Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 15: 15.Dezember ----------------------- Über ihm schwebte ein Ozean aus Lichtern. Einige bunt, andere nur weiß, aber allesamt blendend in ihrer Anzahl und Helligkeit. Darunter lag ein Meer aus Köpfen. Dicht aneinander gedrängt schoben sie sich zwischen den übervollen Ladentischen hindurch, ein jeder versunken in seine eigenen, überlauten Gedanken, die die Atmosphäre verpesteten und gegen den Geist des Telepathen an seiner Seite drückten, in ihn hinein diffundierten und ihn...veränderten. Anders konnte Farfarello sich nicht erklären, warum Schuldig mit leuchtenden Augen und leichte gerötetem Gesicht auf das Chaos in einem der größten Kaufhäuser Tokios blickte und sich freute wie ein Schneekönig. Nicht, dass Farfarello etwas gegen Chaos gehabt hätte. Im Gegenteil. Er ergötzte sich durchaus an einer desorientierten Menschenmenge oder einer wohlorganisierten, durch scharfe Messer, Schusswaffen und Sprengstoffe hervorgerufenen Massenpanik, aber dieser gewollt-fröhliche Shopping-Wahnsinn...nein. Die Faszination dafür entzog sich seinem Horizont.   „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte er daher schon zum dritten Mal, seit sie das Kaufhaus vor drei Minuten betreten hatten. Schuldig rollte mit den Augen. „Ich sagte dir bereits, es ist essentiell, eine Prise Zufall in mein Vorhaben zu mischen. Sonst merkt Crawford doch gleich, was ich vorhabe. Nein, wir müssen uns dem Strom der Massen ergeben und uns dorthin treiben lassen, wo er uns hinverschlägt. Und dort werde ich dann ein Geschenk auswählen.“ Farfarello zweifelte nicht daran, dass dieser Plan tatsächlich funktionieren könnte. Immerhin arbeiteten Schuldig und Crawford schon lange zusammen. Der Teil, der ihn an diesem Plan störte, war die Tatsache, dass Schuldig Crawford überhaupt etwas schenken wollte. Woher dieser plötzliche Einfall - oder besser gesagt Anfall - von Nächstenliebe kam, hatte Schuldig ihm nicht sagen wollen. Er hatte nur gemeint, dass es wichtig war, dass er ein Geschenk besorgte und zwar so, dass Crawford es nicht mitbekam. Also standen sie nun hier in der gleißenden Weihnachts-Vorfröhlichkeit und ließen sich, wie Schuldig es genannt hatte, treiben.   Vorbei an glänzenden Topfsets, feiertäglichen Verkleidungen, Bergen von Spielzeug, Puppen, Plüschtieren und Computerspielen, allerlei Elektronikartikeln, Kameras, Handys, Handtaschen, Regenschirmen mit kleine Katzen ohne Mund darauf, Parfüm, Süßigkeiten und nicht zuletzt alles für das Herz des verwöhnten Haustiers, bis sie schließlich in der Abteilung für Unterwäsche landeten. Kaum waren sie dort angekommen, stürmte eine kleine, eifrige Verkäuferin auf sie zu. „Einen wunderschönen Guten Tag, die Herren!“, rief sie zwitschernd mit einer tiefen Verbeugung und richtete ihre sternchenverhangenen Augen auf Schuldig. „Kann ich Ihnen irgendetwas bestimmtes zeigen? Wünschen Sie etwas für ihre Freundin oder...“, sie warf einen langen Blick auf Farfarello, „Ihren Freund?“   Farfarello blieb für einen Augenblick der Mund offenstehen. Es kam selbst hier im Land des Lächelns nicht oft vor, dass die Leute jemanden, der sich in schwarzes Leder kleidete und eine Augenklappe trug, mit so ausgesuchter Freundlichkeit begegneten. Die Andeutung allerdings, dass er und Schuldig ein Paar wären, ließ seine Mundwinkel unter einem nur mühsam zurückgehaltenen, hysterischen Lachen zucken. 'Was denkt sie?', richtete er eine unausgesprochene Frage an Schuldig, aber der hatte ihn entweder nicht gehört oder zog es vor, ihn zu ignorieren. Stattdessen setzte er ebenfalls ein charmantes Lächeln auf. Es war faszinierend, wie wandelbar das Gesicht des Deutschen war. Manchmal sah man ihn ihm den Teufel, der er war. Aber oft genug verbarg er sein Gesicht hinter der Maske eines Engels. Eines Engels, der mit süßen Worten zu verzaubern wusste. „In der Tat suche ich etwas für meinen Freund“, sagte er gerade und zwinkerte der kichernden Verkäuferin zu. „Allerdings ist das nicht mein Begleiter. Mein Freund ist groß und dunkelhaarig. Amerikaner, breit gebaut, aber nicht zu muskulös, athletisch, eine echte Augenweide. Ich würde ihn gerne überraschen, aber ich weiß nicht so recht, was ihm gefallen würde.“ Die Verkäuferin, deren Wangen sich ein wenig gerötet hatten, verschwand mit einer kleinen Verbeugung und dem Versprechen, etwas Passendes herauszusuchen. Schuldig leckte sich über die Lippen und fing dabei Farfarellos Blick auf. 'Was?', fragte er irritiert. 'Du leuchtest', gab Farfarello zurück. 'Was hast du vor? Willst du sie umbringen? Sie dazu bringen, sich aus dem Fenster zu stürzen oder etwas in der Art?' Schuldig runzelte die Stirn. 'Nein, du blutrünstiges Monster. Ich versuche, ein Geschenk zu kaufen. Das sagte ich doch bereits.' 'Für deinen Freund?' Farfarello versuchte, möglichst viel Betonung auf das letzte Wort zu legen, damit Schuldig ihn auch richtig verstand. Nicht, dass das bei dieser Art von Kommunikation nötig gewesen wäre, aber er war sich nicht sicher, ob nicht er momentan derjenige mit der besseren, geistigen Gesundheit war. 'Sie hatte ein paar sehr interessante Assoziationen dazu', gab Schuldig ausweichend zurück. 'Ich dachte mir, es könnte nicht schaden, ihr immerhin die richtigen Bilder dazu zu liefern.' 'Bilder von dir und Crawford?'   Schuldig zuckte nicht mit der Wimper, aber Farfarello wusste trotzdem, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Ein kalter Schauer überlief ihn. Er schluckte langsam und seine Finger tasteten nach dem Messer in seiner Tasche. Er brauchte jetzt etwas, um sich zu beruhigen. Das war...das würde alles verändern. Er war zwar nicht mit der Gabe der Zukunftssicht gesegnet, aber er musste auch kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass daraus nichts Gutes entstehen konnte. Sie waren ein gutes Team. Ein effektives Team. Eine derartige Entwicklung würde die Dynamik zwischen ihnen total verändern. Das musste er auf jeden Fall verhindern. Vor allem, da er sah, mit was die Verkäuferin jetzt wiederkam. Lächelnd hielt sie eine eng geschnittene, schwarze Unterhose nach oben. „Dieses Modell wird sehr gerne genommen. Es ist wie geschaffen für den Mann von Welt. Wir haben natürlich auch noch Stringtangas oder Boxershorts im Angebot, wenn das eher Ihren Vorlieben entspricht? Ansonsten haben wir im Kellergeschoss auch noch eine Abteilung mit...speziellen Angeboten.“ Sie hatte den Anstand, bei dieser Aussage ein wenig zu erröten. Schuldig hingegen starrte das schwarze Stück Stoff in ihren Händen an und Farfarello war sehr froh, nicht über die Gabe der Gedankensicht zu verfügen. Er war sich nicht sicher, ob er sehen wollte, woran Schuldig gerade dachte. Er würde doch nicht wirklich... „Sie ist perfekt“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Ich nehme sie.“ „Wünschen sie noch eine Individualisierung? Wir könnten die Initialen Ihres Freundes einsticken lassen?“ „Nein, das wird nicht notwendig sein. Es muss vor allem schnell gehen. Könnten Sie sie bitte gleich in Geschenkpapier einpacken?“ Die Verkäuferin verabschiedete sich erneut mit einem Lächeln und einer Verbeugung und bat sie, schon einmal zur Kasse zu gehen. Sie würde das Geschenk dorthin bringen. Farfarello verfolgte das Ganze mit einem dumpfen Brüten, während er hinter dem beschwingt einher schreitenden Schuldig herlief. Das hier gefiel ihm ganz und gar nicht. Irgendetwas musste ihm einfallen, um zu verhindern, dass sich der Telepath total lächerlich machte. Er hatte nur leider keinerlei Idee, wie er das anstellen sollte.       Als sie nach Hause kamen, warf Schuldig Schal und Mantel von sich und schlüpfte eilig aus seinen Schuhen. In den Händen hielt er die kleine Tüte mit dem Geschenk. Er fühlte, dass seine Handflächen leicht feucht waren und sein Herz schneller schlug als normal. Er war ohne Zweifel aufgeregt. Würde es ihm gelingen, Crawford zu überraschen? Würde der sich über das Geschenk freuen? Würde er...vielleicht...nicht, dass Schuldig damit rechnete. Immerhin war das hier Brad Crawford. Ein berechnender, eiskalter, manipulativer Bastard. Und außerdem sein Boss. Aber auch ein griesgrämig-unnahbarer Vorgesetzter konnte mal einen guten Tag haben, oder nicht?   Mit der Tüte in der Hand machte er sich auf den Weg zum Arbeitszimmer. Er spürte, dass Crawford da war. Sein Bewusstsein war anders als das der meisten Menschen. Er hatte Schuldig vom ersten Tag, an dem sie sich begegneten, fasziniert. Gut, am Anfang hatte sie sich ziemlich die Köpfe eingeschlagen, aber es war bald klar gewesen, dass sie einander gut ergänzten. Und dass Crawford ihm überlegen war. Nun, vielleicht nicht überlegen. Aber er wusste besser als andere, was Schuldig brauchte. Manchmal besser als er selbst. Wenn Crawford nicht gewesen wäre... Aber das war jetzt unwichtig. Wichtig war, dass er jetzt hier mit schweißnassen Händen und aufgeregt wie ein Schuljunge vor der Tür seines Bosses stand und ein Weihnachtsgeschenk für ihn hatte. Er hob die Hand, doch seine Finger blieben einige Zentimeter über der Klinke in der Luft schweben. Was, wenn das Geschenk Crawford nicht gefiel? Wenn er ihn auslachte oder das Geschenk als nebensächlich abtat? Wenn er es gar ignorierte oder für später beiseite legte? Nein, das würde Schuldig nicht ertragen. Ignoriert zu werden war mit das Schlimmste, was der Telepath sich vorstellen konnte. Andererseits war Schuldig niemand, den man so leicht ignorierte. Wenn er wollte, dann bekam er die Aufmerksamkeit, die ihm zustand. Auch von Brad Crawford, eiskaltem Boss-Bastard extraordinär. Er straffte die Schultern und griff wieder nach der Türklinke. In diesem Moment gellte ein wütender Schrei durch das Haus.   „Gib das her!“ Nagis Stimme überschlug sich förmlich und brachte die Scheiben zum Erzittern. Wobei das vielleicht nicht nur an seiner Stimme lag. Noch bevor Schuldig reagieren konnte, wurde Crawfords Bürotür geöffnet und der Amerikaner stürmte an Schuldig vorbei in Richtung Wohnbereich. Schuldig überlegte nicht lange und folgte ihm auf dem Fuße, die Geschenktüte immer noch in der Hand. Als sie das Wohnzimmer erreichten, das im hinteren Bereich in eine offene Küche überging, bot sich ihnen ein eigenartiges Bild. Ein wutschnaubender Nagi stand vor Farfarello, der, vom Zorn seines Gegenübers völlig ungerührt, ein Schulheft über seinen Kopf hielt und darin zu lesen schien. Sein eines, bernsteinfarbenes Auge glitt über die Zeilen und auf seinen bleichen Lippen lag ein feines Lächeln. „Gib das sofort zurück“, echauffierte sich Nagi weiter. Da er kleiner war als Farfarello, kam er auch mit ausgestrecktem Arm nicht an das Heft heran. „Das sind meine Hausaufgaben!“ Farfarello, der offensichtlich genug gelesen hatte, senkte den Arm wieder und Nagi riss das Heft an sich. Mit einem bösen Funkeln unter den braunen Stirnfransen sah er hinein, als wolle er kontrollieren, ob Farfarello nicht vielleicht einen Scherenschnitt aus seinem Aufsatz gemacht hatte. Der Ire hingegen strahlte jetzt über das ganze Gesicht.   „Wichteln!“, rief er fröhlich. „Wir werden wichteln!“ Crawford seufzte neben Schuldig und murmelte etwas Unverständliches. Der Telepath sah von einem zum anderen. „Was? Wovon redet ihr?“ Er hasste es, wenn er außen vorgelassen wurde. „Ein Weihnachtsbrauch“, ließ sich Nagi zu einer Erklärung herab. „Man schreibt die Namen aller Beteiligten auf kleine Zettel und zieht dann den Namen desjenigen, für den man ein Geschenk besorgen muss. Total dämlich. Wir müssen das in der Klasse machen. Und einen Aufsatz über Weihnachtsbräuche aus aller Welt schreiben. Wirklich. Ich hasse Weihnachten!“ „Aber wir wichteln“, behauptete Farfarello wieder und schien damit offensichtlich sehr zufrieden. Crawford seufzte wieder. „Natürlich. Wir wichteln“, bestimmte er nun. Schuldig und Nagi sahen ihn beide mit dem gleichen, entsetzten Gesichtsausdruck an. „Ist das dein Ernst?“, fragten sie unisono. „Mein voller Ernst“, gab Crawford glatt zurück. „Nagi, du machst die Zettel. Wir losen es jetzt gleich aus. Und dann ist bitte endlich Schluss mit diesem Weihnachts-Unsinn.“   Schuldig schluckte leise und ließ unauffällig die Tüte hinter seinem Rücken verschwinden. Anscheinend war es doch keine so gute Idee gewesen, Crawford ein Geschenk zu besorgen. Obwohl...wenn er Glück hatte, zog er vielleicht Crawfords Namen...     Mit gerunzelter Stirn sah Schuldig auf den kleinen Zettel in seiner Hand. Wie er mitbekommen hatte, hatte Crawford offensichtlich ihn gezogen. Das verdammte Orakel hatte das bestimmt gewusst und nur deswegen ein Geschenk für ihn besorgt. Und er hatte sich eingebildet...Er war so ein Idiot! Und jetzt saß er hier und musste ein Geschenk für Farfarello besorgen. Er schickte dem Iren einen bösen Blick. 'Hast du das gewusst?', grollte er in Gedanken. 'Nein“, gab Farfarello ebenso zurück. Es war erstaunlich, dass seine Stimme sogar auf telepathischen Weg immer ein wenig heiser klang. 'Aber sieh es doch mal so: Du brauchst nicht noch einmal einkaufen zu gehen.' Schuldig hob die Augenbrauen. 'Und warum das nicht?“ Farfarellos Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. 'Weil ich total gut in Schwarz aussehe.“       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)