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SANTA kills (Adventskalendergeschichte)

von

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Gefangener

Mein Leben war furchtbar. Diese Höhen und Tiefen machten mich fertig. All die Konstanten, die mich in so vielen Jahren begleitet haben, glitten mir nach und nach aus den Fingern. Und nur, weil ich mich vom Weihnachtsmann hab durchvögeln lassen.
 

Mit einem Kaffee in der Hand saß ich gedanklich abwesend auf dem Sofa und starrte den ausgeschalteten Fernseher an. Alles, was ich besaß… würde in den nächsten Tagen verschwinden. Ich sollte vielleicht lieber Vorbereitungen treffen, als apathisch in der Ecke zu hocken.
 

Im Laufe des Vormittags packte ich also die wichtigsten Dinge zusammen. Meine echten Papiere und mir bedeutende Gegenstände. Kleidung, aber nicht zu viel. Letztendlich hatte ich drei große Koffer gepackt und seufzte schwermütig. Das fiel nicht unter leichtes Gepäck und war für eine Flucht aus dem Land absolut undenkbar.
 

Je länger ich mit meinen Gedanken und mir selbst alleine war, desto größer wurden die Zweifel. Was, wenn Alexej uns nun die Gesellschaft verweigern würde? Was, wenn Irina nicht zustimmte? Dann würden Ethan und ich hier bleiben – mit dem eigenen Geheimdienst im Nacken.
 

Der verhielt sich erstaunlich ruhig. Weder Freya noch jemand anders hatte sich bei mir gemeldet. Niemand wollte an mein Hab und Gut und niemand wollte mich ins Gefängnis stecken. Ich war irgendwo froh drum, aber…
 

… das mulmige Gefühl im Magen wollte nicht weggehen.
 

Stattdessen fing ich auf einmal an darüber zu zweifeln, was Alexej mir gesagt hatte. Was, wenn das auf einmal alles eine Lüge war? Und eigentlich gar nichts von dem stimmte, was er mir gesagt hatte? Oder was, wenn alles eine Halbwahrheit ist?
 

Ich verrannte mich in Gedanken, die mich unsicher werden ließen. In einer solchen Zeit hatte ich Angst überhaupt jemandem zu trauen. Das mag an meiner naturgegebenen paranoiden Art liegen oder einfach den Umständen geschuldet sein – helfen tat es mir jedoch nicht in der Entscheidung meines Lebens.
 

Alexej und ich waren in eine intensive Liebelei geraten, aber wie lange würde das wohl gutgehen? Würde es tatsächlich den Strapazen einer Flucht standhalten? War ich überhaupt bereit mich in eine feste Beziehung zu stürzen, die auf Lügen und Betrug aufgebaut wurde? Ich wollte mich keiner wirren Zukunftsvision hingeben, die niemals stattfinden würde. Die ruhigen Momente mit ihm in einem Haus am Stadtrand mit vielleicht zwei Hunden würde es nicht geben. Ruhige Momente generell würden vermutlich sehr rar werden. Ich kannte Russland nicht. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Und ich hatte Angst davor.
 

Angst, mich in eine Fremde mit einem Fremden zu begeben, dem ich eigentlich nicht wirklich trauen konnte.
 

Und dann war da noch Ethan. Gott, Ethan. Als ich an ihn dachte, musste ich laut in den stillen Raum seufzen. Wieso hatte ich das zugelassen? Er war mein Freund, beziehungsweise Ex-Kollege, und nun hatten wir eine Grenze überschritten, die weder das eine noch das andere war. Zu allem Übel wollte er auch noch mitkommen. Er wollte alles aufgeben, nur, um bei mir zu bleiben. Das klang mit sehr viel mehr Abstand betrachtet enorm nach Liebe. Nach Anhimmeln und Anschmachten. Seine Worte waren eindeutig, aber konnte ich ihnen auch glauben? War er sonst auch noch ein Spitzel von Freya? Würde er tatsächlich so weit gehen und mit mir schlafen, nur um Informationen für sie zu beschaffen?
 

Nachdem ich mich bis in den Nachmittag hinein verrückt gemacht hatte, packte ich schließlich meine Sachen zu Ende und räumte die Bude auf. Ich verbrannte Dinge von denen Freya nie etwas wusste und auch nie etwas wissen sollte. Meine Wohnung zu durchsuchen würde vermutlich eins der ersten Aktionen sein, die sie anordnen würde.
 

Beim Aufräumen des Wohnzimmers blieb auf einmal etwas im Staubsauger hängen. Ich schaltete ihn aus und packte genervt in den Schlauch, als mir Ethans kleine Schlüsselkarte entgegen kam. Sie war für unser Büro, für den Aufzug – für eigentlich alles. Hatte er sie wirklich verloren? Das Ding war doch sonst immer an seinem Schlüssel befestigt?
 

Oder… hatte er sie bewusst hier gelassen?
 

Da ich mir nicht sicher war, schrieb ich Ethan eine SMS. Die Rückantwort ließ auch nicht lange auf sich warten.
 

»Nimm sie und sei vorsichtig. Sieh dir die Dinge an, die Freya tut. Dann wirst du verstehen, wieso ich nicht mehr dabei sein möchte.«
 

Er ging nicht darauf ein, ob er sie nun absichtlich oder aus Versehen verloren hatte, aber der Hinweis, ich solle noch einmal zurück zum Büro fahren, war eindeutig. Ohne wirklich darüber nachzudenken, schnappte ich meine Waffe und hechtete zum Auto.
 

Während der Autofahrt dachte ich daran, mir Akten zu stehlen. Oder irgendetwas anderes, was ich irgendwann einmal gegen Freya verwenden könnte. Oder gegen den Geheimdienst generell. Doch dann klickte es in meinem Kopf. Gerade, als ich am Straßenrand nahe dem Gebäudekomplex parkte.
 

Der Gefangene. Ich sollte mir den Gefangenen ansehen. Sergej Kusmin.
 

Am Aufzug wurde ich mit einem Nicken des Hauptmannes begrüßt. Hatte man ihn nicht darüber informiert, dass ich gefeuert worden bin? Oder… war das auch wieder Teil eines Plans, bei dem ich unwissentlich so gut mitspielte?
 

Mit zittrigen Knien betrat ich den Aufzug und fuhr direkt in die Etage der Zellen. Ob Kusmin überhaupt noch da war? Freya wollte ihn doch sicher so schnell es ging ins Hauptgefängnis schicken.
 

Unten angekommen liefen einige Menschen hektisch umher, während man Inhaftierte laut reden hörte. Ich zog meinen Kragen etwas weiter ins Gesicht und hoffte einfach, dass mich niemand erkennen würde. Die Kameras am Eingang und im Aufzug hatten mich sicherlich schon registriert und würden bald Alarm schlagen. Immerhin hatte man mir die Schlüsselkarte weggenommen. Entweder ich ritt mich also gerade noch sehr viel weiter in den dreckigen Sumpf des Verrats rein oder Ethan wollte mir tatsächlich helfen. Er habe immerhin schnell behaupten können, ich hätte sie ihm weggenommen oder geklaut. Sein Wort stand gegen meins. Doch erneut fragte ich mich: Würde er das wirklich tun?
 

Als ich das Abteil betrat, in dem ich Kusmin das letzte Mal vermutet hatte, sah ich auch wieder die junge Dame, mit der ich bereits zwei Mal das Vergnügen hatte. Molly Smith.
 

»Hi Molly«, kam ich lächelnd auf sie zu. Es dauerte einen Moment, bis sie mich erkannte. Ihre Gesichtsfarbe wurde sofort bleich.
 

»Was machen Sie hier?«, flüsterte sie harsch und sah sich nervös um, ob irgendjemand ihrer Kollegen sie sehen würde. »Sie dürfen gar nicht hier sein!«
 

»Ja«, sagte ich räuspernd, »erneut. Ich weiß. Anweisung von oben, richtig?«
 

»Sie wurden unehrenhaft entlassen, wurde mir gesagt«, flüsterte sie noch immer aufgeregt und spielte mit ihrer Uniform. Ich hatte derweil das Funkgerät im Auge, welches auf ihrem Tisch lag. Allerdings war ich mir nicht sicher, was ich tun würde, wenn sie tatsächlich danach greifen würde.
 

»Unehrenhaft? Wie gemein«, lachte ich dunkel und verfluchte Freya nur noch mehr. »Das ist so nicht ganz richtig, aber ja: ich arbeite hier eigentlich nicht mehr.«
 

»Dann sollten Sie gehen«, wiederholte Molly und sah deutlich zum Aufzug. »Bevor Sie noch jemand sieht.«
 

»Ich muss zu Kusmin«, sagte ich ohne weitere Umschweife. »Ist er noch hier?«
 

»Mr. Lewis, ich kann –«, begann sie, doch ich brach sie harsch ab, indem ich sie am Arm packte und in die Ecke zu ihrem Tisch drängte.
 

»Ich weiß, dass Sie das nicht dürfen und ich will auch ihren Job nicht riskieren. Sagen Sie mir einfach, ob er noch da drin ist.«
 

Molly schluckte hörbar und sah mich an, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Ich schändete das arme kleine Mädchen vermutlich viel zu sehr, aber es gab Wichtigeres zu tun, als sie in den Arm zu nehmen und ganz lieb Bitte, Bitte zu sagen.
 

»Ist er noch hier?«, wiederholte ich streng und sah ihr tief in die Augen.
 

Sie nickte schließlich und zog die Mundwinkel runter. »Bitte tun Sie mir nicht weh, Mr. Lewis…«
 

»Herrgott, Molly, ich werde Ihnen nicht wehtun…«, seufzte ich und ließ demonstrativ ihren Arm los. »Ich möchte, dass Sie jetzt auf Toilette gehen und sich dann mit einem Kollegen unterhalten. Nur kurz. Ich brauche vielleicht zwei oder drei Minuten, nicht mehr.«
 

»Was?«, hauchte sie verwirrt.
 

»Sie haben mich verstanden. Gehen Sie jetzt. Die Kameras haben mich eh schon gesehen. In diesem Winkel wird man vielleicht vermuten, dass ich sie bedroht habe. Sie dürfen also auch gerne zusammenbrechen und erst einmal den Schock verarbeiten, den sie erlitten haben und dann Hilfe holen. Ich werde einen Weg hinausfinden.«
 

Dabei sondierte ich sofort die Notausgänge. Vermutlich würde es in ein paar Minuten sehr haarig werden. Ich ritt mich tatsächlich immer mehr in die Scheiße.
 

»Ich weiß, Sie haben Regeln, an die Sie sich halten. Die hatte ich auch. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass hier ordentlich was im Gang ist. Freya Hill betrügt uns. Sie hat mich betrogen und sie wird es erneut tun. Der Mann, der da drin sitzt, ist ein Agent des FSB. Ich muss mit ihm sprechen. Über Wolkow und über alle anderen, die darin verwickelt sind. Verstehen Sie das?«
 

Molly sah mich mit großen Augen an. Sie blinzelte immer mal wieder etwas Feuchte in ihren Augen weg, als sie schließlich langsam nickte.
 

»Woher wissen Sie das alles?«
 

»… gute Recherche«, log ich und sah zur Tür. »Also bitte, lassen Sie mich rein. Zwei Minuten, mehr nicht. Holen Sie danach Hilfe, gehen Sie kurz auf Toilette – tun Sie einfach irgendetwas, was Ihnen den Job retten kann, sofern Sie ihn noch ausüben wollen, nachdem man hier einen Gefangenen gefoltert hatte.«
 

»Ich- Ich war nicht dabei. Ich war krank, ich hätte das sonst nie zugelassen«, begann sie, sich zu rechtfertigen, obwohl sie tatsächlich in keinerlei Schuld stand. Ihre Meinung hätte herzliche wenig ausrichten können, selbst wenn sie dabei gewesen wäre. Sie redete sich in eine Art Ekstase, sie hörte gar nicht mehr auf. Schließlich packte ich einfach an ihren Gürtel und zog die Karte ab, mit der sie die Türen drinnen öffnen konnte.
 

Molly erschrak und griff auf einmal nach ihrem Funkgerät. Als ich schon danach greifen wollte, ließ sie es fallen. Einige Plastikteile zerschmetterten und sprangen in alle Richtungen. Sie sah schockiert zu Boden und dann zu mir. »Hab ich es kaputt gemacht?«
 

»Vermutlich«, knurrte ich und deutete auf ihre Kollegen in den anderen Gängen. »Gehen Sie das mal lieber klären.«
 

Damit drehte ich mich um und öffnete die Tür zum Zellentrakt. Molly sprintete tatsächlich davon, allerdings war ich mir jetzt nicht sicher, ob sie mich verpfeifen oder beschützen würde. Die nächsten Minuten würden es zeigen.
 

Mit pochendem Herz und immer noch ziemlich wackeligen Beinen machte ich mich auf in den schmalen Zellengang. Viele Zellen waren leer oder standen offen. Auf dem Weg sah ich einige Kollegen, die Gefangenen Essen oder sonst irgendetwas gaben. Sie beachteten mich nur beiläufig – vermutlich gingen sie davon aus, dass ich hier sein durfte. Immerhin hatte ich es reingeschafft. Das würde schon richtig so sein.
 

Ich ging jede Zelle mit meinem Auge ab, jedoch fand ich niemanden, der so wie Kusmin aussah. Allerdings musste ich dann kurz innehalten und feststellen, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wie Kusmin eigentlich aussah.
 

»Halli Hallo«, begrüßte mich ein Mann und lehnte sich gegen die Stäbe der Zelle. Er lächelte mich süffisant an. »Sie sind doch mein Schütze.«
 

Ah, da ist er. Vielen Dank, lieber Mr. Kusmin, dass Sie mich gefunden haben.
 

»Hallo Sergej Kusmin«, begrüßte ich ihn und kam näher an die Zelle.
 

»Wie ich sehe, hat mein Kollege Sie nicht erledigt. Interessant. Normalerweise passiert das nicht«, sagte er mit einem amüsierten Unterton, während er lässig an den Stangen lehnte. Sein russischer Akzent war stark rauszuhören.
 

»Alexej und ich sind Freunde. Er hatte keinen Grund mich umzubringen.«
 

»Freunde?«, hakte Kusmin nach und hob beide Augenbrauen. »Er hat Sie nie erwähnt.«
 

»Ist auch erst während ihrer Gefangenschaft passiert«, seufzte ich und kam noch ein Stück näher, damit uns keiner der anderen Arbeiter hören konnte. »Hören Sie, ich will, dass Sie mir erklären, was hier vor sich geht. Alexej hat mir schon einiges berichtet, aber ich will es auch noch einmal aus Ihrem Mund hören. Wenn das alles stimmt, was ich gehört habe… Werde ich Irina und Alexej helfen.«
 

Kusmins süffisantes Grinsen verließ mit jedem Wort, was ich sagte, seinen Mund. Erst jetzt, wo ich ihm so nah stand, sah ich die Schnittwunden und Prellungen auf seinem Körper. Vermutlich verdeckte die Kleidung das Meiste von den Schändungen, die er erlitten haben musste.
 

»Alexej vertraut Ihnen also?«, murmelte er und musterte mich genauestens. »Was hat er Ihnen erzählt?«
 

»Dass Irina Codes von britischen Politikern über ihre kleinen dreckigen Geschäfte gefunden hat und sie jahrelang an den russischen Geheimdienst weitergegeben hat. Das kam raus und«, da kam ich noch näher, um zu flüstern, »der britische Geheimdienst ist nun hinter ihr her.«
 

Kusmin, der nur noch wenige Zentimeter entfernt stand und einzig von ein paar Gitterstäben aufgehalten wurde, musterte mich noch immer, als müsste er noch entscheiden, ob ich vertrauenswürdig war oder nicht. Als er nicht antwortete, fuhr ich fort.
 

»Alexej hat in einem Shoppingcenter als Weihnachtsmann gearbeitet, richtig? Er hat diesen Job angenommen, damit er mich beobachten und im Notfall eingreifen konnte. Nun, wir haben uns kennen gelernt und sind uns sehr nah gekommen. Ich erzähle ihnen das, weil ich …«, und da blieben mir erneut die Worte im Hals stecken und ich blickte in den Zellengang. Ich atmete einige Male ein und aus, sah dann wieder zu Kusmin und versuchte nicht wie ein kleines Mäuschen zu klingen. »Ich will mit Alexej gehen. Nach Russland. Oder wo auch immer unser Exil sein wird.«
 

»Das ist auch ratsam«, sagte Kusmin auf einmal und lehnte seinen Kopf nach hinten, sodass er mich durch Schlitze ansah. »Die werden Sie umbringen, sollten Sie herausfinden, dass Sie mit Alexej Wolkow zu tun haben.«
 

Ich schluckte und spürte meine Beine immer weicher werden.
 

»Alexej wird Ihnen schon keine Märchen erzählt haben, oder? Will er, dass Sie mitkommen?«
 

Ich nickte.
 

»Und Irina?«
 

Da haderte ich einen Moment. »Sie wollte, dass ich gehe.«
 

»Oh, Sie haben sie schon kennengelernt?«
 

»Mehrere Male. In Alexejs Wohnung. Und ich war bei der Razzia in Mr. Greens Haus. Aber ich war nicht auf der eindringenden Seite… jedenfalls nicht offiziell…«
 

Kusmin begann wieder zu grinsen. »Da hat Alexej Sie ja bereits ganz schön mit rumgeschleppt. Das wird Irina nicht gefallen.«
 

»Nein, sie mag mich wohl auch nicht besonders. Ich habe ihrem Cousin immerhin schon ein Messer in den Arm gejagt.«
 

Da lachte er laut auf. Ich hatte Angst, es würde die Aufmerksamkeit der anderen auf uns ziehen, doch niemand kam. Sowieso war ich überrascht, dass keine Einsatzkräfte den Zellenblock stürmten. Molly beschützte mich also. Gutes Mädchen.
 

»Ich kann Sie hier rausholen«, sagte ich auf einmal und suchte nach einer Möglichkeit, die Zelle zu öffnen.
 

»Nein, das können Sie nicht«, seufzte er und humpelte weiter ins Licht. Er hielt mir seinen Oberschenkel hin, an dem sonst nichts mehr dran war. »Mit nur einem Bein bin ich niemandem mehr nützlich. Wenn ich Glück habe, erschießen sie mich bald und lassen mich nicht noch weiter leiden.«
 

»Oh Gott«, hauchte ich und wusste nicht, wohin ich sehen sollte. »Haben… Haben wir das Ihnen etwa angetan?«
 

»Wer sonst? Hannibal habe ich hier jedenfalls noch nicht gesehen«, lachte Kusmin dreckig auf und humpelte wieder in seine vorherige Stellung.
 

»Es tut mir so… so leid…, dass ich sie angeschossen habe«, murmelte ich und starrte noch immer auf das fehlende Bein.
 

»Sie haben Ihren Job gemacht. Das haben wir alle«, summte er und deutete mit seinen Fingern ein Trommeln auf den Gitterstäben an. »So ist die Welt. Grausam und gefährlich.«
 

Ich schnaubte aus und sah mich erneut nervös um. Der Notausgang war in nächster Nähe. Ich sollte ihn auch bald erreichen. Die Zeit drängte.
 

»Alexej hat Ihnen nichts als die Wahrheit gesagt, wenn Sie ihn bereits in der Wohnung besuchen und Irina sehen durften. Wenn er Sie sogar dabeihaben will – wow, ich glaube der Mann meint es echt ernst. Wie heißen Sie überhaupt?«
 

»Kyle Lewis…«, flüsterte ich, während ich die Tür, aus der ich gekommen war, im Blick hatte.
 

»Oh«, sagte Kusmin erstaunt. »Sie sind der Mr. Lewis. Von dem hier alle behaupten, er habe mit ‚den Russen‘ zutun. Interessant, dass sie damit Recht hatten. Sie haben mit den Russen zu tun.«
 

»Seien Sie still«, knurrte ich auf einmal los und ballte meine Fäuste. »Es war nie meine Absicht da hineinzugeraten, aber Alexej musste mich ja mitziehen. Jetzt bin ich drin und ich werde ihm auch helfen, aber dazu muss ich ihm vertrauen können. Sie müssen verstehen, dass er dieses Vertrauen mit seiner ganzen Lügerei über sich selbst und dem Job im Center auf ein Minimum herunter gebrannt hat.«
 

»Ja, das verstehe ich«, summte Kusmin und ich bekam langsam das Gefühl, er war high auf Schmerzmitteln. Niemand war so glücklich über ein amputiertes Bein und den baldigen Tod in einer angeranzten Zelle. »Sie werden ihm auch nie gänzlich vertrauen können. Doch das beruht auf Gegenseitigkeit. Damit müssen Sie leben.«
 

»Irina Iwanowna«, begann ich meinen letzten Satz, da ich lauter werdende Stimmen hörte, »ist die Cousine von Alexej und hat jahrelang geheime britische Informationen weitergegeben, richtig? Und wird nun vom FSB beschützt, damit sie heil und gesund wieder in Russland ankommt?«
 

Kusmin nickte mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
 

»Das bedeutet… ich wurde von beiden Seiten betrogen. Niemand ist gut oder böse und ich muss mich jetzt entscheiden«, hauchte ich ehrfürchtig und spürte Gänsehaut auf meiner Haut.
 

Erneut nickte Kusmin. »Ich denke, das haben Sie schon, Mr. Lewis.«
 

Die Tür sprang auf und Einsatzkräfte kamen reingestürmt. Ich packte meine Beine und sprintete den Gang entlang. Sie schrien nach mir und drohten, ich solle stehen bleiben, sonst würden sie schießen. Doch ich wusste ganz genau, dass sie nicht schießen würden – zu eng. Die Kugel könnte abprallen und jemand anderes treffen.
 

Ich rammte die Tür des Notausganges mit meinem ganzen Gewicht und stemmte sie auf. Sofort befand ich mich in einem hellerleuchteten Gang, der vermutlich sonst als Personaleingang für Putzkräfte oder anderes diente. Er erinnerte mich an den im Center, wo Alexej und ich –
 

»Bleiben Sie stehen, Mr. Lewis!«, schrie ein Kollege und schoss tatsächlich neben mir auf den Boden. Die Kugel prallte ab und landete zum Glück in der Wand neben mir. Der Mann erschrak so sehr wie ich und blieb stehen. Ich rannte weiter. Da war keine Zeit zum Wundern.
 

Erneut presste ich eine Tür auf und folgte hektisch den Notausgangschildern. Im Hintergrund ging der Alarm los. Ob ich mein Auto erreichen könnte?
 

Alles verging auf einmal so schnell. Ich sprintete durch die letzte Tür und rutschte fast auf dem nassen Asphalt aus, der noch immer teilweise mit Schnee bedeckt war. Sicherheitsleute zückten ihre Waffen und richteten sie auf mich, während ich an den Häuschen vorbeizischte. Einige schossen und ich konnte nur beten, dass mich niemand treffen würde.
 

Als ich um die Ecke bog und den Sicherheitsbereich verließ, sah ich mein Auto noch am Straßenrand stehen. Mit absoluter Erleichterung zückte ich den Schlüssel aus der Manteltasche, öffnete den Wagen und sprang in die Fahrerkabine. Mit zittrigen Händen betätigte ich die Zündung und war zum ersten Mal seitdem ich das Auto besaß froh, dass man den Schlüssel nicht mehr irgendwo einstecken musste.
 

Mit quietschenden Reifen fuhr ich davon. Die Einsatzkräfte schossen noch auf mich. Und wie es natürlich kommen musste, ging einige Kugeln durch die Scheiben. Ich spürte einen kurzen Schmerz, fuhr aber weiter.
 

In absoluter Hektik fuhr ich zu meiner Wohnung und wusste, dass es keine Stunde dauern würde und man hätte sie umstellt. Ich griff nach meinen drei Koffern und warf sie ins Auto. Mental Abschied nehmen konnte ich nicht. Dafür war einfach keine Zeit. Also hoffte ich, dass mein neues Leben mir mehr Glück schenken würde, als ich erneut ins Auto stieg und mit Kohlen unter den Füßen die Straße entlang fuhr. Während der Autofahrt rief mich Ethan an.
 

»Du warst dort«, begrüßte er mich mit einer Tatsache. »Wir haben alle höchste Alarmstufe aufs Handy bekommen. Was hast du angestellt? Hast du jemanden getötet?«
 

»Scheiße, nein!«, keifte ich gegen mein Lenkrad. »Ich habe nur mit Kusmin gesprochen, mehr nicht!«
 

»Freya übertreibt wieder einmal maßlos. Sie will wirklich deinen Kopf rollen sehen. Was hat Kusmin gesagt?«
 

»Genau dasselbe wie Alexej.«
 

»Dann stimmt es also?«
 

»Ja«, seufzte ich und fuhr auf den Parkplatz des Shopping-Centers. Ich parkte zwischen tausend anderen Autos und kramte meinen Schal und Mütze raus. »Ich bin jetzt auf der Flucht Ethan. Sie werden unser Gespräch nachverfolgen können. Du bist also auch nicht mehr sicher, wo du bist.«
 

»Wo bist du gerade?«
 

»Auf dem Parkplatz des Shopping-Centers, wo ich gearbeitet habe. Ich werde mir schnell ein Prepaid Handy kaufen und mich von Cindy verabschieden. Danach werde ich zu Alexej fahren.«
 

»Gut«, murmelte Ethan. »Ich werde es dir gleichtun. Wie bleiben wir in Kontakt?«
 

»Wir treffen uns morgen um 16 Uhr am großen Tannenbaum im Center.«
 

»Bist du verrückt? Da werden überall Menschen sein! Vermutlich auch Einsatzkräfte!«
 

»Deswegen ja«, murmelte ich und versteckte meine braunen Haare in der Mütze. »Wir können in der Masse verschwinden. Glaub mir, es wird morgen unerträglich werden. Heilig Abend ist in zwei Tagen. Die Leute werden ausrasten.«
 

Ethan seufzte deutlich hörbar, willigte dann jedoch ein. »Na gut. Morgen um 16 Uhr am Baum. Ich werde verkleidet kommen.«
 

»Ja, ich auch. Aber wir erkennen uns, da bin ich mir sicher.«
 

»Alles Gute, Kyle. Lass dich nicht töten.«
 

Da musste ich traurig lachen. »Du dich bitte auch nicht.«
 

Dann legten wir auf. Das Handy ließ ich im Auto ausgeschaltet liegen. Sollten sie es orten, dann würden sie nur meinen leeren Wagen finden.
 

Auf dem Weg ins Center mit meinen drei Koffern fühlte ich mich nicht sehr unauffällig. Allerdings schenkten mir kaum irgendwelche Leute Aufmerksamkeit, da sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ich machte Halt bei der Bank und leerte mein Konto. Die Dame sah mich verwundert an, doch ich bat sie inständig darum. Eine Unterschrift hier und eine Unterschrift da und ich hatte einen Teil meiner Ersparnisse in der Hand. Meine Kreditkarte ließ ich sofort sperren. Und über mein Konto in Luxemburg wusste niemand etwas. Die dazugehörigen Dokumente hatte ich verbrannt. Vermutlich würde es trotzdem nicht lange dauern, bis man es finden würde. Doch das musste nun warten.
 

Ich kaufte ein Prepaidhandy Mit Startguthaben und speicherte sofort alle wichtigen Nummern, die ich vorher in einem Notizbuch notiert hatte.
 

Alles, was ich tat, wirkte auf einmal so fern. Wie in Watte gepackt. Ich realisierte noch nicht so wirklich, dass ich gerade mein Leben aufgegeben hatte. Dass ich nichts mehr besaß, außer das, was ich in den Händen hielt.
 

Cindy stand mit ihrer neuen Liebe hinter der Kasse und unterhielt sich freudestrahlend mit ihr. Ich ging nicht rein, sondern blieb einfach vor dem Fenster stehen. Sie sah mich nicht und vielleicht war das auch gut so. Die Zeit drängte, also schnappte ich meine drei Koffer und machte mich auf dem Weg zur U-Bahn.
 

Dieses Leben, so wie es war…
 


 

… war nun vorbei. Alle Konstanten waren verloren gegangen. Es blieb also an mir neue zu finden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Einfach so alles hinter sich lassen - könnte das jemand? :D

Ich glaube... ich hätte da so meine Schwierigkeiten. Aber wenn die Situation es verlangt, würde man sicher einen Weg finden...


Der Countdown hat jedenfalls begonnen! Nur noch ein paar Tage, dann ist der Adventskalender für dieses Jahr geschafft :D Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Jitsch
2018-12-19T19:09:09+00:00 19.12.2018 20:09
Also wenn ich ehrlich bin hat Kusmin aus meiner Sicht überhaupt nichts bestätigt. Er hat Kyle gefragt qas der weiß und im Prinzip nur alles abgenickt. Andererseits wäre es vermutlich auch schwer ihn dazu zu bringen diese Dinge von sich aus zuzugeben weil es auch ein Trick sein könnte um für den Geheimdienst herauszukriegen wie viel er weiß. Hm. Auf jeden Fall hat sich Kyle jetzt doch recht schnell entschieden. Ich könnte das so nicht, aber ich bin auch in einer festen Beziehung und wurde nicht gerade gefeuert also ist das schwer vergleichbar.


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