SANTA kills (Adventskalendergeschichte) von ellenchain ================================================================================ Kapitel 15: Wo bist du? ----------------------- Erneut war da nur weiß um mich herum. Das kahle Krankenzimmer, mit dem ich all die Jahre fast schon Freundschaft geschlossen hatte, fühlte sich auf einmal klinischer an, als sonst. Fremdartig. Als würde ich nicht hierher gehören. »Kyle«, hauchte Ethan meinen Namen. Er saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und sah sowohl erleichtert, als auch besorgt aus. »Schön, dass du wach bist.« Ich brummte irgendetwas und schloss erneut meine Augen. Da lag eine Last auf mir, die ich nicht benennen konnte. Kein Schmerz, einfach nur… Schwere. »Du bist einfach so zusammengebrochen. Sie sagten vom Schock«, erklärte Ethan und bemühte sich um ein Lächeln. »Sie fanden dich im Keller von Mr. Greens Haus. Freya war außer sich. Sie ist ziemlich wütend.« Langsam öffnete ich wieder meine Augen. Neben Ethan standen mein Tropf und eine Uhr. Es war kurz vor zehn am Abend. Noch derselbe Tag. »Sie vermutete, dass du zu ihnen gehörst. Weil du unverletzt warst und… sie nicht aufgehalten hast, als sie flohen. Ich konnte ihr erklären, dass du von vornherein vorhattest, eher da zu sein, weil du … wütend warst, dass sie dich nicht eingesetzt hat. Sie glaubte mir nicht wirklich. Jetzt überlegt sie, ob sie dich einfach nur feuern oder gar den Prozess machen soll.« Ich seufzte langgezogen, antwortete aber nicht. Stattdessen starrte ich auf die Glastür, an der immer mal wieder Ärzte oder andere Kollegen vorbeigingen. »Die Kollegen sagten, es war ein Blutbad. Wolkow hat wohl ziemlich viele von uns erlegt.« Bei seinem Namen zuckte ich zusammen. Ethan redete weiter, wie viele Leute wir verloren hatten und wie beeindruckt er von Wolkows Schießfähigkeiten war. Doch ich driftete ab. Und dachte an den Kuss. Der schnelle, einfache und doch so innige, irgendwie schöne Kuss. Wieso hat er das getan? War das eine Art der Zuneigung in Russland? Andere Männer einfach so küssen? »Jedenfalls müssen wir ganz schön viele neue rekrutieren und das wird Mr. Williams überhaupt nicht gefallen, weil –«, erzählte Ethan weiter und kam gar nicht mehr aus seinem Redefluss raus, bis ich ihn heiser unterbrach. »Wo ist… er?« Mein Kollege hielt inne. Für einige Momente lang schwieg er. »Wolkow?«, fragte er schließlich vorsichtig nach. Ich nickte. »Weg. Genauso auch Irina Iwanowna und die anderen beiden Männer. Ihre Flucht ist gelungen.« Ethans Ton war platt und verhieß nichts Gutes. Ein Stein fiel mir vom Herzen, auch wenn es unangebracht war, erleichtert zu sein, wenn die Feinde geflohen waren. »Glaubst du auch… ich habe ihnen geholfen?«, fragte ich leise nach und sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Er haderte offensichtlich mit sich und knibbelte an seinen Fingernägeln. »Du warst der einzige, der unverletzt blieb, während alle um dich herum erschossen wurden, Kyle. Wieso hat Wolkow dich verschont? Wieso hast du Irina Iwanowna nicht geholfen?« Ich brach den Augenkontakt. Eigentlich hätte ich ihm gerne alles erzählt. Von Anfang an. Wie ich erst mit Wolkow sprach und wie er mir indirekt sagte, dass wir nicht kämpfen werden. Wie Mr. Green reinkam, nicht wusste, was los war und wieso der MI6 bei ihm zu Hause stand. Wie Irina Iwanowna unversehrt und aus freien Stücken bei ihnen war. Wie sie diskutierten, wie sie sich gemeinsam halfen. Wie Wolkow mich mitnehmen wollte, angeschossen wurde. Und mich am Ende küsste. Doch ich wusste nicht wie tief Ethan verwickelt war. Er war eine Vertrauensperson, ein Freund – manchmal fühlte es sich sogar wie Familie an. Aber ich konnte nicht sicher sein, ob er nicht doch mit Freya unter einer Decke stand. »Hast du… Freya gesagt, dass ich dort war? Die Einsatzkräfte… waren eine halbe Stunde zu früh dort«, murmelte ich leise und sah wieder zu ihm. »Kyle…, wenn du die Frage nicht beantwortest, werde ich mir selber meine Antwort denken müssen«, seufzte Ethan und ließ resigniert die Schultern fallen. »Das muss ich dann wohl auch«, entgegnete ich ihm und sah wieder in die Ferne. Er schwieg. Seufzte leise. Knibbelte weiter an seinen Nägeln. »Ich hatte Angst«, hauchte er auf einmal in die stille Luft des Krankenzimmers. »Ich hatte Angst, sie würden dich umbringen. Also bin ich zu Freya und hab ihr gesagt, dass du auf eigene Faust los bist. Eine halbe Stunde früher als alle anderen, um Wolkow zu stellen. Sie ist ausgerastet, aber behielt ihre Professionalität – du kennst sie ja. Schließlich sind sie alle früher angerückt. Anscheinend aber nicht früh genug.« Ich schnaubte aus und lehnte meinen Kopf zur Seite, sodass Ethan mein Gesicht nicht sehen konnte. Diese Ungewissheit, was eigentlich passierte und wieso es passierte, machte mich verrückt. Ich habe den Kaninchenbau gesehen, aber nicht betreten, weil man mir sagte, dass es falsch sei. Nach allem, was ich gesehen hatte, wollte ich unbedingt wissen, was sich genau in diesem Kaninchenbau befand. Wolkow und Irina Iwanowna? Die anderen Männer? Die russische Mafia? Gangster? Oder doch etwas ganz anderes? Ethan wünschte mir dann eine gute Besserung und verließ das Zimmer. Kurz vor Mitternacht entließ ich mich selber, indem ich die Infusion aus dem Arm zog und das Gebäude verließ. Man hielt mich nicht fest – ich hatte auch keine Ambitionen abzuhauen. Außerdem würde man mich sofort an der Grenze festhalten. Da müsste ich schon mit gefälschten Papieren und einer Menge krimineller Energie vor einer Sache fliehen, die ich ja sowieso nicht begangen hatte. Ich habe ihnen nicht geholfen. Ich war einfach nur… passiv dabei gewesen. Zu Hause angekommen trank ich ein paar Gläser Whiskey. Der Alkohol machte mich müde und doch enorm wach. Immer wieder dachte ich über die Ereignisse nach und was passiert wäre, wäre ich mitgegangen. Mrs. Iwanowna hatte mich als Wolkows Haustier beschimpft. So oft waren wir uns doch gar nicht begegnet, dass er einen solchen Gefallen an mir hätte finden können, oder doch? Mr. Green wollte, dass ich sie in Ruhe lasse. Aber Mrs. Iwanowna hat uns doch beauftragt, oder nicht? So viele Fragen schwirrten durch meinen Kopf, dass es fast wehtat weiter nachzudenken. Der Alkohol machte es nicht einfacher. Im Laufe des Abends kramte ich mein Handy aus der Tasche. Ich hatte es vor dem Vorfall im Auto liegen lassen und erst jetzt wieder in die Hand genommen. Eine Nachricht von Santa. »Sie hätten es nicht tun sollen. Aber ich will Sie wiedersehen.« Immer wieder las ich über diese Zeilen. Las ich gerade eine SMS von Santa oder von Wolkow? Die Grenzen verschwammen auf einmal. Mein Herz pochte. Ich wurde nervöser, je öfter ich die Nachricht las. Sie kam erst um 18 Uhr an. Nachdem alles gelaufen war. Nachdem sie geflüchtet waren und ich vermutlich schon im Krankenhaus lag. Konnte Santa wirklich ein so gutes Timing gehabt haben? War es Zufall? Für den Moment wollte ich nicht weiter darüber nachdenken. Es war bereits drei Uhr in der Früh. Nach weiteren drei Gläsern Whiskey schlief ich dann endlich auf dem Sofa ein. Am nächsten Morgen bekam ich sofort einen Anruf von Freyas Sekretärin. Sie teilte mir mit, dass ich bis auf unbestimmte Zeit suspendiert war und dass ich meine Waffen und Ausweise bitte sofort vorbeibringen sollte. Zähneknirschend nahm ich die Kündigung hin und packte alles zusammen. Auf der Arbeit ignorierte man mich oder man sah mir finster hinterher. Freya war nicht persönlich zugegen, als man mir alles nahm, was ich für diesen Job bekommen hatte. Selbst den Ausweis für den Aufzug nahm man mir weg. Ethan stand weiter weg und beobachtete alles. Er sah traurig aus und klammerte sich an einen Stapel Akten, als könnten sie ihm Halt geben. Später kam er dann noch kurz zu mir, bevor man mich eskortierte. »Kyle, es tut mir so leid«, sagte er hastig und drückte mich feste an sich. »Ich wollte nicht, dass das passiert!« »Ist schon okay, ich bin ja selber schuld«, murmelte ich und löste mich von ihm. Sein Parfüm oder Deodorant roch viel zu intensiv. »Ich werde mit Freya reden. Sobald wir Mrs. Iwanowna haben und Wolkow hinter Gittern oder unter der Erde ist… wird sie dich bestimmt wieder holen. Du hast deine Arbeit bisher ja immer umwerfend gut gemacht! Es wäre eine Schande, dich einfach so zu feuern!« Mehr als ein müdes Lächeln blieb mir nicht übrig. Die Unterschrift zur Verschwiegenheit hatte ich bereits gegeben. Vermutlich hatte man mir sogar schon eine Abfindung aufs Konto überwiesen, damit ich mich auch ja aus zukünftigen Angelegenheiten raushalten würde. Als ich wieder im Auto saß und mich ziemlich elendig fühlte, weil ich gerade den besten Job der Welt verloren hatte und noch immer in einem Pool voller Fragen saß, entschied ich mich ins Center zu fahren. Mir war nach starken Armen, die mich festhielten und mir sagten, dass alles wieder gut werden würde. Und weil ich wusste, dass Santa das gut konnte, wollte ich ihn sehen. Im Center angekommen bereute ich die Entscheidung immens. Es war voll, stickig und einfach unerträglich. Weihnachten war nur noch eine Woche entfernt und die Leute wurden panisch. Oder waren einfach in Stimmung eine Menge Geld auszugeben. Ich fuhr in den ersten Stock und besuchte Cindy. Sie stand mit einer Aushilfe, die nur für Weihnachten engagiert wurde, an der Kasse. Es dauerte eine Weile, bis sie mich erkannte und strahlend auf mich zukam. »Na? Magen-Darm überstanden?«, kicherte sie und zwinkerte mir zu, während wir uns in ein ruhigeres Eck im Laden stellten. Als ich nur traurig lächelte, verstummte ihre Freude. »Was ist los?« »Hab gerade meinen Zweitjob verloren«, nuschelte ich in meinen Kragen und hob beide Augenbrauen hoch, um nicht in Tränen auszubrechen. Nicht, dass ich nah am Wasser gebaut war. Aber… das Ganze war einfach zu viel. »Oh, fuck«, entfuhr ihr aus den Lippen. »Das ist ja scheiße.« Ich nickte zustimmend, sagte jedoch nichts. »Frag am besten, ob du auf Vollzeit gehen darfst. Ich mein – ich würde mich freuen! Dann sehen wir uns öfter«, lachte sie aufbauend und streichelte meinen Arm. »Bin mir sicher, du darfst aufstocken. Und für die Dauer findest du bestimmt wieder was anderes.« Erneut nickte ich und bemühte mich, ihr Lächeln zu erwidern. »Danke, Cindy. Ich geh mich jetzt ein bisschen trösten«, sagte ich deutete auf den Ausgang des Ladens. »Vielleicht kann mich der Weihnachtsmann ein bisschen aufheitern.« Cindy presste ihre Lippen aufeinander. »Der ist heute gar nicht da. Schätze mal, er hat frei.« »Nicht? Aber… eigentlich ist doch heute sein Arbeitstag…« »Ja? Ich habe keine Ahnung. Da musst du Chris fragen«, sagte sie und zuckte mit ihren Schultern. »Vielleicht hat er Stunden getauscht. Ich hab ihn jedenfalls heute noch nicht gesehen.« Meine Vorfreude auf ihn und eventuell guten Sex sank sofort auf den Boden. »Ich … geh einfach mal fragen«, murmelte ich und verabschiedete mich dann. Eine kurze Umarmung folgte, bis ich dann schließlich den Laden verließ. Mit großen Schritten versuchte ich mich durch die Menge zu quetschen. Im Erdgeschoss standen dann die Engelchen und verteilten Schokolade. Gerade, als mir eine blonde Frau im Kostüm ein Täfelchen geben wollte, erkannte sie mich. »Oh, Sie sind doch Jurijus‘ Freund«, bemerkte sie und legte das Täfelchen wieder zurück. »Der ist heute nicht da.« »Ich verstehe …«, murmelte ich und nickte, als würde ich es tatsächlich verstehen, tat ich aber eigentlich nicht. »Ich dachte eigentlich, dass er heute Schicht hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Nee, also man hat uns heute Morgen gesagt, dass er nicht da ist. Vielleicht gab es eine Änderung.« Damit drehte sie sich wieder um und begrüßte kleine Kinder. Ich ließ es damit bleiben. Dann war er eben nicht da. Stattdessen schrieb ich ihm eine SMS. »Ich wollte Sie heute sehen, aber leider waren Sie nicht da. Vielleicht dann ein anderes Mal?« Auf diese SMS bekam ich allerdings den restlichen Tag über keine Antwort. Auch am nächsten Tag erhielt ich keine Rückmeldung. Nach einem großzügigen Frühstück machte ich mich erneut auf zur Shoppingmall. Meine Spätschicht begann erst in einer halben Stunde, als nutzte ich die Zeit und fuhr als erstes ins Erdgeschoss. Doch ich stieß erneut nur auf die Engel. »Nee, der ist heute wieder nicht da. Glaube, er ist krank. Keine Ahnung, da müssen Sie in der Personalabteilung mal fragen.« Da dafür allerdings keine Zeit war, stand ich meine Schicht über stumm und etwas angesäuert hinter der Kasse. »Hast du denn nicht seine Nummer?«, fragte Cindy, während sie Waren scannte. Die Aushilfe packte derweil alles schön ein. »Doch«, antwortete ich grimmig und faltete Seidenpapier über eine viel zu teure Jeans. »Aber er hat gestern nicht geantwortet und heute auch nicht. Ich will keine Klette sein.« »Naja, Klette«, zuckte Cindy mit den Schultern, »ist etwas ganz anderes. Du schreibst ihm ja nicht stündlich. Außerdem kannst du ja nach seinem Befinden fragen, sollte er wirklich krank sein. Und er hätte ja mal Bescheid sagen können. Wobei … er ist ein Mann, die denken oft nicht so weit.« Darauf folgte ein dramatischer Seufzer. Sowohl von ihr als auch von der weiblichen Aushilfe. »Ich bin auch ein Mann, sollte es niemandem hier aufgefallen sein. Und ich verstehe auch nicht, wieso er nicht antwortet oder mir Bescheid gibt, dass er krank ist. Allerdings waren wir auch nicht fest verabredet. Er hat auch keine Pflicht mir gegenüber, sich über sein Befinden zu äußern oder seinen Standort abzugeben. Ich will ihn einfach nur wiedersehen nach so viel… Ärger.« Und das war wahr. Ich wollte ihn einfach wiedersehen. Nach meiner gefühlt unendlich langen Schicht, ging ich zu Chris in die Personalabteilung. Er wollte schon seine Sachen packen und gehen, da hielt ich ihn in der Tür auf. »Chris, hast du eine Minute?«, fragte ich aufgebracht, in der Hoffnung, er würde sich erweichen noch etwas zu bleiben, wenn es dringend zu sein schien. »Äh, also eigentlich …«, druckste er rum und zog seine Tasche über die Schulter. »Es geht um den Weihnachtsmann. Er war gestern und heute nicht da. Weißt du wieso?« Da zuckte er die Schultern. »Na, er ist halt krank. Ist zwar nicht so cool gerade so vor Weihnachten, aber erwischt halt viele. Wir suchen gerade noch nach einem Ersatz. Hast du vielleicht Lust?« »Nein«, sagte ich sofort. »Hat er gesagt, was er hat?« »Nö.« Damit drückte mich Chris aus der Tür und schloss das Personalbüro ab. Er wünschte mir noch einen schönen Abend und sagte, ich könne ja morgen nochmal vorbeikommen, sollte mein Weihnachtsmann immer noch krank sein. Als ich zu Hause war, schickte ich ihm erneut eine SMS. »Ich habe gehört, Sie sind krank. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen eine gute Besserung. Bitte melden Sie sich doch.« Und nachdem ich aus Verzweiflung eine halbe Flasche Rum geleert hatte, fügte ich noch hinzu: »Ich vermisse Sie.« Am nächsten Morgen stand ich extra früh auf, ging vor meiner Schicht ins Personalbüro und wartete darauf, dass Chris erschien. Es war bereits der dritte Tag und Santa meldete sich nicht. Langsam machte ich mir Sorgen. Sowohl um das eine als auch das andere. Denn Wolkow und die anderen hatte man seither auch nicht gefunden. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Man hatte die Grenzen abgesichert und überall Fotos von ihnen verteilt, damit auch Dritte sie finden konnten. Das alles hatte ich von Ethan. Er hatte mich in meinem traurigen Suff angerufen und mir alles erzählt, was er wusste. Er entschuldigte sich mehrmals und hoffte immer noch, ich würde wiederkommen. Meine Vermutung, er würde mit Freya unter einer Decke stecken, verflüchtigte sich zunehmend. Trotzdem konnte ich ihm noch nicht vollends trauen. Also behielt ich die haarigen Details des einen Nachmittags doch lieber für mich. Chris kam etwas zu spät, seufzte aber sofort, als er mich an der Tür stehen sah. »Okay, es ist dir also echt wichtig«, brummte er, während er das Büro aufschloss. »Komm rein.« Ich folgte ihm in das kleine Kabuff und wartete, bis er seine Sachen organisiert hatte. Meine Schichte fing gleich an, ich würde definitiv zu spät kommen. Aber das war es mir wert. »Also, was willst du wissen?« »Ist er krank? Heute auch?« »Ja. Also nein«, seufzte er. »Er hat gekündigt. Eigentlich hätte er eine Kündigungsfrist gehabt, aber er war ja noch in der Probezeit. Also… ja. Er kommt nicht mehr.« Für einen Moment blieb die Welt stehen. Es war also tatsächlich ein Abschied gewesen. »Okay…«, hauchte ich tonlos in den stillen Raum. Ich blinzelte ein paar Mal, bis Chris angewidert gluckste. »Bitte heule jetzt nicht, Kyle. Er ist nur eine Aushilfe gewesen.« »Ja, sicher…«, schniefte ich leise, ohne eine Träne aus meinem Auge zu lassen. Ich kämpfte regelrecht gegen mich selber, damit ich nicht in Tränen ausbrach. »Er hätte nur wenigstens etwas sagen können. Wir waren gut… befreundet.« Da zuckte er emotionslos mit den Schultern. »Wenn ihr so gut befreundet wart: wieso gehst du ihn dann nicht besuchen und ihr redet drüber? Wie Freunde das so machen?« »Ich weiß… nicht wo er wohnt.« Traurigerweise. Chris seufzte langgezogen und schaltete den Computer ein. Er tippe eine Weile darauf rum und gerade, als ich mich verabschieden wollte, weil nichts mehr passierte, winkte er mich zu sich. »Hier, das ist seine Adresse«, murmelte er und kritzelte auf einem Zettel. »Eigentlich darf ich dir sowas nicht geben, aber ich kenn dich ja jetzt lang genug. Du machst damit keinen Scheiß, ja?« »Niemals«, nickte ich zustimmend und nahm den Zettel mit beiden Händen dankend an. »Hast du seine Nummer?« »Ja, die habe ich… « »Gut, dann hab wenigstens die Güte und kündige dich vorher an«, brummte Chris, bohrte kurz gelangweilt in seiner Nase und drehte sich zurück zum PC. Danach ignorierte er mich, also nahm ich das als Indiz zu gehen. Ich hechtete zum Laden, wo mein Chef mich sofort rügte, dass ich pünktlicher sein sollte, wenn ich mehr Stunden haben wollen würde. Cindy lächelte schwach und winkte mich sofort zur Kasse. »Hab schon alles für dich gemacht«, sagte sie leise und begann die ersten Kunden zu bedienen. »Kasse ist gezählt, alles sauber gemacht und aufgeräumt.« »Ich danke dir vielmals, Cindy«, säuselte ich niedergeschlagen und begann meine Arbeit. Sie warf mir noch einen traurigen Blick zu, sagte jedoch nichts mehr. Wenn die ganze Situation nicht so abgrundtief schmerzlich gewesen und ich nicht wie ein Trauerkloß durch die Weltgeschichte gelaufen wäre, hätte sie mich vermutlich mit meiner plötzlich auftretenden Höflichkeit aufgezogen. Die Tage vergingen wie in Trance. Immer wieder dachte ich an Santa. Und dann an den Tag, an dem mich Wolkow küsste. An dem er mich mitnehmen wollte. Offensichtlich nicht als Geisel. Sondern als Begleiter? Wir hatten uns doch erst drei Mal gesehen! Und alle die Male davor wirkte er nicht sehr freundlich. Ganz im Gegenteil – wir haben uns gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Ich hatte ihn sogar schwer verletzt. Er war wütend gewesen, das hatte ich sofort gesehen. Aber sonst? Und dann verschwand Santa. Genau zur selben Zeit. Nach allem, was er mir sagte und schrieb, stieg in mir die Vermutung, dass die beiden sich kannten und miteinander zu tun hatten. Die Adresse, die mir Chris gegeben hatte, war tatsächlich die, an der wir am Abend, wo alles begann, mit dem Taxi angehalten hatten. Nur ein paar Straßen weiter entfernt war seine Wohnung gewesen. Obwohl mir Chris geraten hatte, Santa vorzuwarnen, tat ich es nicht. Stattdessen steckte ich mir meine Pistole ein, die ich mir vor Jahren eigenständig gekauft hatte – wo man mir ja meine Dienstwaffe genommen hatte. Sie war kleiner und vermutlich nicht so einschüchternd wie die andere, aber sie erfüllte ihren Zweck, sollte sich meine schlimmste Vermutung bestätigen. Vor Santas Wohnkomplex blieb ich stehen und parkte direkt vor der Tür. Es war eine nette Gegend. Nicht besonders schön, aber auch nicht besonders hässlich. Das Wohnhaus, in dem er leben sollte, war ein typischer Betonbau. Die Miete war vermutlich günstiger als woanders. Mit schwerem Herzen und einer Menge Panik trat ich zum Klingelschild. Sein Name war mit einem weißen Zettel auf das Plastik geklebt und teilweise vom Schnee beschäftigt worden. Er schien also noch nicht lange hier zu wohnen. Was sollte ich überhaupt sagen? Er würde mir nicht aufmachen, sobald er meine Stimme hörte. Er ignorierte mich. Wieso sollte er mich dann auf einmal reinlassen? Also klingelte ich bei jemand anderem. »Hallo?«, erklang eine junge Damenstimme. Perfekt. »Hallo, ich bin Paketbote und habe ein Päckchen abzugeben. Die Empfänger sind wohl nicht da, daher würde ich das Päckchen gerne in den Flur stellen, wenn das in Ordnung geht. Es würde sonst in dem ganzen Schnee einweichen und nass werden. Wenn Sie mich also kurz reinlassen könnten?« »Oh, ja aber sicher! Kein Thema!«, sagte sie schnell und drückte tatsächlich den Knopf für die Eingangstür. »Vielen Dank!«, schrie ich noch in die Sprechanlage, dann trat ich ein. Ich hörte noch ein glucksendes »Bitteschön!« von draußen, als die Tür dann zufiel. Das Treppenhaus war schon etwas in die Jahre gekommen, aber sah soweit gepflegt aus. Einige Mieter hatten kleine Schuhschränke oder andere Möbel in den Flur gestellt. Ich ging leise die Treppen hoch und inspizierte jedes Türschild. Eine Menge Namen, teilweise ausländisch, teilweise englisch kamen mir unter. Bis ich schließlich im dritten Stock auf seinen Nachnamen traf. Ich lehnte mich leise an die Tür, um zu horchen. Als ich nichts hörte, klingelte ich mit zittrigen Händen. Eine Hand lag auf meiner Waffe, die im Hosenbund hinter der Jacke steckte. Gerade, als ich erneut klingeln wollte, hörte ich Schritte. Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. »Ja?«, hörte ich seine Stimme, als die Tür aufging. »Santa?«, fragte ich erleichtert und lächelte bereits breit. »Entschuldigung, dass ich Sie so überfalle, aber –« Blaue Augen. Längeres lockiges Haar, was ihm in den Augen hing. Drei-Tage-Bart. Schwarzes T-Shirt mit schwarzer Hose und einer Bandage am Arm und einer weiteren deutlich sichtbaren unter dem T-Shirt am Torso. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)