Our Beginning von Puppenspieler ================================================================================ Prolog: -------- Der Sommer kam mit der gleichen, drückenden Intensität wie jedes Jahr. Es schien gestern erst gewesen zu sein, dass es noch wie aus Kübeln geschüttet hatte, und plötzlich brannte die Sonne so gnadenlos heiß vom Himmel, als wollte sie alles braten, was sich nicht rechtzeitig in eine klimatisierte Bude flüchtete.   Die Zeit war viel zu schnell vergangen.   Nach Akiras riesiger Abschiedsparty war der Alltag wiedergekehrt mit der Wucht eines Fastballs mitten ins Gesicht, und mit einem Blinzeln waren die Frühjahrsferien vorbei, bevor irgendeiner ihrer Pläne wirklich in die Tat umgesetzt werden konnte. Kein Besuch bei Akira. Keine Lernfreiheit. Am Ende waren es die grausigsten Frühjahrsferien, die Ryuji je gehabt hatte – und schon am letzten Tag der Ferien, als er nach einem Telefonat mit Akira widerstrebend auflegte, weil sie beide schlafen gehen mussten, war er wild entschlossen, dass er die Sommerferien besser nutzen würde.   Er hielt sein Wort.   Zweiter Tag der Sommerferien, und er stieg an einem Bahnhof, der beinahe niedlich klein war, aus dem Zug, der ihn von Tokyo hinaus in die Pampa gebracht hatte. Er hatte gar keinen Blick für die Umgebung übrig – Sightseeing konnten sie später betreiben. Wenn sie Zeit hatten. Es gab so viel Wichtigeres und Besseres zu tun! Sobald er Akira gefunden hatte. Es konnte nicht so schwer sein. Er kannte Akira. Sein Gesicht, sein Strubbelhaar, seine entspannte, lässige Körpersprache. Er hatte sich nicht verändert, oder? Nicht so sehr, dass Ryuji ihn nicht wiedererkennen würde, sicher nicht!   Er hatte sich wirklich nicht verändert.   Er stand etwas abseits der Menschen, die auf dem Bahnsteig herumwuselten, bedacht, ihnen nicht im Weg zu sein. Immer noch das gleiche Strubbelhaar, immer noch die gleiche, lässige Ausstrahlung. „Yo, Akira!“ Ryuji lief eilig zu ihm hinüber, die alte, ausgebeulte Reisetasche auf seiner Schulter schlug wild gegen seine Seite dabei. Akira sah auf, blickte ihn durch die gleiche, alte Brille an. „Mann, es tut so gut, dich wiederzuseh‘n! Wie ist’s dir hier ergangen? Was macht die– argh nein, wir reden nich‘ über Schule!“ Er unterbrach sich lachend, warf Akira einen Arm um die Schultern. „Du musst mir alles erzähl’n! Aber erstmal muss ich dringend meine Tasche loswerden. Das Ding nervt langsam nur noch.“ Akira neben ihm setzte sich schweigend in Bewegung, ein kaum sichtbares, amüsiertes Schmunzeln im Mundwinkel, das Ryuji dazu brachte, nur noch breiter zu grinsen. Es war, als wäre überhaupt keine Zeit zwischen ihnen vergangen.   „Ich hab deine Visage echt vermisst, Kumpel.“   Akira sah ihn an, Amüsement blitzte in dunklen Augen auf und aus dem kaum sichtbaren Schmunzeln wurde ein Grinsen. Selbstzufriedener Mistkerl. Nicht, dass Ryuji ihm böse sein könnte. Nach all dem Scheiß, den sie hinter sich hatten, tat es immer wieder gut, ihn froh und munter zu sehen. Außerdem kannte Ryuji ihn!   „Ich weiß.“   Ich dich auch. Kapitel 1: ----------- Nur mal schnell die Tasche wegbringen dauerte länger, als Ryuji gedacht hätte – er hatte aber auch die Uhrzeit verschätzt. Schlussendlich blieben sie gleich zum Abendessen bei Akira zuhause, und auch danach ging es nicht mehr hinaus. Aber als Ryuji einen zweiten Blick in Akiras Zimmer werfen konnte, nachdem er zuerst wirklich nur seine Tasche hineingeworfen hatte, da war ihm das sowieso interessanter als alles Rausgehen.   „Kein Vergleich zu der alten Bruchbude beim Chef“, kommentierte er anerkennend, während er auf dem weichen Bett herumwippte. Der Raum war ziemlich groß, war gut ausgestattet. Kein Vergleich mit einem kleinen Innenstadt-Apartment in Tokyo. Oder mit seinem eigenen Zimmer, das Ryuji sicher nicht eintauschen wollte, weil seine Ma verdammt viel Liebe reingesteckt hatte, aber das hiergegen eben doch eher mickrig wirkte. „Es lässt sich aushalten“, gab Akira mit einem unbekümmerten Schulterzucken zurück, während er sich auf seinem Schreibtischstuhl niederließ, die Beine überschlagen.   „Aushalten.“ Ryuji lachte, schüttelte den Kopf. „Aber gut. Du kannst vermutlich einfach überall pennen, so nach allem, huh?“   Kaum zu fassen, dass das jetzt schon Monate her war. Keine Diebereien mehr, keine Abenteuer im Metaverse, nichts mehr, das an all die abgedrehten Abenteuer erinnerte, die sie erlebt hatten. Nichts, außer– „Oh, hey. Wo is‘ eigentlich Mona? Hat er keinen Bock mehr auf dich und is‘ ausgezogen?“   Wie sich herausstellte, nein, war Mona nicht ausgezogen – wunderte Ryuji auch eigentlich nicht –, sondern lediglich unterwegs. So, wie Akira es klingen ließ, streunte Mona wohl ganz schön oft draußen herum, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wie er endlich einen menschlichen Körper bekommen konnte. Bisher, auch nicht unerwartet, hatte er keinen Erfolg gehabt. So ganz ohne Metaverse und all das Zeug, wie sollte das auch gehen? Vielleicht nen Wunschbrunnen versuchen. Oder am Schrein beten. Gab doch so viele Gottheiten, irgendeine würde auch Katzenwünsche erfüllen. „Na, beeil‘n sollte er sich, sonst hat Ann längst jemand andren gefunden.“ Akiras einzige Antwort war ein Heben seiner Augenbraue. Ryuji öffnete empört den Mund.   „Wen?!“   Keine Antwort. Keine hilfreichere Antwort zumindest als frag sie doch selbst, und die Idee ließ ihn sofort vehement den Kopf schütteln und er verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Nur über meine Leiche, Mann! Die bringt mich doch um, wenn ich in ihrem Privatleben rumschnüffel. Pah. Dabei sollten Freunde sich sowas doch erzähl’n!“ Also, okay, er sah ja ein, dass man hier und da Geheimnisse hatte, aber sowas Großes? Das war mal wieder typisch für die Weiber!   „Ich erwarte von dir, dass ich’s als erstes hör, wenn du dir jemanden anlachst, Akira! Hörst du?“   Es war unmöglich, dass Akira ihn nicht hörte, aber der Kerl antwortete auch nicht. Er grinste nur dieses rätselhafte Grinsen in sich hinein, griff nach etwas, das auf seinem Schreibtisch lag – und dann ging der Fernseher an. Wenn sein Plan gewesen war, Ryuji abzulenken, dann hatte er Erfolg.       ***       „Ich hoff mal, Makotos Schwester hält ihr Versprechen.“   Ryuji seufzte. Er lümmelte bäuchlings auf Akiras Bett, ein Kissen unter die Brust geschoben, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Im Anschluss an die Comedy-Sendung, die sie gerade verfolgt hatten, waren Spätnachrichten angelaufen. Positiv war das Zeug immer noch nicht. Gut, es gab keine spontanen mentalen Zusammenbrüche mehr, und entsprechend weniger schreckliche Unfälle und unerklärliche Vorkommnisse, aber so richtig besser war es trotzdem nicht. Es gab immer noch Leute, die sich wie der größte Dreck verhielten.   „Wird sie.“   Akiras unerschütterliches Vertrauen war bewundernswert, und zumindest ihm wollte Ryuji genauso unerschütterlich vertrauen. Trotzdem gab er einen frustrierten Laut von sich, während er sich herumrollte und das Kissen zurück an seinen Platz pfefferte. „Haste nich‘ trotzdem auch manchmal das Bedürfnis, weiter zu machen? Ich mein–“ Er brach ab, zuckte die Schultern. „Wir geben uns ja alle Mühe, aber ob das wirklich genug is‘?“   Sie taten alle, was sie konnten. Yusukes Bilder, wie sie das auch machten, berührten die Herzen der Menschen, und vielleicht konnten sie ihnen eine Lehre sein. Makoto hatte auch auf der Universität schon begonnen, sich gegen Mobbing und ungerechte Behandlung einzusetzen und nutzte alle Erfahrungen, die sie als Schülersprecherin gesammelt hatte, um ihrem neuen Lernumfeld zu helfen. Ann setzte sich mit einer Leidenschaft für Mädchen ein, die ungerecht behandelt wurden. Wurde bald eine Schulberühmtheit, wenn das so weiterging, und gerade viele von den jüngeren Mädels suchten gerne ihren Rat. Futaba und ihren Hackerkram verstand Ryuji zwar immer noch nicht im Geringsten, aber sie schien auch ihren Teil zu tun, auch wenn von ihren Erklärungen nie etwas hängen blieb. Sie fand böse Typen. Sie verpfiff sie, wenn es möglich war. Oder steckte anderen Leuten heimlich Infos, die dann mehr erreichen konnten. Haru tat alles daran, dass das Unternehmen von ihrem Alten endlich so gerecht mit seinen Mitarbeitern und Kunden umging, wie die es verdient hatten. Und Ryuji selbst – er machte den Mund auf, wenn er Ungerechtigkeiten sah. Schlug nicht zu, sondern suchte andere Wege, Probleme zu lösen, auch wenn es ihm nach wie vor viel zu schwer fiel, seine impulsive Seite und seinen Stolz runterzuschlucken.   Sie konnten schon etwas verändern. Aber am Ende konnten sie trotzdem nur vor der eigenen Haustür kehren. (Minus Futaba, wobei selbst die jetzt viel eingeschränkter war als zu Diebeszeiten.) Es war ein ganz anderes Ausmaß als das, was sie hatten erreichen können. Manchmal frustrierte es. Wenn er die Nachrichten einschaltete. Wenn er in der Bahn Leute darüber reden hörte, dass irgendein größeres Verbrechen passiert war.   „Das haben wir alle. Aber wir haben unseren Weg gewählt, Ryuji.“   Ryuji nickte verdrossen. „Ich weiß, Mann. Aber’s is‘ so verdammt schwer! Und es war einfach so cool.“ Das vermisste er auch. Nicht nur die guten Taten – den Nervenkitzel, das Abenteuer, die abgedrehten Orte, die sie gesehen hatten. Die Bewunderung der Leute. Dass sie ihnen hatten Kraft und Mut geben können, einfach damit, sie selbst zu sein.   Seine Gedanken unterbrachen, als er sah, wie Akira von seinem Stuhl aufstand, um rüberzukommen. Er setzte sich auf die Bettkante, griff über Ryuji hinweg nach dem Kissen.   Und pfefferte es ihm ins Gesicht.   Mit einem empörten Ausruf schob er das Ding von sich, fuhr auf. „Das war ‘ne Kriegserklärung, Mann!“ Und schon flog das Kissen zurück. Und dann flog das andere, das Akira samt Futon und Bettdecke für Ryuji hergebracht hatte, gleich noch hinterher. Ryuji lachte herzlich, als der nächste Angriff Akira dazu brachte, seine Brille in Sicherheit zu bringen. Und das war gut so! Jetzt musste er ja gar keine Gnade mehr walten lassen. „Glaub nich‘, dass du mich schlagen kanns‘!“       ***       Aber Akira schlug ihn.   Wie lange sie sich prügelten, das konnte Ryuji nicht sagen, doch am Ende war er so erschöpft, dass er keuchte wie ein Rentner nach dem Sprint zur Bushaltestelle. Er lag platt auf dem Boden, und Akira, der Mistkerl, hockte auf seinen Hüften, immer noch das Kissen in der Hand, und mit dem Grinsen auf seinem Gesicht im Halbdunkeln des Zimmers – die einzige Lichtquelle war der flackernde Fernseher – sah er viel zu sehr nach Joker aus. Er hob das Kissen in seinen Händen weit über den Kopf.   Ryuji hätte sich wehren sollen. Ausnutzen, dass seine Arme frei waren, und herausfinden, ob Akira kitzlig war, oder ihn einfach von sich schubsen, aber stattdessen starrte er einfach nur. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Das war es, was er vermisste. Dieses Gesicht. Dieses Grinsen. Dieses Gefühl. Freiheit. Joker. Endlose Möglichkeiten. Kameradschaft über den Tod hinaus.   „Joker.“ Seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren. Ryuji schluckte, dann breitete sich ganz automatisch ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, getrieben von dem Adrenalin, das durch seine Adern rauschte. Joker ließ das Kissen sinken, bis es harmlos auf Ryujis Brust zum Liegen kam, doch das Grinsen blieb. Er lehnte sich hinunter, stützte die Ellenbogen darauf ab. Das fremde Gewicht auf ihm ließ seinen Atem stocken. „Skull.“ Das war der Moment, in dem sein Verstand abschaltete. Skull funktionierte nur noch auf Autopilot. Er packte in Jokers Haar, zog ihn näher zu sich, bis ihre Stirnen miteinander kollidierten; es war keine sanfte Geste.   Es war zu dunkel, um viel von Joker zu sehen. Er war ohnehin so nah, dass das Gesicht vor seinen Augen verschwamm. Aber eigentlich war es auch egal. Darum ging es nicht.   Joker löste sich, weit genug, dass Skulls Blick auf ihn wieder scharf wurde. Kurz sah er nichts anderes mehr als dieses Grinsen, dann kam Joker näher. Neigte den Kopf zur Seite, und Skull tat es ihm instinktiv gleich, echote die Bewegung, nur in anderer Richtung. Näher. Näher. Warmer Atem kitzelte seine Lippen, ließ die Härchen in seinem Nacken zu Berge stehen.   „Hätte nicht gedacht, dass du auf Rollenspiele stehst.“   Akiras süffisanter Spott brach den Zauber des Augenblicks und Ryuji schrie empört auf, schob seinen Freund grob von sich. „Du Blödmann!“ Doch er lachte, schon während er schimpfte, packte sich das Kissen, um es Akira noch einmal den Kopf zu werfen. „Du hast doch angefangen!“   Akira, natürlich, sah das anders. Zumindest blickte er so unschuldig drein, als hätte er keine Ahnung, wovon Ryuji redete. Natürlich nicht. Nie-mals. In einer Mischung aus Lachen und Schnauben pfefferte er das zweite Kissen auch noch hinterher – er traf nicht einmal. „Geh schlafen, Kumpel.“   Nicht, dass Ryuji selbst so müde war – okay, doch, war er –, aber für heute hatte er genug!   Bis sie sich tatsächlich zum Schlafen fertiggemacht hatten, hatte Ryuji auch eingesehen, dass er völlig am Arsch war, und mit einem erschöpften Seufzen ließ er sich auf seinen Futon plumpsen. Es reichte gerade so noch für einen genuschelten Gutenachtgruß, dann schlief er quasi schon.   Dass er Joker in der Nacht nicht so ganz aus dem Kopf kriegen wollte, hatte allerdings wenig damit zu tun, wie sehr er die Phantom Thieves vermisste. Kapitel 2: ----------- Ryuji konnte sich total daran gewöhnen, bei Akira abzuhängen. Es war großartig.   Als er am Morgen aufwachte und runter in die Küche schlurfte in der Hoffnung, dort etwas zu trinken zu finden, fand er stattdessen seinen besten Kumpel, der am Herd stand und Frühstück machte mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er nie etwas anderes getan. Und es schmeckte verdammt gut – weit besser als alles, was Ryuji jemals so hinkriegen würde.   „Mann, das is’n Service!“, rief er zufrieden aus, als er sich pappsatt auf seinem Stuhl zurücklehnte. „Sicher, dass du nich‘ wieder mit zurück nach Tokyo willst? Kanns‘ bei mir wohnen, wenn du jeden Morgen kochst.“ Ihm war selbst bewusst, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, und natürlich schüttelte Akira den Kopf – aber er sah nicht so aus, als wäre es ein schlechter Gedanke! „Nach der Schule“, beschloss er also einfach. Da waren sie eh dann alt genug. Konnten ausziehen, und Zeug machen, wie sie wollten. Nicht, dass Ryuji schon so richtig wusste, was für ihn nach der Schule anstand, aber noch hatte er mehr als ein halbes Jahr, um zu überlegen, also wollte er sich seine Sommerferien nicht davon vermiesen lassen!   Makoto erinnerte ihn sowieso viel zu oft daran. Verdammte Sadistin. Sklaventreiberin.   Er seufzte nachdenklich. „Yusuke kann ja auch mitmach’n. Wird dann immerhin nie langweilig. Und er hat immer Inspiration für seine Kunst!“ Ryuji lachte, grinste zu Akira hinüber, der ihn ansah, als würde er an seinem Verstand zweifeln – zumindest ein bisschen. „Kannst dich ja immer noch auszieh’n, wenn’s sonst nich‘ genug inspiriert.“   „Man hört einfach, dass Ryuji in der Nähe ist – und das zehn Meilen gegen den Wind.“ „Mona?!“ Mona hüpfte elegant vom Boden auf einen Küchenstuhl, setzte sich da karikativ artig hin und schlang den Schwanz um die Pfoten. „Der Morgen war so gut… und dann tauchs‘ du auf.“ „Ich hätte auch auf deine Gesellschaft verzichten können, aber was soll ich machen? Ich kann dem Kerl hier leider nicht seine Freunde verbieten.“ „Du Flohschleuder!“   „Ihr könnt euch ruhig wie normale Menschen begrüßen“, kommentierte Akira trocken. Er stand auf, um den Tisch abzuräumen. Mit einem beleidigten Seufzen in Richtung Mona folgte Ryuji ihm. Hey, nur weil er hier der Gast war, würde er nicht auf der faulen Haut liegen! Mochte man ihm kaum zutrauen, aber Hausarbeit konnte er. Musste er können, seine Ma mit dem ganzen Scheiß allein zu lassen, wäre aber auch mehr als nicht okay gewesen.   Immerhin blieb Mona auch still. Ryuji sah, wie die Katze wieder vom Stuhl sprang und dann durch die Tür hinaus verschwand. Er seufzte schwer. „Wie hälts‘ du das jeden Tag mit ihm aus?“ Akira sah ihn nur unbekümmert an, zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, ich weiß. Zu dir is‘ er nett. Er is‘ zu jedem nett, außer zu mir!“ Was, übrigens, immer noch unfair war. Gut, ja, so rückblickend sah Ryuji ein, dass er nicht immer nett zu Mona gewesen war, aber ganz im Ernst, Mona war genauso wenig nett zu ihm gewesen! Nur, dass das irgendwie jeder gern zu ignorieren schien. „Mach dir nichts draus. Ihr harmoniert eben nicht.“ Wenigstens Akira sagte nicht, es sei nur seine Schuld.   Es hatte eben Gründe, dass Akira sein bester Freunde war.   Lange blieb die Katze aber nicht weg. Noch während sie dabei waren, den Abwasch zu erledigen, kam Mona wieder angetrottet, schleppte ein kleines Stoffsäckchen im Maul mit sich herum, das er Ryuji vor die Füße spuckte. „Akira hat erwähnt, dass du vor einer Weile Geburtstag hattest. Hätte es dir ja schicken lassen, aber wo du sowieso herkommen wolltest, konnten wir uns die Mühe ja sparen.“ „Mona…“   Ryuji war sprachlos – und ehrlich gerührt. Dass selbst Mona an seinen Geburtstag gedacht hatte, hätte er im Leben nicht gedacht! Also, klar, er hatte einen Anruf bekommen von Akira und Mona, und von Akira das Versprechen, dass er sein Geschenk bei seinem Besuch bekäme. Er war sich sicher gewesen, dass die Sache damit gegessen gewesen wäre. „Mann, das wär doch nich‘ nötig gewesen.“ Er grinste Mona ehrlich an, als er hinunter in die Hocke ging, um das Säckchen vom Boden aufzulesen. Die Katze ihm gegenüber blinzelte selbstzufrieden. „Ich weiß. Aber ich bin so großzügig.“ Allein dafür hätte das Tier schon wieder einen Rüffel verdient, aber eigentlich war Ryuji gerade wirklich besänftigt genug, dass er die Spitze über sich hinweggehen lassen konnte. Geschenkeauspacken war sowieso interessanter!   Auch wenn er ein bisschen verdutzt war von dem Ding, das da aus dem Säckchen kam, und er sah Mona fast ratlos an. „‘N Armband?“ „Es ist ein Halsband“, korrigierte er, und reckte sich so, dass Ryuji das Halsband samt Namensschild sehen konnte, das um seinen Hals hing. „Akira hat mir eines gekauft, als wir hergekommen sind. Zur Sicherheit, damit ich notfalls in der fremden Umgebung beim Herumstreunern nicht ganz verloren gehe und mich jemand nach Hause bringen kann. Und ich dachte mir – das ist doch genau das Richtige für unseren Ryuji. Bei deinem Orientierungssinn…“ „H-hey!!! Ich bin kein oller Flohzirkus im Gegensatz zu dir! Und ich komm wunderbar allein zurecht, danke auch!“ Er spürte Akiras Knie im Rücken, wie eine stille Mahnung. Bleib ruhig. Bewusst langsam atmete er durch, versuchte, die Beleidigung abzuschütteln und sah noch einmal auf das Band hinunter. Wäre es ein Armband, es wäre ja okay gewesen.   Erst jetzt bemerkte er, dass der eher unauffällige, kleine Anhänger an dem Band tatsächlich eine Gravur hatte – keine Telefonnummer, wo man ihn würde abgeben können, sondern einen Totenschädel.   Er schüttelte den Kopf, legte eine Hand auf Monas Kopf, um ihm ordentlich das Fell zu zerzausen. Grinste nun doch wieder. „H-hey! Nimm deine Pfoten weg!!“   „Nah. Sag mir lieber, wann du Geburtstag hast, Mann.“       ***       Es war allgemein der beste Geburtstag seit einer ganzen Weile für Ryuji gewesen.   Mit allen Schulsorgen und Kamoshida waren die letzten zwei Jahre alles andere als gut gewesen. Davor waren ein paar schöne Jahre, und dann war da sein Alter gewesen, und daran wollte er am liebsten nie wieder zurückdenken.   Dieses Jahr aber – kein Kamoshida. Kein alter Herr, der Ärger machen konnte. Kein gnadenlos mieser Ruf in der Schule. Freunde, die an seinen Geburtstag dachten.   Alle gratulierten sie ihm an seinem Geburtstag. Ann in der Schule. Die anderen alle per Telefon – außer Futaba, die es völlig übertrieb, und die Anzeigetafeln in der Einkaufsmeile dazu brachte, einen Geburtstagsgruß an Skull zu senden. Den ganzen Tag. Es war unglaublich cool gewesen.   Es war ein großartiger Geburtstag, und Ryuji war mehr als glücklich. Und es war noch nicht einmal alles.   Zuerst hatte er sich gar nichts dabei gedacht, als Futaba sie alle zum Café Leblanc gerufen hatte, um sich noch einmal zu treffen. Warum auch? Taten sie öfter, so um der alten Zeiten Willen, auch wenn Akira jedes Mal viel zu sehr fehlte. Er hatte sich auch noch nichts dabei gedacht, als da eine grellbunte Tortenglocke auf dem Tisch gestanden hatte. Manchmal brachte eben jemand Snacks mit.   Dass etwas nicht stimmte, merkte er erst so recht, als ihn jeder anstarrte, nachdem er sich auf seinen Platz geworfen hatte.   „Hab ich was im Gesicht?“   Es war Ann, die antwortete, empört schnaubend: „Nein, du Idiot, du hattest Geburtstag!“ Und mit den Worten schob sie ihm die Tortenglocke zu und Ryuji starrte sie für eine geschlagene Minute lang an, als wäre sie ein Alien, bevor er seine Sprache wiederfand. „Du kannst backen.“ „… Halbwegs. Hör zu, sei einfach dankbar, und mach das Ding auf. Wir sind alle hungrig!“   Halbwegs, fand Ryuji, traf es gar nicht wirklich. Der Kuchen sah vielleicht ein bisschen schief aus und nicht wie vom Profi-Bäcker, aber er war dafür verdammt lecker – und das war bei einem Kuchen doch die Hauptsache, nicht? Nahm er jedenfalls ohne Diskussion lieber als die umgekehrte Variante von strahlend gutem Aussehen und ungenießbarem Geschmack.   „Das ist übrigens mein Geschenk für dich! Wir wollten eine kleine Feier machen, deshalb haben wir dir deine Geschenke nicht schon früher gegeben.“ Ann grinste zufrieden über ihrem dritten Stück Kuchen. „war ein guter Plan, oder?“ Ryuji nickte, lachte, völlig überwältigt, wusste gar nicht, was er sagen sollte. „Mann, das is‘ der Hammer!“ „Wissen wir“, gab Futaba völlig ungeniert zurück.   Kaum, dass sie mit dem Kuchenessen fertig waren, kamen dann auch die anderen Geschenke auf den Tisch.   Aus Makotos Päckchen kamen ein paar Bücher zum Vorschein. Mathe. Englisch. Ryuji sah sie an, als wäre sie verrückt geworden, doch ihre ehemalige Schulsprecherin lächelte nur. „Sieh mich nicht so an. Fakt ist – du bist Drittklässler, und du wirst mehr als je zuvor die Abschlussprüfungen bestehen müssen. Und Uniaufnahmeprüfungen.“ Wenn er überhaupt zur Uni ging, aber den Kommentar verkniff er sich lieber, bevor er sich nachher einen ganzen Vortrag über Bildung und Erfolgschancen in der Welt der Erwachsenen anhören durfte. Wollte er nicht. Nicht an seinem Geburtstag! (Oder eher dem Wochenende danach, weil sie sich früher nicht hatten treffen können.) „Deshalb habe ich dir ein paar Lernhilfen gesucht, die wirklich gut verständlich und einfach geschrieben sind. Damit solltest sogar du Erfolg haben.“ Ein Kompliment war das nicht, und Ryuji konnte den Zweifel nicht aus seinem Blick verbannen, aber schlussendlich seufzte er nur. „Danke, Makoto. Ich versprech, mal reinzugucken. Aber nich‘ heute!“   „Mein Geburtstagsgeschenk hast du ja schon bekommen, ich bin hier also raus.“ Futaba blinzelte sonnig. „War gut, oder?“ „Mehr als gut. Mann, es is‘ immer wieder gruslig, was du alles kanns‘!“ „Es war in der Tat ein beeindruckender Anblick.“ „Ha. Sogar Inari findet’s gut.“ „Das habe ich nicht gesagt.“   Während Futaba und Yusuke sich noch ein bisschen in ihrem Zank verloren, griff Ryuji lieber nach dem nächsten Päckchen, das Haru ihm mit einem fast unsicheren Lächeln zuschob. Es war unheimlich hübsch verpackt – aber auch sehr mädchenhaft. Sehr haru eben. Da traute man sich ja fast gar nicht, das aufzumachen! Ryuji tat es trotzdem, und auch wenn er es versuchte, so sah es wohl recht lieblos aus, wie er das Geschenkpapier löste, unter dem schließlich ein Schuhkarton zum Vorschein kam. Ein Markenschuhkarton. „Haru, das–“ „Nein“, widersprach das Mädchen sofort und schüttelte energisch den Kopf. „Sag jetzt nicht, dass du das nicht annehmen kannst. Weißt du, ich… ich hab nicht die Zeit, einen Kuchen zu backen. Oder mir ganz viele Bücher anzuschauen, um die zu finden, die dir das Lernen erleichtern. Und ich habe nicht das Talent für einen umwerfenden Geburtstagsgruß. Und–“ Sie brach auf einen mahnenden Laut hin ab, bevor sie Yusukes Geschenk schon verraten konnte. „Und ich habe am Ende nicht einmal die Zeit gehabt, um selbst auszuwählen, sondern musste mich auf den Verkäufer im Geschäft verlassen. Ich habe nur Geld.“ Sie schmunzelte. „Und Gemüse. Und ich denke, hiervon“, sanft tippte sie auf den Schuhkarton, schob ihn noch ein Stück mehr in Ryujis Richtung und hob den Deckel ab, „hast du mehr als von ein paar Zucchinis und Karotten.“ Ryuji wusste nichts zu sagen. Er sah hilflos auf das viel zu teure Paar Laufschuhe hinunter, das sich in dem Karton befand, sah zu seinen Freunden. „Jetzt bedank dich doch einfach!“, schimpfte Ann empört. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, nickte er nur dumpf. „Danke, Haru.“ Er wusste nicht, wie er sagen konnte, wie wertvoll ihm das Geschenk war, aber er würde es ihr zeigen. Er würde laufen. Jeden Tag. Immer wieder. Immer weiter, immer schneller. Mit der Unterstützung seiner Freunde als Rückenwind würde er über sich selbst hinauswachsen!   Das letzte Geschenk bekam er schließlich von Yusuke. Es war ein T-Shirt in kräftigem Rot mit einem großen Print auf der Brust: Ein Totenkopf, der eine Maske trug, die ihn sofort an Joker erinnerte; ein japanischer Fuchs wand sich um den Schädel. „Wow, das is’n krasses Teil!“ Ryuji sah voller Begeisterung zu Yusuke hinüber. „Keine Ahnung, wie du das gefunden hast, aber’s is‘ der absolute Wahnsinn!“ Yusuke räusperte sich. Ryuji brauchte ein paar Sekunden zu lang, um zu begreifen, warum, doch schließlich, als der ganze Tisch schon aussah, als überlegten sie alle, wie sie ihn unauffällig mit der Nase drauf stoßen konnten, machte es doch noch klick. „Das is‘–“ „Mein Design, korrekt. Ich habe lange darüber sinniert, wie ich dir ein gebührendes Geburtstagsgeschenk zukommen lassen kann, doch habe ich mich vor einer schier unüberwindbaren Hürde gesehen.“ Yusuke seufzte, strich sich in einer resignierten Geste über die Stirn und senkte den Kopf. „Ich musste fürchten, dass meine Kunst auf jedem traditionellen Medium an dir vorbeiziehen würde, ihr Wert verkannt bleibend. Das konnte ich nicht riskieren. Doch dann erinnerte ich mich an diese aufdringlich bedruckte Kleidung, die du präferierst.“ „Hey, du musst meinen Stil nich‘ beleidigen!“ „Still“, unterbrach Yusuke. Er war offenbar noch nicht fertig, „Also beschloss ich, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und meine Kunst deinem Lebensstil anzupassen. Es war hart. Doch es war eine stimulierende Erfahrung, für den einfachen Geist zu gestalten.“   Ryuji hätte Yusuke gern an die Wand geklatscht für sein Ego und sein Geschwafel – aber das Shirt war wirklich umwerfend, und er wusste schon jetzt, dass es sein neues Lieblingsstück werden würde. Also ließ er es bleiben, sah den Kerl nur mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Hat deine Kunst auch’n Namen?“ „Es erfreut mich, dass du fragst. Natürlich. Keines meiner Werke bleibt ohne Titel.“ Yusuke verstummte, ließ seinen Worten eine unnötige Pause folgen.   „Ich nenne es Bruderbund.“       ***       Das letzte Geschenk, das fehlte, war damit Akiras.   „Mein Geschenk bekommst du später“, hatte er verkündet, als Mona schließlich vor Ryujis kameradschaftlichem Knuffen geflüchtet war.   Inzwischen war es Abend. Der Tag war größtenteils dafür draufgegangen, die Gegend zu erkunden. Akira zeigte ihm seine Schule, ein paar Spielplätze in der Umgebung, die er als Kind gern aufgesucht hatte, zeigte ihm das Einkaufszentrum, das im Gegensatz zu Tokyo lächerlich winzig war. Zu Mittag holten sie sich irgendwo Streetfood, und dann ging die Erkundungstour weiter.   Akira hatte Recht gehabt, als er gesagt hatte, seine Heimatstadt bot nicht viel zu sehen. Aber Ryuji war das egal. Er fand es spannend genug, und das ländliche Flair war eine angenehme Abwechslung zum hektischen Großstadtalltag. Er wollte hier wirklich Laufen gehen. Einfach laufen, laufen, bis er gar nichts mehr außer Grün und Freiheit um sich herum sah, die Grenzen der Menschheit völlig hinter sich gelassen.   Zwischendurch kauften sie ein paar Souvenirs für seine Ma. Ein Talisman an einem örtlichen Schrein für ein langes, glückliches Leben, eine Postkarte, die einen guten Überblick über die Stadt bot. Er hätte gern noch mehr gekauft, aber einmal war sein Reisebudget recht knapp, und vor allem gab es nicht einmal einen Souvenirladen, der irgendetwas führte, das Ryuji in Erwägung ziehen würde. Also blieb es wohl dabei.   Die ganze Sache fraß aber einiges an Zeit, und gerade, als sie den letzten Souvenirladen verließen, meldete sich knurrend Ryujis Magen. „Wir sollt’n langsam zurück. Ich sterb sonst vor Hunger!“ Akira aber schüttelte nur den Kopf. Er sah auf sein Handy. Ryuji lugte über seine Schulter, sah aber nichts interessanteres als die Uhrzeit – um die es seinem Freund scheinbar ging, denn er steckte das Gerät mit einem zufriedenen Nicken wieder ein. „Wir gehen essen.“   Das Restaurant war nicht absolut piekfein, aber fein genug, dass es eine Reservierung brauchte und Ryuji sich in ihren einfachen Sommerklamotten fast underdressed fühlte. Es war teuer, aber Akira forderte, dass er die Preise ignorieren sollte – immerhin war es ein Geburtstagsessen, und wer schaute da schon auf solche unwichtigen Details? Also sah er nicht auf den Preis. Akira tat es auch nicht. Sie bestellten, was auch immer ihnen ins Auge sprang, teilten die Gerichte untereinander, klauten dem jeweils anderen vom Teller, was gerade appetitlicher als das eigene Essen aussah, und aßen, alles in allem, viel zu viel. Es war großartig. Es schmeckte umwerfend, und es machte Spaß, sich schließlich bis zu einem Dessert durchzufuttern, das sie sich teilten, weil sie sonst beide geplatzt wären mit einer ganzen Portion jeweils.   „Das war der beste Geburtstag aller Zeiten!“, verkündete Ryuji lachend, als sie das Restaurant schließlich hinter sich ließen. Es war dunkel, die drückende Sommerhitze wenigstens ein bisschen weniger drückend geworden, und der Himmel sternenklar. Im Gegensatz zu Tokyo sah man hier sogar Sterne. „Ehrlich, Mann. Ich weiß gar nich‘, wie ich euch dafür danken soll.“ „Gar nicht. So läuft das unter Freunden.“ „Haha. Ja, ich weiß doch. Trotzdem!“ Er grinste, reckte sich genüsslich.   „Wart’s nur ab, ich werd die besten Geburtstagsgeschenke überhaupt für euch alle finden!“   Wie auch immer er das tun sollte – er würde das packen! Und er würde auch irgendwann darüber nachdenken, sobald er nicht mehr vollgefressen und träge war. Gerade reichte es ihm, an Akiras Seite zurück zu ihm zu spazieren, und dabei ab und zu mit der Schulter gegen ihn zu stoßen.   Irgendwann auf halbem Weg blieb Akira aber plötzlich stehen, und Ryuji stolperte beinahe über seine eigenen Füße, so ruckartig machte auch er Halt. „Hä? Was los? Hast’n Geist geseh‘n?“ Kopfschütteln. Joker-Grinsen. Ryujis Magen krampfte, und das nicht, weil er zu viel gegessen hatte. Das silbrige Mondlicht von oben unterstrich die Atmosphäre viel zu gut.   Er sprach nicht. Kam nur näher, bis er direkt vor ihm stand, immer noch dieses verdammte Grinsen im Gesicht. Ryuji schnaubte defensiv. „Ich sag doch, du fängst an damit!“ Jokers Fingerspitze legte sich auf seine Lippen, um ihn ruhig zu stellen. Er wollte protestieren, fand seine Stimme zwischen allem Herzklopfen und Blutrauschen in den Ohren aber nicht mehr wieder.   „Willst du dein Geschenk etwa nicht, Skull?“   Er nickte, wie hypnotisiert. „Doch.“ Joker lachte, ein leiser Laut, der Skull erschaudern ließ, der viel zu schnell vom Wind erfasst und in der Nacht zerstreut wurde. Kapitel 3: ----------- „Die Typen da war’n also deine Freunde.“   Ryuji warf noch einen Blick zurück auf die kleine Gruppe Jungs, die nach einem kurzen Zusammenstoß und ein paar unfreundlichen Worten wieder ihrer Wege ging. Es machte ihn wütend, dass Akira ihn aufgehalten hatte. Er hätte den Kerlen gerne gehörig gezeigt, wo der Haken hing!   Aber nein. Das würde Akiras Ruf auch nicht helfen, und insgeheim war er froh, dass sein Freund ihn immer wieder vor Dummheiten bewahrte. Das machte es trotzdem nicht unangenehmer. „Was für Arschlöcher.“ „Ryuji.“ „Was denn?! Is‘ doch so! Die behandeln dich wie Dreck, Mann! Du hast längst wieder ne weiße Weste, das is‘ nich‘ okay von denen!“   Es war naiv, klar. Menschen änderten ihre Meinung nicht, nur weil sie hörten, dass sie falsch lagen. Inzwischen war auch in der Schule bekannt, dass Kamoshida ein widerwärtiger Dreckskerl war, der seine Schüler misshandelt und missbraucht hatte, und trotzdem hatte das Tuscheln über Ann nie komplett aufgehört. Die Leute hielten Ryuji immer noch für einen nutzlosen Yankee, obwohl seine Schuld ebenfalls längst in ein anderes Licht gerückt war. Aber einzugestehen, dass das schlechte Bild, das man sich schon eingeprägt hatte, falsch war? War wohl einfach zu schwierig für die meisten Leute.   Bei Akiras Umfeld schien es ähnlich zu sein. Viel erzählte er zwar nicht, aber es klang durch, dass er keinen guten Stand in seiner Klasse hatte, und dass seine alten Schulkameraden ihn immer noch mit Argwohn bedachten. Sie tuschelten hinter seinem Rücken. Sie wollten nicht mehr mit ihm zu tun haben. Die Lehrer warfen ein strengeres Auge auf ihn als nötig. Es war– „–nich‘ fair!“, rief Ryuji noch einmal wütend aus. Der Mülleimer schepperte unter seinem Tritt gefährlich, aber es war ihm egal; er hatte das gebraucht. Irgendwie seinem Ärger Luft machen zu können, wenn er schon die Typen nicht verprügeln konnte, die Akira wie Dreck behandelten.   „Es ist ihr Verlust“, entgegnete sein Freund mit einem Achselzucken.   „Ich versteh das nich‘. Wie kannste das machen? Du bist immer so lässig un‘ gefasst, egal, was für Scheiß man dir entgegenwirft.“ Ryuji würde es nie verstehen. Er würde es immer bewundern, ohne jede Diskussion, aber er würde nie verstehen, wie Akira das konnte. Der musste sich doch genauso elend fühlen, wie Ryuji sich gefühlt hatte, als sein altes Team sich von ihm abgewendet hatte! Nur noch schlimmer, denn im Gegensatz zu Ryuji, der tatsächlich eine Schuld daran gehabt hatte, hatte Akira nichts getan, um seine Freunde zu verraten. Akira sah immer noch recht unberührt aus. „Ich habe neue Freunde“, stellte er heraus, sein Blick vielsagend, „Und ich weiß, dass ich mich auf die immer verlassen kann.“ Er hatte keinen Grund, seinen Kontakten hier nachzuweinen. Ryuji konnte trotzdem nur den Kopf schütteln.   „Du solltes‘ echt abhau’n, wenn du mit der Schule durch bis‘“, kommentierte er mit einem missgelaunten Seufzen. Er sah fast sehnsüchtig noch einmal zu der Mülltonne hinüber, die er zu gerne noch einmal treten würde, behielt seine Füße aber bei sich. Als er zu Akira zurücksah, grinste der schon wieder.   „Ich muss doch sowieso bei dir einziehen, damit du nicht verhungerst.“ „Ha! Ganz genau, Mann! Du kanns‘ deinen besten Kumpel nich‘ allein von zuhaus ausziehen lassen!“       ***       Ryuji lag ausgebreitet auf Akiras Bett, den Kopf auf seinen Oberschenkeln, den Blick auf den Fernseher geheftet. Eine fremde Hand fuhr durch sein Haar. Eigentlich war es entspannend genug, dass er beinahe in den Schlaf abdriftete. Eigentlich. Aber da waren Nachrichten auf dem Schirm, die noch von dem gleichen Fall wie ein paar Tage zuvor berichteten, und das brachte Ryujis Gedanken wieder zu Akiras dämlichen nicht-mehr-Freunden zurück. So war an Schlaf nicht zu denken.   Frustriert vergrub er das Gesicht an Akiras Schlafhose, gab einen halberstickten Schrei von sich. Ein Zupfen an seinem Haar war gleichermaßen Mahnung und Beruhigung. „‘S kotzt mich an“, murmelte er schließlich, als er den Kopf wieder hoch genug nahm. Er merkte erst jetzt, dass Akira den Fernseher wieder ausgeschaltet hatte. Das ganze Zimmer lag im Dunkeln. „Gut, okay. An solchen Drecksäcken wie den Typen vorhin hätten auch die Phantom Thieves nichts machen könn‘, aber – trotzdem! Hier is‘ immer noch viel zu viel Ungerechtigkeit!“ Und sie konnten nichts tun. Nicht in dem Maß, wie Ryuji das gern hätte. Nicht in dem Maß, wie es nötig wäre, um zu erhalten, wofür sie gekämpft hatten – eine bessere Welt, mit glücklicheren, selbstbestimmten Menschen, die selbstbewusst und überzeugt ihrem Weg folgen konnten.   „Da sin‘ immer noch so viele, die’n Sinneswandel brauchen könnten.“   Und es würde sich nicht ändern. Nicht, so wie es jetzt war. Andererseits – könnte man das überhaupt noch ändern? Ryuji verstand die ganze Metaverse-Sache nicht. Das Metaverse gab es nicht mehr. Also gab es auch keine Paläste mehr. Hieß das also, dass es auch keine inneren Schweinehunde mehr gab, die man bekämpfen könnte? War das alles anders geworden? Aber Mona war noch da. Und Mona war auch nur ein Teil vom Metaverse gewesen. War das Metaverse gar nicht weg, sondern nur unerreichbar? Könnten sie es wiederfinden?   Wollten sie das wirklich?   Ryuji würde ohne Zögern ja sagen.   Aber er wusste, dass er nicht alleine war. Langsam stieß er die Luft aus, drehte sich herum, um zu Akira aufsehen zu können. Er erkannte nichts außer einer vagen Silhouette in der Dunkelheit. Das einzige Licht, das hereinfiel, kam vom Mond draußen. Es war mau. Akiras Hand lag auf seiner Wange, wo sie so nicht mehr durch sein Haar fuhrwerken konnte. „Würdeste zurückwollen?“   Stille. Dann ein leiser Laut, der nicht ganz ein Seufzen war, aber trotzdem schon mehr als ein Atmen. Es mochte Einbildung sein, aber Akira klang müde in Ryujis Ohren.   „Wir haben eine Entscheidung getroffen.“ „Ich weiß. Ich mein ja nur hypo-hypope- du weißt schon!“ Akira wusste garantiert, was er meinte, doch er schwieg Ryuji trotzdem aus.   „Ich würde. Scheiß auf Lebensgefahr un‘ so’n Zeug, aber’s is‘ erdrückend, nur rumsitzen zu können! Egal, was ich tu, ‘s is‘ einfach nich‘ halb so viel, wie ich gern tun könnte! Un‘ es geht einfach nicht mehr!“ Er schnaubte erschöpft. „Ich sollte Bulle werden.“ Dann konnte er mehr tun als darauf hoffen, dass die blauen Männchen ihren Job machten. Er konnte dafür sorgen, dass sie ihren Job machten! Er könnte es selbst tun. Er verstand schon, warum Makoto in die Fußstapfen ihrer Schwester treten wollte. Musste ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass man gerade auf einen Job hinarbeitete, der die Welt besser machen konnte.   „Tu das.“   Akiras Antwort kam unerwartet genug, dass Ryuji ihn entgeistert ansah. „Echt jetzt?“ Er hätte Spott erwartet. Einen neckenden Kommentar dazu, dass er sich doch niemals alle nötigen Gesetzestexte und Vorschriften und Regeln merken könnte. Eine Spitze, dass ein Yankee wie er doch kein Bulle sein konnte. Irgendetwas in der Richtung. Aber alles, was er gerade noch bekam, war ein Nicken, und Akiras unergründlicher Blick, den er mehr auf sich spürte, als dass er ihn sah. Fingerspitzen klopften auf seine Stirn. „Du wärst ein guter Polizist. Und körperlich fit genug, um einen Handtaschendieb auch durch ganz Tokyo zu jagen.“ Ryuji schnaubte. „Hallo?! Als ob der so weit käme! Den hab ich nach’n paar hundert Metern locker eingeholt!“   Aber sie gefiel ihm wirklich, die Idee.   „Mann. Stell dir vor, wir wär‘n dann immer noch die Phantom Thieves! Ich wär der coolste Doppelagent überhaupt!“ Aber wenn er es wirklich zum Bullen brachte, dann – natürlich würde er die Phantom Thieves trotzdem noch brauchen, aber es wäre ein Weg, auf dem er auch zu einem Ziel kommen könnte. Eine bessere Welt. Den Schwachen Mut machen. Ein bisschen Anerkennung dafür kriegen. „Un‘ du, Akira? Was machste nach der Schule?“   Die Antwort kam mit einem Kuss auf Ryujis Nasenspitze.   „Das Gleiche wie du.“ Epilog: -------- Schon auf dem Weg zum Bahnhof wusste Ryuji, dass der Abschied ihm viel zu schwer fallen würde. Er wollte Akira nicht hier zurücklassen und abhauen, bis er in den nächsten Ferien nochmal herkommen konnte. Oder Akira zu ihm, auch wenn sie dann weit weniger Platz haben würden. „Ich will nich‘ nach Hause“, jammerte er leidend. Akira hatte nur einen mitleidlosen Blick für ihn übrig. „Sei kein Jammerlappen, du kommst wieder.“ Und sie konnten telefonieren, und chatten, und das waren sie alles längst durchgegangen, gestern Nacht, als Ryuji plötzlich die ganze Welt auf den Kopf gefallen war, als sie eng aneinandergedrückt in Akiras Bett gelegen hatten und beide nicht wirklich hatten schlafen wollen.   Er seufzte trotz aller Optionen unzufrieden. „Die nächsten Ferien sin‘ noch so lang hin!“ „Es ist das letzte Schuljahr.“ Es war nicht lang. Nicht einmal mehr ein ganzes Schuljahr, dann würde Akira zurück nach Tokyo kommen. An sich eine gute Aussicht. „Sieh lieber noch einmal nach, wann dein Zug kommt.“   Die Antwort kannte er doch schon – viel zu bald.   Er nickte trotzdem, zog sein Handy aus der Tasche. Vielleicht sollte er trödeln. Absichtlich den Zug verpassen? Funktionierte nicht, wenn er morgen nicht in der Schule war, würde die Hölle los sein. Und die Lehrer würden bei seiner Ma anrufen. Das konnte er ihr einfach nicht antun. Auch nicht für Akira.   Trotzdem machte er sich nicht die Mühe, wirklich auf das Handy zu gucken, sah sich lieber um. Auf einer Parkbank in der Nähe saß ein Mädchen in einem eigenwilligen blauen Kostüm. Einen Augenblick glaubte er, das Ding würde sie beobachten.   „Ryuji.“ „Ja doch~“ Er schüttelte den Kopf. Als er noch einmal hinsah, sah das Mädchen sonstwohin. Mit einem stillen Seufzen wandte Ryuji den Blick auf sein Handy.   Er blieb stehen. Verdutzt. Überrascht. Konnte den Blick nicht mehr vom Handy nehmen, während sein Herz viel zu schnell raste – als hätte er gerade den Sprint seines Lebens hinter sich und sich so krass überanstrengt, dass er fürchten musste, Blut zu spucken. „Das…“ Das konnte nicht sein, oder? Er grinste. Er konnte nicht anders, als zu grinsen.   Als er wieder aufsah, war das erste, das ihm ins Auge fiel, Akira, der einfach weitergeschlendert war. Der Anblick seines Rückens war vertraut, hatte ihn durch unzählige, abgedrehte Abenteuer geführt. Ryuuji folgte. Weil er immer gefolgt war. Weil er immer folgen würde. Weil Akira sein Antrieb war, weiter zu laufen, selbst wenn die ganze Welt sich gegen ihn stellte und demonstrativ rückwärts drehte, damit er nicht vorankam. Er lachte.   Endlich wieder frei.   „Warte, Joker!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)