SANTA kills (Adventskalendergeschichte) von ellenchain ================================================================================ Kapitel 5: Warnung ------------------ Nach einer sehr ruhigen Nacht saß ich motiviert im Büro am Schreibtisch und googelte sämtliche Namen und Adressen durch. Ethan las derweil weiter seine Comics und tat so, als wäre er nur eine auf kurze Dauer eingestellte Hilfskraft, die sowieso von nichts eine Ahnung hatte. Als meine Augen langsam wund wurden, lehnte ich mich seufzend zurück und starrte an die hässliche Decke unseres Büros, bei der die Architekten wohl keine Lust oder Zeit mehr hatten, die formschönen Rohre zu verkleiden. »Was gefunden?«, fragte Ethan und sah von seinem Heftchen auf. »Oder immer noch nichts?« Ich streckte mich ein wenig, bevor ich antwortete, und spürte sofort meine Rippe. »Viele schöne Einfamilienhäuser. Wirkt nicht gerade wie der typische Ort, an dem sich russische Gangster zurückziehen, um eine Geisel zu halten.« »Vielleicht gerade deswegen?« Mein Kollege klappte das Heft zu. »Wäre Wolkow nicht so dumm gewesen und in voller Öffentlichkeit ohne Verkleidung oder Tarnung rumzulaufen, hätten wir sie ja auch so schnell nicht gefunden.« Ich vermutete immer noch, dass das eine Falle sein sollte. Oder war Wolkow wirklich so dämlich, dass er die ganzen Kameras in Londons Straßen nicht gesehen hat? »Ja, das war schon Glück …«, murmelte ich schließlich, ohne weiter auf diese Begebenheit einzugehen. Ethan beobachtete mich einige Sekunden, bis er sich auf die Tischplatte seines Schreibtisches stützte. »Bisher scheinen sie auch noch da zu sein. Keine neuen Aufnahmen von Wolkow gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Ort noch nicht gewechselt haben, ist recht hoch.« Mein Blick wanderte langsam zu meinem Kollegen, der mich breit angrinste. »Wolltest du nicht mal vorbei fahren? Sich ein bisschen… umschauen?« Ich presste meine Lippen aufeinander. Seine Art und Weise, wie er es sagte, machte mich etwas stutzig. »Willst du etwa mit?« Da streckte er seine Arme hinter den Kopf und lachte. »Ich war ewig nicht mehr im Außeneinsatz. Und du bist noch angeschlagen. Ein bisschen Hilfe wird dir gut tun. Vier Augen sehen mehr als zwei.« Auch wenn ich Partnerarbeit wie die Pest mied, musste ich seiner Argumentation zustimmen. Es würde ein ruhiger Ausflug werden – und wenn nicht, hatte ich Unterstützung. Zwar wusste ich nun, worauf ich mich einließ, aber wenn Wolkow noch einmal mit voller Kraft auf mich einschlug, wäre ich Matsch gewesen. »Na, schön.« In der Tat war der kleine Vorort sehr schön. Viele Einfamilienhäuser, aber auch einige Mehrfamilienhäuser reihten sich aneinander. Einige davon mit schicken Gärten oder ganzen Grünanlagen. »Sieht teuer aus«, murmelte Ethan, während er wie ein kleines Kind aus dem Fenster blickte und neugierig jedem Passanten ins Gesicht sah, den er im Umkreis von 20 Metern sehen konnte. »Glaubst du, die Russen haben hier wen überfallen? Vielleicht auch als Geisel genommen?« Ich fuhr weiter die kleinen Straßen entlang, bis wir an einer Ampel stehen blieben. »Ich denke nicht«, sagte ich leise. »In so einer Nachbarschaft scheint man sich zu kennen. Es wäre aufgefallen, wenn jemand auf einmal nicht mehr rauskäme. Viel eher glaube ich an Einbruch, während die Besitzer im Urlaub sind. Oder sie hatten einen Mittelsmann mit viel Geld.« »Oh, also ein reicher Mann, der hier wohnt, und einfach so russische Gangster in sein Haus lässt?« Ich zuckte die Schultern und fuhr weiter, als die Ampel umschlug. »So in etwa.« Das waren natürlich alles reine Spekulationen, mit Fakten konnten wir hier nicht wedeln. Ich grübelte einige Zeit darüber nach, wieso Freya mir oder eher uns nicht mitteilte, dass es sich hier um Geheimcodes ging. Für was oder für wen nützlich? Wieso Mrs. Iwanowna? Wenn eine Affäre dahinterstand, konnte ich bis zu einem gewissen Grad verstehen, dass man die Sache unter Verschluss halten wollte. Aber es ging hier um Menschenleben. Primär um das von Mrs. Iwanowna und sekundär um unser eigenes. Denn mit einem Typen, der Menschen mit bloßen Händen ausnehmen konnte, spaßte man nicht einfach so ein bisschen rum. Seine eiskalten Augen und seine donnernde Stimme kamen wie ein Flashback zurück in meinen Kopf. Da steckte eine Menge Ausbildung in diesem Mann. Und sehr viel Erfahrung. Ich hielt an einem kleinen Parkplatz vor einem Supermarkt an. Ethan sah verwundert raus, dann zu mir, dann wieder zum Supermarkt und hob schließlich beide Augenbrauen. »Gehen wir einkaufen?« »Nein«, sagte ich ruhig und holte mein Handy raus. »Hier können wir kurz stehen bleiben, ohne, dass uns jemand bemerkt.« »Äh, Kyle, hier sind überall Menschen, die uns sehen können. Ich denke schon, dass man uns sehr gut bemerken kann.« Ich warf einen gelangweilten Blick aus der Windschutzscheibe, wo ich eine Mutter mit ihrem kleinen Kind und Einkaufswagen hantieren sah. »Die meisten sind hier um einzukaufen. Natürlich wird der ein oder andere kurz zu uns schauen und sich fragen, wieso wir nicht aussteigen, aber grundsätzlich werden sie sich sofort wieder ihrer eigenen Tätigkeit widmen: nämlich Einkaufen. In einer einsamen Seitenstraße würden wir viel eher auffallen.« Mein Kollege schien noch nicht ganz überzeugt zu sein und runzelte die Stirn. Also fügte ich noch leicht schmunzelnd hinzu: »Notfalls schicke ich dich nachher kurz rein, um uns einen Kaffee zu holen.« Da lachte er sarkastisch auf und schnallte sich schließlich ab. Ich tippte derweil an meinem Handy rum und durchsuchte das Profil von Alexej Wolkow. Das Bild, was wir als Steckbrief hatten, war anscheinend ein Ausweisbild oder für einen Führerschein. Er starrte wie ein Häftling in die Kamera. Biometrisch war es mit Sicherheit, aber wenn Blicke töten könnten, wären wir alle verloren. Die etwas längeren, aber anscheinend sehr ungepflegten Haare, hatte er hinter die Ohren geklemmt. Seine Bartstoppeln ließen ihn noch ein bisschen mehr wie ein Obdachloser erscheinen. Nur der Stiernacken und die breiten Schultern zeigten deutlich, dass der Mann nicht auf der Straße lebte, sondern vermutlich in einem Fitnessstudio campte. Die markante Nase und die hohen Wangenknochen machten ihn trotz der anderen Merkmale irgendwie attraktiv. Er hatte was. Würde er sich mehr pflegen, die Haare vielleicht etwas besser legen und die unrasierten Stoppeln entfernen, könnte er als hübscher Mann durchgehen. Aber so? Beängstigend und irgendwie ein klassischer Stereotyp für einen Russen. Sogar das Silberkettchen hatte er umhängen. Zwar verdeckte es zum größten Teil das schwarze Shirt, was er trug, doch man sah am Nacken einzelne Glieder der Kette durchscheinen. Ich analysierte sein Profilbild für einige Minuten, bis Ethan auf meinen Handybildschirm starrte. »Versuchst du ihn dir einzuprägen?« »Seine Gesichtsmerkmale sind sehr markant. Und seine Augen ausgesprochen selten. Man sollte ihn eigentlich sofort auf der Straße erkennen. Vielmehr wollte ich mehr über ihn selbst erfahren«, murmelte ich vor mich hin und scrollte durch seine digitale Akte. »Er wurde wohl in St. Petersburg geboren. Sicher ist man sich nicht, da er ständig Identitäten wechselt. Sein Alter ist auch irgendwie ein Rätsel.« »Der gesamte Mann ist ein Rätsel. Man hat nur die Geschichten, die man sich über ihn erzählt.« »Also könnte nichts davon stimmen.« »Oder alles«, gab Ethan Konter und hob dabei seine Augenbrauen an, als würde er damit ‚Vorsicht, alter Knabe‘ sagen. Ich tippte zurück zu Wolkows Bild. »Erzähl mir, was du weißt.« »Die Geschichten über Wolkow?« »Nein, was der Sinn des Lebens ist«, antwortete ich sarkastisch und verdrehte die Augen. »Natürlich über Wolkow.« »Weißt du das denn nicht selber? Ich mein…, wenn man mal mit den Russen zu tun hatte, dann auch mit Wolkow.« »Ich hatte aber noch nie mit den Russen zu tun«, seufzte ich und rieb den Nasensteg. »Ethan, erzähl einfach. Ich weiß nichts über ihn. Oder über seine Herkunft. Eigentlich weiß ich auch kaum etwas über Russland und deren Sitten. Aber das musst du mir jetzt nicht auch noch erklären. Ich wollte ja nicht mit denen Tee trinken gehen.« »Die würden den auch eher höflich ablehnen, schätze ich«, spaßte Ethan und zwinkerte mir zu. Als ich ihm nur einen wartenden, leicht genervten Blick zuwarf, räusperte er sich verlegen und legte los. »Tja, also… Alexej Wolkow bereits als junger Typ seine eigenen Eltern umgebracht. Sie wollten die russische Mafia hintergehen, in die Wolkow reingeraten war. Er hat sie wohl einfach kaltblütig abgeschlachtet. Danach ging’s für ihn in eins dieser krassen Trainingslager, die kennst du doch, oder?« Ich nickte stumm, auch wenn ich sie nur aus Filmen und Büchern kannte. Aber ich ging mal davon aus, dass es einfach eine sehr harte Erziehung zum Kämpfen war. »Da hat er auch einige seiner Kollegen ermordet, weil sie ihm nicht gepasst haben. Und der Typ hat immer nur mit einfachen Mitteln gemordet! Ein Schlüssel oder eine Schere. Man sagt, er habe jemandem das Gehirn aus der Nase gezogen – mit einem Stift!« Das klang für mich etwas an den Haaren herbeigezogen, doch ich schwieg. An einigen Stellen musste ich eben selbst entscheiden, was stimmen könnte und was nicht. Ethan fuhr mit seiner Gruselgeschichte fort. »Nachdem er also dafür bekannt war, ein kaltherziger Mörder zu sein, wurde er schließlich von der Mafia abgeworben. Aber die hat ihm irgendwann auch nicht mehr gefallen – zu viel Regeln und so – da hat er sie auch umgebracht. Naja, nicht alle, aber du weißt schon. Genug, um rauszukommen. Und das alles mit seinen Händen. Ab da an war er dafür bekannt, der Schlächter zu sein, der dich mit Händen ausweiden konnte. Hat einige Aufträge angenommen, aber alles außerhalb von Großbritannien. Da waren viele Auftragsmorde dabei, aber auch Personenschutz. Ich schätze mal, er nimmt, was er kriegen kann, wenn es ihm viel Geld bringt. Jedenfalls sollte man sich von ihm fernhalten. Der Typ ist krass. Ein Glück eigentlich, dass er dich nicht umgebracht hat.« Ethans Gesichtsfarbe wurde blasser. »Vielleicht sollten wir doch lieber nicht nach ihm persönlich fahnden. Sondern den Standort ausfindig machen und dann eine Sondereinheit hinschicken. Bewaffnet mit allem Drum und Dran. Du weißt schon.« Ich schmunzelte vorsichtig, als ich merkte, wie viel Angst Ethan hatte. »Du bist ja auch sonst nicht im Außeneinsatz. Das ist vielleicht auch gut so.« »Kyle, der Typ wird dich in Stücke reißen, solltest du noch einmal auf ihn treffen.« »Willst du mich jetzt herausfordern, dass ich das Gegenteil beweise?« »Was?«, schrie er empört und wedelte mit den Händen. »Genau das will ich nicht! Wieso sollte ich dich tot wissen wollen?!« Mein Ego meldete sich zu Wort. Mein Verstand schaltete sich wie immer aus, wenn das passierte. »Du gehst also wirklich davon aus, dass ich mich einfach so von ihm töten lassen würde?« »Oh, Gott, Kyle, lass es«, warnte mich Ethan, bevor ich eine theatralische Einführung geben konnte, wie ich mich nicht einfach so von ihm töten lassen wollen würde. »Suchen wir Hinweise auf Mrs. Iwanowna. Sollten wir auf einen Ort stoßen, der das Versteck sein könnte, werden wir Verstärkung anfordern und uns zurückhalten. Wir sind nicht das Spezialeinsatzkommando. Wir sind der Geheimdienst. Unsere Aufgabe besteht darin im Geheimen verdeckt zu arbeiten und Informationen herauszufinden.« Ich nickte einfach nur und ließ es gut sein. Mit Ethan hatte ich schon tausend solcher Gespräche gehabt – er würde auch jetzt nicht verstehen, dass es mir ein inneres Bedürfnis war Wolkow die Schädeldecke einzuschlagen. Einfach nur deswegen, weil alle um mich herum der Meinung waren, dass ich es nicht könnte und es andersherum laufen würde. Gut, der Typ war groß und stark, aber ich war intelligent. Und nach seiner Fahrlässigkeit bezüglich der Kameras nach zu urteilen, war er es definitiv nicht. Auch seine grobe Art und Weise zu kämpfen wirkte eher hohl. Wenig durchdacht. Sondern einfach nur schlichte, rohe Gewalt. Wir durchfuhren für eine Stunde noch den weiteren Ort. Er war nicht sehr groß, jedoch groß genug, um in der Masse zu verschwinden. Sie hätten überall sein können. Keins der Häuser wies irgendwie daraufhin, dass es verbarrikadiert wurde und Gangster mit Geisel enthielt. Also fuhren wir unverrichteter Dinge wieder zurück ins Büro. Dort angekommen wurde Ethan bereits schlagartig müde und ging nach Hause. Ich setzte mich noch etwas an den Schreibtisch und versuchte weiter zu recherchieren. »Sie sollten auch nach Hause gehen, Mr. Lewis«, kam meine Chefin Freya auf ihren Stilettos angedampft und klatschte mir paradoxerweise zu ihrer Aussage noch mehr Akten auf den Schreibtisch. »Ich denke darüber nach«, nuschelte ich und musterte die Akten. »Was ist das?« »Menschen, die in den letzten drei Jahren mit Irina Iwanowna näher zu tun hatten. Einige davon sind nur mit Personendaten bestückt, die anderen waren teilweise polizeikundig und deshalb mit etwas mehr Informationen.« Meine Neugierde war geweckt worden. »Interessant«, bemerkte ich und sah Freya dabei tief in die Augen. »Haben Sie sie schon durchgesehen? War jemand dabei, der vermögend ist?« Sie blinzelte ein paar Mal, als wüsste sie nicht ganz, was ich von ihr wollen würde. »Ich habe sie überflogen, ja. Aber so genau habe ich nicht nachgeschaut. Wieso?« »Der Ort, wo Mrs. Iwanowna gehalten werden könnte, liegt in einem sehr teuren Viertel. Die Häuser und auch die Wohnung sind nicht billig. Aber es scheint, dass sie sich dort irgendwo aufhalten. Vermutlich haben sie einen dritten Mann, der ihnen hilft.« Freya nickte positiv überrascht und schob mir die Akten noch ein Stückchen weiter hin. »Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.« Damit ging sie. Eigentlich hätte ich sie damit konfrontierten müssen, dass sie die Geheimcodes vor uns geheim hält, doch ich erachtete es für klüger, diese Information erst einmal für mich zu behalten. Sie musste nicht wissen, dass ich es wusste. Früher oder später würde sie es herausfinden, aber hey – ihr Pech, es mir nie gesagt zu haben. Wer hier mit verdeckten Karten spielte, sollte nichts Gegenteiliges von den anderen erwarten. Ich ging die Akten nacheinander durch. Viele waren einfach frühere Mitschüler gewesen, die sie wieder getroffen hatte. Einige Kollegen aus der Kugelschreiberfabrik, die aber alle irgendeine Behinderung hatten. Bei näherer Recherche stellte ich fest, dass die Fabrik tatsächlich sehr viele Menschen mit Behinderungen einstellte. Interessant, dass Mrs. Iwanowna dann dort arbeitete. Aber vielleicht gehört sie zu den wenigen, die alle beaufsichtigte. Immerhin war sie bei der Warenprüfung gewesen. Ich notierte in meinem Gedächtnis, der Fabrik einen Besuch abzustatten. Schließlich kam ich auf zwei Menschen zurück, die wohlhabender Natur zu sein schienen: Nadia Gromow und Lee Green. Mrs. Gromow, eine junge Freundin von Mrs. Iwanowna, ist seit Jahren mit ihr befreundet, aber nicht sonderlich gut. Ihr Wohnsitz war jedoch nicht im gesuchten Ort. Mr. Green hingegen war mal Mrs. Iwanownas Nachhilfelehrer in der Schulzeit gewesen. Er war bereits einige Jahre älter, arbeitete als Dozent an einer Privathochschule. Ist dann aber letztes Jahr in Rente gegangen. Wieso war ein Nachhilfelehrer in diesem Stapel? Hatte Mrs. Iwanowna vielleicht eine Affäre mit ihm gehabt und sah ihn noch regelmäßig? Seine wohnhafte Adresse war leider auch ganz woanders. Aber nichtsdestotrotz recherchierte ich die Familienverhältnisse beider Parteien und siehe da: Mr. Green hatte eine Exfrau, die in genau diesem Örtchen lebte, wo Ethan und ich uns heute Mittag etwas umgeschaut hatten. Die Adresse war eindeutig. Ich speicherte sie ins Handy und packte meine Sachen. Es war vermutlich nicht sehr klug alleine mit einer geprellten Rippe in das vermeintliche Nest russischer Gangster zu fahren, aber ich war neugierig. Und ich wollte wissen, ob ich richtig lag. Ich wollte – nein ich brauchte die Bestätigung. Als ich ankam, dämmerte es bereits. Die Sonne stand schon am Horizont und läutete den frühen Abend ein. Die Straßenlaternen ging nacheinander an. Die Straße, in der das Haus stehen sollte, war ruhig. Einige Autos fuhren an mir vorbei, ansonsten war es eine reine Wohngegend. Schön gehalten mit kleinen Vorgärten und gepflegten Häuserfronten. Modern und doch irgendwie dem üblichen Häuserstil treu. Meine Hände zitterten etwas, als ich mich der Adresse näherte. Schließlich blieb ich einige Meter davon entfernt stehen. Es brannte Licht im Haus, doch man konnte nichts erkennen. Die Jalousien waren heruntergezogen. Ich hätte mich an das Fenster stellen müssen, um durch die kleinen Schlitze hindurchsehen zu können. Alles schien ruhig. Vor dem Haus parkte auch kein schwarzer Van, sondern ein ganz normaler Mittelklassewagen. Was mich allerdings stutzig machte, waren die Kleinigkeiten: keine Dekoration, nichts war weihnachtlich geschmückt. Das Auto war auch einfach gehalten, sehr gut gepflegt, ohne Plüschtiere oder anderen Schnickschnack. Der Garten allerdings sehr robust, ein bisschen Unkraut hier und da, keine Blumen, sondern nur Grün, was einfach zu pflegen war. Nach dem Geldeinfluss, den Mrs. Green und Mr. Green hatten, hätte man sich einen Gärtner leisten können. Doch es schien nicht von Wichtigkeit zu sein, ob der Garten gut aussah oder nicht. Das Auto hingegen war penibel und sauber. Keine Spuren von weiblichem Einfluss. Weder das Haus, noch das Auto, noch der Garten. Entweder war Mrs. Green also nie zu Hause und sie scherte sich auch wenig darum, wie ihr Haus aussah, und hatte offensichtlich eine Vorliebe für Autos – oder Mrs. Green lebte hier gar nicht mehr, sondern Mr. Green. Meine Neugierde stieg mit jeder neuen Information, die ich aus dem Anwesen bekam, also schnappte ich mir meine Waffe, steckte sie in die Halterung an meinem Brustkorb und stieg aus. Der Wind war kalt, aber trocken. Kein Schnee oder Regen in Sicht. Also schlich ich so leise wie möglich zum Haus. Die Nachbarschaft war still, ich ging davon aus, dass mich niemand gesehen hatte. Schnell wuselte ich mich durch den Vorgarten und huschte hinter eine Hecke, um in den hinteren Bereich des Hauses zu gelangen. Dort sah der Garten noch ungepflegter aus. Das Gras wuchs in alle Richtungen. Hier war länger niemand mehr gewesen. Das Haus diente einem anderen Zweck. Das Auto stand da nur zur Tarnung. So viel war klar. Mit der Hand ständig an der Waffe, kroch ich an den hell erleuchteten Fenstern vorbei und erreicht schließlich die Hauswand mit der Schiebetür zum Wohnzimmer. Man hörte keine Stimmen, auch keinen Fernseher oder Musik. Entweder war das Haus wirklich gut Schallisoliert oder – Ich wurde grob am Kragen gepackt und in die Mitte des Gartens geschleudert. Das kalte Gras schlug mir dabei unangenehm ins Gesicht. Trotz der kurzen Orientierungslosigkeit zog ich meine Waffe und richtete sie auf die dunkle Gestalt, die ebenfalls bewaffnet am Haus stand. Mein Puls schlug enorm schnell gegen meine Haut. Die Hände zitterten noch immer vor Aufregung. Selbst im Knien wankte ich. Nahkampf war wirklich nicht meine Stärke. »Alexej Wolkow, richtig?«, rief ich und stand mit etwas wackeligen Beinen auf. Der Mann, der offensichtlich Wolkow war, antwortete nicht, sondern starrte mich mit leicht aufgerissenen Augen an. Seine Aura versprühte eindeutig Feindseligkeit. Der Blick war starr auf mich gerichtet. Das waren die Augen eines Psychopathen. »Wo ist Irina Iwanowna?«, fragte ich, in der Hoffnung, er würde mir einen Hinweis geben. Ein Blick, ein Muskelzucken oder sonst etwas. »Ist sie da drin? Lebt sie noch?« Erneut antwortete er nicht. Stattdessen kam er auf mich zu. Die Waffe noch immer in der Hand, aber nicht auf mich gerichtet. »Stehen bleiben!«, rief ich und griff die geladene Waffe mit zwei Händen. »Oder ich schieße!« Wolkow blieb tatsächlich für einen Moment stehen. Vermutlich beobachtete er, wie sehr meine Hände und damit die Pistole zitterten. Seine Mundwinkel zuckten für einen Moment. Allein deswegen hätte ich schon gerne geschossen. Machte er sich etwa über mich lustig? Nur, weil ich Menschen nicht sofort zerfleische, wenn ich sie sehe? Und vielleicht etwas nervös bin, wenn ich vor genau so einem Monstrum stehe, dass so etwas tut? » Прочь отсюда«, sagte er in seiner dunklen, etwas beängstigenden Stimme. »Или я причиню тебе боль.« »Ich verstehe kein Russisch«, raunte ich angespannt und formte meine Augen zu schlitzen. »Scheiße, verstehen Sie mich überhaupt? Sprechen Sie englisch?« Erneut kam Wolkow einen Schritt auf mich zu. »Fuck, stehenbleiben!«, schrie ich panisch und schoss auf den Boden vor mir. Wolkow schien weniger erschrocken gewesen zu sein als ich. Er pirschte vor, griff nach meiner Waffe und verdrehte mir mein Handgelenk. Ich musste loslassen. Danach ging alles sehr schnell. Er schlug auf mich ein, ich schlug auf ihn ein. Ich traf ihn ein paar Mal in der Magengegend, was ihn schmerzerfüllt husten ließ. Dafür traf er mich im Gesicht, meine Lippe platzte auf. Ich schmeckte sofort Blut und hatte Angst, er hätte mir einen Zahn ausgeschlagen. Oder zwei. Ich versuchte immer wieder an meine Waffe zu gelangen, doch er packte mich ständig erneut am Kragen und warf mich zu Boden. Er schlug weiter auf mich ein – meine Rippe schmerzte in jeder Sekunde. Das Adrenalin in mir half, dass ich nicht wie ein ängstlicher toter Fisch im Gras lag, sondern mich so gut es ging verteidigte. Wolkow wiederholte hier und da seine Worte von vorher, die ich immer noch nicht verstand. Energisch und donnernd, wie man es sich bei einem wütenden Russen vorstellte. Er fluchte, als ich ihn in die Weichteile traf. Nicht mein bester Schachzug, aber es ging hier um Leben oder Tod. Ich nutzte die kurze Pause, um von ihm wegzukommen und meine Waffe zu suchen. Doch in dem dunklen Gras, der spärlichen Beleuchtung und der panischen Hektik, fand ich sie nicht. Stattdessen erinnerte ich mich an das Messer an meinem Gürtel. Ich fummelte es heraus, schaffte es gerade so, die Klinge rauszuholen, da warf mich der Koloss von Mann um. Mein Kopf schlug unangenehm auf den kalten Rasen auf, während ich mit den Händen vor mir her fuchtelte, um Wolkow auf Abstand zu halten. Ich schaffte es, ihm mit dem Messer am Arm zu treffen. Eine tiefe Schnittwunde, die sofort stark blutete. Er fluchte auf und griff nach seiner Waffe. Das war’s, dachte ich und versuchte noch, mich aus seinem Griff herauszuwinden. Er packte mich, während ich mich auf allen Vieren befand, drückte mich auf den Boden mit einer Hand und schoss vier Mal in den Boden um meinen Kopf herum. Ich zitterte. War still. Wartete auf den Gnadenstoß. Doch bis auf das laute Piepsen in meinem Ohr, vernahm ich nichts. Wolkow hatte mich noch immer auf den Rasen gedrückt, tat aber sonst nichts. Ich hatte noch immer die Augen zugekniffen und wartete auf meinen Tod. Schließlich spürte ich Wolkows unregelmäßigen und heißen Atem an meinem Ohr. Ich riss die Augen auf und sah die Grashalme vor meinem Gesicht an, während er mir finster zuflüsterte: »Прочь отсюда. И не возвращайся.« Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut. Ich verstand kein Wort. Was hatte er gesagt? Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, wie gelähmt ich eigentlich war, löste sich Wolkow von mir und stand auf. Ich traute mich nicht aufzublicken. Ich traute mich auch nicht, ihm hinterherzusehen. Irgendwann war einfach alles still. Nach mehreren Minuten, in denen das Licht im Haus ausging und man mehrere Schritte im vorderen Bereich vernahm, fuhr das Auto weg. Wolkow war einfach so gefahren. Mit Mrs. Iwanowna? Ohne sie? Mit jemand anderem? Wieso war niemand herausgekommen und hat ihm geholfen? Ich konnte mich kaum bewegen. Alles tat mir weh. Und ich zitterte noch immer. Der Schreck saß tief. Er hatte mich erneut verschont. Stattdessen hatte er mir eine Warnung zukommen lassen, die ich nicht verstanden habe. Mit Puddingbeinen begab ich mich zur Fensterfront des Hauses. Ohne das Licht sah ich rein gar nichts. Also beschloss ich Verstärkung anzufordern. Und zu hoffen, dass Wolkow nicht zurückkam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)