SANTA kills (Adventskalendergeschichte) von ellenchain ================================================================================ Kapitel 3: Augenkontakt ----------------------- Ich tat Cindy den Gefallen und kam tatsächlich einige Minuten früher zu Arbeit als sonst. Mein Chef war erst außerordentlich begeistert, dann außerordentlich wütend, als er erfuhr, dass Cindy etwas später kommen würde. Nichtsdestotrotz schlossen wir selbstverständlich den Laden auf, vor dem bereits einige Kunden ungeduldig warteten. Mein Blick huschte zum kleinen Weihnachtsmarkt und dem Tannenbaum. Davor stand der Stuhl mit demselben Schild wie vor zwei Tagen. Der gutaussehende Weihnachtsmann würde heute sicher wieder viele Kinder und viele Mütter glücklich machen. Ich kicherte über meine dreckigen Gedanken und begann die ersten Kunden zu beraten und zu kassieren. Nach einer Stunde huschte Cindy dann rein und fragte, ob es aufgefallen sei, dass sie nicht da war. Bei einer Crewgröße von sechs Menschen – Ja, Cindy. Das ist jedem aufgefallen. Aus irgendeinem Grund tauschten wir beide an dem Tag Kassen. Ich stand dieses Mal näher am Schaufenster und konnte runter auf den Weihnachtsmarkt schauen. Gegen Mittag saß er dann wieder da. Santa hörte sich geduldig ganz viele Wünsche an, die er niemals erfüllen könnte, während Mütter aufgeregt Fotos mit ihm machten. Tatsächlich setzten sich auch junge Frauen auf seinen Schoß – Gott, es war so lächerlich mit anzusehen, wie sie sich einen nach dem anderen bei ihm einschleimten. Doch er schien es ganz gelassen zu nehmen und nickte geduldig bei jeder Anfrage. Vermutlich war es sein Job geduldig zu nicken. »Willst du nachher noch einmal runter?«, fragte Cindy, während sie sich zu mir vorlehnte, um ebenfalls aus dem Schaufenster nach unten schauen zu können. Erneut biss sie sich auf die Unterlippe und schien konzentriert zum Weihnachtsmann zu schauen. »Vielen Dank, aber ich verzichte«, räusperte ich mich und schob sie wieder einige Zentimeter von mir weg. »Bist du dir sicher? Ihr habt euch doch so gut verstanden.« »Wir haben uns sehr peinlich berührt über die Arbeit unterhalten. Das muss ich nicht noch einmal haben.« Cindy grinste breit. »Du warst peinlich berührt. Er war die Ruhe selbst.« Ich knurrte nur genervt und tat so, als würde ich Kassenbelege sortieren. »Wie war dein Date von vorgestern eigentlich? Gut? Erzähl mir nicht, dass du wirklich arbeiten warst«, hakte meine liebe, neugierige Kollegin nach und knibbelte an ihren Fingernägeln, als wäre sie an ihrer eigenen Frage desinteressiert gewesen. Ich hingegen schnaubte aus und wünschte mir, sie hätte diese Sache vergessen. Genauso wie sie sonst so viele Dinge vergaß. »Nicht so gut?«, fragte sie erneut nach und sah überrascht von ihren Nägeln auf. »War sie nicht nett? Oder war es ein er?« »… Wieso ist es wichtig, ob es ein Er oder eine Sie war?« Da öffneten sich ihre stark geschminkten Augen um einige Zentimeter der Neugierde. »Es war also ein Mann? Wow, Kyle! Das ist ja der Wahnsinn. Erzähl – wie war’s?« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also presste ich einfach meine Lippen aufeinander. Als nach mehreren Sekunden nichts geschah, Cindy noch immer neugierig in meine Augen blickte und auf eine enorm heiße Story wartete, sah ich mich im Laden um und hoffte, eine Kundin würde sich wegen der dreckigen Kragen an Blusen beschweren. Als das nicht passierte, entschloss ich mich für eine gute Lüge. »Es war… unerwartet«, gab ich schließlich von mir. War es ja auch. Gleich drei Leute auf einmal. Ziemlich unerwartet. »Okay? Aber war es denn gut? Was habt ihr gemacht?« »Du kriegst keine Details, Cindy«, erstickte ich ihre Neugierde im Keim. So hoffte ich jedenfalls. »Sah er gut aus? Hat er dir gefallen?« »Na ja«, brummte ich leise und stopfte die Kassenbelege zurück in die Schublade, während ich mich an seine Schläge auf meinen Hinterkopf erinnerte und wie er versuchte mich zu erschießen. »Hat er dich also nicht umgehauen?« Da musste ich lachen. Es kam so plötzlich, dass sowohl Cindy als auch ich sich erschreckten. Im Rahmen des Kontextes verging mir jedoch schnell das Lachen, als ich meine angeknackste Rippe spürte. Cindy sah verstört in meine Richtung. »Kyle?« Ich schnappte nach Luft und winkte ab. Schließlich grinste ich sie breit an und teilte ihr fröhlich mit: »Doch, er hat mich umgehauen.« Im wahrsten Sinne des Wortes. In der Mittagspause wollte Cindy erneut runter zum Weihnachtsmarkt, doch ich negierte. Santa war noch immer auf seinem Stuhl und hieß verschiedene Besucher willkommen, die sich auf seinen Schoß setzen wollten. Ich beobachtete ihn von meinem Schaufenster aus und musste feststellen, dass seine Art mit Kindern umzugehen, wirklich liebevoll war. Selbst, wenn mal eins weinte, schaffte er es innerhalb weniger Sekunden das Kind zu beruhigen. Im Augenwinkel erspähte ich dann auch Cindy, wie sie sich subtil immer mehr dem Tannenbaum näherte und schließlich wenige Meter von Santa entfernt stand. Sie winkte ihm schüchtern zu, machte jedoch sonst keine Anstalten zu ihm zu gehen oder mit ihm zu reden. Natürlich nicht, dachte ich. Er war ja auch am Arbeiten. Denn er ignorierte sie auch recht gekonnt. Die Zeit verging wie Gummi, bis meine Kollegin dann endlich wiederkam und ich in die heiß ersehnte Pause entlassen wurde. Der Tag wurde gegen Ende hin immer schlimmer – nicht nur wegen der nervigen Kunden, sondern auch wegen meiner Schmerzen. Die geprellte Rippe stach bei fast jeder Bewegung. Ich entschied mich also in die nächste Apotheke zu gehen und mir Schmerzmittel zu holen. Die aus dem Krankenhaus waren mir zu stark. Ich hatte keine Lust auf einen Trip, während ich den Pelz einer Dame in Seidenpapier wickelte. Vermutlich würde ich noch glauben, ich würde ein totes Tier einpacken und völlig ausflippen. Als ich nach unten fuhr und mich durch die Mengen schlug, die sich nicht nur vor Santa tummelten, sondern auch vor etwaigen Glühweinbuden, wanderte mein Blick erneut zum Tannenbaum. Die Geschenke waren noch alle dran. Die Tannen noch immer recht grün. Die Plastikfolien um das Styropor noch immer sehr hässlich. Ach – was redete ich mir ein? Ich blieb ja sogar stehen und starrte auf den Weihnachtsmann, als wäre er die Erlösung meiner Sorgen. Ich hasste Kinder und ich hasste Weihnachten, aber ihn mit den kleinen Dingern zu sehen, gab mir ein gutes Gefühl. Er strahlte eine Wärme aus, die zum Fest passte. Ruhig und entspannt. Irgendwie liebevoll. Man hatte das Gefühl, gemütlich irgendwo zu sitzen und zu entspannen, auch wenn die Menschenmassen um einen herum etwas ganz anderes suggerierten. Dasselbe Gefühl, was man bekommt, wenn ein anderer Mensch den eigenen Kopf massiert. Dieses Gefühl. Die braunen Augen wanderten auf einmal in die Ferne, trotzdem ein kleiner Junge auf seinem Schoß saß und mit Fingern aufzählte, was er alles haben wollte. Santa sah mich direkt an und lächelte. Sein vermutlich angeklebter Vollbart wurde dabei nach oben gezogen, sodass die Haare noch ein Stückchen mehr von seinem Kinn abstanden. Die kleinen Lachfältchen um seine Augen wurden tiefer. Ich konnte einfach nicht anders und musste das Lächeln erwidern. Süß, dachte ich. Lächeln wir uns gerade an, als wären wir gute Freunde? Der Moment fühlte sich ewig an. So wie damals, als ich auf seinem Schoß saß und wir uns unterhalten haben. Nach Cindys Aussage haben wir auch mehrere Minuten miteinander gesprochen, also ging ich davon aus, dass mein Zeitgefühl mir auch dieses Mal keinen Streich spielte und wir uns tatsächlich für fast eine Minute in die Augen sahen und lächelten, als wären wir zwei glückliche Mönche jenseits des Kontinents. Erst, als das Kind auf seinem Schoß anfing, sich zu bewegen und offensichtlich runter wollte, brach er den Augenkontakt und widmete sich wieder seiner Arbeit. Ich ergriff die Chance und machte mich auf, aus der peinlichen Situation zu entkommen. In der Apotheke bestellte ich völlig neben der Spur normale Schmerztabletten. Der Apotheker sah mich dabei an, als würde er herausfinden wollen, auf welcher Droge ich genau war; THC oder MMDA. Mein Namensschild, welches suggerierte, dass ich im Center arbeitete, machte ihn vermutlich nur noch nervöser. Als kleine Unterstützung für meine Drogensucht, gab er mir eine kleine Tüte Gummibärchen mit auf den Weg und lächelte mich aufbauend an. Ich bekam davon herzliche wenig mit, schaltete das ganze irgendwie aus und überlegte, was genau vor wenigen Minuten passiert war. Hatte der Mann Interesse an mir? Wieso sonst sollte er Cindy ignorieren und mich derart beachten? Als ich mich durch die Menschenmassen zurück zum Weihnachtsmarkt begab, um mir ein Wasser in der nebenan gelegenen Drogerie zu kaufen, sah ich, dass der Stuhl leer war. Santa hatte wohl auch mal Pause. Noch ehe ich mich in Ruhe auf eine kleine Bank setzen konnte, um meine Schmerztablette – vielleicht auch zwei – einzunehmen, sah ich etwas Rotes neben mir stehen. Etwas erschrocken sah ich auf und blickte in die braunen Augen. »Darf ich mich setzen?«, fragte er in seiner ruhigen, dunklen Stimme mit dem interessanten Akzent. Da ich keinen bestimmten Grund hatte, unhöflich zu sein und ‚Nein‘ zu sagen, aber auch keinen wirklichen Drang verspürte mich jetzt mit Santa zu unterhalten, der – bis auf seine Mütze und schwere Jacke – noch in voller Montur da stand, nickte ich einfach apathisch. Er setzte sich neben mich und zerquetschte fast einen anderen Mann, der neben ihm ein Sandwich aß, nur damit er mir genug Platz lassen konnte. Höflich, dachte ich. Etwas schusselig, aber höflich. »Haben Sie Schmerzen?«, hörte ich ihn fragen, nachdem ich bisher noch kein Wort verloren hatte. Er deutete auf die Blisterpackung in meiner Hand, die deutlich das Wort ‚Ibuprofen‘ vermittelte. Ich räusperte mich leise, um meine Stimme wieder zu finden. »Ja, ein bisschen. Aber nichts Schlimmes.« »Nehmen Sie nicht zu viele. Ibuprofen geht auf den Magen.« Er lächelte mich dabei an, als hätte er gerade einen unheimlich guten Witz gemacht. Aber er hatte Recht; sollte ich jetzt etwa trotzdem lachen? Nicht ganz sicher, was ich sagen sollte, drückte ich einfach zwei Tabletten raus und schluckte eine nach der anderen mit etwas Wasser runter. Santa sah mir dabei genauestens zu. Starrte mich förmlich an. Das machte die Situation etwas unangenehm. So unangenehm, dass ich das Gefühl hatte, die Flucht ergreifen zu wollen. Daher entschloss ich mich für die weitaus weniger peinliche Variante des Entkommens und konfrontierte ihn mit der Flucht nach vorne: Fragen von meiner Seite. »Ist das auch Ihre Mittagspause?« Er nickte freundlich. »Ja, aber sie geht nicht sehr lange. In ein paar Minuten muss ich wieder zurück.« »Ich verstehe.« Und schon gingen mir die Themen aus. Ich war einfach furchtbar in menschlicher Kommunikation. Ein Grund, wieso ich als Psychologe so versagt hatte. »Wie lange arbeiten Sie schon hier, Mr. Lewis?«, fragte Santa und überraschte mich mit meinem Namen. Oh, richtig, ich trug ja wieder mein Namensschild. Aber vielleicht hatte er ihn sich auch gemerkt? »Seit drei Jahren«, antwortete ich fast schon etwas beschämt, dass es bereits schon drei Jahre waren, die ich in diesem Höllenloch verbrachte. Aber in diesen Jahren hatte ich gelernt mit den Menschen, die mir so ähnlich waren, umzugehen. Wohlhabend, hochnäsig und etwas unfreundlich. Doch anstatt sich eines Besseren belehren zu lassen, habe ich mich nicht verändert. Meine Misanthropie würde nicht nur wegen eines Einzelhandelsjobs vergehen. An der hielt ich sehr gut fest. »Ihnen gefällt der Job?« Ob es nun echtes oder geheucheltes Interesse war, konnte ich aus seiner Stimmlage oder Mimik nicht erkennen, aber es war nett mit ihm zu reden. Seine Stimme war beruhigend. Auf ihre ganz eigene Art und Weise. »Es geht. Es gibt schönere Jobs, so viel ist klar. Aber als halbe Stelle lässt es sich aushalten.« »Oh, nur eine halbe Stelle? Hat es einen Grund?« Ich lächelte zögerlich. Wieso musste ich auch immer jedem erzählen, dass es nur eine halbe Stelle war und ich eigentlich noch einen anderen Job besaß, der mir viel besser gefiel und auch sehr viel besser bezahlt war? Vermutlich hatte es was mit meinem Ego zu tun, dass ich mich aufs tunlichste immer am besten darstellen wollte. Und in einem Kaufhaus zu arbeiten war vermutlich nicht so egostreichelnd wie beim Geheimdienst zu sein. »Ich habe noch einen anderen Job«, gab ich kurz und knapp zu verstehen, in der Hoffnung, er würde das Thema fallen lassen. Und tatsächlich – er tat es. »Das klingt anstrengend. Aber Sie scheinen es gut zu meistern. Ich habe neben diesem Job auch noch einen anderen. Ich glaube, heutzutage kommt man kaum noch ohne einen Zweitjob aus.« »Die Profession ist eben nicht immer die Berufung«, fügte ich neckisch hinzu und sah dabei in die Menschenmenge hinein; wundernd, als was die alle so arbeiteten, dass sie den Wochentag einfach so mit Shoppen verbringen konnten. »Und die Berufung nicht immer Profession«, lachte Santa und faltete dabei seine langen Finger ineinander, während er sich auf seinen Knien abstützte. Er starrte ebenso in die Menschenmenge und schwieg für einige Sekunden. Ich wusste nicht ganz, was ich noch sagen sollte. Also griff ich das Thema auf, was wir das letzte Mal besprochen hatten. »Sie sagten, Sie lieben Kinder. Haben Sie eigene Kinder?«, hakte ich nach und versuchte den Augenkontakt wieder aufzunehmen. Interessierte mich eigentlich nicht, aber irgendwie hatte ich das Gefühl etwas sagen zu müssen. »Nein«, antwortete er knapp und lächelte müde. »Ich habe keine Zeit für eigene Kinder. Oder eine Familie.« Ich presste meine Lippen aufeinander. Man konnte dem Mann ansehen, dass er sich eine andere Realität wünschte. Vermutlich war es sein Zweitjob, der es ihm verbat, eine Familie zu gründen. So ein bisschen wie bei mir. Nur, dass ich nie eine Familie wollte. »Ist es wegen Ihrem Zweitjob?« Er nickte; schließlich sah er mir wieder in die Augen. »Ich bin viel unterwegs. Meine bisherigen Beziehungen konnten da nicht wirklich mit umgehen.« »Das ist schade«, war das absolut dämlichste, was mir dazu einfiel. Doch Santa nickte und starrte auf die Blisterpackung in meinen Händen. Sein Blick wurde auf einmal ernster. Mikroexpressionen zeigten sogar einen leichten Anflug von Wut. Oder waren es auch Schmerzen? Seine Zornesfalte bildete sich weiter aus. »Haben Sie auch Schmerzen? Möchten Sie eine haben?«, fragte ich und hielt ihm die Packung hin. Er sah mit großen Augen auf und schien überrascht, dass ich ihn so genau beobachtet hatte. »Haben Sie geraten oder können Sie in meinen Kopf schauen?«, lachte er und richtete sich etwas auf. Er war nicht unbedingt peinlich berührt, aber eine gewisse Nervosität machte sich in ihm breit. »Sie haben so auf die Tabletten gestarrt und dabei einen finsteren Blick bekommen. Ich mache das auch manchmal, wenn ich mich darauf konzentrieren will, keine Schmerzen zu haben, obwohl mein ganzer Körper gerade brennt«, erklärte ich und hielt ihm die Packung noch ein Stück näher hin. Tatsächlich nahm er sie mit einem Nicken an und drückte sich eine Tablette raus. Als ich ihm schweigend mein Wasser anbot, lehnte er dankend ab und deutete darauf hin, dass er an seinem Stuhl eine Flasche Wasser stehen hatte und er die Tablette gleich nehmen würde. Nachdem wir uns dann wieder anschwiegen, entschied ich, einfach zu gehen, auch wenn meine Pause noch etwas länger gedauert hätte. »Ich wünsche Ihnen gute Besserung«, sagte ich höflich und stand auf. Santa tat es mir gleich und gesellte sich auf Augenhöhe. Zumindest für mich Schulterhöhe. Er war groß. Sehr groß. »Das wünsche ich Ihnen auch, Mr. Lewis.« Mit diesen Worten ging er an mir vorbei Richtung Stuhl. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich so unfreundlich war und nie nach seinem Namen gefragt hatte. Aber ich hatte so das Gefühl, dass das nicht unser letztes Gespräch gewesen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)