Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 10: 10.Dezember ----------------------- Ruhig glitt der Wagen durch den winterlichen Verkehr. Inzwischen hatte sich Tokio an die Schneemassen gewöhnt, die der Dezember der emsigen Stadt beschert hatte. Schuldig konzentrierte sich nur halb auf den Verkehr, während er nebenbei den Gedanken der vorbeieilenden Menschen lauschte. Auf dem Beifahrersitz ging Crawford noch einmal einige Akten durch, die sie gerade mit ihrem nächsten Kunden besprochen hatten. Waffenschmuggler. Langweilig aber mit viel Kapital, von dem er einen beträchtlichen Teil springen ließ, um für seine persönliche und die Sicherheit seiner Geschäftspartner zu sorgen. Schuldig wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als ihm plötzlich ein Passant vor den Kühler sprang. Der Telepath fluchte und stieg auf die Bremse. Der Wagen kam auf der glatten Straße ins Schlingern, stellte sich auf der Fahrbahn quer und stoppte nur haarscharf vor dem nächsten Laternenpfahl. Schuldig stieß eine Verwünschung zwischen den Zähnen hervor und wollte schon aus dem Auto springen, als Crawford ihn am Arm festhielt.   „Was für ein Tag ist heute?“ „Was?“ Schuldig sah Crawford irritiert an. „Du weißt, welcher Tag heute ist. Der Tag, an dem der Typ, der mir gerade vors Auto gesprungen ist, das Zeitliche segnet. „Welcher Tag ist heute? Das Datum!“ Crawford hatte die Augen weit aufgerissen und sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Hinter ihnen begannen die nachfolgenden Autos zu hupen. „Der 10. Dezember“, gab Schuldig nun endlich zur Auskunft. „Warum? Du bist doch eigentlich der mit dem Terminkalender im Kopf. Ich...“ Er kam nicht weiter, denn Crawford gestikulierte wild in seine Richtung. „Fahr! Zum Bahnhof! Schnell!“ Schuldig verkniff sich weitere Fragen. Er startete den Wagen neu und trat das Gas durch. Einige Fußgänger, die die Lücke im Verkehr genutzt hatten, sprangen eilig in Deckung, als die ausländische Limousine mit Höchstgeschwindigkeit und durchdrehenden Reifen an ihnen vorbeischoss. Kopfschütteln sahen sie dem Auto nach, das mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon raste und zwei rote Ampeln ignorierte. Was hatte sich der Fahrer nur dabei gedacht?     Der Wagen kam schlitternd vor dem Bahnhof zu stehen. Schuldig überzeugte die Politesse noch schnell davon, dass alles seine Ordnung damit hatte, dass sie mitten vor dem Haupteingang stehengeblieben waren, dann stürzte er dem wie von wilden Hunden gehetzt nach drinnen rasenden Crawford hinterher. „Was denn?“, keuchte er, als er aufgeholt hatte. „Willst du noch schnell einen Kurzurlaub über die Feiertage buchen?“ „Das ist nicht komisch“, gab Crawford über die Schulter zurück. „Ich habe vergessen, etwas abzuholen. Ich hoffe nur, dass wir noch nicht zu spät sind.“ „Abzuholen?“ Schuldig verstand die Welt nicht mehr, aber er folgte Crawford weiter, der sich jetzt in Richtung der Schließfächer durch die Menschenmassen drängelte. Er schien kurz davor, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.   Endlich erreichten sie die großen Blöcke aus gefaltetem Blech und Stahl und Crawford begann sofort, die Nummern auf den Türen zu studieren. Dabei murmelte er immer wieder etwas vor sich hin. Schuldig beobachtete ihn besorgt, bis der Amerikaner endlich gefunden zu haben schien, wonach er suchte. Er gab einen triumphierenden Laut von sich und öffnete eine der Türen. Aus dem Schließfach zog er einen dunkelgrünen Pappkarton, auf den jemand goldene Sterne geklebt hatte. Schuldig kam der Karton vage bekannt vor, aber er konnte den Finger nicht darauf legen, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. „Ich habe es“, sagte Crawford überflüssigerweise. „Jetzt müssen wir nur beten, dass wir noch rechtzeitig zurück sind.“ „Beten?“ Schuldig gab ein unanständiges Geräusch von sich. „Lass das nur nicht Farfarello hören. Und rechtzeitig wofür eigentlich?“ „Das sehen wir hoffentlich nicht, wenn wir nach Hause kommen“, gab Crawford düster zurück. Er sah auf die Uhr. Draußen wurde es bereits dunkel. Das Orakel fluchte leise. „Ich wusste es. Wir kommen zu spät.“   Schuldig gab es auf, irgendetwas aus seinem Anführer herauskriegen zu wollen. Wenn er so drauf war, war das ein sinnloses Unterfangen. Diese Hellseherei war etwas, dass sich selbst Schuldigs nicht eben kleinem, geistigem Horizont entzog. Normalerweise behielt Crawford allerdings die Übersicht über seine Visionen. Der Telepath fragte sich, was ihn so hatte aus der Bahn werfen können, dass er jetzt zusammengesunken auf dem Beifahrersitz saß und den Pappkarton mit weißen Fingerknöcheln umklammerte.   Mit zielsicherem Geschick brachte Schuldig sie zu dem Haus am Stadtrand. Er hatte kaum angehalten, als Crawford bereits die Tür geöffnet hatte und nach draußen gesprungen war. Unter den Arm hatte er den ominösen Karton geklemmt. Schuldig beeilte sich, ihm zu folgen, und erreichte nur kurz nach dem Amerikaner die Haustür. Der hatte sich nicht damit aufgehalten, seine Schuhe auszuziehen, sondern war gleich ins Wohnzimmer gestürmt. Als Schuldig jetzt von dort einen leisen Entsetzensschrei hörte, ließ auch er die Schuhe an und folgte Crawford auf dem Fuß. Was er sah, nahm selbst ihm den Atem.   Mitten im Wohnzimmer umringt von der hellen Couchlandschaft und der geschmackvollen Anrichte und anderem exquisitem Mobiliar stand ein Tannenbaum. Ein riesiges Monstrum von einem Tannenbaum. Die Höhe des Raumes betrug sicherlich drei Meter oder mehr, aber der Baum schaffte es problemlos, die Decke zu erreichen, und musste sich dabei noch ein wenig bücken. Die Spitze war beim Transport offensichtlich mehrmals gegen die Decke gestoßen und hatte eine harzige Spur quer durch das Wohnzimmer hinterlassen. Überall lagen Nadeln und Erdklumpen herum und die Fußspuren, die dazwischen verteilt waren, sprachen davon, dass es einiges an Mühe gekostet hatte, den Baum hierher zu bringen. Das allein war jedoch nicht das, was Schuldig die Sprache verschlug. Das, was den Baum so furchtbar machte, war der Schmuck, den Farfarello – denn niemand anderes hätte auf so eine Idee kommen können – daran verteilt hatte.   Wie es aussah, hatte das einäugige Mitglied von Schwarz wieder einmal das Angenehme mit dem Praktischen verbunden. Er war im Wald einen Baum holen gegangen. Also hatte er auf dem Weg auch gleich den Baumschmuck besorgt. Da hingen Chipstüten, alte Milchkartons, Getränkedosen und ähnlicher Unrat. Daneben wurden die Zweige von den Überresten kleiner Tiere geschmückt. Hasenohren, Eichhörnchenschwänze und Fischköpfe teilten sich den Platz mit etwas, das Schuldig zunächst für Lametta hielt, dann aber als den Inhalt des Aktenvernichters identifizierte. Der bunten Farbe nach zu urteilen, hatten einige von Nagis Mangas daran glauben müssen. Das Einzige, was es hier sonst noch an buntem Lesestoff gab, war seine eigene Sammlung von... Aber nein, die lag sicher unter seinem Bett. Oder war das da eine Brustwarze auf einem der Papierstreifen?   „FARFARELLO!“   Nur mit Mühe konnte Crawford Schuldig davon abhalten, sich auf den irren Iren zu stürzen, der gerade die Spitze des Baumes mit einem Eichörnchenkopf schmückte. Das einäugige Mitglied von Schwarz war dreckig, blutverschmiert und lächelte von einem Ohr zum anderen. „Ah, ihr seid schon zurück. Ich bin gerade fertig geworden mit dem Dekorieren. Leider habe ich den Christbaumschmuck nicht finden können, also habe ich ein wenig improvisiert. Gefällt es euch?“ Crawford ließ sich auf eines der Sofas fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Der grüne Karton mit den Sternen lag neben ihm auf der Sitzfläche. Als Farfarello das grün-goldene Ding erblickte, machte er ein erstauntes Gesicht. „Ach du hattest ihn? Ich dachte, er wäre beim Umzug verloren gegangen. Wie schade. Aber vielleicht kann ich ja noch ein paar der Teile unterbringen.“   Schuldig, der endgültig genug von dem Theater hatte, trat zu Crawford, nahm den Karton und öffnete ihn. Aus der Schachtel lachten ihm kleine Weihnachtsengel aus Filz, handbemalte Christbaumkugeln, Strohsterne, fein geschnitzte und mit roter und weißer Farbe bemalte Zuckerstangen und ähnliches mehr entgegen. Er sah für einen Augenblick verständnislos auf den weihnachtlichen Schmuck, bis er sich endlich erinnerte. Mit einem Stöhnen ließ er sich neben Crawford fallen. „Oracle, du wirst langsam alt“, ließ er ihn wissen. „Es wird Zeit, das wir dir einen elektronischen Terminkalender besorgen, in dem du deine Visionen katalogisieren kannst. Ich könnte...“   ...dir einen zu Weihnachten schenken, hatte Schuldig noch sagen wollen, aber anhand von Crawfords mörderischem Gesichtsausdruck ließ er es lieber bleiben und beobachtete stattdessen Farfarello dabei, wie der Fröbelsterne und Julböcke zwischen den Müll und die Tierleichen hängte. Weihnachten bei Schwarz war eben immer wieder ein Erlebnis.       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)