Forced Fortune von Elnaro ================================================================================ Kapitel 8: Plötzlich Professor ------------------------------ Am nächsten Morgen klopfte es an meiner Tür, gefolgt von einem Ruf von Alex' Stimme: „Ich bin's. Mach auf!“ Ich war noch nicht einmal aufgestanden und noch im Schlafanzug. Eigentlich erleichterte es mich, von ihm zu hören, aber da ich kein Auge zugemacht hatte, ging es mir richtig mies. Wie sollte ich in diesem hell erleuchteten Zimmer mit Operationssaal-Feeling auch schlafen? Verpennt, verheult und zu allem Überfluss auch noch verkatert, war ich garantiert keine Augenweide, aber ich ließ Alex trotzdem nicht vor der Tür stehen. Schließlich gehörte sich das nicht. Im Gegensatz zu mir, wirkte er erholt, kein bisschen geschafft oder verletzt von der Auseinandersetzung mit Peter in der vergangenen Nacht. „Du weißt nicht, wie froh ich bin, dass es dir gut geht“, hauchte ich erleichtert und stürzte mich dabei am Türrahmen ab, weil es mir schon wieder schwindelig wurde. Er zuckte mit den Schultern, als sei nichts gewesen. „Hab ich doch geschrieben.“ Dann ging er zielstrebig auf mein ungemachtes Bett zu, das von meinem Körper noch warm sein musste, legte die Hände an seinen Hinterkopf und ließ sich nach hinten kippen. Also echt! Da wollte ich eigentlich gleich wieder hin, um noch ein bisschen zu schlafen, denn die Uhr zeigte gerade mal kurz nach Sieben. „Selbst nach dem Vorfall hast du immer noch keinen Schimmer, was los ist, oder? Solltest eigentlich genügend Hinweise gesammelt haben über die Zeit“, bemerkte er, als erwarte er irgendeine Schlussfolgerung von mir. Ich sah ihm unzufrieden und stirnrunzelnd dabei zu, wie er mein geblümtes Bett okkupierte. „Hinweise? Auf?“ „Darauf musst du schon selbst kommen, Sherlock. Horrorfilme guckst du wohl nicht? Na, es würden wohl auch Liebesschnulzen reichen.“ „Weder, noch. Filme interessieren mich nicht so sehr“, stammelte ich nun mit der Frage im Sinn, welchen Überschneidungspunkt wohl Horror- und Liebesfilme miteinander haben konnten. Ein maskierter Mörder mit Kettensäge verliebt sich in einen Zombie, oder… hä? Ne. „Alles klar, mehr sag ich nicht. Einem Mädchen, das hinterm Mond lebt, kann ich nicht helfen.“ „Heeey, was heißt hier hinterm Mond? Ich informiere mich über Tagesnachrichten und kann zu jedem Problem, das du dir nur vorstellen kannst, einen Rat geben.“ „Da ist was Wahres dran. Vielleicht solltest du dir in deinen Hilfeforen mal einen Rat holen, anstatt immer nur welche zu geben!“, prustete er und sah danach ertappt zu mir, denn von diesem Hobby hatte ich ihm nie erzählt, nur einer anderen Person. Er musste es von IHR erfahren haben. Ich hatte mich um eine gute Stimmung bemüht, aber die Erinnerung an sie versetzte mir einen Stich ins Herz. Selbst unzufrieden mit seiner Äußerung, stand Alex von meinem Bett auf. „Ich weiß das, weil ich… Das war blöd von mir, sorry. Zieh dich jetzt bitte an! Ich will nicht zu spät zur ersten Einheit kommen!“ Moment? Erste Einheit? „Du machst wohl Witze! Ich hab Kopfschmerzen. Ich wollte dich aus meinem Zimmer schmeißen und mich nochmal hinlegen!“ „Nix da, du bist hier zum Studieren, nicht zum Party machen!“ Tja, da war ich wohl abgeblitzt, denn er schleifte mich, ohne Rücksicht auf Verluste, zu unserer ersten Rechtsvorlesung. In der ersten Woche war das Modul ausgefallen, wofür wir den Grund nicht kannten. Vielleicht war Alex so sehr auf einen guten ersten Eindruck bedacht wie ich üblicherweise, allerdings war ich nicht wirklich vorzeigbar und wollte mich lieber verkriechen. Zudem schmerzte mir das Herz ganz fürchterlich, denn seine Worte, er würde mich auf Befehl töten, hallten in mir nach. Ihm lag gar nichts an mir. Das alles war nur Show, wie bei meinen Eltern. Da ich zu sehr trödelte, schlugen wir erst auf, nachdem der Dozent schon begonnen hatte. Unsere etwas dezimierten, aber dennoch zahlreich anwesenden Kommilitonen stellten sich gerade der Reihe nach vor. Es war schade, das verpasst zu haben, denn so konnte man immer noch etwas Neues erfahren. Alex, der vor mir lief, verdeckte beim Eintreten den unbekannten Dozenten, doch als er in den Saal hinein beiseite trat, schlief mir augenblicklich das Gesicht ein. Diesen wilden, goldblonden Schopf kannte ich nur zu gut. Der elegante Mann trug einen eher legeren Anzug, in dem er trotzdem toll aussah, aber er konnte eigentlich auch alles tragen. „Herzlich willkommen in meiner Vorlesung, ihr zwei Schlafmützen. Da ihr mich schon kennt und ich euch, braucht ihr euch nicht vorzustellen“, sagte er amüsiert lächelnd. „Rova!? Was- was willst du hier?“, platze es ungewollt aus mir heraus, was natürlich wildes Getuschel im Saal ausbrechen ließ. Ich wollte nicht glauben, was ich da sah, denn genau das hatte er mir angedroht! Er konnte es wirklich nicht sein lassen. „Da dein Kommentar für Unruhe sorgt, Lyz, erkläre ich es deinen Kommilitonen schnell. Wie ich schon sagte, bin ich stellvertretender Geschäftsführer des 'Sozial Orientierten Lebenshilfe Vereins' und diese beiden jungen Herrschaften hier, sind Mitglieder des Vereins.“ Ja, klasse! Jetzt stellte er mich auch noch als Mitglied vor. Ganz offensichtlich stand er zu seinem Wort, schließlich hatte er mir angedroht, meinen Austrittsantrag abzulehnen, wenn ich ihm nicht sagte, was er zukünftig für mich sein sollte, tja und das hatte ich nicht. Nun war er mein Dozent geworden UND mein Chef geblieben. Eigentlich hatte ich nicht vor, noch an SOLV Veranstaltungen teilzunehmen, weil ich nicht mehr unter die Augen der anderen Mitglieder treten wollte. Leider hatte ich da aber offenbar kein Mitspracherecht. Rovas Zuweisung war bindend für mich, denn nur er hatte die Macht, mich zu beschützen. Egal was da käme, ich würde mich seinem Willen beugen müssen, damit er nicht mit der Wahrheit zur Polizei ging. Dass er den Spieß so umdrehen musste, fand ich wirklich link. Wenn er mich verstehen würde, hätte er mich einfach in Ruhe gelassen, bis ich die ganze Sache verarbeitet hatte. Rova schmunzelte und sprach dann weiter: „Und da wir gerade beim Thema sind, vergesst nicht, nächste Woche in der Mensa fleißig Blut zu spenden. Blutspenden rettet Leben! So, die Unterbrechung war lang genug. Wir machen weiter, wo wir aufgehört haben. Zuletzt war Frau Langscheidt, die junge Frau in dem grünen Kapuzenpulli dran. Also dann jetzt der junge Herr zu Ihrer Linken.“ Der Student stellte sich vor und Rova begann im Anschluss mit seiner Vorlesung im Modul „Recht I“. Er nutzte keine Vortragsfolien, sondern schrieb meist ein Wort oder ein paar Paragraphen an das Whiteboard und erzählte dazu ein, zwei spannende Fallbeispiele. Er sprach völlig frei, bezog seine Zuhörer aktiv mit ein und so wunderte es mich nicht, dass ihm jeder im Raum an den Lippen klebte. Er konnte so etwas unmöglich zum ersten Mal gemacht haben, so souverän wie er vor uns stand. Dabei meinte er noch, er habe eine medizinische Ausbildung und nun kannte er sich blendend mit unserem Rechtssystem aus. Schon wieder gab er mir neue Rätsel auf. Wieso musste er auch unbedingt noch den Gastdozenten spielen, obwohl er mir doch schon Alex auf den Hals gehetzt hatte? Es war schlimm, wie leicht es ihm fiel, mich mit seiner bloßen Erscheinung um den Finger zu wickeln. Ich hatte schon wieder verdrängt, wie ästhetisch ich ihn fand. Gern hätte ich die Augen geschlossen, um nur seiner schönen, warmen Stimme zu lauschen, aber dann hätte ich vielleicht eine seiner eleganten Bewegungen verpasst, was schade gewesen wäre. Oft streifte mich während der Vorlesung einer seiner zärtlichen Blicke, die ich aus meiner Sicht absolut nicht wert war. Nach Abschluss seiner drei Einheiten bat er Alex und mich nach vorn, angeblich um die Spendenaktion vorzubereiten, auf die er an dieser Stelle gleich noch einmal hinwies. Während wir unsere Sachen zusammenpackten, konnte ich zwei junge Frauen unfreiwillig dabei belauschen, wie sie sich miteinander über unseren neuen Dozenten unterhielten. „Ich muss unbedingt in diesen Verein. Herr Doktor Lucard soll mich auch am Ende des Unterrichts zu sich bestellen. Hab schon im Netz nach Bildern von ihm gesucht und jetzt ein neues Hintergrundbild~“, sang sie heiter. Die andere schaute etwas ernster, war aber nicht weniger angetan. „Chrissi, du zeigst hier ganz neue Seiten von dir! Haha, aber wenn du beitrittst, mach ich das auch! Ihm würde ich am liebsten Mal im Dunkeln begegnen!“ Ach du meine Güte, waren diese Hühner pubertär und völlig unreflektiert. Sie kannten Rova nicht mal. Nur weil er gut aussah, musste man sich doch nicht so anbiedern. Sowas konnte ich gar nicht leiden. Alex musste mir meine Abscheu angesehen haben. Er beugte sich so vor mich, dass ich meine Tasche nicht mehr weiter einräumen konnte und fragte grinsend: „Hehe, eifersüchtig, Prinzesschen?“ Als ob! Ich ignorierte ihn einfach und ging an ihm vorbei nach vorn ans Pult, vor dem der „Herr Doktor“ schon auf uns wartete. Er freute sich sichtlich, mich zu sehen, denn er strahlte mich regelrecht an. „Lyz, ich bin so froh, dass es dir gut geht. Ich habe schon von dem Vorfall letzte Nacht gehört und weitere Vorkehrungen getroffen. Es wird sich nicht noch einmal wiederholen. Ich habe dir doch versprochen, auf dich aufzupassen.“ Danach wandte er sich an Alex. „Das war saubere Arbeit, Alexander. Peter wird sie nicht noch einmal angreifen können. Hoffen wir, dass jetzt Ruhe eingekehrt, aber bleib weiterhin wachsam!“ Zu diesem Input fielen mir bestimmt hundert Fragen ein, zum Beispiel, was genau mit Peter passiert war, oder wieso sich Rova nun doch dazu entschlossen hatte, mich auch als Dozent heimzusuchen. Hach, es war wie verhext, denn kaum stand er vor mir, lähmte es mir die Zunge. Nichts von dem, was ich sagen wollte, brachte ich heraus und meine Knie wurden weich vor Angst. Wie ein kleines Mädchen stand ich da und sah ihn einfach nur schüchtern an. So schlimm, wie an diesem Tag, war es schon lange nicht mehr. Dabei hatte ich gedacht, ich hätte mich so langsam im Griff. Rova bat mich, ihm in sein neues Arbeitszimmer zu folgen, das sich nur zwei Stockwerke über uns befand. Alexander nahm draußen Stellung, während Rova und ich das überraschend geräumige Büro betraten. Was musste man machen, um als Gastdozent einen solchen Raum zugeteilt zu bekommen? Dieses Zimmer stand doch nie und nimmer leer. Tatsächlich war an seinem Namensschild „Dr. jur., Dr. med., Dr. rer. nat. Robert-Valentin Lucard“ zu lesen, was ich für einen schlechten Scherz hielt. Musste er es mit seinen gefälschten Titeln denn wirklich so übertreiben? So viele konnte er in seinem Alter noch gar nicht haben und das machte ihn unglaubwürdig, toll vorbereitete Vorlesung hin oder her. Er war offenbar nicht nur ein guter Lügner, sondern auch noch ein Betrüger. Wie hätte er sonst so viele Abschlüsse nachweisen können? Ich setzte mich ihm an seinem Schreibtisch gegenüber auf einen etwas wackelig aussehenden Drehstuhl, der wahrscheinlich in einem der Computerkabinette einmal übriggeblieben war. Nervös drehte ich mich darauf immer wieder hin und her und betrachtete ein SOLV Werbeplakat, das er an der Wand zwischen typischen, unaufregenden Büromöbeln angebracht hatte. „SOLV- Wir sind die Lösung“, stand in großen weißen Lettern auf einem Foto mit einer kitschig fröhlichen Standardfamilie darauf, die im Grünen miteinander spielte. Der Verein war die Losung. Gut, aber wofür? Das klang wie ein Werbespruch der Zeugen Jehovas, die ins Paradies einluden. Ich runzelte die Stirn unbeabsichtigt ganz leicht, was sofort von Rovas aufmerksamen Augen bemerkt wurde. „Unsere neue Plakatkampagne. Nicht gut?“ Zwickmühle! Ich atmete tief ein, doch das reichte ihm schon, um das Poster von der Wand zu reißen. Danach zerknüllte er es und setzte sich vor mich an seinen grauen Schreibtisch. „Ich lasse die Auflage einstampfen. Welche Gedanken kommen dir denn, wenn du an den Verein denkst?“ Oje… „Vielleicht, … SOLV-Mitarbeiter, die Freude daran haben, anderen zu helfen? Das war es, was mich motiviert hat.“ Rova sah mich vollkommen entgeistert an. Ich musste das Dümmste gesagt haben, das er je gehört hatte. „Lyz, das ist perfekt!“, rief er überraschend, stand dabei wieder von seinem Stuhl auf und kam um den Tisch herum. Er lehnte sich neben mich an die Tischplatte, lächelte auffordernd zu mir herab und schmiss danach seine Ideen dazu in den Raum. „Es wird eine ganze Flut neuer Spender heran spülen, wenn wir dich dabei ablichten, wie du einem jungen Mann die Hand hältst, während er sich tapfer von uns anzapfen lässt. 'SOLV- Hilfe zahlt sich aus'!“ Vielleicht war das besser, aber hatte er da gerade „dich“ gesagt? ICH sollte auf seine Plakate? Das wurde ja immer schöner. Hätte ich doch meinen Mund gehalten... Ich sank langsam immer weiter auf diesem klapprigen Stuhl in mich zusammen, der dabei quietschte. „Lyz, wie geht es dir? Hattest du heute Angst davor, nach draußen zu gehen?“, erkundigte er sich besorgt. Vor ihm konnte ich offenbar gar nichts verbergen. „Alles gut. Alex beschützt mich doch. Ich hab auch nicht viel mitbekommen, ehrlich gesagt, weil er mich so schnell ins Studentenwohnheim geschickt hat.“ Er ließ ein paar Finger über eine meiner Haarsträhnen gleiten. Ich wehrte es nicht ab, denn immer wenn er so etwas tat, schlug mein Herz automatisch etwas schneller. Ich mochte seine Nähe, auch wenn sie mich gleichzeitig stresste. „Sieh mich mal an, Liebes.“ Diese Sanftheit war einfach schön. Ich hob meinen Kopf an, während er sich zu mir nach unten beugte. „Nicht Alexander beschützt dich, sondern ich, nur leider kann ich nicht immer so für dich da sein, wie du es verdienst. In meiner Position trage ich große Verantwortung, verstehst du?“ Nun, eigentlich nicht. Gar nichts verstand ich. Wie viele Jobs hatte er überhaupt? Was genau war er für Alex? Was… war er für mich? „Lyz? Lyz, was hast du auf dem Herzen?“, fragte er eindringlich, da er zu spüren schien, wie aufgewühlt ich war. Leider brachte ich rein gar nichts über die Lippen, was ein betretenes Schweigen nach sich zog. Neben dem in meinem Kopf rauschenden Blut, hörte ich noch die von der Tür gedämpften Stimmen vorbeilaufender Leute auf dem Gang, als mir stumm eine einzelne Träne die Wange herunter rollte. Dieses verräterische Tröpfchen hätte sich doch noch gedulden können, bis ich wieder allein war. Rova stoppte die Träne mit seinem Daumen, den er danach sanft über meine Wange wischte. An einer Armlehne drehte er meinen Stuhl noch etwas weiter zu sich. Er legte eine Hand auf meinen Hinterkopf ab und zog mich in seine Arme hinein. Ich trug so viel mit mir herum, doch niemals nahm mich mal jemand tröstend in den Arm. Durch seine Wärme spürte ich erst, wie mitgenommen ich war. Sie brachte meine Fassade zum Einstürzen und beförderte meine tiefe Trauer ans Tageslicht. Für meine Tränen gab es nun kein Halten mehr. Dieser Mann gab mir so viel, dabei wollte ich das doch gar nicht. „Lyz, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mich schmerzt, dich so zu sehen. Was belastet dich so sehr?“, hauchte er zu mir herab. Ich presste mein Gesicht an sein blaues Sakko und sah mich nicht imstande, ihm zu antworten, jedenfalls nicht gleich. Mein emotionaler Ausbruch entstand aus einer Mischung aus Trauer über all das, was passiert war und Freude über seine Besorgnis. Es interessierte ihn, wie es mir ging. Es gab nichts Größeres für mich. Ich brauche etwas Zeit, bis ich schließlich leise wimmerte: „Man hasst mich. Alle hassen sie mich!“ „Wer hasst dich, Lyz?“ „Alle, der ganze SOLV, Peter, Alex und wahrscheinlich auch du, wenn du ehrlich bist.“ Er drückte noch fester zu. „Wenn ich dich hassen würde, hätte ich dich dann im Arm? Und Alex hat dich gestern mit vollem Einsatz beschützt, also hasst er dich auch nicht.“ „Weil du es befohlen hast... Er hat mir gesagt, dass er nur Anweisungen befolgt“, entkräftete ich. Rova ließ daraufhin locker, fasste mich an den Schultern und versuchte mich anzusehen, doch ich senkte meinen Kopf so weit herab, dass meine offenen Haare mein Gesicht verdeckten. „Das bedeutet nicht, dass er dich hasst. Peter war der Einzige, der so empfand, doch vor ihm brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. Es gibt jetzt nur noch uns drei, die Kenntnis davon haben, was in Wahrheit passiert ist. Wenn du es also nicht aussprichst, wird niemals jemand etwas davon erfahren.“ Überrascht strich ich mir eine Strähne hinters Ohr und sah Rova an. Da war wieder dieser Blick von ihm, der mich über die dunkelsten Stunden gerettet hatte. Außer uns wusste also niemand etwas. Das bedeutete, er hatte sogar seine Familie für mich angelogen, unglaublich. Wieso war ich ihm nur so wichtig? Da mir die Nase lief, drehte ich mich notgedrungen von ihm weg, um ein Taschentuch herauszusuchen. Er richtete sich vor mir auf und sagte zärtlich: „Egal um was es geht, wenn du traurig bist oder Hilfe brauchst, dann ruf mich an, ja, Liebes? Dann komme ich zu dir.“ Ich erinnerte mich daran, dass Sebastian fast dasselbe, nur ein paar Stunden zuvor, zu mir gesagt hatte und es irritierte mich ein wenig. Eigenartiger Zufall… Meine Gefühle für Rova wurden immer stärker und doch traute ich ihm kein Stück über den Weg. Vielleicht war aber auch genau das mein Fehler. Mich Rova zu widersetzen hatte nur Unglück über uns alle gebracht. Unglück… im Gegensatz zum Glück, fiel es mir leicht, das Unglück zu definieren. Tja, was sagte das wohl über mich aus? „Okay, mach ich. Danke“, bestätigte ich schließlich. Er geleitete mich hinaus und überließ mich wieder seinem Gefolgsmann Alex. Ohne ein einziges Wort zu meinen offensichtlich glasigen Augen und meinen wahrscheinlich geröteten Wangen, begleitete er mich nach Hause. Wenn es darauf ankam, konnte er also auch sensibel und rücksichtsvoll sein, nicht nur ein fieser Kerl, der sich über alles und jeden lustig machte. An meiner Zimmertür erklärte mir Alex, ich brauche das Licht nicht wieder über Nacht einzuschalten. Ich bestätige, dabei hatte ich nicht einmal den gewünschten Effekt dieser Maßnahme verstanden. Vielleicht sollte es zeigen, dass ich noch nicht schlief…? Oder ich hörte auf zu raten und fragte einfach. „Wieso sollte ich es überhaupt anlassen?“ Alex zuckte mit den Schultern. „Weil es den Angreifer blenden soll. Wenn du aus 'nem dunklen Raum in einen sehr hellen kommst, siehst du erstmal nix. War nicht meine Idee.“ Okay, das war banal, aber vielleicht gar nicht mal so dumm. Damit gab ich mich zufrieden. Auch ohne Flutlicht gestaltete sich die Nacht nicht einfach für mich, so viele Bilder wie mir immer noch im Kopf herum spukten. Ich fragte mich, was mit Peter passiert war. Ob ich Alex fragen konnte, was er mit ihm gemacht hatte? Wohl kaum… Dieser ganze SOLV kam mir inzwischen mehr als verdächtig vor. Diese Strukturen und Rovas Position ließen mich an eine Sekte denken oder organisiertes Verbrechen. Dieser exzentrische, goldblonde Mann verhielt sich doch eher wie ein Guru oder Mafiaboss als wie ein normaler Chef. Alex behandelte er wie einen Leibeigenen und mich ließ er nicht mehr aus dem Verein austreten. Dann war da noch dieser Prinzentitel und Rovas viele Doktortitel. Alex' Verweis auf Horrorfilme half mir da überhaupt nicht weiter. Vielleicht wollte er damit andeuten, dass Rova ein bisschen was Psychotisches an sich hatte. Dann hätte er aber wohl kaum gesagt, er würde alles für ihn tun. Hm, es sei denn, er hatte ihn genauso in der Hand wie mich. Mann, diese wilden Vermutungen brachten mich auch nicht weiter. Schlaftrunken nahm ich mein Handy und schreib an Alex: „Ist der SOLV wirklich nur ein Verein?“ Ich starrte wie gebannt auf das leuchtende Display. Es verschwamm immer wieder vor meinen Augen, doch dann erschien das kleine Gelesen- Häkchen dahinter. Mit seiner Antwort ließ Alex allerdings auf sich warten. Die Minuten verstrichen, in denen ich das Gerät immer wieder ablegte, um es doch sofort wieder in die Hand zu nehmen. Er schrieb, das meldete die App zurück, sendete es aber nicht. Dieser Kerl machte mich noch verrückt. Erst nach geschlagenen 21 Minuten kam seine Antwort. „Stell Rova deine Fragen!“ Ja toll, danke für nichts. Erst spannend machen und dann doch nichts verraten. Enttäuscht legte ich das Handy beiseite und sank in mich zusammen. Bis vor dem Vorfall hatte ich geglaubt, er wäre mir ein Freund und nun war alles dahin. Wieso musste er nur behaupten, ich sei nur ein Befehl, ein Auftrag für ihn? Das tat so weh, dass sich mein Magen schon wieder krampfte. Dieser Arsch! Dabei hatte ich gedacht, er könne mich von allen am besten verstehen. Ich musste der Tatsache ins Auge blicken. Ich war noch genauso einsam wie früher. Das Herz ausschalten und einfach weiterleben, was anderes blieb mir nicht übrig. Ich wusste, wie das ging, … aber… ich wollte es nicht mehr. Erst nach ein paar Tagen kam mir der Gedanke, dass ich Alex' Freundschaft, über seinen blöden Auftrag hinaus, vielleicht trotzdem gewinnen konnte. Er machte überhaupt keinen verlogenen Eindruck, wenn er mich so schief angrinste. Was, wenn er nur überreagiert hatte? Es war zu lustig mit ihm, als neben ihm Trübsal blasen zu können. Ohne, dass wir große Fortschritte machten, verstrichen ein paar Wochen, doch dann trafen wir auf jemanden, der mir meine Situation erneut vergegenwärtigte, meinen Ex Freund Mick. Das war jener gutaussehende Kerl, der mir beigebracht hatte, so wenig wie möglich über mein Elternhaus preiszugeben. Ich begegnete ihm beim Einkaufen, einer der wenigen Momente außer Haus, den ich allein sein durfte. Außer beim Mittagessen ließ mich Alex ja nie aus den Augen. Mick war inzwischen Geschäftsmann, stand aber noch am Anfang seiner Karriereleiter, die er mit Leichtigkeit erklimmen würde, so ein rücksichtsloser Rüpel, wie er war. Alex wartete vor dem Supermarkt auf mich und ging, wie zu erwarten, sofort auf meinen Ex los, dem er nach einer Provokation sogar ins Gesicht schlug. Er machte seinen Job als Aufpasser viel zu gut, denn Mick flüchtete danach über alle Berge. Rovas Schutz war ein Käfig, das wurde mir erst durch dieses Erlebnis so richtig bewusst. Ich arrangierte mich damit, denn immerhin war Alex' Gegenwart so angenehm, dass ich über vieles hinwegsehen konnte. Mir fielen auch keine echten Alternativen ein. Es gab aber auch Zeiten, zu denen sich Alex mehr als merkwürdig verhielt. Wie sein Wutausbruch nach der Party, bei dem er mich „dumme Kuh“ genannt hatte, vermuten ließ, empfand Alex auch negative Emotionen für mich. Verrückterweise brachen diese immer in Phasen aus, in denen er mich kaum ansah. Dann verheilt er sich distanziert, wurde wortkarg und lachte auch nicht mehr. Zeitweise vermutete ich, dass in ihm noch eine andere Persönlichkeit wohnte, die seinen Job und mich nicht ertragen konnte. Ich erkannte ihn an diesen speziellen Tagen kaum wieder, doch ebenso schnell, wie seine Launen kamen, gingen sie auch wieder. Aus Angst, damit eine solche Phase auszulösen, fragte ich lieber nicht nach. Ich befürchte, sie waren Ausdruck seines tief in ihm brodelnden Hasses auf mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)