingern räumte er die Teller von uns ein. »Sie hat uns alle in diese Sache reingerissen, weil sie kein wirkliches Genie beim Verstecken ist. Sie ist so unbesonnen und waghalsig wie du, vermutlich mögt ihr euch deswegen nicht. Ihr seid euch zu ähnlich.« »Ich… bin nicht unbesonnen und waghalsig«, wollte ich schon anfangen mich zu verteidigen und wurde mit nur einem Blick von Alexej in die Schranken gewiesen. ‚Echt jetzt? Denk noch mal drüber nach‘ war seine Aussage. »Vielleicht hier und da mal. Ich wollte eben den Fall lösen.« »Und das hast du«, sagte Alexej mit einem seufzen und stand vom Tisch auf, um das dreckige Geschirr in die Küche zu bringen. Ich schnappte mir ein paar Sachen, die in den Kühlschrank mussten, und folgte ihm. Er ordnete die Teller und Tassen feinsäuberlich in die Spülmaschine ein und schloss die Tür. Bevor ich die Sachen in den Kühlschrank stellen konnte, stellte er sich mit seiner vollen Größe vor mich und lehnte gegen den Tresen. Ich war gezwungen kurz stehen zu bleiben und ihn anzusehen. »Von jetzt an übernehme ich die Planung und Führung. Du magst deine Meinung jederzeit dazu äußern, aber die letztendliche Entscheidung treffe ich. Das wird so lange die Regel sein, bis wir in Russland sind und Immunität genießen. Du wirst unter meine Fittiche gestellt.« Ich zog scharf die Luft ein, nickte jedoch. Mir war schon bewusst, dass ich ab jetzt nach seinen Regeln tanzen würde. Er nahm mir nicht meine Meinungsfreiheit, das war schon mal gut. Aber dass er die Instanz nun war, juckte mich schon ein wenig. »Ich weiß, dass du gerne selbst entscheidest, Kyle. Und ich liebe diese Eigenschaft zu jeder Zeit an dir. Aber jetzt ist es einfach zu gefährlich, wenn jeder hier seine eigenen Pläne schmiedet. Und da du vermutlich wenig Ahnung von den weiteren Vorgehensweisen hast, werde ich das übernehmen.« Ich nickte noch immer angespannt und zählte innerlich die Krümel auf der Theke. Alexej lehnte sich zu mir und küsste liebevoll meine Stirn. »Nicht für lange. Danach wirst du wieder ein freier Vogel sein, das verspreche ich dir.« Und dieses Versprechen wollte ich mit ins Grab nehmen. Da ich nicht die Finger von Alexej lassen konnte, liebten wir uns noch einmal, bevor ich mich für das Treffen mit Ethan vorbereitete. Erneut mussten wir aufpassen uns nicht gegenseitig weh zu tun, doch wir koordinierten es sehr viel besser als am Anfang. Die Küsse wurden gegen Ende immer sehnsüchtiger, als würden wir uns erneut für eine gewisse Zeit trennen. Tatsächlich stieg in mir die Angst auf, wir würden uns vorerst nicht wiedersehen. Seine Worte, wir müssten getrennt über die Grenzen, machte mich noch nervöser. Jetzt, wo ich mich für ihn entschieden hatte, wollte ich nicht mehr loslassen. Meine Verkleidung war nicht besonders gut. Ich trug einfach ein Shirt von Alexej und eine Hose von mir. Darüber einen von Alexejs Mänteln, den ich an den Ärmeln hochkrempeln musste, damit ich nicht wie ein Schlumpf im Sack aussah. Letztendlich zog ich mir einen Schal von Irina an (Gott bewahre, dass sie es jemals herausfindet) und eine Sonnenbrille von einem der anderen Kerle. Ich wirkte wie ein Zusammenschmiss von Wohlfahrtskleiderkammer, aber das war es im Grunde ja auch. Mein Look sollte unauffällig sein und das war er. Irgendwie war es nämlich kein Look, sondern einfach irgendwas zum Anziehen. »Ich fühle mich sehr unschick«, gab ich zu und sah an mir runter. »Ich sehe eher aus wie ein Penner.« »Ein sehr hübscher Penner«, säuselte mir Alexej ins Ohr und küsste meine Schläfe, während er hinter mir stand und mich im Spiegel beobachtete. »Schreib mir, wenn du ihn eingesammelt hast. Ich werde hier alles zusammenpacken und treffe euch am Supermarkparkplatz im West End.« Ich nickte und holte noch einmal tief Luft. »Wir fahren dann aus London raus.« »Das hättet ihr sowieso längst tun sollen«, seufzte ich schließlich und drehte mich zu ihm um. »Wieso habt ihr nicht?« »Am Anfang war ich verletzt. Dann wollte ich meinen Job als Weihnachtsmann nicht kündigen. Danach war ich wieder verletzt. Und jetzt bist du da.« »Du wolltest den Job als … - Im Ernst, Alexej?«, fragte ich völlig außer mir nach. »Das wäre doch sowas von unwichtig gewesen!« Sein linkes Lid zuckte kurz. »Nein, war es nicht. Und jetzt geh.« Er drückte mich fast gewaltsam aus der Tür in den Flur. »Du bist wirklich hoffnungslos in mich verliebt, oder?« »Verschwinde, Kyle«, raunte er und schmiss die Tür zu. Im kurzen Moment, bevor die Tür zuging, konnte ich sein rotes Gesicht erkennen. »Ich liebe dich auch«, lachte ich gegen die geschlossene Tür. Zufrieden mit mir selbst ging ich die Treppe runter und stapfte zur U-Bahn. Immer wieder blickte ich mich um und hoffte, dass mich niemand erkannte. Vielleicht hätte ich mir die Haare färben sollen, doch dafür war es jetzt zu spät. Die braunen Locken waren unter einer Mütze versteckt – wenigstens ein Vorteil des Winters. Je mehr Kleidung, desto besser. Das Shopping-Center war tatsächlich rappelvoll. Überall waren Menschen mit riesigen Geschenktüten und anderem Kram, den sie an Weihnachten weitergeben wollten. Ich quetschte mich durch die Türen und betrat die warmen, so vertrauten Gänge. Als ich mich dem Weihnachtsmarkt näherte, sah ich Cindy mit ihrer Freundin Pause machen. Sie aßen gerade ein Brot, während sie sich innig unterhielten. Ich wäre gerne zu ihnen gegangen und hätte mich wirklich verabschiedet. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Also streifte ich an ihnen vorbei und stellte mich an den Tannenbaum. Mit etwas Abstand beobachtete ich die Menschen, die an ihm vorbeigingen. Erst, als ich ihn einmal umrundet hatte, sah ich einen Weihnachtsmann da sitzen. Er war sehr viel schmaler und kleiner, als Alexej. Die Schlange war auch nicht mal ansatzweise so lang wie seine es immer waren. Trotzdem warteten die Kinder freudestrahlend darauf, auf Santas Schoß zu sitzen. Und in diesem Moment fragte ich mich, ob ich vielleicht nicht doch irgendwann Kinder wollen würde. Mit Alexej zusammen irgendwo in einem ruhigen Ort mit einem Hund und einem, vielleicht zwei Kindern klang auf einmal gar nicht so bescheuert. Es klang nur zum Zeitpunkt enorm bescheuert, weil wir uns immer noch auf der Flucht befanden und eigentlich um unser leben bangen sollten. Das Bedürfnis nach dem einen Extrem kam immer dann, wenn das andere Extrem unmittelbar bevorstand. Nach wenigen Minuten, in denen ich tausend Tode in dem dicken Mantel von Alexej starb, sah ich dann endlich eine bekannte Figur. Mit einer großen Gitarrentasche kam ein Mann auf mich zu, der Piercings im Gesicht trug und die Haare sehr bunt hatte. Je näher er kam, desto genauer erkannte ich dann Ethan. »Du siehst toll aus«, bemerkte ich und schmunzelte ein wenig, als er sich zu mir stellte. »Soll ich dir ein Lied singen?«, fragte er und spätestens dann wusste ich mit Sicherheit, dass es er war. Die Stimme würde ich überall wiedererkennen. »Sehr gerne. Aber nicht hier. Lass uns dafür rausgehen«, schlug ich vor und deutete mit einem Nicken an, dass wir gehen sollten. Just in dem Moment, wo mir ein Stein vom Herzen fiel, dass ich Ethan ohne Probleme gefunden hatte und er mich, hörte ich ihre Stimme. »Kyle? Kyle, bist du das?«, rief sie und kam auf mich zu. »Wer ist das?«, schnappte Ethan sofort in mein Ohr und stellte sich panisch hinter mich. »Cindy, meine alte Kollegin«, brummte ich zurück und wurde steif. Was sollte ich jetzt tun? Weglaufen? So tun, als wäre ich’s nicht? Oder mich dem stellen? »Kyle, hey«, begann sie und stellte sich direkt vor mich, sodass ich nicht mehr fliehen konnte. »Wo warst du? Du hast gekündigt? Scheiße, was ist passiert? Und wieso siehst du so aus?« »Cindy, ich habe dafür jetzt eigentlich keine Zeit«, sagte ich hastig und deutete Ethan an, er solle einfach schon mal rausgehen. »Und du bist?«, fragte sie auf einmal unfreundlich und drehte sich zu Ethan um. »Sein neuer Freund?« Mein Kollege zuckte. »Sorry, Ma’am, ich bin nur Musiker. Sollte ich Sie kennen?«, sagte er in einem wirklich überzeugenden amerikanischen Akzent. Cindys Augen formten sich zu Schlitzen. »Cindy, bitte, wir müssen jetzt los. Es tut mir leid, dass ich mich nicht von dir verabschiedet habe, aber … es geht hier um was wirklich Wichtiges!« »Das denke ich mir«, murmelte sie. »Wenn du schon so weit gehst und dich verkleidest. Und Ethan auch. Sieht echt doof aus.« Ich wollte schon ansetzen, dass das nur für eine Veranstaltung war, als ich den Atem anhielt. Ethan ebenso. Cindy schüttelte den Kopf und sah mich verzweifelt an. »Wieso hast du das getan, Kyle? Ich habe dich so lange beschützt, wie ich konnte, aber jetzt hast du dich in was reingeritten, was echt gar nicht mehr zu retten ist!« Meine Welt begann zu schwimmen. Und es wurde noch wärmer unter diesem Mantel. Panik brach in mir aus. »Lass mich raten, du hast dich entschieden, mit Wolkow zu gehen, richtig?« »Cindy, wieso –«, begann ich, doch sie schnitt mich ab. »Er war der Weihnachtsmann, oder? Die ganze Zeit tanzte Wolkow vor unserer Nase und haben es nicht gesehen.« »Scheiße, wer sind Sie?«, brach jetzt auch Ethan dazwischen und vergaß dabei ganz seinen amerikanischen Akzent. Nicht, dass es noch etwas genützt hätte. »Ich bin Maggy Jones, Agentin des MI6 und seit Jahren für Kyles Wohlergehen zuständig. Oder eher seiner Überwachung.« »Shit«, entwich es Ethan und ich sah im Augenwinkel, wie er panisch um sich blickte. »Wieso… «, murmelte ich und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Alles, was ich in all den Jahren hatte, zerbrach tatsächlich in tausend kleine Stücke. Hat mich denn jeder belogen? War denn mein ganzes Leben tatsächlich nur eine Farce? »Ich hab dich wirklich gern, Kyle, aber du hast eine Grenze überschritten, die selbst ich nicht mehr decken kann«, sagte sie traurig und noch immer erschrocken, »All deine Fehler, all deine kleinen Versprecher… all das habe ich nie gemeldet. Aber als du jetzt gekündigt hast, wir die höchste Alarmbereitschaft bekommen haben und das Gerücht rumging, dass du mit Wolkow abhaust… fügte sich für mich alles zusammen. Der Weihnachtsmann und du waren eigentlich Alexej Wolkow und du. Kyle, wieso hast du das getan? War er wirklich so gut im Ficken?« »Oh, wage es nicht, dieses Gespräch auf diesem Niveau zu führen, du verlogene –«, begann ich angeekelt von Cindy – nein Maggy – zu reden und drückte ihr schon den Zeigefinger in die Brust, als Ethan mich am Arm packte. »Wir müssen gehen. Sofort.« »Ihr hättet schon vor langer Zeit gehen sollen«, brach Maggy dazwischen und sondierte ebenfalls die Lage. »Sie sind euch gefolgt. Das Center ist bereits umstellt. Ihr könnt es nur durch das Parkdeck und dann die Notausgänge schaffen. Allerdings kommt ihr dann nicht zur U-Bahn.« Mein Blick verengte sich. Ich konnte einfach niemandem mehr trauen. »Ich helfe dir dieses eine Mal noch«, sagte sie leise zu mir und griff nach meiner Hand. »Aber danach… eröffne ich das Feuer, wenn ich dich sehe.« Meine Augen wurden feucht und ich versuchte alles, nicht zu weinen. Es war nicht der passende Augenblick, aber meine Brust schmerzte so unglaublich tief, dass ich im Moment nicht wusste, wohin ich den Schmerz stecken sollte. Erst als Ethan mich letztendlich von ihr wegriss, schnappte mein Verstand zurück in die Realität. »Wir versuchen es durch das Parkhaus und dann über die Notausgänge. Weißt du, wo wir rauskommen?«, fragte Ethan energisch und zog mich durch die Menschenmassen, die panisch zur Seite sprangen. Ich antwortete nicht sofort, sondern ließ mich einfach durch die Gänge leiten. Als ich auch nach mehreren Sekunden nichts sagte, blieb Ethan abrupt stehen. Hektisch, aber entschlossen sah er in meine Augen. »Ich kann mir vorstellen, dass deine Welt gerade in alle Richtungen zerbricht, aber glaube mir: du hast immer noch mich! Und Alexej! Wir würden dich nicht verraten – jedenfalls kein zweites Mal…«, wurde er mit jedem Wort leiser. Schließlich küsste er mich in aller Öffentlichkeit feste auf den Mund. Der Kuss war kurz und schmerzlos – er sollte mich vermutlich nur wieder zurück in die Realität holen. »Komm jetzt«, knurrte er und packte mich erneut an der Hand, um mich durch die Menge zu ziehen. Noch wurden wir nicht verfolgt; jedenfalls hatte ich noch keine dubiosen Männer an irgendwelchen Ecken stehen sehen, die uns beobachteten. Oder die Tarnung war so gut wie die von Cindy. Maggy. Als wir das Parkhaus erreichten, blieben wir kurz stehen. »Fuck, ich kenn mich hier nicht aus. Kyle – du hast hier drei Jahre gearbeitet. Wohin?« Ich sah mich nervös um und versuchte mich auf irgendetwas zu konzentrieren, was nicht mit Verrat, Lügen oder Betrug zu tun hatte. Auf einmal fuhren Autos rein, die wie unsere Dienstwagen aussahen. Vermutlich, weil es unsere Dienstwagen waren. »Shit«, fluchte Ethan erneut und zerrte mich zur Seite. Wir rannten in irgendeine Richtung, bis ich das Schild der Toiletten sah. Oh, Santa. Wie ich diese Zeit vermisste. »Hier entlang«, rief ich und zog Ethan mit mir. Wir hechteten auf die Toiletten zu und schlossen sofort die Tür. »Klos? Sag mir jetzt nicht, dass du musst!«, schnauzte Ethan extrem angespannt und suchte den Raum ab. »Nein, aber hier ist unser Notausgang«, sagte ich und deutete auf das kleine Fenster hin, was in die Freiheit führte. Ethan stellte sich neben mich und sah raus. Unter uns lagen zwei Stockwerke und eine Menge Schnee. »Wir werden sowas von draufgehen«, murmelte er und versuchte abzuschätzen, wie viele Knochenbrüche wir als Minimum ansehen könnten. »Das schaffen wir schon. Wirf deinen Koffer zu erst. Dann klettern wir an der Hauswand runter so lange wie wir können. Den Rest müssen wir springen.« »Woher wusstest du, dass hier ein Fenster ist? Bist du etwa hier immer auf Klo gegangen? Sieht furchtbar aus…«, fragte Ethan, als ich das Fenster öffnete und er seinen Gitarrenkoffer herunter warf. Er landete mit einem dumpfen Geräusch im Schnee. »Alexej und ich hatten hier Sex«, gab ich knapp zu verstehen und kletterte zuerst aus dem Fenster. Ethan verschlug es die Sprache. »Bitte, was? Hier? Gott, du hast es so wahnsinnig erotisch dargestellt, als du von euren Sexeskapaden erzählt hast, aber das hier? … wirkt überhaupt nicht schön.« »Ist doch egal, oder? Komm jetzt!«, keifte ich und hangelte mich am Fenstersims entlang. Gott, dachte ich, das muss aussehen, als würden wir gerade die Zeche prellen. Neben uns war ein Abflussrohr – eine perfekte Leiter für uns. Ich klammerte mich daran fest und rutschte Stück für Stück runter. Ethan tat es mir gleich. Just in dem Moment hörten wir die Tür zum Klo aufbrechen. »Bleiben Sie sofort stehen!«, riefen die Einsatzkräfte und hielten schon Waffen auf uns. Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ ich los und landete im Schnee. Der war Gott sei Dank tief genug, um den Fall größtenteils abzubremsen. Ethan tat es mir gleich und landete fast auf mir. Die Schützen lehnten sich aus dem Fenster und sondierten kurz die Lage, bevor sie ihre Waffen nach vorne richteten und auf uns schossen. Zwei Tage hintereinander wurde auf mich geschossen. Das war wohl das Zeichen, dass ich mich langsam daran gewöhnen sollte. Gut, dass Nahkampf meine Stärke war. Bevor ich mich wieder zurück in meinen Geist verstecken konnte, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen, zog mich Ethan samt seiner großen Tasche davon und schleifte mich wie einen Sack Reis durch den riefen Schnee Richtung Hauptstraße. »Wenn wir Glück haben, können wir in einen Bus steigen!«, rief Ethan, während die Einsatzkräfte versuchten denselben Weg zu nehmen, wie wir. Die Wetterverhältnisse waren für uns alle ein Hindernis. »In einen Bus? Wohin? Wir haben einen Treffpunkt, wo wir hinmüssen!«, hechelte ich völlig außer Atem, auch wenn wir erst seit wenigen Minuten am Rennen waren. Die Leute um uns herum sahen uns mit großen Augen an. Wir mussten untertauchen und zwar schnell. Die Kleidung wechseln und vorerst unsichtbar werden. Die Kameras würden Freya sofort zu Alexej bringen, sollten wir jetzt schon zum Supermarktparkplatz fahren. »Wann hast du dich mit ihm verabredet?«, fragte Ethan ebenfalls außer Atem, als wir an der Hauptstraße mit noch sehr vielen anderen Menschen standen. Wir alle wollten die Straße überqueren und warteten auf das grüne Licht der Fußgängerampel. »In einer Stunde… Ich wusste nicht, wie schnell wir uns finden würden.« »Umso besser«, raunte er und ging mehrmals durch seine Haare. Die bunte Farbe ging langsam ab. Wie Kreidestaub fielen die Partikel in den weißen Schnee. Jedes Piercing klippte er flink ab und steckte sie in die Tasche. »Wir müssen uns umziehen«, hauchte ich ihm entgegen und beobachtete die Ampel. Sie wurde grün. Hinter uns bisher niemand zu sehen. Ob sie lauerten? Immerhin konnten sie nicht auf offener Straße das Feuer eröffnen. »Ich weiß«, murrte Ethan und zog mich mit sich. Und da das Glück nicht immer auf unserer Seite war, kam natürlich gerade kein Bus. Dafür mehrere Taxen. Ich spielte einfach mal den Helden und warf mich halb vor ein Auto, damit es stehen blieb. Der Fahrer sah mich mit großen, schockierten Augen an. »Sind Sie frei?«, raunte ich ihm durch das geschlossene Fenster entgegen. In der Ferne sah ich dann endlich die Einsatzkräfte näher kommen, die uns seit dem Center verfolgten. Ohne auf seine Antwort zu warten, öffnete ich die hintere Tür und schob Ethan rein. Der Taxifahrer blieb erst einmal stehen und wartete wohl auf unsere Anweisungen. »Fahren Sie einfach! Fahren Sie einfach erst mal los!«, keifte ich aufgeregt und konnte den leicht hysterischen Unterton in meiner Stimme raushören. Ethan hingegen saß ruhig neben mir und starrte auf den Sitz vor ihm. Vermutlich war er nicht mal ansatzweise so ruhig, wie er schien, doch er schaffte es zumindest, den Tumult und das Herzrasen besser zu verstecken als ich. »Shit, Shit, Shit«, murmelte ich wie ein Mantra vor mich hin. »Wohin sollen wir?« Ethan antwortete nicht sofort, sondern starrte noch apathisch vor sich. »Ethan!«, raunte ich ihn an und knuffte ihn in die Seite. Auf einmal zuckte er zusammen, als wäre er aus seiner Schockstarre erwacht. »Äh – wo liegt dein Treffpunkt?« »West End«, hauchte ich und sah nervös zum Taxifahrer. Ich traute niemandem mehr. Ethan und Alexej waren die einzigen Personen, denen ich noch irgendwas anvertrauen würde. »Okay… Okay, dann einfach irgendein Schwimmbad auf der anderen Seite Londons.« »Ein Schwimmbad? Ethan, du hast es aber auch mit mir ins Wasser zu gehen! Was sollen wir denn in einem Schwimmbad?« Er lachte erschöpft auf. »Es ist gesetzlich verboten, Kameras in Schwimmbädern aufzustellen. Dort können wir uns für eine Weile aufhalten und in Ruhe umziehen. Vielleicht auch von dort aus Kontakt zu Alexej aufnehmen.« Ich seufzte erleichtert. »Das ist ein guter Plan…« Also drehte ich mich zum Fahrer. »Haben Sie gehört? Zu einem Schwimmbad irgendwo weit weg vom West End. Vielleicht in der Nähe vom City Airport.« Der Taxifahrer nickte unsicher. »S-Sind Sie in Schwierigkeiten? Ich… ich will nicht irgendwie –« »Nein, alles gut«, unterbrach ich ihn. »Bringen Sie uns einfach dahin, wohin wir wollen, wir werden Sie bezahlen und Sie werden uns nie wieder sehen.« Der junge Mann mit arabischen Wurzeln nickte erneut und fuhr uns aus der zentralen Stadt raus. Ethan und ich schlossen zeitgleich die Augen und versuchten uns zu beruhigen. Ich haderte einige Momente mit mir, ob ich Alexej schreiben sollte. Aber ich entschied mich dagegen und wartete, bis wir in Sicherheit waren. Letztendlich fuhren wir in ein riesiges Schwimmbad im Olympiapark. Natürlich waren hier tausend Kameras. Ethan und ich stiegen trotzdem aus und versuchten uns so bedeckt wie möglich zu halten. Der Gitarrenkoffer war natürlich sehr auffällig und zog auf einmal mehr Aufmerksamkeit auf sich, als ursprünglich gewollt. Schnell holten wir uns ein 4-Stunden Ticket und gingen rein. Dort waren kleine Shops mit Bade- und Sportkleidung. Wir deckten uns mit neuen Hoodies und Trainingshosen ein. Der ganze Spaß hatte ein Vermögen gekostet und ich befürchtete, dass sich mein Erspartes nicht lange halten würde, sollten wir weiterhin so achtlos und unvorsichtig durch die Weltgeschichte streifen. Davon abgesehen, dass wir auch sterben könnten, sollten wir nicht besser planen. In einem Gymnastikbereich setzten wir uns kurz hin und sahen den Menschen beim Schwitzen zu. Uns war vorerst nach Ruhe. Ethan holte uns sogar einen Kaffee. Einfach, um die Nerven zu beruhigen. »Schreibst du ihm?«, fragte er, als er mich an meinem Prepaidhandy tippen sah. »Ja, aber ich weiß noch nicht ganz, was. Ich will es kurz halten, aber wenn ich ihm jetzt nur schreibe, dass was schiefgelaufen ist, macht er sich unnötig Sorgen…« »Unnötig?«, wiederholte Ethan etwas empört und zog beide Augenbrauen hoch. »Uns hängt gerade der komplette MI6 auf den Fersen. Du weißt, was wir für Leute bei uns haben. Ein Alexej Wolkow würde uns ganz gut tun.« »Er ist nicht so, wie ihr ihn alle immer darstellt«, murmelte ich und dachte an die ganzen zärtlichen Berührungen, die er mir geschenkt hatte. Jedoch musste ich auch an die Razzia bei Mr. Green denken und wie er jeden einzelnen mit einem Kopfschuss erledigt hatte. Vermutlich war es wie immer nicht einfach nur Schwarz oder Weiß, sondern das gute alte Grau. Wie alles bei Alexej. Der Mann steckte voller Geheimnisse. »Wusstest du, dass er Arzt ist?«, sagte ich gedankenverloren und tippte immer wieder ein paar Wörter, nur um sie wieder zu löschen. »Wer? Alexej?« »Ja«, nickte ich und sah Ethan in die Augen. »Er hat meine Schusswunde genäht. Und sich selber.« »Du wurdest angeschossen?«, fragte Ethan voller Entsetzen und musterte mich von oben bis unten. »Wo?« »An der Schulter, nicht schlimm. Jedenfalls nicht so schlimm wie Alexej. Den hat’s echt übel erwischt… Direkt an der Seite.« Damit fuchtelte ich an meiner eigenen Seite des Oberkörpers rum und versuchte Ethan deutlich zu machen, dass das kein Spaß war. Der saß einfach nur völlig perplex vor mir und vergaß völlig seinen Kaffee, den er eigentlich gerade trinken wollte. Schließlich verfielen wir in ein angespanntes Schweigen, in dem ich endlich eine SMS verfassen konnte. »Ich habe Ethan getroffen, allerdings wurden wir entdeckt. Sind jetzt geflüchtet, aber sie kennen unsere Verkleidung. Ziehen uns um und kommen dann zum Supermarkt.« Da Alexej normalerweise nicht sofort antwortete, legte ich das Handy weg und trank genüsslich meinen Kaffee. Dabei beobachtete ich die anderen Menschen, wie sie sich beim Sport anstrengten. Ethan sah immer noch kreidebleich auf den Tisch. Vermutlich ging er mit der Lage wohl doch nicht so gut um, wie ich dachte. Mein Handy vibrierte früher als gedacht. »Sag mir, wo ihr seid, ich komme euch holen.« »Oh nein«, seufzte ich und schüttelte langsam den Kopf. »Er schmeißt den Plan hin.« »Wieso?«, hakte Ethan leise nach, als er anfing, unsere alten Sachen in seine Gitarrenbox zu stopfen. Es war nicht mehr viel Platz, aber Irinas Schal und sein Oberteil gingen noch rein. »Wir wollten uns am Parkplatz im West End treffen und dann aus London raus. Jetzt will er die ganze Strecke hier raus fahren und uns abholen!« »Ist doch gut«, murmelte mein Freund und trank seinen Kaffee aus. »Wenn wir eh aus London raus wollen, ist das hier schon mal ein guter Anfang. Was bringt es uns, noch einmal reinzufahren, um dann wieder rauszufahren? Die Wahrscheinlichkeit, dass uns dann jemand sieht, ist viel höher, als wenn er einfach im geschlossenen Auto zu uns kommt.« Ich knibbelte an meinen Fingernägeln. Sie waren mittlerweile abgestumpft und abgebrochen. »Ich weiß nicht…« »Kyle, was… was macht dich jetzt schon wieder so nervös?« »Ich will ihn einfach in nichts reinreiten.« »Aber uns?« Ethan wurde von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Er hatte Angst und das war okay – ich hatte ja auch Angst! Aber irgendwie sagte mir mein Bauchgefühl, dass wir hier nicht ganz so sicher waren, wie gedacht. In der Innenstadt könnte man gut in der Masse untertauchen. Hier lagen wir auf einem Präsentierteller. Doch vielleicht reagierte ich auch über und nickte schließlich. »Na gut«, murmelte ich und schickte Alexej unseren Standpunkt. Darauf kam dann keine Antwort mehr und ich wartete nervös die weiteren Minuten bis zu seiner Ankunft ab. Ich konnte nur hoffe, dass alles gut gehen würde. Kapitel 21: Notfallplan ----------------------- Auch wenn ich am Anfang gegen eine Planänderung war, so fand ich mich schnell in der erquickenden Vorfreude wieder, Alexej in ein paar Minuten wiederzusehen. Seit meiner Entscheidung, ihm zu folgen und ihm damit mein Leben anzuvertrauen, stach es förmlich in meiner Brust, ihn aus den Augen zu lassen. Das Gefühl, dass er jeden Augenblick wieder gehen könnte, lähmte mich. Die wenigen Momente, die wir in Zweisamkeit verbracht hatten, waren die, an denen ich mich nun klammerte. Meine Konstanten hatten sich verschoben. Alexej und Ethan waren nun meine Konstanten, die mit mir in eine sehr instabile Umwelt eindrangen. Schließlich kam seine SMS, dass er da sei und auf dem Parkplatz auf uns wartete. Schnell griffen wir nach unseren Sachen und stapften wieder raus in den Schnee. Ich wusste nicht ganz, nach welchem Auto ich suchen sollte, doch als ich einen großen, schwarzen SUV inmitten von Kleinwagen parken sah, dachte ich mir schon, dass es Alexej war. Tatsächlich saß er hinter dem Steuer und beobachtete uns durch schmale Augen. »Oh Gott«, murmelte Ethan neben mir, als wir uns dem SUV näherten. »Ich werde gleich zu Alexej Wolkow ins Auto steigen. Ich muss verrückt sein.« »Ethan, bitte beruhige dich«, raunte ich etwas genervt und verdrehte die Augen. »Er ist nicht so, wie ihr ihn immer darstellt. Nur, wenn es sein muss. Und solange du ihm nicht drohst oder ihm in den nächsten Minuten vorhältst, dass wir beide Sex hatten, wird er auch nichts Schlimmes machen.« »Du hast es ihm nicht erzählt?«, posaunte Ethan auf einmal auf und blieb stehen. Ich zerrte ihn sofort wieder mit mir mit. »Nein«, murmelte ich, als könne Alexej uns aus der Distanz im geschlossenen Fahrzeug hören. »Irgendwann werde ich es ihm sagen. Aber im Moment bist du einfach mein guter Freund aus der Arbeit, der uns hilft, Pässe zu besorgen, okay?« Ethan gab einen Laut von sich, den ich nicht ganz einschätzen konnte, ob er leidend oder akzeptierend war. Vermutlich beides. Als wir am Auto ankamen, stieg Alexej aus. Er hatte wie immer keine Verkleidung an – geschweige denn überhaupt eine Mütze oder einen Schal. Sofort ging ich auf ihn zu und griff nach seiner Kapuze, um sie ihm überzuziehen. »Was habe ich dir über das Tarnen in der Öffentlichkeit erzählt«, zischte ich ihm zu, behielt aber ein Lächeln auf den Lippen. Ich war zu glücklich, ihn wiederzusehen. Er schien eine Weile lang zu überlegen, als es in seinem Kopf klickte. »Habe ich vergessen«, gab er schamlos zu. »Ich dachte, im Auto wird mich schon keine Kamera erkennen.« »Da würdest du dich wundern«, seufzte ich und zog die Kapuze noch ein Stück weiter runter. Als ich Ethan im Schnee stapfen hörte, drehte ich mich endlich zu ihm um. »Das ist Ethan. Ethan, das ist Alexej.« Ethan kam einen nervösen Schritt auf uns zu und hielt Alexej freundlich, aber leicht zitternd die Hand hin. »Freut mich sehr«, murmelte er viel zu höflich und hoffte vermutlich, dass Alexej ihm nicht die Hand oder gar den Arm brechen würde. Der stand noch bewegungslos neben uns und starrte Ethan eine Weile lang an. Schließlich zuckten seine Mundwinkel, doch es war kein Lächeln. »Es freut mich auch«, knurrte er durch geschlossene Zähne, »solange es keine Probleme mit dir geben wird.« Ethan zog sofort die Hand wieder weg und nickte, während er scharf die Luft einzog. »Ich werde mich sehr bemühen.« »Er ist ein guter Freund«, mischte ich mich ein, um die Stimmung etwas zu lockern. »Und er kann uns Pässe besorgen.« »Ja«, sagte er sofort aufgebracht und rang sich zu einem Lächeln durch. »Ich habe schon Bescheid gegeben. Wir müssen ihm nur Fotos und Informationen geben. Der Rest macht er.« »Und wie schnell kann er die Pässe machen?«, murrte Alexej. Wieso ließ er auf einmal den starken Russen raushängen? War das wirklich nötig? »Sofort«, antwortete Ethan und schien sich auf einmal gefasst zu haben. Immerhin war er nun am längeren Hebel. Wir brauchten ihn für Pässe – und das wusste er. »Perfekt«, nickte Alexej schließlich und drehte sich wieder zum Wagen um. Er stieg in die Fahrerkabine und deutete uns an, dass wir auch einsteigen sollten. »Ich steige vorne ein, okay?«, flüsterte ich Ethan zu, der nur noch nickte und aufgestaute Luft angespannt ausließ. Ich klopfte ihm auf die Schulter und stieg grinsend ein. Niemand wechselte ein Wort, während wir aus London rausfuhren. Nach fast einer Stunde Autofahrt, brach ich dann doch die Stille. »Wo geht’s eigentlich hin?« Alexej sah in den Rückspiegel, als wolle er überprüfen, ob Ethan zu hörte. Tatsächlich war der seit ein paar Minuten am Schlafen. »Richtung Küste«, antwortete er mir mit gedämpfter Stimme. »Dort treffen wir die anderen.« »Wegen der Pässe müssen wir vermutlich noch einmal in die Innenstadt…«, murmelte ich und sah unsicher zu Ethan. Es war klar, dass er das übernehmen musste. »Vielleicht brauchen wir auch keine neuen Pässe«, hörte ich Alexej mit einem gewissen Unterton sagen. Meine Augen weiteten sich. »Nicht?« »Wir haben ein Boot bekommen, was wir verwenden können.« »Also segeln wir nach Russland?« Er nickte. Die Vorstellung, dass wir alle auf einem kleinen Boot für mehrere Tage auf offener See sein würden, machte mich etwas nervös. Bootsfahrten waren nicht so mein Ding und vor dem Meer hatte ich immensen Respekt. »Kann denn jemand das Boot bedienen?« »Ich«, gab er die knappe Antwort. »Und notfalls auch Irina. Sie und ich sind früher öfter mal rausgefahren. Sie würde sich im Notfall sicher noch an alles erinnern.« »… Notfall?« Meine Stimme wurde so dünn, dass ich mich selbst kaum hörte. »Man weiß nie«, war dann das letzte, was ich ihn sagen hörte, bevor er wieder auf die Straße vor ihm stierte und konzentriert Auto fuhr. Nach fast drei Stunden, in denen ich mehrmals versucht hatte, die Augen zu schließen, erreichten wir endlich ein kleines Ferienhaus. Es war mit viel Grün umstellt. Weitere Ferienhäuser waren die Straße runter. »Wir sind da«, sagte er sichtlich angespannt und stieg aus. Sofort zündete er sich eine Zigarette an. Tatsächlich hatte ich ihn bisher nur wenig rauchen gesehen und selten hatte ich Rauch an ihm gerochen. Vermutlich war er ein Gelegenheitsraucher, der in manchen Situationen einfach mal etwas Nikotin brauchte. Das war wohl nun so eine Situation. Ethan und ich stiegen ebenfalls aus und begutachteten die kleine Hütte. »Sieht sehr schön aus«, murmelte ich und fing auf einmal an, mir vorzustellen, dass ich mit Alexej irgendwann in so einer Hütte leben könnte. Nur wir beide, ganz allein, weit weg von all dem Scheiß hier. »Und wer ist da jetzt noch drin? Irina Iwanowna?«, hakte Ethan leise nach, als würde er versuchen, Alexejs Aufmerksamkeit zu vermeiden. »Der Rest. Wer sonst?«, brummte er, als er noch einen tiefen Zug nahm und den Kofferraum öffnete. Darin waren meine drei Koffer und eine große Reisetasche von ihm. Alles packte er flink aus, während Ethan und ich dumm daneben standen. »Du wirst sie gleich alle kennen lernen«, sagte ich sanft und versuchte Alexejs grobe Art zu kaschieren. Ethan schien sich wenig an ihm zu stören. Vermutlich deckte es sein Bild vom eiskalten Killer, was er jahrelang von ihm hatte. Ich nahm alle meine Koffer und hievte sie durch den Schnee. Schließlich griff Alexej nach einem und trug ihn wie ein Leichtgewicht auf seiner Schulter zum Haus. »Spielt ja ganz schön den großen starken Mann. Und sowas gefällt dir?«, fragte Ethan sichtlich verwundert über meine Männerwahl. »Ja. Sehr sogar«, sagte ich spitz und hob beide Augenbrauen, als würde ich damit meine Meinung noch unterstreichen können. Ethan seufzte daraufhin nur noch. Das Haus war übersichtlich und kleiner, als gedacht. Eine schmale Treppe führte vom sonst geräumigen Zimmer in den ersten Stock. Die Küche war offen und mit einer Kücheninsel direkt am Wohnzimmer angeschlossen. Auf dem Sofa saßen die beiden Männer vom letzten Mal, die uns nur ein kurzes Nicken schenkten. Sie waren wohl schon eingewiesen, dass wir kommen würden. Alexej stellte die Sachen an die Treppe und sah sich um. »Wo ist meine Cousine?«, fragte er und spähte in die Küche. »Draußen«, antwortete einer der beiden Männer. »Eine rauchen.« An Ethans Blick konnte ich erkennen, dass er ein ungutes Gefühl beim Anblick der wohl typischsten Russen der Welt hatte. Beide hatten extrem kurz rasierte Haare und jeweils ein Silberkettchen um. Der eine trug eine schwarze Lederjacke, die ihm irgendwie viel zu groß war, und der andere eine im Licht glänzende Bomberjacke. Beide kauten Kaugummi und hörten auf dem Fernseher irgendeinen russischen Musiksender, der Techno spielte. Alexej ließ sich nicht weiter beirren und stapfte an den beiden vorbei, um die Glastür zur Terrasse aufzuschieben. Er plärrte irgendetwas in Russisch und schob die Tür wieder zu. Ob Irina nun geantwortet hatte oder nicht, schien ihn wenig interessiert zu haben. »Setzt euch«, sagte er schließlich etwas entspannter und deutete auf den relativ großen Esstisch an, der nahe der Kücheninsel stand. Ethan und ich taten wie verlangt und saßen schließlich mit unseren Händen zwischen den Beinen genierend am Tisch. Es fühlte sich wie damals an, als ich die Eltern meiner ersten Freundin kennen gelernt hatte. Super unangenehm, alle Blicke waren auf einen gerichtet und man hatte das Gefühl, jedes Wort, was man sagte, würde gegen einen verwendet werden. Der erste Eindruck war nun mal immer noch der wichtigste. »Möchtet ihr etwas trinken?«, fragte Alexej wie ein guter Gastgeber und stolzierte in die Küche. Erst jetzt schälte er sich aus seiner Jacke. Wir taten es ihm gleich und hingen alles über die Stühle. Auf einmal fühlte ich mich extrem dämlich in meiner Jogginghose. Aber es war ja alles nur für die Tarnung gewesen. »Was auch immer ihr anzubieten habt«, antwortete Ethan und legte langsam seinen Kopf auf den Tisch. »Was Alkoholisches wäre toll.« Und als hätte Alexej nur darauf gewartet, griff er schmunzelnd in einen Schrank, holte normale Gläser raus und stellte sie mit Schwung auf den Tisch. Direkt danach griff er zu einer Glasflasche und schüttete uns jedem eine gute Menge durchsichtiger Flüssigkeit ein. Dem Geruch nach zu urteilen war es kein Wasser. »Oh Gott, Alexej, bitte nicht so viel«, jammerte ich, als er mein Glas besonders voll machte. »Das lässt dich nachher gut schlafen«, war seine einzige Antwort. Er schüttete trotzdem noch weiter. »Sollte man Alkohol nicht vermeiden, wenn man Wunden hat?«, fragte ich skeptisch und beäugelte dabei ganz genau Alexejs Torso. Doch er zuckte nur mit den Schultern und machte sich ebenfalls eine gute Menge Wodka ins Glas. »Habe ich auch mal gehört«, grinste er und schraubte die Flasche zu. Er sagte irgendetwas auf Russisch, was die beiden Männer mit einem Handzeichen ignorierten. Vermutlich war es der Hinweis, dass sie sich ihren Wodka selber holen sollen, wenn sie welchen haben wollen. Ich kicherte leise bei dem schlechten Witz und griff nach dem Glas. »Na dann…« »Auf eine gute Flucht«, flüsterte Ethan und hob auch sein Glas. »Trinkt schnell aus, bevor Irina rein kommt. Das macht ihr Gezeter wesentlich aushaltbarer«, brummte Alexej grimmig und stieß jeweils einmal mit unseren Gläsern an. Schließlich kippte er sich in zwei Zücken das Glas Wodka weg. Daher kam also die Alkoholtoleranz, die ich bei der Weihnachtsfeier so unglaublich faszinierend fand. Ethan und ich nahmen es mit dem Alkohol etwas langsamer und husteten uns beide erst einmal völlig fertig an, als die brennende Flüssigkeit unseren Rachen runterfloss. In Alexejs Gesicht bildete sich ein amüsiertes Grinsen. Schließlich ging die Tür auf und Irina kam mit ihrem Handy und einer Packung Zigaretten rein. Sie plärrte irgendetwas auf Russisch, was wir nicht verstanden, als sie innehielt und uns beobachtete. »Ich kann’s nicht fassen, dass du das tatsächlich durchziehst«, sagte sie schließlich und schüttelte den Kopf. »Die beiden gefährden die ganze Aktion. Ich will wieder zurück nach Hause – und zwar sicher!« »Und das wirst du auch«, versicherte ihr Alexej, als er sein Glas auf den Tisch abstellte und etwas unsicher neben dem Tisch stand. »Ich werde mich morgen um das Boot kümmern.« »Oh, das Ding?«, verzerrte sie angewidert ihr Gesicht. »Das ist viel zu klein für uns alle! Ich werde außerdem nicht die nächsten… was? 30 Tage? Mit einem Haufen Männer auf einem Boot verbringen. Schlimm genug, dass ich schon die ganze Zeit mit denen hier hocken muss.« Dabei zeigte sie auf die beiden Typen auf dem Sofa, die angestrengt auf ihren Handys Candy Crush spielten. »Es ist besser als alle anderen Alternativen«, sagte Alexej und legte seine Stirn in Falten. »Was denkst du, wie schwer es sein wird, durch ganz Europa mit gefälschten Pässen zu reisen? Fast unmöglich!« Irina verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. Sie seufzte und sah resigniert aus dem Fenster. Für einen kurzen Moment dachte ich, sie finge an zu weinen. »Mrs. Iwanowna«, begann Ethan vorsichtig und sah sie eindringlich an. »Wir sind sehr dankbar, dass wir hier sein dürfen. Nach allem, was passiert ist, wären wir vermutlich längst tot oder in einer dunklen Zelle weit unter dem Boden.« »Wer sind Sie überhaupt?«, fragte sie harsch und musterte meinen Freund eindringlich. »Gehören Sie etwa auch zum MI6?« Ethan räusperte sich und duckte seinen Kopf zwischen die Schultern, als könne ihn das vor der zu erwartenden Reaktion von Irina schützen. »Ja…, aber so wie Kyle nicht mehr im aktiven Dienst.« Sie raunte laut auf und wedelte mit den Händen in der Luft. Sie plärrte irgendetwas auf Russisch, das Alexej nervös mit dem Lid zucken ließ. Auch die beiden anderen Männer sahen mit großen Augen zu uns rüber. »Ganz schön hysterisch«, flüsterte Ethan in mein Ohr und nuckelte an seinem Wodka. »Hatte sie irgendwie ganz anders eingeschätzt.« »Ist sie vermutlich auch«, nahm ich sie in Schutz und sah, wie sie in die Küche rannte, um sich Alkohol einzuschenken. »Die Situation verändert uns alle zurzeit in andere Personen.« »Aha?«, hob Ethan eine Augenbraue und sah zu Alexej. »Dann hoffen wir mal, dass sich dein weißer Ritter nicht wieder zurückverwandelt.« Ich warf ihm einen bösen Blick zu und trank mein Glas aus. Der Wodka brannte meine Kehle herunter. Nachdem Irina sich nach zwei Gläsern Gin wieder beruhigt hatte, setzte sie sich zu ihren zwei Beschützern und schaltete den Fernseher um. Irgendeine romantische Komödie auf Russisch. »Kommt«, sagte Alexej und deutete auf das obere Stockwerk. »Ich zeige euch eure Zimmer.« Neugierig, was er uns gleich zeigen würde, trugen wir die Koffer und Taschen hoch und folgten ihm. Die obere Etage war mit Teppich ausgelegt und vermittelte ein heimisches Gefühl. Das Haus meiner Eltern hatte denselben Charme. Etwas in die Jahre gekommen, aber irgendwie gemütlich. Alexej lief den schmalen Gang entlang und öffnete eine Tür. »Hier ist das Bad«, sagte er monoton und ging direkt weiter. Danach öffnete er erneut eine Tür. »Hier könnt ihr schlafen. Es ist nicht viel, aber für ein paar Nächte wird es reichen.« »Ein paar?«, fragte ich nach und spähte in den Raum. Zwei Betten – vermutlich für Kinder einer Familie gedacht – standen sich gegenüber in einem sonst kleinen Zimmer. Ein Fenster in der Mitte ließ das fade Mondlicht eintreten. »Das Boot muss noch fertig gemacht werden«, sagte er und ging bereits wieder aus dem Raum. »Und die Pässe?«, fragte Ethan und stellte seinen Gitarrenkoffer ab. »Brauchen wir wohl nicht mehr«, murmelte ich und hob die Schultern. »Aber das klären wir noch.« Alexej antwortete darauf nicht, sondern ging einfach wieder wortlos runter. Er ließ uns alleine im Zimmer stehen. »Dein Freund ist ja nicht gerade herzlich«, seufzte Ethan, als ich die Tür geschlossen hatte. »Ein ganz schöner Grobmotoriker.« Ich sah etwas missmutig auf meine drei Koffer. Vielleicht sollte ich wirklich etwas aussortieren. Da war viel Zeug drin, von dem ich nun wusste, dass ich es nie brauchen werde. Jedenfalls nicht auf der Flucht vor dem Geheimdienst. Langsam öffnete ich eine Tasche, leerte sie aus und sortierte die Dinge, die mir wichtig waren und die ich dalassen konnte. Darunter meine Nagelpflege. Tschüss, schöne Hände. »Wenn er mit mir alleine ist, ist er ganz anders«, murmelte ich und packte weiter meine Sachen aus. Ethan schälte sich aus seinen Trainingssachen und stand in Unterhose im Raum. »Was auch immer«, sagte er und legte sich in ein Bett. »Gehst du schon schlafen?«, fragte ich verwundert und sah ihn mit großen Augen an. »Ich bin müde… das heute war sehr anstrengend und wenn ich ehrlich sein soll: ich habe gerade keine Lust mich mit den Russen zu unterhalten.« Ich verdrehte die Augen und schob meinen gepackten Koffer beiseite. Die anderen beiden halbleeren Koffer würde ich wohl dalassen. »Du weißt, dass du die nächsten Wochen, wenn nicht Monate, mit den Menschen unten verbringen wirst?« »Weiß ich, Kyle«, gähnte Ethan und drehte sich auf die Seite, sodass ich nur noch seinen Rücken sehen konnte. »Ich will einfach nur weg.« Da verstummte ich und musterte seinen Rücken. Was auch immer mit Ethan passiert war, er war sich seiner wohl sicher. Auch wenn seine Bereitschaft England zu verlassen mehr nach einer Verzweiflungstat roch. Noch immer flüsterte mir ein kleiner Teil in die Ohren, dass er vielleicht noch für Freya arbeitete und uns alle im letzten Moment auffliegen lassen würde. Aber die Einsatzkräfte haben auch auf ihn geschossen. Wie weit würde er tatsächlich gehen, sollte er mir verraten wollen? Ich entschied mich gegen das Bett und verließ den Raum. Langsam schloss ich die Tür und ließ Ethan schlafen. Mit vorsichtigen Schritten ging ich wieder runter ins Wohnzimmer. Alle unterhielten sich auf Russisch. Da konnte ich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mitreden. Ohne Augenkontakt mit irgendjemandem aufzunehmen, schlich ich in die Küche und holte mir ein neues Glas aus dem Schrank, um es mit Leitungswasser zu füllen. Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Dann noch einen. Mein Blick war auf dem Wasserhahn festgeklebt. »Alles in Ordnung?«, hörte ich Alexej hinter mir fragen. Schnell drehte ich mich um und lächelte ihn an. »Ja, ich denke schon«, säuselte ich und erhaschte dann doch einen kurzen Blick zu Irina und den anderen beiden. Sie sah durchdringend zu uns beiden und beobachtete wohl, wie wir uns verhalten würden. Mein Puls wurde schneller und ich hatte erneut das Gefühl von den Eltern meiner ersten Freundin beobachtet zu werden. »Du denkst? Ist es wegen Ethan?«, fragte mein Freund und kam noch ein Stück auf mich zu. Er küsste mich sanft auf die Wange, als ich nicht sofort antwortete. »Oder wegen Irina?«, flüsterte er zusätzlich in mein Ohr. Ich schmunzelte und drehte meinen Kopf, sodass meine Nase an seinen Bartstoppeln entlangrieb. »Ein bisschen von beidem… Und einfach die Unsicherheit, die vor uns liegt. Ich habe ein ungutes Gefühl bei allem.« »Nicht nur du«, murmelte er und drückte mir einen schnellen Kuss auf die Lippen. Irinas Blick blieb weiterhin auf mir haften. Schließlich entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie sah wieder zum Fernseher. War das nun das Zeichen der Zustimmung? Oder der Toleranz? Akzeptanz? »Schläft Ethan schon?«, fragte Alexej, während er sich erneut ein halbes Glas Wodka einschenkte. »Ja, er war müde«, bestätigte ich und sah dabei zu, wie Alexej auch mir etwas Wodka in das Wasserglas kippte. Er grummelte irgendetwas vor sich hin, was ein Ja oder Aha hätte sein können, und trank dann seinen Alkohol. Ich seufzte leise und nippte an meinem Glas. Nach wenigen Momenten führte er mich zu den anderen, sodass wir alle auf dem Sofa saßen und fernsehen schauten. Es hatte etwas vertrautes, dass ich dabei sein durfte. Umso mehr fühlte ich mich schlecht für Ethan, dass er das fünfte Rad am Wagen war. Immer wieder unterhielten sie sich auf Russisch, sodass ich weder den Fernseher noch die Leute um mich herum verstand. Irgendwann legte Alexej einen Arm um mich und drückte mich an sich. »Auf unserer Reise wirst du etwas Russisch lernen«, verkündete er und lächelte mich mit einer gewissen Selbstzufriedenheit an. »Nicht viele Russen können gutes Englisch. Jedenfalls nicht da, wo wir viel unterwegs sein werden.« »Oh je«, seufzte ich und presste die Lippen aufeinander. »So schwierig ist das nicht«, brachte sich auf einmal Irina ein. Sie hatte ihre Beine an die Brust gezogen und lehnte in ein großes Kissen. »Die einfachen Umgangsformen wirst du schnell lernen.« »Mal schauen«, kam Alexej dazwischen und erklärte dann irgendetwas von Fällen und Vergangenheitsformen und dass es einen Unterschied machte, ob ich zu einer Frau oder einem Mann sprach. Mein Gesicht wurde bleich und ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich einfach so mal eben eine neue Sprache und Schrift lernen würde. Doch alle waren auf einmal sehr zuversichtlich, sodass es mich am Ende etwas ansteckte. Nachdem unsere Konversation etwas aufgetaut war, fragten sie mich tatsächlich etwas aus. Wie mein Privatleben so war, wie es beim MI6 war und wieso ich jetzt hier bin. Wieso Ethan da war und wieso wir beide nun bereit waren, alles hinter uns zu lassen. Als mein Blick sehnsuchtsvoll zu Alexej ging und ich anfing mit »Ich kann nur für mich sprechen, aber« tat Irina bereits so, als würde sie erbrechen müssen. »Schon verstanden«, winkte sie ab und verdrehte die Augen. »Die ganz große Liebe. Schon klar.« Alexej warf ihr einen bösen Blick zu, doch ich musste Schmunzeln. Sie klang nicht wirklich dagegen. Vermutlich wollte sie einfach nur zum Ausdruck bringen, dass es viel zu kitschig war. Der Abend verging recht schnell, als wir uns so unterhielten. Irgendwann spürte ich doch die Müdigkeit in meinen Knochen, sodass ich in Alexejs Arm einnickte. Erst, als der Fernseher ausgeschaltet wurde und damit das einschläfernde Hintergrundgeräusch verschwand, wachte ich wieder auf. Alexej erhob sich vorsichtig vom Sofa und nahm mich an die Hand. Die beiden Männer, dessen Namen ich irgendwie noch immer nicht erfahren hatte, blieben wohl im Wohnzimmer und behielten die Lage im Auge. Irina ging zu erst ins Bad, danach huschten Alexej und ich rein. Kaum, als die Tür zu war, küssten wir uns leidenschaftlich. »Ich bin froh, dass du hier bist«, hauchte er in mein Ohr, während er an meinem Hals entlang küsste. »Und dass dir nichts passiert ist.« Er drückte mich mit seinem Gewicht gegen das Waschbecken, sodass ich bin an ihm festklammern musste, um nicht nach hinten über zu kippen. »Ich bin auch froh, hier zu sein. Es ist toll, dass Irina so langsam auftaut.« Da verdrehte er die Augen, als hätte ihr Name die gesamte Stimmung ruiniert. »Sie ist eine kleine Diva, die zickig wird, wenn sie nicht das bekommt, was sie will. Aber eigentlich ist sie eine tolle Frau. Manchmal etwas exzentrisch, aber… damit solltest du klarkommen.« Ich kicherte. »Jahrelange Übung.« Erneut vereinten wir unsere heißen Münder und spielten mit unseren Zungen. Alexej griff sofort nach meiner Hüfte und hob mich hoch. Mit einem großen Ausfallschritt stemmte er mich auf eine kleine Kommode. Noch bevor wir uns die Kleidung vom Leid reißen konnten, stoppte ich. »Soll ich mich erst um deine Wunden kümmern?«, fragte ich zwischen den heißen Küssen. Alexej negiert sofort und griff nach meinem Shirt. »Wollen wir es tatsächlich hier im Bad machen?«, säuselte ich vor Erregung. Nicht, dass wir nicht schon an sehr viel schrägeren Orten Sex gehabt hätte, aber die Anzahl an schönem Sex in einem Bett war weitaus in der Unterzahl. »Ich teile mir mit Irina ein Bett«, seufzte er schließlich gegen meine erhitzte Haut. »Da können wir nicht hin. Und in dein Bett auch nicht. Da ist dein Freund.« Ich seufzte resigniert auf und presste die Lippen aufeinander. »Na schön, dann eben hier.« Es war wie immer göttlich. Er liebkoste mich an jeder erdenklichen Stelle meines Körpers und fingerte mich ausgiebig. Mittlerweile wusste ich, dass es ihm Spaß bereitete. So lange und so viel Vorbereitung war nun wirklich nicht nötig, auch wenn er größer als der Standard war. Als er endlich in mich eindrang und wir beide uns wie in Ekstase aneinander rieben, hörte ich hin und wieder Schritte vor der Tür. Doch Alexej ließ mir wenig Spielraum zum Denken, während er in mich reinstieß. Ich krallte mich an seinen nackten Oberkörper und biss kurz vor meinem Orgasmus liebevoll in seinen Nacken. Er stöhnte tatsächlich zum ersten Mal laut auf und rammte mich fast von der Kommode. Ich stöhnte seinen Namen, als ich kam und warf dabei den Kopf nach hinten. Er küsste mich so lange und so feste auf den Hals, bis ich einen blutroten Fleck hatte. Schließlich kam auch er in mir mit einem lauten Seufzer. Wir verharrten noch einige Minuten in einer tiefen Umarmung, bis er aus mir herausrutschte und wir für weitere Minuten die Schweinerei aufwischen mussten. Dabei kicherten und lachten wir wie zwei frisch Verliebte. Es war schön. Und irgendwie war es perfekt, obwohl es das eigentlich nicht sein sollte. Als jeder von uns noch einmal auf Toilette war und wir beide uns die Zähne geputzt hatten, als wären wir schon seit Jahren zusammen gewesen, verließen wir das Bad und verabschiedeten uns mit einem intensiven Kuss für die Nacht. Doch in dem Moment, wo ich mein Zimmer betreten wollte, kam Alexej mit großen Schritten auf mich zu. Ohne ein Wort zu sagen öffnete er hektisch die Tür zu Ethans und meinem Zimmer, welches im dunkeln lag. Man sah im faden Licht von draußen meinen Freund ruhig auf dem Rücken schlafen. Im anderen Bett lag Irina. Alexej sagte irgendetwas auf Russisch. Vermutlich fluchte er gerade. »Irina?«, flüsterte ich in die Stille des Raumes. »Ich will schlafen, gebt endlich Ruhe«, murrte sie in ihr Kissen und drehte sich noch weiter in die Decke ein. Noch ehe ich ein leises Was? sagen konnte, drückte mich Alexej raus und schloss die Tür. »Das… hat sie für uns gemacht?«, fragte ich leise, als wir etwas verlegen im Flur standen. »Anscheinend«, murmelte Alexej und nahm mich an die Hand. »Gehen wir schlafen.« Natürlich musste ich sofort an die verpasste Chance denken, dass wir im Bett hätten Sex haben können, doch ehe wir die Tür geschlossen und wir beide uns komplett nackt unter die Decke gelegt hatte, begannen die heißen Küsse von vorne. Alexejs Stamina war jedenfalls enorm beeindruckend. Erneut liebten wir uns, als hätten wir das nicht vor ein paar Minuten bereits getan. Seiner Wunde schien es sehr viel besser zu gehen – jedenfalls ließ er sich dieses Mal nicht so einfach reiten. Es endete sogar fast in einem kleinen Kampf, bis ich mich endlich mal nach oben gearbeitet hatte. Über seine Angst, während des Sexes erstochen zu werden, mussten wir noch einmal reden. Denn so tief, wie er kam, wenn ich ihn ritt, kam er sonst nicht. Und es fühlte sich fantastisch an. Nachdem wir erneut intensiven Sex gehabt hatten, schliefen wir tatsächlich ein. Vermutlich verfluchte uns Irina in ihren Träumen, da wir alles andere als ruhig gewesen waren und sie vermutlich für weitere Minuten nicht einschlafen konnte. Von Ethan wusste ich, dass er schlief wie ein Stein. Die anderen beiden würden vermutlich kein Wort über schwulen Sex verlieren. Denn eigentlich – so musste ich mir eingestehen – war Russland nicht unbedingt das beste Land für eine homoerotische Beziehung. Nichtsdestotrotz konnte ich es kaum erwarten, dass mir Alexej seine Heimat zeigen würde. Kapitel 22: Die letzte Reise ---------------------------- Wir wurden durch Irinas laute Stimme im Haus geweckt. Sie regte sich wieder einmal über etwas in Russisch auf und lief mehrmals an unserem Zimmer vorbei. Vermutlich war es die Retourkutsche für unseren nächtlichen Krach. Doch weder Alexej noch ich wollten aufstehen. Mir taten die Knochen und die Muskeln von der gestrigen Flucht weh und Alexej schmerzte noch immer die Schusswunde. Meine Schulter hielt sich erstaunlich ruhig. Ich wurde wirklich gut von ihm verarztet. »Es war auch nur Streifschuss«, murmelte er mir entgegen, während wir noch nebeneinander lagen und uns ansahen. Die Decke hielt uns warm, während er liebevoll über meinen Arm und Rücken strich. »Im Grunde hätte ich es sogar nicht nähen müssen. Aber so bekommst du wenigstens nur eine kleine Narbe.« »Danke«, flüsterte ich halb in das Kissen, halb in sein Gesicht. Während ich so mit seinen etwas krausen Haaren spielte, dachte ich an all die Wunden, die ich bekommen hatte – und die, die ich nicht bekommen hatte. »Damals«, begann ich, doch brach gedankenverloren meinen Satz ab. Alexejs Augen öffneten sich um ein Stück mehr. »Damals?« Ich lächelte sanft, während ich noch immer mit seinen Spitzen spielte und dabei den Augenkontakt vermied. »Als wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Was ist dir da durch den Kopf geschossen?« »Das erste Mal habe ich dich in deinem Auto sitzen sehen. Du kamst mir sehr suspekt vor«, erzählte er ruhig und musterte mein Gesicht. »Beim zweiten Mal hast du auf Sergej geschossen. Das fand ich weniger witzig.« Als sein Gesichtsausdruck dunkler wurde, sah ich ihm tief in die Augen. Ich traute mich gar nicht zu fragen, tat es natürlich trotzdem. »Wolltest du mich tatsächlich umbringen?« Alexej schwieg und seine Miene war unergründlich. Nur in seinen Augen spiegelte sich eine gewisse Kälte wieder. »Ja«, sagte er schließlich sehr überzeugend. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, den ich versuchte zu verstecken. Vermutlich gelang es mir nicht besonders gut, denn Alexejs Augen wurden sofort wärmer. »Aber nur dieses eine Mal. Danach habe ich dich im Center besser kennen gelernt und ich hatte das Gefühl, dich zu töten würde meiner Seele nicht die Ruhe geben, die der Akt anfänglich versprechen würde.« »Wie bist du eigentlich so schnell an den Job gekommen?«, versuchte ich das Thema zu wechseln. Zu wissen, dass Alexej Wolkow mich eigentlich töten wollte, machte mich irgendwie nervös. »Die Stelle war noch offen«, sagte er monoton und hob beide Augenbrauen, als wäre das die Erklärung für alles. »Du hättest ja auch einen wesentlich subtileren Job annehmen können, oder? Wie… Techniker. Oder Putzhilfe. Oder in einem Shop als Verkäufer.« Da grinste er breit. »Ich habe nicht immer gelogen, Kyle. Ich liebe Kinder. Und ich mochte den Job sehr.« »Oh, Gott«, seufzte ich lachend und musste mich etwas wegdrehen, um dem bösen Killer nicht direkt ins Gesicht zu lachen. »Es steckt also eine große Prise Santa in dir?« »Fünfzig, fünfzig würde ich sagen«, zwinkerte er mir zu. »Wenn ich arbeite, kann ich es mir nicht leisten, lieb und nett zu sein. Außerdem kann ich meine Herkunft und Erziehung nicht völlig verstecken. Sie kommt immer wieder durch. So wie alles, was man im Leben erlebt hat. Wir werden geprägt durch die Dinge, die wir erfahren. Das kann man nur selten beeinflussen. Ich schätze mein Drang nach Frieden, Liebe und einer Familie ist der Tatsache geschuldet, dass ich schon sehr früh all das nicht mehr hatte und jetzt versuche, dieses Bedürfnis zu stillen.« Während er redete, fragte ich mich, was damals alles passiert war. Wieso hat man seine Eltern genau umgebracht? Wieso ist er zur Mafia? Worum ging es da eigentlich? Wie sind sie mit ihm umgegangen? Woher kommt sein Blutdurst? Doch ich schluckte alle Fragen runter. Irgendwann werde ich sie fragen. Irgendwann, wenn seine Bedürfnisse nach Frieden, Liebe und Familie gestillt worden sind. Da ich nicht wusste, wie ich sonst reagieren sollte, lächelte ich ihn einfach nur an. Alexej wusste gut mit meiner seltsamen Art umzugehen, also streichelte er meine Wange, während er mir tief in die Augen sah. »Es ist gut, dass du beide Seiten an mir magst.« »Das tue ich«, stimmte ich zu und lehnte mich in seine Berührung. »Und ich will noch mehr von dir kennenlernen. Obwohl ich sehr großen Respekt vor dir habe, wenn du im Tötungsrausch bist, muss ich ehrlich sagen.« »Du hast mich in noch keinem Rausch erlebt«, konterte Alexej und hinterließ eine vibrierende Stimmung in der Luft. »Oh«, war dann noch alles, was ich herausbekam. Ich blinzelte einige Male, bis ich mich langsam aus dem Bett erhob. Mein Respekt formte sich allmählich zur Angst. Alexej war noch immer ein gefährlicher Mann, auch wenn ich ihn bereits in seinen intimsten Momenten sehen durfte. So richtig bröckelte die Fassade nämlich noch nicht. Selbst jetzt, wo er so neben mir lag, hatte ich das Gefühl in eine Maske zu schauen. Eine Maske voller Härte und Ausstrahlung, die niemanden hinter sich blicken lässt. Ob er tief drinnen mehr Santa war, als gedacht? Vielleicht musste er die diese Fassade in all den Jahren aufbauen, um sich selbst du schützen. Das Metier, in dem er unterwegs war, schien sehr viel härter zu sein, als das, in dem ich unterwegs war. Seine Narben sprachen fast ganze Bände. Langsam erhob sich auch Alexej und zog sich an. Ohne ein Wort zu verlieren huschte er aus dem Zimmer und ging ins Bad. Ich zog mich ebenfalls an und schlurfte schon einmal nach unten. Dort saßen Irina und Ethan am Esstisch und unterhielten sich. Zu meiner Überraschung sogar sehr freundlich. Locker. Ungezwungen. »Guten Morgen«, begrüßte mich Ethan mit einem leichten Lächeln und zog einen Stuhl neben ihm beiseite. »Kaffee?« »Morgen«, murmelte ich und setzte mich neben ihn. »Wie lange seid ihr schon wach?« Ethan schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und schob sie mir rüber. »Seit einer Stunde«, antwortete Irina und fummelte an ihren Zigaretten. »Wir haben heute viel zu erledigen. Alexej soll endlich das Boot fertig machen. Das Haus hier nervt mich.« »Es ist definitiv besser als das Boot, Irina. Genieß die letzten Nächte in einem anständigen Bett«, scherzte Ethan und zwinkerte ihr sogar zu. Irina verdrehte die Augen und kicherte amüsiert. Hola, das ging aber schnell. In dem Moment kam auch Alexej runter und stapfte sofort in die Küche, um sich ein trockenes Stück Brot in den Mund zu drücken. Er kaute es auf halber Strecke zum Ausgang. »Gehst du das Boot vorbereiten?«, fragte Irina ungeduldig und stand ebenfalls auf, um eine rauchen zu gehen. »Ja«, brummte er und zog sich seine Schuhe und Jacke an. Auf einmal war er wieder der kalte, unnahbare Mann. Den Wechsel seiner vielen Persönlichkeiten hatte er wirklich gut drauf. Mal sehen, wann es anstrengend für mich werden würde, sie zu unterscheiden. »Gut, kannst du dann noch ein paar Sachen mitbringen, wenn du wieder kommst? Hab dir auch eine Liste gemacht«, sagte sie und deutete auf die Kücheninsel, wo tatsächlich ein weißer Zettel lag. Alexej beäugelte ihn kurz, bis er ihn mit einem zustimmenden Brummen einsteckte. Schließlich griff er zur Haustür und stapfte ohne weitere Worte raus. Nicht einmal ein Tschüss oder Bis bald. Der Mann war mir immer noch ein Rätsel. Ethan sah mir meine Enttäuschung wohl an. »Habt ihr Streit?«, fragte er neugierig und schlürfte lautstark an seinem Kaffee. »Nein«, seufzte ich und trank ebenfalls einige Schlucke. »Er ist einfach so.« »Das ist er tatsächlich«, stimmte Irina zu und verschwand auf die Terrasse, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die zwei Männer folgten ihr gemächlich und rauchten ebenfalls. »Puh, wenn ich die alle rauchen sehe, bekomme ich auch wieder Lust auf eine«, seufzte Ethan und sah sehnsüchtig nach draußen. »Wenn du dich zu Irina stellen willst, kannst du das sicherlich auch einfach so tun.« Da sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wieso sagst du sowas? Ich freunde mich nur mit ihr an, weil wir die nächsten Wochen und vielleicht Monate zusammen verbringen werden. Außerdem hat sie heute Nacht in deinem Bett geschlafen. Hat dir freiwillig das Doppelbett überlassen, damit du mit deinem Lover pennen kannst. Fand ich sehr nobel von ihr.« »Ja, wie nobel«, wiederholte ich wie ein Papagei und starrte dabei in meine Tasse. Niemand hatte sie darum gebeten, uns das Bett zu geben. Ein Dankeschön würde sie vorerst nicht bekommen. Vielleicht irgendwann, wenn die ganze Situation sich beruhigt hätte. Dass sich Alexej nicht verabschiedet hatte, ging mir etwas auf den Magen. Aber was sollte ich schon machen? Er würde ja in ein paar Stunden wiederkommen. Der Vormittag verging schneller als gedacht. Ethan telefonierte über sein Prepaidhandy und mit unterdrückter Nummer mit dem Chinesen, der uns eigentlich die Pässe hätte machen sollen. Es stellte sich heraus, dass er sogar liefern würde, solange wir ihm sagen, wohin. Bilder und Ausweisdaten könnte er sich selber aus dem Datennetzwerk der Regierung holen. Einzig mit den russischen Vertretern unserer Freunde hätte er Probleme, aber auch da würde er jemanden finden, der ihm helfen könnte. Alles natürlich für einen gewissen Preis. Gott, das war alles so furchtbar mitanzuhören, wie einfach es heutzutage immer noch war, gefälschte Papiere zu kriegen. Ethan telefonierte lange, bis Irina sich einschaltete und ihm dazwischen redete. Über was genau sie sprachen, konnte ich nicht raushören, aber Irina schien sich wesentlich sicherer zu fühlen, wenn sie mit noch einem sicheren Pass in den Händen aufs Boot gehen könnte. Worauf sie sich letztendlich geeinigt hatten, wusste ich nicht. Gegen Nachmittag wurde es auf einmal ruhig. Für meinen Geschmack etwas zu ruhig, auch wenn ständig der Fernseher mit irgendeinem russischen Programm lief. Ich ging die Räumlichkeiten auf und ab und packte erneut meine Tasche um, bis ich wieder runter ging und angespannt aus dem Fenster schaute. Nach etlichen Minuten der Stille bemerkte ich eine fehlende Person. »Wo ist eigentlich unser zweiter Russe?«, fragte ich Ethan, der am Tisch saß und am Handy spielte. Irina hatte sich im oberen Stockwerk etwas hingelegt. Den einen der beiden Herren sah ich draußen rauchen. Ethan sah sich um, als könnte er ihn in irgendeiner Ecke des Raumes erspähen. »Keine Ahnung, Klo?« »Seit einer Stunde?«, hakte ich nach und runzelte die Stirn. »Ich frag mal.« Sein Kollege teilte mir mit, dass er seinen täglichen Spaziergang durch die anliegenden Wälder machen würde. Zur Kontrolle und zur Sicherheit, dass uns niemand auf den Fersen war. Doch, dass er so lange bereits unterwegs war, stimmte auch ihn etwas nervös. Auf einen Anruf antwortete er nicht. Eine SMS blieb ebenfalls ignoriert. Nachdem wir uns für weitere 30 Minuten Sorgen gemacht hatten, schrieb ich Alexej, in der Hoffnung, er würde auf sein Handy schauen. »Ich komme« war seine sofortige Antwort. Ohne Punkt. Ohne Ausschweifungen. Mein Herz fing an schneller zu rasen. »Ist alles ok?«, fragte Ethan, als er meinen nervösen Gesichtsausdruck vernahm. »Oder ist was passiert?« »Keine Ahnung«, flüsterte ich und starrte noch immer auf den Bildschirm des Handys. »Alexej kommt zurück.« »Oh, echt? Wegen dem verschwundenen Kerl? Vielleicht ist der ja auch einfach nur –« Da platzte die Haustür auf und der verlorene Mann stolperte rein. Er blutete. Gefühlt überall. »Sie sind da«, raunte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Sie haben uns verfolgt.« Ich hatte keine Ahnung, wen er mit sie meinte, aber ich vermutete mal unseren Ex-Arbeitgeber. Und das war böse. Ganz böse. »Wie konnte das passieren? Wir haben doch aufgepasst!«, rief Ethan entsetzt und sprang vom Stuhl auf. Ich stand noch völlig bewegungslos mitten im Raum. Der Freund des blutenden Mannes kam reingestürmt und half ihm sofort auf den Füßen stehen zu bleiben. Irina kam derweil panisch die Treppe runtergerannt mit einer kleinen Pistole in der Hand. »Sind sie hier?«, schrie sie und sah sich energisch um. »Wo ist Alexej?« »Noch unterwegs«, hauchte ich in einer monotonen Stimme, während ich das Handy in meiner Hand fast zerdrückte. Sie fluchte irgendetwas auf Russisch und rannte wieder hoch. »Wir verschwinden!«, rief sie dann noch hinterher. »Ohne ihn?«, fragte ich aufgebracht, als so langsam die Realität zurück in meinen Verstand floss, doch sie hörte mich schon nicht mehr. Der verletzte Mann wurde derweil aufs Sofa geschleppt, wo er mehr oder weniger fachmännisch von seinem Freund notversorgt wurde. Nur Streifschüsse, wie es schien. Trotzdem blutete er wie ein Schwein. »Was ist Plan B?«, warf Ethan in die Runde und spähte aus den Fenstern. Wenn sie tatsächlich auf dem Weg zum Ferienhaus waren, würde es sehr schnell sehr ungemütlich werden. »Wir haben einen Zweitwagen hinterm Haus stehen. Wir packen alles ein und fahren zum Boot«, erklärte der verarztende Mann. Irina sprintete die Treppe runter – mit ihrem großen Koffer. »Holt jetzt eure Sachen, verdammt!«, schrie sie hysterisch und lief auf die Terrasse. Vermutlich zum Wagen. Die anderen beiden Männer folgten ihr. Hatten die kein Gepäck? Ethan und ich sprinteten hoch und packten unsere Kleidung zusammen. Schweren Herzens ließ ich meine zwei Koffer mit nutzlosem Zeug stehen. In letzter Sekunde sah ich auch Alexejs Tasche. Schnell kramte ich alles zusammen und nahm auch diese mit. Alles ging auf einmal so schnell und erneut fand ich mich in der Situation wieder, dass die Außenwelt ineinander verschwamm. Da waren keine klaren Details mehr. Ich wusste nicht mal, in welches Auto wir da stiegen. Wer fuhr eigentlich? Waren wir vollzählig? Hatten wir etwas vergessen? Die Türen des Wagens schlugen zu und wir fuhren mit durchdrehenden Reifen los. Ich spürte meinen Puls im Kopf pochen, während ich apathisch vor mir auf den Sitz starrte. Gemeinsam mit den beiden Männern saß ich auf der Rückbank, während Ethan den Wagen fuhr. Irina hielt noch immer krampfhaft ihre kleine Waffe in der Hand. »Das ist alles so ein Scheiß!«, schrie sie immer wieder in die sonst stille Fahrerkabine. »So ein Scheiß!« Alles prasselte nur so auf mich herab. Und meine Gedanken waren bei Alexej, der gerade auf dem Weg zum Haus war. Panisch und mit zittrigen Händen griff ich sofort nach meinem Handy und schrieb ihm, dass er beim Boot bleiben sollte. Doch auf diese Nachricht kam keine Antwort mehr. Schließlich fuhr Ethan rechts ran und hielt hinter einer kleinen Lagerhalle an. Es schien ein LKW Vertrieb gewesen zu sein. »Wieso hältst du an?«, fragte Irina nervös und musterte meinen Freund. Der hielt das Steuer noch immer wie fest, als würde sein Leben daran hängen. »Sie verfolgen uns«, murmelte er und beobachtete die Rückspiegel. »Wenn wir jetzt zum Boot fahren, werden sie uns durch die Spuren im Schnee folgen. Sie werden schneller dort sein, als wir auf See stechen. Beziehungsweise«, und da holte er tief Luft und drückte einen gequälten Laut aus, »verfolgen Sie uns dann auf den Gewässern. Wir werden ihnen ausgeliefert sein.« »Und was ist jetzt der alternative Plan?«, fügte ich mich ein und versuchte so gut es ging eine neutrale Stimme zu behalten, auch wenn mir nach Weinen zumute war. Wo war Alexej? »Keine Ahnung«, seufzte Ethan und ließ endlich das Steuer los. »Hier rum stehen und warten, dass sie uns finden, wird uns auch nicht viel bringen! Fahr wenigstens weiter!«, kreischte Irina in einer so hohen Tonlage, dass es mir Gänsehaut bescherte. Doch Ethan bewegte sich keinen Millimeter. Ich sah die Resignation in ihm steigen. Egal, wo wir sein würden, man fände uns. Wir würden vorerst nirgendwo hingehen. Ein Wagen fuhr auf einmal an uns vorbei, blieb stehen und setzte rückwärts auf den Parkplatz des LKW Vertriebs. Jeder von uns hielt die Luft an, bis ich das Auto erkannte. »Das ist Alexej!«, rief ich und stieg sofort aus. Alle schrien ein panisches Nein und versuchten mich aufzuhalten. Der Wagen blieb stehen und tatsächlich stand Alexej aus. Seine Hände waren blutig. Sein Gesicht war blutig. Alles an ihm war voller Blut. Und in der Hand hielt er eine Schrotflinte. Sein Blick war eiskalt. Mit großen Schritten kam er auf mich zu. Instinktiv blieb ich stehen und hielt den Atem an. Meine Knie fingen im Nu an zu zittern. »Du gehst sofort wieder in den Wagen!«, donnerte auf einmal seine Stimme, die mich enorm zusammenzucken ließ. »Sofort!« Er griff nach dem Lauf der Schrotflinte und zielte auf mich. Ich gab einen verzweifelten Laut von mir, bis ich schließlich die Beine in die Hand nahm und zurück zum Auto rannte. In dem Moment fielen die ersten Schüsse. Alexej feuerte an unserem Auto vorbei zur Straße hin. Dort hielten die ersten Einsatzwagen an und bildeten eine Barriere, sodass niemand den Platz verlassen konnte. »Scheiße«, rief Irina und verkroch sich in den Fußraum. »Er hat sie zu uns gebracht!« »Nein, niemals«, schaltete sich einer der beiden Männer dazwischen. »Wir haben sie mit uns gezogen. Sie waren schon nah an uns dran. Wir können froh sein, dass Alexej uns so schnell gefunden hat. Vermutlich ist er ihnen gefolgt.« »Und jetzt? Wir können nirgendwohin!«, fauchte Ethan, als er panisch nach seiner Waffe griff, die er im Handschuhfach gelagert hatte. »Konfrontation?«, schlug Irina kurz vor einem Zusammenbruch vor. Der verletzte Russe dementierte schnell mit dem Argument, dass es zu viele seien. Im nu brach eine Diskussion im Auto aus, wie wir am besten von unserem Autogefängnis entkommen würden. Doch meine Augen waren nur auf Alexej gerichtet. Wie er fast ohne Schutz mitten auf dem Platz stand und einem nach dem anderen tötete, der ihm auch nur irgendwie näher kam. Als ihm die Patronen ausgingen, griff er nach den Waffen der Toten. Schließlich näherten sich Einsatzkräfte für einen Nahkampf. Und dann geschah es. Alexej warf die Waffen weg und griff nach den Männern, um ihnen einem nach dem anderen das Genick zu brechen. Wie Luftpolsterfolie ließ er ihre Knochen knacken. Diese großen Hände, die mich schon so oft berührt und verführt hatten, waren nun voller Blut und töteten Menschen, als wäre es das Leichteste der Welt. Sein manischer Blick ging dabei durch die Landschaft und sondierten mehrmals pro Minute die Lage. Trotz seiner Schussverletzung war er jedem überlegen, der sich ihm näherte. Das mochte an seiner Körpergröße und -stärke liegen, doch tief in mir drin wusste ich, dass er aufgrund seiner Ausbildung und seinem persönlichen Blutdurst so leicht töten konnte. Die Erkenntnis stach in meiner Brust. Im Hintergrund nahm ich die Stimmen der anderen nur noch wage wahr. Alexejs Rausch ebbte erst ab, als die gegnerischen Männer die Schüsse einstellten und bei den Autos in Verteidigungsposition stehen blieben. Er verharrte ebenfalls auf seiner Position, hielt die Waffe jedoch schussbereit in die Höhe. Auf einmal stieg Freya aus einem großen Van. »Ich weiß, dass Sie hier sind Mr. Lewis. Haben Sie Mr. White auch bei sich?«, rief sie durch die eisige Kälte durch einen Autolautsprecher der Einsatzfahrzeuge. »Ich kann nur hoffen, dass Sie gerade verdeckt ermitteln, sonst muss ich Sie leider darüber informieren, dass nun auch nach Ihnen gefahndet wird.« »Diese miese Ratte«, fluchte Ethan, während er sich halb über Irina beugte, um Freya zu sehen, wie sie hinter Einsatzkräften am Auto stand und zu uns sprach. »Sie weiß ganz genau, dass wir nicht mehr für sie arbeiten. So ein Miststück.« »Ist sie das? Euer Boss?«, fragte Irina und spähte ebenfalls aus dem Fenster. »Die Frau, die mir das Leben zur Hölle gemacht hat?« »Ja, das ist die Frau«, sagte ich monoton und stierte ebenfalls nach draußen. Ihr Anblick machte mich krank. Für einen Moment sogar kranker als Alexejs Tötungswahn. »Sie hat unser aller Leben zur Hölle gemacht.« »Mrs. Iwanowna«, begann Freya noch einmal zu uns zu sprechen. »kommen Sie mit erhobenen Händen raus und wir versprechen, dass niemand Schaden nehmen wird. Alle anderen sollen das Feuer einstellen. Auch Sie, Mr. Wolkow.« Wir alle lachten im Auto sarkastisch auf. Die Lüge erheiterte uns enorm. »Niemals«, hauchte Irina schließlich und schüttelte den Kopf, als könne Freya sie sehen. »Sie sind umstellt. Sollten Sie sich weigern, friedlich aufzugeben, sind wir gezwungen, Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen. Gegen Sie alle.« Ich presste meine Lippen zusammen. »Also will sie uns töten. Sie wird gleich den Befehl rausgeben, dass man uns bei Sichtkontakt erschießen darf.« Ethans Atem wurde auf einmal flacher. Erneut trag Resignation ein. »Also war’s das?« »Auf keinen Fall«, brummte der verletzte Mann im Auto. »Solange Alexej sich bewegen kann, wird niemand auch nur in die Nähe von uns kommen.« »Wir können ihn nicht alleine ins Schlachtfeld schicken«, dementierte ich und fühlte meinen Puls erneut beschleunigen. »Wir müssen ihm doch irgendwie helfen!« »Wie denn?«, keifte Irina und drehte sich aggressiv zu mir um. »Keiner von uns kann so gut zielen wie er! Geschweige denn sich gut genug prügeln, um überhaupt für einige Sekunden eine Chance zu haben! Wir wären alle innerhalb von Minuten tot. Das hier ist kein Suizidkommando!« »Doch, irgendwie ist es das geworden«, quetschte ich durch meine Lippen. Als nach mehreren Momenten nichts passierte, seufzte Freya laut in ihr Mikrofon. »Feuer.« Alle schossen gleichzeitig auf uns und Alexej. Der sprintete sofort zurück zum Auto und schützte sich durch herumliegende Leichen. Er packte sie einfach in die Höhe und benutzte sie als Schutzschild. Daran zu denken, dass diese Männer auch alle Familien und geliebte Menschen hatten, ließ meinen Magen drehen. Aber vermutlich war das ein Berufsrisiko, was jeder einging, der im offenen Einsatz beim Spezialeinsatzkommando arbeitete. Wenn Alexej Wolkow noch im Spiel war, wusste doch sowieso jeder, wohin das führen würde. In ein Schlachtfeld voller Toter. Alexej stieg zurück in seinen Wagen, mit dem er gekommen war, und fuhr los, obwohl mehrere Löcher in das Blech geschossen wurden. »Was hat er vor?«, murmelte Ethan, als er so wie wir alle Alexej dabei beobachtete, wie er mit voller Kraft in die Wagen fuhr, die uns den Weg versperrten. Die bewaffneten Männer sprangen zur Seite und machten Platz, sodass Alexej gleich noch einmal zurückfuhr und mit voller Wucht erneut in die Einsatzwagen krachte. Durch die relativ glatten Straßen schob er sie einfach beiseite. Noch ein letztes Mal und er würde es raus schaffen. »Das ist unsere Chance!«, rief Irina und knuffte Ethan mehrmals in die Seite. »Fahr los! Folge ihm!« Ethan griff hektisch nach dem Schlüssel und startete den Motor. Einzelne Männer schossen schließlich auf uns, als sie merkten, dass wir uns ebenfalls bewegten. In dem Moment, wo Alexej erneut auf der Straße war, folgte Ethan ihm mit quietschenden Reifen. Wir alle wurden mehrmals durchgeschüttelt. Mein Kopf knallte sogar ein paar Mal gegen die Scheibe. Alexej fuhr wie eine Furie durch den dichten Schnee. Wir befanden uns schnell auf einer langen Landstraße, die ins Nichts zu führen schien. Wir folgten ihm, so gut es ging, obwohl die Wetterverhältnisse die Flucht enorm erschwerten. Gott sei Dank erschwerte es auch die Verfolgung, sodass zwischen Einsatzwagen und uns noch ein gutes Stück lagen. Trotzdem würden sie uns sofort finden. Das Auto machte genug Spuren im Schnee, dass selbst ein Laie uns zurückverfolgen könnte. Ich glaubte sogar in der Ferne einen Hubschrauber gehört zu haben. Mein Blut kochte. Mein Kopf tat weh. Alle Muskeln waren angespannt. Und ich dachte zu jeder Sekunde, in der Alexejs Auto für einen Moment aus unserem Sichtfeld verschwand, dass es das war. Dass er sterben würde und wir gleich mit. Auf einmal lenkte er in einen Wald. Der Schnee war dort noch höher, sodass wir uns nicht sicher waren, ob wir folgen sollten. Doch Ethan gab sein Bestes und blieb ihm auf den Fersen. Die Einsatzkräfte taten dasselbe. Der Hubschrauber verlor jedoch sofort Sichtkontakt. Schließlich blieb Alexej auf einer kleinen Lichtung stehen. Seine Motorhaube hatte angefangen zu qualmen. Der mehrmalige Aufprall gegen die anderen Wagen hatte das Auto wohl zerstört. Wir stoppen ebenfalls und rückten sofort zusammen, damit er einsteigen konnte. Stattdessen öffnete er aggressiv die Fahrertür und sah uns alle finster an. »Aussteigen«, befahl er und ging ohne eine Antwort abzuwarten um das Auto und öffnete den Kofferraum. Einige Schüsse hatten unser Gepäck zerstört, doch er griff trotzdem nach unseren Taschen und warf sie in den Schnee. Wir alle verharrten für einige Sekunden im Wagen, bis Irina ausstieg und ihren Cousin anpflaumte. Auf Russisch natürlich. Ich verstand kein Wort. Alexej pflaumte zurück und die beiden fanden sich in einem Streit wieder. Plötzlich fing Irina an zu weinen. Sie sagte nichts mehr, sondern weinte einfach drauf los. Etwas panisch stiegen dann auch die beiden anderen Männer aus und griffen nach Irina. Sie unterhielten sich wesentlich ruhiger mit Alexej, doch waren nicht weniger schockiert. Da stieg ich dann auch aus. »Was ist los? Steig ein, wir müssen weiter«, sagte ich angespannt und deutete auf die offenstehenden Türen des Wagens. »Nein«, antwortete Alexej bestimmend und drückte mir meinen Koffer in die Hand. »Ihr geht. Ich fahre.« »Bitte was?«, hauchte ich und dachte für einen Moment, er würde uns Freya ausliefern. Doch ehe ich mich selbst hinterfragen konnte, wieso ich denke, dass Alexej das tun würde, erklärte er sich selbst. »Sie werden das Auto weiter verfolgen. Ihr Fokus wird auf mir liegen. Ihr werdet genug Zeit haben zum Boot zu gehen. Wir sind nah genug dran. Vielleicht eine halb Stunde Fußmarsch, nicht länger. Es ist noch nicht alles vorbereitet, aber es wird für den Anfang reiche.« »W-was?«, ging Ethan dazwischen, der mittlerweile auch ausgestiegen war. »Du willst… nicht mitkommen? Verstehe ich das richtig?« »Ich werde euch folgen, sobald ich die Möglichkeit dazu haben werde«, brummte er entschlossen und knallte eine Tür nach der anderen zu. Ich starrte ihn ungläubig an, während Irina sich noch immer nicht beruhigt hatte. »Wir werden auf offener See sein – wie willst du da zu uns stoßen? Du wirst sterben«, hauchte ich und dachte schon, dass Alexej mich nicht gehört hatte, als ich wiederholte: »Du wirst sterben!« »Werde ich nicht!«, brüllte er zurück. »Und jetzt verschwindet ehe sie hier sind! Ich muss weiterfahren!« In dem Moment hörten wir tatsächlich schon die Sirenen. Irina drückte Alexej noch einmal feste und verschwand schließlich mit ein paar russischen Wörtern in den schützenden Schnee der Bäume. Die beiden Männer folgten ihr wie zwei Leibwächter und gingen sicher, dass sie gut versteckt war. Ethan stand noch zwischen uns, griff dann aber auch nach meinem Koffer und wollte den anderen folgen, als ich ein klares Nein aussprach. »Kyle, wenn du hier weiter rumstehst, gefährdest du uns alle! Komm jetzt!«, rief Ethan und entzog mir mit Gewalt den Koffer. Schließlich hechtete er zu den anderen. Alexej schnaubte angespannt aus und ging zur Fahrerkabine. »D-Du gehst wirklich? Einfach so?«, stotterte ich aufgebracht und spürte dann auch die erste Träne über meine Wange fließen. »Wieso tust du das? Bleib doch bei uns, wir kriegen das hin und dann –« »Nein, werden wir nicht«, rief Alexej und kam gewaltige Schritte auf mich zurück. »Ich habe Irina versprochen, dass ich sie sicher nach Russland bringen werde. Das schaffe ich jetzt vielleicht nicht, aber du wirst es schaffen. Ich will, dass ihr sicher seid. Und dafür sorge ich jetzt.« »Aber«, begann ich und griff nach Alexejs dicker Jacke. Die Einsatzkräfte kamen immer näher. »Dann komme ich mit dir!« »Nein, Kyle«, verneinte Alexej sofort meinen Vorschlag. »Ich will, dass du auch in Sicherheit bist. Das bist du an meiner Seite jetzt nicht.« »Du wirst sterben«, hauchte ich. »Sie werden dich umbringen…« »Hab Vertrauen«, sagte er auf einmal sanfter und griff nach meiner Wange. Sein Blick wurde für einen Bruchteil einer Sekunde weich. Da waren die Augen des Mannes, der sich unsterblich in mich verliebt hatte und bereit war, nicht nur seine Mission, sondern auch sein Leben für das Wohl anderer herzugeben. Für mein Wohl. »Wir werden uns wiedersehen, versprochen«, sagte er, als ich nicht antwortete, sondern nur krampfhaft an seinem Arm hing. »Warte auf mich.« Ich schniefte und zog lautstark die Nase hoch, während Tränen über meine Wangen wie Wasserfälle flossen. Du wusstest genauso wie ich, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass du sterben würdest. Du hattest ein ganzes Einsatzkommando im Nacken. Trotzdem warst du der Überzeugung, dass wir uns wiedersehen würden. Mit deinem Daumen strichst du meine Tränen weg. Auf einmal blieb die Zeit stehen und ich konnte nur hoffen, dass alles, was du gesagt hattest, der Wahrheit entsprach. Dass du nicht logst, nur um mich zu beruhigen und mich zum Gehen zu bringen. Dir lag meine Sicherheit sehr am Herzen und ich wusste, dass du alles tun würdest, um mich und alle anderen über die Grenze zu kriegen. Selbst, wenn es unsere Trennung bedeuten würde. Du beugtest dich zu mir vor und küsstest mich sanft auf die Lippen. Eigentlich war dafür keine Zeit, aber mein Todesgriff um deinen Arm wurde nicht lockerer. Erst, als du mein Gesicht in beide Hände nahmst und mich intensiver küsstest, wusste ich, dass dir die Trennung ebenfalls nicht leicht fiel. Vielleicht würden wir uns nie wieder sehen. Schließlich ließt du mich los und sahst mir noch einmal tief in die Augen. »Warte auf mich«, wiederholtest du und stiegst schließlich in das Auto. Meine Beine waren wie festgefroren, sodass ich noch für mehrere Sekunden still am Kofferraum stand. Erst, als der Motor aufheulte und du tatsächlich wegfuhrst, spürte ich, wie ich den Blick von dir wegriss und ebenfalls in den tiefen Wald sprintete, um zu den anderen zu stoßen. Wir hechteten durch den schneebedeckten Wald Richtung Küste. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir die kleine Anlegestelle mit dem Boot fanden. Immer wieder kreisten meine Gedanken um dich. Ob du fliehen konntest. Ob sie dich gefangen hatten. Oder ob du jeden Augenblick doch noch um die Ecke kommen würdest, um mit uns zu fahren. Doch du kamst nicht. Wir alle betraten das Boot in bedrückender Stille. Irina und einer ihrer Leibwächter begannen die Segel zu setzen und starteten den kleinen Motor. Das Boot war nicht groß. Es hatte ein kleines Deck, eine Fahrerkabine und darunter einige kleine Räume, die mit Küchenzeile und Schlafplätze ausgestattet waren. Man sah, dass noch nicht genug Proviant vorhanden war, doch niemand sagte etwas. Als wir dann tatsächlich die Anlegestelle verließen und aufs offene Meer fuhren, fühlte ich meine Brust schmerzen. Ich würde nicht nur England, meine Heimat, mein altes Leben und mein altes Ich verlassen – sondern auch dich. Wir ließen dich zurück, um in ein Land zu reisen, was uns nicht weniger Stress und Ärger bot. Das war sie also. Unsere letzte Reise. Kapitel 23: Zeit ---------------- Die ersten Tage auf dem Boot waren furchtbar gewesen. Jeder von uns wurde krank und hustete und schnupfte was das Zeug hielt. So richtig warm wurde es auch nie, sodass wir mehrmals die Nächte durchfroren. Das Wasser wurde irgendwann knapp, sodass wir gezwungen waren bereits in Dänemark Rast zu machen. Ethan und ich machten uns auf, in einen nahegelegenen Conveninience Store alles Nötige einzukaufen. Zum ersten Mal seit Tagen waren wir alleine und unter uns. Ich hatte seit unserer Abreise nur sehr wenig gesprochen. Mir war nicht nach Reden gewesen. Ich fraß meinen Frust und Kummer wie immer in mich rein. Doch als wir im warmen Store standen, der gut besucht war, stellte Ethan sich dicht neben mich und begutachtete erst schweigend meine Mütze, dann mein Gesicht. »Was?«, knurrte ich und wusste ganz genau, dass er reden wollte. »Wie geht es dir?«, fragte er mit noch immer einer verstopften Nase. Die Erkältung hatte ihn am schlimmsten erwischt. »Wie immer«, murrte ich und packte mehrere Dosen Essen in den Korb. Auf Irinas kulinarische Vorlieben nahm ich keine Rücksicht. Ethan griff nach einigen Flaschen hartem Alkohol und steckte sie in seinen Korb. »Es geht ihm gut. Da bin ich mir sicher«, murmelte Ethan und suchte den Augenkontakt. Doch ich blickte stur in die Regale. Ich wollte kein Mitleid und ich wollte auch nicht, dass mir jemand erzählte, wie gut alles werden würde. Denn je mehr Tage verstrichen, in denen ich nichts von dir gehört hatte, glaubte ich nicht mehr an das Happy End. Vermutlich hatte man dir bereits eine Kugel in den Kopf gejagt. Freya traute ich alles zu. Und der Gedanke an deine kalte Leiche, die irgendwo im Wald mit aufgerissenen Augen lag, die ins Nichts starrten, ließ mich die Nächte nicht schlafen. Mehr als vier Stunden am Stück waren einfach nicht drin. In jeder bisherigen Nacht hatte ich mich um die Weiterfahrt gekümmert und das Boot geputzt. Ich musste mich ablenken. Meine Nägel waren bereits abgekaut, sodass ich andere Beschäftigungen suchen musste. Die Instandhaltung des Bootes und die Verpflegung der anderen war da noch die beste Ablenkung. Ich starrte weiter auf das Regal und ignorierte Ethan. Irgendwann verließ er meine Seite, sodass ich schweigend weiter einkaufen konnte. Sowieso mieden mich die anderen so gut es ging. Und das war auch gut so. Ich wollte niemanden um mich haben. Niemanden außer dich. Nachdem wir mit großen Einkaufstüten zurück zum Anlegeplatz gingen, sahen wir die drei am Steg sitzen und rauchen. »Ihr solltet hier nicht einfach so sitzen. Vermutlich sucht man schon international nach uns«, seufzte Ethan, als er Irina eine Packung Erdnüsse in den Schoß legte. Müde und etwas wehleidig griff sie danach und öffnete eine kleine Ecke. »Wir wollten aber auch mal etwas rausgehen. Können wir noch etwas länger hier bleiben?«, fragte sie mit großen Augen und sah zu Ethan auf. Die beiden waren sich in den letzten Tagen relativ nah gekommen. Wie nah konnte ich nicht sagen. War mir auch egal. »Nein, es ist besser, wenn wir bald weiterfahren. Wenn wir in der Nähe von Schweden sind, können wir versuchen in Stockholm für einige Zeit unterzukommen«, erklärte Ethan und stieg wieder auf das kleine Boot, um die Einkäufe zu verstauen. Ich folgte ihm einfach schweigend. »Das dauert ja noch ewig!«, seufzte Irina und schnippte ihre Zigarette weg, um sich kurz darauf ein paar Erdnüsse in den Mund zu schmeißen. Kurz darauf segelten wir tatsächlich wieder weiter. Die Tage vergingen wie im Fluge. Die meiste Zeit schliefen wir und hielten Ausschau nach feindlichen Booten und Schiffen, die nach uns suchen könnten. Doch da niemand wusste, dass wir mit dem Boot unterwegs waren, stiegen die Chancen unentdeckt zu bleiben von Meile zu Meile. Wir machten tatsächlich noch einmal Halt, als wir in Stockholm ankamen. Die Stadt war wunderschön und ich dachte oft daran, dass ich all das mit dir hätte erleben können. Gemeinsam hätten wir auf diesem kleinen Boot sitzen können – ganz nah und kuschelig. Du hättest mich nachts gewärmt, wenn es zu kalt geworden wäre. Und am Tag wären wir gemeinsam durch Stockholm gegangen und hätten uns die wundervollen Häuser angeschaut. Wir wären vielleicht auch in ein Museum gegangen, denn dein Interesse an Kunst und Ästhetik hattest du mir bereits deutlich gemacht. Irgendwann am Abend wären wir dann in ein schönes Hotel gegangen und hätten uns geliebt. Die ganze Nacht. Doch die Realität sah ganz anders aus. Wir legten das Boot im Hafen ab und suchten uns ein Mittelklassehotel. Nichts Besonderes, aber auch keine Bruchbude. Irina wollte einen gewissen Standard halten. Während Ethan und die anderen Stockholm etwas besichtigen wollten, blieb ich im Hotel und hielt die Stellung. Mir war nicht nach Sightseeing. Jedenfalls nicht ohne dich. »Etwas Bewegung würde dir gut tun«, murmelte Ethan, der Irina an der Hand hatte. Beide wollten gerade das Hotelzimmer verlassen und sahen noch einmal zu mir. »Du bist zu oft alleine mit dir selbst und deinen Gedanken.« Ich nickte einfach nur stumm und schaltete den Fernseher ein. Irgendein Kanal auf Schwedisch, den ich nicht verstand. Bis auf die Ikea Werbung kam mir nichts bekannt vor. »Komm, lass ihn«, sagte Irina sanfter, als ich von ihr erwartet hatte. »Er trauert eben noch. So lange wir nicht wissen, wo und was mit Alexej passiert ist, wird er nicht auftauen.« Zum ersten Mal, seitdem ich sie kannte, musste ich ihr Recht geben. Während die anderen weg waren, schlief ich auf dem weichen Bett ein. Es war eine schöne Abwechslung in einem richtigen Bett zu liegen anstatt auf einfachen, dünnen Matratzen auf dem Boden. Ich träumte von dir, wie du bei mir warst und mich einfach nur anlächeltest. Es war schön und doch bedrückend, denn ich wusste, dass es nicht real war. Du streicheltest meine Wange und versichertest mir, dass wir uns wiedersehen würde. So wie du es in dem Wald getan hattest. Die Erinnerung an dich wurde von Tag zu Tag schwächer. Ich konnte mir noch deine strahlenden blauen Augen vorstellen und wie deine kleinen Lachfältchen erschienen, wann immer du lächeltest. Aber was genau hast du getragen? Wie sah dein Haar aus, wenn Wind durchging? Wo waren deine Narben? Wie sahen deine Tattoos aus, die teilweise so groß und auf einmal so klein erschienen? Ich wollte nicht vergessen, aber mein Gedächtnis ließ mich im Stich. Als ich erwachte, kamen Ethan und Irina gerade wieder zurück. Sie trugen mehrere Taschen im Arm, von denen sie mir eine vor die Nase stellten. »Für dich«, sagte Ethan und lächelte mir aufmerksam zu. »Es sind einige neue Sachen dabei. Zur Tarnung. Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen.« Ich nickte als Zeichen meiner Dankbarkeit und griff in die Tüte. Tatsächlich war ein schöner Pullover dabei und ein neuer Schal. Einige T-Shirts und neue Unterwäsche. Gut, dass Ethan meine Größen so gut kannte. Woher wollte ich gar nicht wissen. Zwischen all den Sachen lag auch ein Prepaidhandy. »Wir haben hier WLAN«, sagte Irina und tippte energisch auf ihrem Smartphone rum. Noch ehe irgendjemand von uns etwas sagen konnte, kamen Irinas Leibwachen rein. Sie unterhielten sich lautstark auf Russisch und setzten sich an den kleinen Tisch im Zimmer. Mittlerweile verstand ich sogar einige Fetzen. Die Zeit, die ich auf dem Boot für mich allein verbracht hatte, blieb nicht gänzlich ungenutzt. Ich führte ein kleines Notizbuch, wo ich versuchte, mir Worte und Sätze zu merken, die wichtig erschienen. Eine ziemlich schlechte Art und Weise eine Sprache zu lernen, da ich absolut keine Ahnung hatte, ob das, was ich mir aufschrieb, tatsächlich stimmte. Aber es half in manchen Situationen die Konversationen der anderen zu verstehen. Während sich alle fröhlich über ein Restaurant unterhielten, was wir am Abend besuchen wollten, schaltete ich das Handy ein. Das alte Prepaidhandy wurde von Ethan über Bord geworfen. Ich weinte in der Nacht für mehrere Stunden still vor mich hin. Immerhin waren dort die letzten Nachrichten von dir drauf gewesen. Aber die Gefahr, dass man Alexejs Handy geschnappt hatte und mir schreiben würde, war zu hoch. Denn jeder wusste, dass ich antworten würde. Sofort. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ich wählte mich in das WLAN ein und verspürte den masochistischen Drang deinen Namen zu suchen. Meine Hände zitterten, sodass ich für einige Sekunden überlegte, ob es nicht besser wäre, dumm zu sterben. Dumm über deinen Verbleib. Dumm über deinen jetzigen Status. Doch ehe ich mich für diese Option entscheiden konnte, hörte ich Irina entsetzt seufzen. »Was ist?«, fragte Ethan und ging auf sie zu. Er starrte auf den Bildschirm vor ihr. »Alexej… man hat ihn gefasst«, hauchte sie schockiert in die Runde. Alle schwiegen auf einmal und die Luft wurde unerträglich schwer. »Er hatte fast 50 Einsatzkräfte ermordet, bis man ihn in der Nähe von Norwich fasste.« »Scheiße«, entwich es dann auch Ethan. Die anderen beiden Männer starrten nur schockiert auf den Tisch vor ihnen. »Der Artikel ist aber sehr ungenau. Sie schreiben nicht, wie sie ihn überwältigt haben. Nur, dass er jetzt im Staatsgefängnis in London sitzt«, erzählte Irina weiter. Meine Ohren fingen an zu piepsen. Ich verstand auf einmal nicht mehr, was die anderen sagten. Alles verschwand in den Hintergrund. Zu wissen, dass du nun im Gefängnis saßt – dort, wo sie auf Sergej hingebracht hätten – legte mir Steine in den Magen. Würden sie dir auch ein Bein abnehmen? Nur, damit du reden würdest? Würden sie dich quälen und foltern? Oder würden sie dich erschießen und der Presse erzählen, es sei Selbstmord gewesen. Oder… würdest du tatsächlich Selbstmord begehen? Nachdem du Sergej schon dazu geraten hattest? Mein Atem wurde abgehackt und immer schneller. Ich hyperventilierte und spürte auf einmal Ethans Arme um mich. Er packte mich fest und schüttelte mich hin und her. Schließlich legte Irina mich zurück aufs Bett und brachte mir ein Glas Wasser. Auf einmal standen sie alle um mich herum und bemutterten mich. Dabei wollte ich nur von dir gepflegt werden. Nachdem wir wieder auf dem Boot waren und ich dem Drang entging zurück nach London zu fliegen, zog ich mir deine liebevoll gesetzten Fäden an der Schulter. Die Wunde war fast verheilt und ich fragte mich, ob deine Schusswunde an der Seite noch wehtat. Und ob du manchmal an deinen Arm heruntersahst und an mich dachtest, wenn du über die Narbe strichst, die ich dir zugefügt hatte. Erneut vergingen die Tage wie im Fluge. So langsam lernte ich besseres Russisch, da ich mir in Stockholm ein Wörterbuch gekauft hatte. Hin und wieder setzte ich mich zu Irina und redete mir ihr. Sie korrigierte mich, wann immer es nötig war und erklärte mir einige Kleinigkeiten, die nicht im Buch standen. Ansonsten war sie sehr zufrieden mit meinem Fortschritt und erzählte mir, dass Ethan nicht mal ansatzweise so weit war. Doch sobald sie anfing mit mir über ihn und ihre Beziehung zu sprechen, brach ich unsere Gespräche ab. Irgendwann machten wir noch einmal in Helsinki halt. Tatsächlich hatte man eine offizielle Fahndung in England ausgesprochen, dass wir auf der Flucht wären. Doch niemand drehte sich nach uns um oder sah uns intensiver an, als wir durch die Stadt gingen. Auch hier hatte ich mir gewünscht, du warst bei mir gewesen. Die Tage, in denen ich mir Sorgen um dich machte, wurden auch weniger. Vermutlich warst du bereits tot. Und ich musste anfangen damit zu leben. Eines Abends saßen Ethan und ich alleine am Steg und tranken. Wir hatten Silvester alle auf dem Boot verschlafen, sodass wir zumindest das Trinken etwas nachholen wollten. »Glaubst du wirklich, er ist tot?«, fragte er mich nach einer Weile, in denen wir über alles und nichts gesprochen hatten. »Ja«, seufzte ich traurig und spürte den Druck hinter meinen Augen steigen. Da waren keine Tränen mehr. Die hatte ich bereits alle aufgebraucht. »Ich kann es nur hoffen.« »Du hoffst, dass er tot ist?«, fragte Ethan nach und sah mich mit großen Augen an. »Lieber tot, als dass sie ihn foltern«, erklärte ich mich und schloss die Augen. Ich stellte mir vor, wie du deine Arme um mich legen würdest, um mich vor dem kalten Wind zu schützen. Vielleicht würdest du mal wieder eine rauchen. Ich hatte das Gefühl, dass du das gerne tatst, wenn Alkohol im Spiel war. Als ich die Augen wieder öffnete, war da nur die Schwärze des Meeres vor mir und Ethan neben mir. »Da hast du wohl Recht. Aber ich glaube nicht, dass er tot ist«, sagte mein Freund schließlich und trank von seinem Bier. »Ich glaube, er hat es geschafft. Hat er das nicht immer?« Ich zuckte mit den Schultern und trank das Bier aus. Schnell nahm ich mir ein neues. »Irina hat mir erzählt«, fügte Ethan hinzu, als er merkte, dass ich nichts weiter dazu sagen würde, »dass er schon einmal mal in Gefangenschaft war. In Russland sogar. Und sie meinte, die Gefängnisse seien da wesentlich strenger als bei uns.« Ich starrte weiterhin auf das Meer. Tief in mir drin hoffte ich, dass es mich irgendwann verschlingen würde. Damit ich zu dir käme. »Er hatte mehrere Wachen erledigt, bis man ihn in Einzelhaft unter höchster Sicherheitsstufe gesteckt hatte. Doch selbst da hat er es geschafft, zu entkommen. Hat wohl beim Duschen den Wärter mit einem Stück Seife getötet. Ihm einfach in den Hals gesteckt und ihn damit erstickt. Ist schließlich mit seiner Waffe durch die Anstalt und hat jeden abgeknallt, der ihm in den Weg kam.« Da kicherte er sogar. »Und das ganze splitterfasernackt.« Bei der Bemerkung musste selbst ich auf einmal lächeln. Es tat ein bisschen weh, als hätten meine Muskeln verlernt, wie es war, zu Lachen. Doch es tat gut. An dich zu denken und zu lächeln. »Ich bin mir also ziemlich sicher, dass er das auch ein zweites Mal schaffen wird.« Ich seufzte und sah Ethan in die Augen. Er tat sein Bestes. Jeder hier eigentlich. Die Tage auf engstem Raum waren gar nicht so schlimm, wie ich zuerst dachte. Jeder hier war nett. Wir stritten uns mal, aber es war nie tragisch. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte es sich wie Familie an. Aber ein Teil der Familie fehlte, also konnte das Glück nicht gänzlich zwischen uns Platz haben. »Ich kann nur hoffen, dass du Recht hast«, sagte ich schließlich und starrte wieder erneut auf das schwarze, tiefe Meer. Nach schier unendlich vielen Tagen der Kälte, des Schnees und vielen unsicheren Stunden, in denen man uns eventuell schnappen könnte, passierten wir den Hafen von St. Petersburg. Deiner Geburtsstadt. Am Steg wartete ein etwas älterer Herr. Er kam sofort auf Irina zu und umarmte sie feste. Als sie sich unterhielten, konnte ich raushören, dass es ihr Vater war. Alexejs Onkel. Die beiden anderen Männer gingen ebenfalls von Bord und begrüßten den Herrn ebenso. Schließlich sah er zu uns und lächelte höflich. Irina stellte uns vor und bestätigte meine Vermutung, dass es ihr Vater war. Er war nett. Schüttelte unsere Hand, fragte nach unserem Befinden und äußerte, dass er froh war, uns endlich kennen zu lernen. Schließlich überkam uns alle wieder eine furchtbare Stille. »Alexej?«, fragte der Mann seine Tochter, doch sie sah betrübt zu Boden. »Wir wissen nicht, wo er ist. Ich erkläre dir alles, wenn wir zu Hause sind, Papa«, sagte sie angespannt und ließ sich von ihm wegführen. Wir folgten einfach schweigend und ließen das Boot erneut hinter uns. Die Familie hatte offensichtlich viel Geld. Das Anwesen war groß und etwas Abseits von St. Petersburgs Innenstadt. Die Schneelandschaft ließ alles etwas Märchenhaft wirken und ich fragte mich erneut, ob du es auch so schön finden würdest wie ich. Immerhin warst du schon öfter hier, oder? War das auch deine Heimat? Oder wohntest du woanders? Als wir alle mit einem warmen Getränk im großen, etwas plüschig eingerichtetem Wohnzimmer saßen, kamen eine Truppe von Schlipsträgern rein und setzten sich zu uns. Sie erklärten uns, dass sie ebenfalls vom Geheimdienst waren und nun von uns ein Statement erwarteten. Ethan erklärte ihnen, was sie wissen mussten. Irina fügte sich hier und da ein, um etwas genauer zu erläutern, während ich schweigend in meinen Kaffee starrte. Als es zur Liebesaffäre zwischen mir und Alexej kam, zuckte ich heftig zusammen. »Alexej Wolkow – wissen Sie, wo er sich gerade aufhält?«, fragte einer der Schlipsträger und adressierte wohl mich direkt. Ich sah verwundert auf und blinzelte einige Male, bis er weiter sprach. »Wir haben bisher keine Statusmeldung von ihm erhalten. Wissen Sie über seinen Verbleib Bescheid?« Ich schüttelte resigniert den Kopf. Meine einzige Möglichkeit mit ihm Kontakt aufzunehmen hatte Ethan über Bord geworfen und lag jetzt irgendwo in der Nordsee. »Wir werden nach ihm suchen«, sagte er schließlich und klappte die Akten zu. »Unterdessen werden wir dafür sorgen, dass Sie neue Pässe bekommen. Sie stehen nun im Zeugenschutzprogramm und werden in den nächsten Tagen einige Unterlagen zugeschickt bekommen.« Damit standen sie auf. »Willkommen in Russland, meine Herren.« Und das war’s dann wohl, dachte ich. Ethan und ich waren nun inoffiziell russische Staatsbürger. In wenigen Tagen hätten wir unsere neuen Pässe und neue Identitäten. Das alte Leben hatten wir tatsächlich hinter uns gelassen. Man riet uns, unser Äußeres zu verändern. Ethan ließ sich sowieso schon seit Wochen einen Bart wachsen, der ihn wesentlich älter aussehen ließ, als er eigentlich war. Ich kämpfte weiterhin mit meinen drei Stoppeln am Kinn, dass sie dort blieben, wo sie waren. Unter der Haut. Gerade, als die Herren gehen wollten, spähte ich zu einem hinüber. Er bemerkte meinen neugierigen Blick und kam auf mich zu. »Gibt es noch etwas?« »Sie sagten«, begann ich leise und presste meine Lippen aufeinander. Ich wollte die Wahrheit nicht hören und doch fragte ich danach. »Sie sagten, dass Sie nach ihm suchen werden. Ist er etwa nicht mehr im Gefängnis in London?« Der Mann sah mich mit großen Augen an. Schließlich lächelte er sanft und kam noch einen kleinen Schritt auf mich zu. »Mr. Wolkow gehört zu unseren besten Männern. Er ist schon seit Tagen nicht mehr dort. Aber das können Sie ja nicht wissen. Die Informationen sind bisher noch unter Verschluss.« Ich atmete auf und meine Hoffnung, von der ich dachte, sie hätte mich in all den Tagen auf See verlassen, rückte ein Stückchen näher. »Er ist also… auf der Flucht?« »Sehr wahrscheinlich«, nickte der Agent und fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen, als würde er darüber nachdenken müssen. »Wir wissen allerdings nicht, wo er sein nächstes Ziel setzen wird. Es wird sicherlich einige Wochen oder gar Monate dauern, bis er wieder auftauchen darf.« Ich entließ enttäuschend Luft aus meiner Nase. »Ich verstehe…« Damit ging er. Eigentlich wollten wir das Boot verkaufen, doch ich wollte es behalten. Ethan und ich wohnten übergangsweise bei Irina und ihrem Vater. Es war nett und vor allen Dingen sehr nobel. Nach so vielen Wochen absolutem Mindeststandard, war jeder froh wieder normale Kleidung zu tragen, normales Essen zu haben und eine normale Dusche zu benutzen. Die Beziehung zwischen Ethan und Irina bekam ihren Höhepunkt, als wir unsere neuen Pässe bekamen und Irina tatsächlich mehrmals darin rumblätterte und schließlich fragte, wieso Ethan nicht ihren Nachnamen angenommen hatte. Die beiden küssten sich dann und Ethan murmelte irgendetwas von Verloben und Heiraten und dann Namen ändern. Schließlich kicherten sie verliebt und verschwanden in ein anderes Zimmer. Ich blieb alleine im Sessel sitzen, während ich meinen eigenen Pass auf dem Tisch liegen ließ und mich nicht traute, hineinzuschauen. Wer ich nun war, wollte ich nicht wissen. Wichtig war nur, dass du bald zurückkommen würdest. Die Tage vergingen und ich lernte jeden Tag mehr Russisch. Schließlich schaffte ich es sogar einkaufen zu gehen, ohne an eine Sprachbarriere zu kommen. An einem Abend stritt ich mich sogar mit Irina auf Russisch. Der Streit war schnell vergessen, als sie löblich feststellte, wie gut mein Russisch geworden war. Ethan hinkte noch immer hinterher. Der Schmerz bei Gedanken an dich wurde schwächer. Doch als ich auf einmal von Ethans und Irinas Verlobung hörte, wurde mich schlecht. Ich ließ mich den ganzen Tag nicht mehr blicken. Immer wieder musste ich daran denken, was Maggy alias Cindy gesagt hatte. Dass du mich mitnehmen würdest, um mir deine Welt zu zeigen. Um mich irgendwann zu heiraten. Um mich dein nennen zu können. Die Hochzeit wurde auf das folgende Jahr gesetzt. Alles ging etwas schnell, doch Ethan und Irina waren glücklich. Ich freute mich für sie. Irgendwo. Tief in mir drin. Im Frühling war mein Geburtstag und ich weinte den ganzen Tag. Wann immer ich dachte, dass ich keine Tränen mehr übrig hatte, kamen erneut welche. Irina erzählte mir irgendwann, dass du im Oktober Geburtstag hättest. Und ich nahm mir fest vor, ihn mit dir gemeinsam zu feiern, auch wenn es absolut nicht in meiner Hand lag, das zu entscheiden. Ich suchte mir einen Job, da meine Sprachkenntnisse nun besser geworden waren. Es war eine Arzthelferstelle, die relativ gut bezahlt war. Ewig würden die Ersparnisse nämlich nicht halten, auch wenn Ethan mir versicherte, dass solange ich bei Irina und ihm wohnen würde, niemand von mir etwas verlangte. Doch ich verneinte. Tatsächlich dachte ich für einige Zeit darüber nach zurück aufs Boot zu ziehen, welches ich einmal in der Woche aufs Meer brachte. Ich segelte an der Küste entlang und suchte nach dir. Jedes Mal kam ich enttäuscht abends wieder und betrank mich mit viel zu teurem Wein aus dem Schrank von Irinas Vater. Im Sommer kündigte ich meinen Job beim Arzt und suchte mir einen neuen. Ich kam mit der Chefin nicht klar – sie war Freya zu ähnlich. Die hatte übrigens ihren Job verloren, wie mir Ethan irgendwann mitteilte. Die Schadenfreude hielt sich jedoch in Grenzen, wenn ich daran dachte, was sie alles angerichtet hatte. Ich wünschte ihr in den stillen Momenten meines Lebens den Tod. Und der Gedanke, dass ich mit dir auf die Jagd gehen würde, um sie zu vernichten, spornte mich an. Es gab mir die innere Kraft, die ich brauchte, um noch weiter auf dich zu warten. In den klareren Momenten meines Lebens fürchtete ich mich vor dieser grausamen Seite, die von Tag zu Tag zu wachsen schien. Doch die klaren Momente konnte ich an einer Hand abzählen. Noch immer verschwammen die Tage zu Wochen. Und Wochen zu Monaten. Im Spätsommer bewarb ich mich in einem Center. Es war nicht sehr groß, aber die Nostalgie in mir schrie danach. Niemand wollte mich einstellen, bis man mir endlich einen Job in einer Boutique anbot, in der ich hauptsächlich Babykleidung an Mamis verkaufte. Der Job war furchtbar anstrengend, aber wann immer ich an meine vorherige Beschäftigung dachte, wurde es warm ums Herz. Irina nahm mich eines schönen Tages mit aufs Land. Dort war eine kleine Hütte inmitten eines Blumenfeldes. Sie sagte, dass das dein Zuhause war, wenn du mal nicht auf Reisen warst. Innen war alles recht schlicht eingerichtet, doch hier und da sah ich persönliche Dinge von dir. Wie Zeitschriften. DVDs. Eine Pinnwand mit Fotos von dir und Irina. Ein paar Freunde vermutete ich. Du sahst so glücklich drauf aus. Nachdem ich mehrere Male in das Haus zurückkehrte, fragte mich Irina irgendwann, ob ich nicht einziehen wollen würde. Du hättest sicher nichts dagegen und so würde sich jemand um das Haus kümmern. Also zog ich bei dir ein. Ohne dein Wissen. Ich kaufte Blumen und Pflanzen, richtete den Garten her und verbrachte sehr viel Zeit in diesem Haus. Ich renovierte es so gut ich konnte und verbrachte fast den ganzen Sommer damit. Schließlich kaufte ich sogar ein größeres Bett in der Hoffnung, du würdest irgendwann zurückkehren und mit mir dort schlafen. Der Herbst brachte schließlich deinen Geburtstag und die Hoffnung, wir würden ihn gemeinsam feiern, schwand mit jeder Stunde, die der Tag vorüber ging. Du hattest von mir verlangt zu warten, aber so langsam wusste ich nicht mehr worauf. Im Job wurde ich sehr oft von älteren Frauen angemacht. Doch keine davon traf bei mir irgendeinen Nerv. Ich wollte sie alle nicht haben. Schließlich lernte ich einen Freund von Irina kennen. Er war nett und wir unterhielten uns tatsächlich etwas länger an einem Nachmittag. Er lud mich zu sich nach Hause ein und ich wusste, worauf es hinauslaufen würde. Wir hatten Sex. Wir hatten sogar ein zweites Mal Sex. Aber wann immer er sich umgedreht hatte und eingeschlafen war, flossen die Tränen erneut über meine Wangen. Er war nicht du. Und ich begann mich dafür zu hassen, dass ich noch so an dir hing. Immerhin warst du auf der Flucht und suchtest nicht einmal Kontakt zu mir. Konnte ich mir überhaupt sicher sein, du würdest wiederkommen? Oder warst du einfach verhindert? Lagst du irgendwo verletzt im Graben und konntest nicht? Wusstest du nicht wie? War es noch nicht sicher für dich? Irgendwann erzählte ich meiner neuen Liebschaft von dir und er verließ mich binnen weniger Tage. Irina erzählte mir dann, dass er dich kannte und Angst hatte, du würdest ihm die Kehle aufschlitzen, würde er herausfinden, dass er mich gevögelt hatte. Und just in dem Moment brach der dunkle Keim in mir auf. Er ließ mich wissen, dass ich genau das wollte. Töte für mich, Alexej. So wie du es immer getan hattest. So weiß ich wenigstens, dass es dich noch in meinem Leben gibt. Der Winter war wie der vorherige unerträglich. So viel Schnee hatte ich lange nicht mehr gesehen. Ich kam gar nicht mit dem Schneeschnippen hinterher. Die kleine Hütte war vor allen Dingen so alt, dass ich sie mit Holz heizen musste. Ich hatte noch nie Holz gehackt, also half mir Ethan mit Irinas Vater. Gemeinsam brachten wir die Bude auf eine angenehme Temperatur, die ich versuchte zu halten. Ich kuschelte mich mit deinen Tierfellen vor den Ofen und starrte in die Flammen. Es war so gemütlich und so schön, dass ich mich erneut in meine Traumwelt flüchtete. Ich stellte mir vor, du wärest bei mir gewesen und wir hätten gemeinsam auf den Fellen gesessen. Du hättest mir irgendeine wilde Story aus deiner Vergangenheit erzählt, bei der ich interessiert zugehört hätte. Schließlich wären wir ins warme Bett gegangen und hätten uns geliebt. Doch vielleicht auch schon auf den Fellen? Mittlerweile wusste ich schon gar nicht, wie du dich angefühlt hattest. Lediglich die vage Erinnerung an deinen heißen Körper, wie er an meinem rieb, blieb mir und meiner Fantasie. Bald war es ein Jahr her und ich fühlte wie die Resignation über mich kehrte. Obwohl so viele Tage sich so lang angefühlt hatten, war das Jahr viel zu schnell vorbei gegangen. Und du warst immer noch nicht da. Irina und Ethan redeten oft davon, dass du uns heimliche Botschaften geschickt hättest. Kleinigkeiten wie eine Spam Mail, die ein paar Wortfetzen beinhaltete wie »Mir geht es gut« auf Russisch. Oder eine Schlagzeile über ein Gewächshaus in Deutschland mit Blumen, die so angeordnet waren, dass man hätte meinen Namen herauslesen können. In Polen fand man mehrere Leichen, die anscheinend jemand mit den Händen ausgeweidet hatte. In Litauen dasselbe. Allerdings waren es ganz normale Menschen und keine Agenten. Doch Irina schwor, dass du nur töten würdest, wenn es wirklich nicht anders ging. Also gingen sowohl sie als auch Ethan davon aus, dass es Agenten waren und wir es nur nicht wussten, weil die Medien das natürlich geheim halten würden. All diese kleinen Hinweise, von denen ich glaubte, dass es einfach nur Zufall war, kamen tröpfchenweise über das Jahr verteilt zu uns. Bis schließlich erneut Dezember war. Es war unser Jahrestag. An dem Tag hatte ich dich kennen gelernt. Und genau an dem Tag wollte ich endlich Klarheit. Der Drang, mich umzubringen, hatte mich das ganze Jahr über verfolgt, aber ich konnte es nie durchziehen. Der Gedanke, dass du doch zurückkehren würdest und ich nicht mehr da wäre, brach mir das Herz. Also blieb ich dort, wo ich eigentlich nicht hingehörte. Ich dachte darüber nach, mir einen Hund anzuschaffen. So als Ersatz für dich. Doch das erschien mir auf einmal sehr makaber, also ließ ich auch das sein. Irina und Ethan rieten mir dennoch dazu, sodass ich schon erahnte, was mein Weihnachtsgeschenk werden würde. Doch kein Weihnachtsgeschenk würde das toppen, was du mir am dritten Advent machtest. Es schneite und das kleine Vorstadtcenter war relativ voll. Viele alte Menschen gingen einkaufen und sammelten die Geschenke für ihre Enkel. Die Mamis, die vor meiner Kasse standen, lobten immer wieder, wie gut mein Russisch geworden sei. Ich nickte dankend und verlor mich erneut in Gedanken. Schließlich spähte ich aus unserem Schaufenster und sah etwas Rotes. Ein Mantel einer jungen Dame. Nach wenigen Minuten sah ich erneut einen roten Mantel. Doch es war wieder nur ein Cape einer älteren Dame. Ich wurde irgendwann fast verrückt, als ich wieder ein rotes Kleidungsstück jenseits des Schaufensters sah, also informierte ich meine Kollegen, dass ich in die Pause gehen würde. Auf dem Weg in den Food Court traf ich zwei Freunde von Irina und Ethan. Sie unterhielten sich kurz mit mir und zwinkerten mir zum Abschied zweideutig zu. Ich zog beide Augenbrauen zusammen und wusste nicht ganz, wie ich mit dieser Gestik umzugehen hatte, doch ich ignorierte es. Sowieso hatten die Leute um mich herum des Öfteren zweideutige Andeutungen gemacht. Auch Ethan sagte vor kurzem »Ich finde es toll, dass du so lange auf ihn gewartet hast«. Als wärst du wiedergekommen. Ich schlenderte durch die Gänge und bemerkte, dass das Menschenaufkommen auf einmal stärker wurde. Auf einmal waren es mehr Kinder und Jugendliche, als ältere Herrschaften. Das Publikum änderte sich schlagartig, als ich einen großen Tannenbaum in der Mitte der Eingangshalle sah. Ein müdes Lächeln legte sich auf meine Lippen. Die Erinnerungen flossen geradewegs in mein Herz. Mamis und Kinder lachten rund um eine Art weihnachtliches Kinderdorf. Sie hatten kleine Stofftiere und Häuschen auf weißen Wolldecken aufgestellt, sodass es wie ein Stofftierdorf aussah. Daneben sah ich ein Rad, was man drehen konnte. Vermutlich konnte man etwas gewinnen, denn einige drehten das Rad voller Erwartungen. Daneben standen Engelchen und verteilten kleine Zettel mit Losen. Vermutlich war es eine einmalige Gewinnchance am dritten Advent. Schließlich sah ich den Weihnachtsmann. Groß. Gut gebaut. Mit einer roten Mütze auf. Einem roten Kostüm und roten Lackschuhen. Oh, diese Lackschuhe. Ich näherte mich mit großen Augen und zittrigen Knien dem Geschehen. Er stand mit dem Rücken zu mir und redete mit den kleinen Kindern. Mamis machten Fotos von ihnen und bedankten sich freundlich. Schließlich umkreiste ich die Menschen, um den Weihnachtsmann genauer beobachten zu können. Die ganzen Minuten, in denen ich auf ihn starrte, als würde er jeden Augenblick verschwinden, hielt ich den Atem an. Ich sah bereits Sternchen und fragte mich, ob das alles eine Halluzination war. Doch als ich endlich das mit Bart und langen Haaren verschleierte Gesicht erkennen konnte, entließ ich die aufgestaute Luft aus meiner Lunge. Blaue Augen sahen auf und durchbohrte meine. Die kleinen Lachfältchen bildeten sich, als ich angelächelt wurde. Sie waren tiefer geworden. Sowieso bemerkte ich sofort, dass der graue-weiß-blonde Bart nicht angeklebt, sondern echt war. So auch die längeren, etwas zotteligen dunkelblonden Haare mit teilweise grauen Strähnen waren deine. Du lächeltest mich an, als wäre ich der Mittelpunkt deines Universums. Die Sonne, Sterne und der Mond. Erst, als ich in Tränen ausbrach und vermutlich viel zu viel Aufmerksamkeit auf uns gezogen hatte, kamst du zu mir herüber und nahmst mich still in den Arm. Deine großen warmen Hände waren endlich wieder auf meinem Rücken und ich war noch nie so froh gewesen, den Weihnachtsmann wiedergesehen zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)