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Die Farbe Grau

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: alles nicht mir, bis auf die Ideen zu der Geschichte.

Ansonsten wird es langsam ernst. Auf zum Endspurt, meine Damen und Herren. Komplett anzeigen

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Der Anfang vom Ende

Sie war stolz auf das, was William und sie hervorgebracht hatten.
 

Mit jedem Tag war sie stolz auf ihre Kinder, die sich in dieser Welt zurechtfanden. Mehr als das. Sie wussten sich zu behaupten, sie waren stark und ließen sich nicht unterkriegen, von nichts. Auch nicht von einem Trauma, das viele Menschen schon das Leben gekostet hatte. Siobhan lächelte im Verborgenen, weil sie wusste, dass ihr Sprössling das ganz und gar nicht gut finden würde, wie sie über ihn dachte. Er war ja ach so selbstständig und erwachsen und überhaupt nicht geneigt, sich von seiner Mutter loben zu lassen.
 

So wie sie nun einmal waren, die flügge gewordenen Kinder.
 

Siobhan schulte ihre Mimik auf ihr typisches Amüsement und drehte sich zu dem Mann um, der vor drei Jahrzehnten nichts als ein schreiendes Bündel voller Schlaflosigkeit und Hunger in ihren Armen gewesen war. Ein Kind, geboren in einer Katastrophe, lebend zur Welt gekommen, obwohl es gut und gerne hätte sterben können. Ihr Schicksalskind und mit Recht der Kronprinz ihrer Organisation.
 

Das würde ihm niemand streitig machen, schon gar nicht Leonard.
 

„Aus welchem Grund wurdest du zurückberufen, Mutter?“, fragte Bradley zielgerichtet und sie sah mit einem Abstecher in seine Gedanken, warum er derart entspannt war. Ran Fujimiya war dafür verantwortlich, er und seine Kopfmassage, welche die Spannungskopfschmerzen vertrieben hatte, gleichwohl ihrem Sohn ein Stück seines Unwohlseins vor der Nähe anderer Männer genommen hatte, die dieser sogar vor Thomas verspürte, dem Mann, auf dessen Schultern er schon als kleines Kind durch die Welt gezogen war.
 

„Das ist eine Angelegenheit des Rates und ich werde mit dir darüber nicht sprechen“, erwiderte sie und begegnete dem Missfallen ihres Sohnes mit Leichtigkeit. Schließlich nickte er jedoch und sie trat zu ihm. Schweigend strich sie ihm eine der Strähnen aus seinem Gesicht, das dem ihres Mannes so ähnlich war.

Ganz der Sohn seines Vaters war er und manchmal musste sie sich ins Gedächtnis rufen, dass sie ihn tatsächlich auch geboren hatte und dass somit sicherlich auch etwas von ihr in ihm steckte.
 

Ganz der Sohn seines Vaters war er auch in der Art, wie seine Gedanken Schlüsse aus Ereignissen zogen, denen eine Logik innewohnte, die sie immer wieder bewunderte.

~Wer hat befohlen, dass ich meine Schilde zu senken habe?~, fragte er sie mit dem untrüglichen Gespür für das, was verdächtig war.

~Der Rat, Bradley. Als ob du das nicht wüsstest.~

~Wer aus dem Rat hat es eingebracht?~

~Ratsherr Leonard. Er sorgte sich um deine mentale Verfassung und wollte eine Kontrolle über das, was du denkst und tust, damit nicht die Gefahr besteht, dass du dir ohne Vorwarnung das Leben nimmst.~
 

Die stechend hellen Augen, die er von seiner Großmutter väterlicherseits geerbt hatte, starrten schier durch sie hindurch und brannten sich in ihre Gedanken. Sie wussten beide, von wem sie sprach und unter welchen Umständen der damalige Suizid geschehen war. Erst danach hatte Rosenkreuz eine eigene Forschungsgruppe eingesetzt, die sich mit dem beschäftigte, was geschah, wenn PSI-Begabte zu einer Bindung zu ihren Musen gezwungen wurden. Oder dass es überhaupt möglich war, dass jemand – auch ein normaler Mensch – es vollbrachte, einen PSI gegen dessen Willen auf seine Seite zu zwingen.

Ihre Organisation hatte die damalige Vergewaltigung der Empathin und die darauffolgende, erzwungene Bindung nicht aufhalten können. Sie hatten akzeptieren müssen, was geschehen war und hatten versucht, ihre Agentin so gut zu schützen, wie es ging. Die Gewalt ihrer Muse hatte sie jedoch nach und nach zerstört und so hatte sie sich schlussendlich das Leben genommen.
 

Bradley war zwar nicht zu einer finalen Verbindung gezwungen worden, aber Lasgo hatte kurz davor gestanden, ihren Sohn für sich zu beanspruchen. Noch eine Vergewaltigung mehr, noch einen Tag mehr und Siobhan hätte für nichts mehr garantieren können.

Von der Warte aus gesehen hatte Leonard also Recht gehabt. Besser sie waren umsichtiger, als dass sie nachher mit den Konsequenzen leben mussten. Zumal es für Verständnis innerhalb des Teams gesorgt und Schuldig Bradley angenähert hatte, auch wenn die Schilde eines Hellsehers das Erste waren, was ausgebildet werden musste um diesen vor äußeren Einflüssen zu schützen. Wie zum Beispiel durch feindliche oder neugierige Telepathen.
 

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass eben jene zwangsweise gesenkten Schilde die Gabe ihres Sohnes so sehr aus dem Gleichgewicht brachten, dass alleine die Anwesenheit seiner Muse überhaupt dafür sorgten, dass er Einblicke in die Zukunft erlangte, mal mehr, mal weniger.
 

Der scharfe Verstand seines Vaters, wie sehr verfluchte sie ihn doch manchmal.
 

Wortlos starrten sie sich an, dann nickte er schließlich, seine Gedanken sorgsam neutral gehalten, auch wenn sie das Flüstern im Hintergrund, das Leonard erneut verdächtigte, sehr wohl hörte und bewusst überhörte.

„Ich wünsche dir eine gute Reise, Mutter“, erwiderte Bradley anstelle dessen und sie überwand die kurze Distanz zwischen ihnen. Sie musste sich wie immer auf ihre Zehenspitzen stellen um ihn zu umarmen, doch das hielt sie nicht davon ab, ihre eigene Brut fest in ihre Arme zu schließen und an sich zu drücken. Und siehe da, das Wunder geschah. Wenn auch zögerlich und mit einem unzufriedenen Schnauben legten sich seine Arme auch um sie.

~Pass auf dich auf, mein Sohn. Sei vorsichtig in dem, was du tust und achte auf deinen Rücken.~

~Ich werde darauf vorbereitet sein~, erwiderte er grimmig und sowohl Siobhan als auch er wussten, dass ihr Sohn sicherlich nicht nur die kommende Zerstörung der Bohrinsel meinte.
 

Die Dame des Hauses grinste gegen die Schulter ihres Ältesten. ~Aber vergiss mir ja nicht Adoptionsunterlagen für Nagi. Der Junge freut sich schon seitdem du es ihm vorgeschlagen hast.~
 

Das Augenrollen konnte sie sich bildlich vorstellen, auch wenn sie es nicht sah. ~Los, geh endlich, Mutter~, schnaubte er und sie lachte laut.
 

~~**~~
 

Nagi starrte einen Moment lang auf die Bildschirme, auf denen gerade eine Simulation der Ölbohrinsel entstand, die Tsukiyono und er aus den Daten, die sie erhalten und selbst recherchiert hatten, programmiert hatten. Sie waren so weit mit der Dateneingabe fertig und nun hieß es warten.

So sehr das Nagi auch frustrierte, so aufgeregt war er, dass sie endlich etwas Handfestes hatten, das sie tun konnten. Darüber hinaus gierte er darauf, endlich handeln zu können und den widerwärtigen Bastard, der es gewagt hatte, sich an seinem zukünftigen Vater zu vergreifen, in der Luft zu zerreißen. Und Takatori gleich mit, der es ebenfalls gewagt hatte, mehr als einmal Hand an Crawford zu legen.
 

Mit einem Überschuss an Energie – mental wie telekinetisch – stieß sich Nagi vom Schreibtisch ab und rollte mit einem Stuhl ein Stückchen rückwärts, während er sich um seine eigene Achse drehte, ungeachtet des Weiß neben sich, der nun irritiert von seinem Buch aufsah, das er bis gerade eben gelesen hatte. Stirnrunzelnd sah er ihm dabei zu, bis Nagi ein Einsehen hatte und sich selbst zum Stehen brachte. Fragend hob er die Augenbraue.
 

„Ja bitte?“ Was vor Wochen feindselig gewesen wäre, war jetzt eine spielerische Herausforderung, die an ein Necken grenzte. Für gewöhnlich stieg der blonde Weiß darauf ein, nicht aber jetzt. Jetzt musterte er ihn derart nachdenklich, dass Nagi sich unweigerlich fragte, ob irgendetwas vorgefallen war, das ihm Sorgen bereiten sollte. Ob jemand etwas gesagt hatte, vielleicht über seinen Anführer und Crawford.

Tsukiyono schien zu einem wie auch immer gearteten Ergebnis zu kommen, so wie er die Schultern straffte und ihm direkt in die Augen sah, in dem Blau eine Entschlossenheit, die Nagi ein Kribbeln verursachte, dessen Ursprung er nicht ganz genau beziffern konnte.
 

„Wenn das alles hier vorbei ist, bringst du mich dann noch einmal zum Schlachthof?“, verließen Worte die Lippen des Weiß, die Nagi erst einmal falsch verstand. Er war schon dabei, den Kopf zu schütteln – natürlich würde er ihn nicht noch einmal dorthin bringen, wenn ihr Vertrag weiterhin bestand – als er sich bewusst wurde, wie die Frage eigentlich zu verstehen war.

„Was?!“, verließ es ungläubig seinen Mund. „Warum solltest du das wollen?“

Es lag nicht in Tsukiyonos Natur, ihm auszuweichen, zumindest ursprünglich nicht, und doch sah Nagi den gleichen Ausdruck des Unwohlseins und der Angst in dem abgewandten Gesicht, den er auch in Tsukiyonos Zimmer über dem Blumenladen gesehen hatte.
 

Der Weiß zuckte mit den Schultern. „Du bist derjenige, der weiß, wo er ist und der mich nicht…“ Obwohl der Satz verklang, ohne jemals beendet zu werden, wusste Nagi, worauf sein Gegenüber hinauswollte. Er war der Ungefährlichste. Crawford oder Schuldig zu fragen, schloss sich aus offensichtlichen Gründen aus. Jei zu fragen, war vermutlich ebenso abstrus, auch wenn der Ire es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ein wachsames Auge auf den Weiß zu haben, damit Schuldig den Jungen ja nicht noch einmal anrührte.

So blieb er, der ihm im Vergleich zu den beiden Ältesten seines Teams wenig getan hatte.
 

Das war also der Grund, warum er gefragt wurde. Warum Tsukiyono überhaupt fragte, stand auf einem anderen Blatt.

„Was willst du da?“, fragte Nagi erneut und rollte sich mithilfe seiner Gabe in das Blickfeld des Weiß. Ein Entgegenkommen, das hoffentlich auch als solches gewertet und belohnt wurde.

Und Tatsache. Tsukiyono starrte ihm direkt ins Gesicht, seine Mimik ein Potpourri aus Entschlossenheit, Unsicherheit und Pein.

„Ich möchte damit abschließen.“ Mit dem, was geschehen war, was sie ihm angetan hatten. Mutig und pragmatisch, befand Nagi, auch wenn er eigentlich nichts Anderes erwartet hatte von dem jungen Mann, der sich gegen alle Wahrscheinlichkeit für eine Zusammenarbeit ihrer beider Teams entschieden hatte und der es tatsächlich aushielt, Zeit mit ihm zu verbringen.
 

„Unter Umständen ist das möglich“, stimmte Nagi zu. Er würde es noch mit Crawford absprechen müssen, aber es sollte kein Problem darstellen.

Tsukiyono runzelte die Stirn. „Unter welchen Umständen?“

„Kommt drauf an, was du mir im Gegenzug anbietest“, erwiderte er mit einem kleinen Schmunzeln um die Mundwinkel herum. Schuldig wäre vermutlich stolz auf ihn bei dem Ton, mit dem er seine Stimme färbte. Tsukiyono war es keinesfalls, so wie er sich jetzt anspannte und seine emotional offene Mimik zu der gleichen, verschlossenen Neutralität zurückkehrte, die Nagi in den letzten Tagen und Wochen oft an Perser hatte sehen dürfen.
 

Als er sich bewusst wurde, wohin die Gedanken des Anderen wanderten, grollte er. „Ich will immer noch keine sexuellen Gefälligkeiten von dir“, erwiderte er mit einem Augenrollen und rümpfte die Nase über den Weg, den Tsukiyono anscheinend schon wieder genommen hatte.

~Lüüüge…~

Es wäre auch zu schön gewesen, wenn Schuldig sich einmal da hätte heraushalten können.

~Life is bitter, was soll ich sagen?~

„Was dann?“, fragte Tsukiyono und tausendmal lieber konzentrierte sich Nagi auf ihn.

„Ein paar Antworten.“

„Auf?“

„Meine Fragen.“
 

Auch das stimmte den Weiß nicht im Geringsten zufrieden, wie auch? Nagi konnte sich nun das offene, ehrlich amüsierte Schmunzeln nicht mehr verkneifen. Er blieb bei seinem Plan, denn schließlich war Fujimiya doch bei Crawford auch erfolgreich gewesen mit seinem Wissensdurst. Die Neugier hatte ihn bei seinem Anführer anscheinend so weit gebracht, dass die beiden sich geküsst haben.
 

Alleine die Tatsache, dass ihrer beider Anführer sich nahe gekommen waren, war für Nagi etwas so Unvorstellbares gewesen, dass er eine ganze Nacht lang damit verbracht hatte, alle Situationen noch einmal durchzugehen, die Anzeichen dafür gezeigt hatten und beim darüber Nachdenken war ihm bewusst geworden, wie viele es eigentlich gegeben hatte. Bei Crawfords Nachsicht mit dem Weiß angefangen.
 

Wenn er sich also ein Beispiel an Fujimiya nahm, würde ihn Neugierde weiterbringen. Interesse an der Person Tsukiyono Omi, über das, was er bisher ihn recherchiert hatte, hinaus.

„Ich möchte mehr über dich wissen“, gab er offen zu und der Weiß schnaubte. Kritisch die Lippen schürzend verschränkte er seine Arme und sezierte anscheinend jeden Quadratmillimeter Haut seines Gesichts.

„Warum? Sag mir nicht, dass du nicht schon alles weißt, dank Schuldig, dank Crawford, dank deinen eigenen Nachforschungen.“

Nagi nickte. „Ich weiß vieles“, stimmte er zu. Was sollte er auch die Wahrheit vor Tsukiyono verbergen? „Aber manches möchte ich aus deinem Mund hören.“
 

Seine Worte wurden analysiert, hinterfragt, ob sie nicht eine Falle beinhalteten. Nagi konnte es ihm nicht verdenken. Ganz der Taktiker, der er war, eben.

„Bekomme ich dafür auch etwas von dir?“

„Der Zutritt zum Schlachthof reicht dir nicht?“

„Informationen meine ich.“

Normalerweise würde Nagi nein sagen. Aber das hier war keine Verhandlung, aus der er als eindeutiger Sieger herausgehen sollte. Er hatte ein Interesse daran, dass der Weiß Informationen über ihn bekam und sie sich so näherten.

Nagi zuckte mit den Schultern und nickte dann. „Von mir aus.“
 

Doch vorher musste er klären, ob er den Weiß überhaupt dorthin bringen durfte. ~Schuldig? Kannst du eine Verbindung zu Crawford herstellen?~

~Bin ich jetzt deine Telefonleitung?~

~Ich brauche jetzt eine Antwort auf meine Frage.~

~Was tut man nicht alles für die junge Liebe~, grollte Schuldig und eine Sekunde später spürte Nagi die tiefe Verbindung zwischen ihnen Dreien. ~Brad, dein Sohnemann möchte um Erlaubnis für seine Flamme fragen, zurück in das Schlachthaus zu dürfen.~

In Momenten wie diesen wurde Nagi bewusst, warum er es vermied, Schuldig um etwas zu bitten. Schamesröte kroch langsam und unaufhörlich seine Wangen empor, auch wenn Nagi sich durchaus bewusst war, dass Crawford sicherlich alles schon wusste.
 

~Insofern er sich nachher nicht mehr an die Adresse erinnert, ist es mir recht~, erwiderte Crawford schlicht und Nagi lächelte.

~Danke.~

Die Verbindung löste sich und er konzentrierte sich auf seine vor ihm liegende Wissensquelle. Er erlaubte sich einen längeren Blick in die blauen, aufmerksamen Augen, bevor er sich räusperte.
 

„Einem Besuch im Schlachthaus steht nichts entgegen, wenn du deinen Teil des Handels einhältst. Allerdings wirst du dich nicht an die Adresse erinnern, das ist Crawfords Bedingung. Ist das akzeptabel für dich?“

Tsukiyono nickte langsam. „Ja.“

„Gut.“ Nagi warf einen Blick auf ihre Simulation, die noch eine halbe Stunde lang zur Fertigstellung benötigte. Er griff zu seinem Glas Eistee und nahm einen tiefen Schluck. Verzögerungstaktik, würde Crawford sagen, aber eine, die gerade bitter nötig war, jetzt, wo ihm Fragen offenstanden, die er niemals zu stellen wagen würde, wenn es nicht um einen beidseitigen Handel zwischen ihnen beiden gehen würde.

Bevor die angespannte Stille zwischen ihnen beiden jedoch ihren Höhepunkt erreichen konnte, nahm Nagi all seinen Mut zusammen. Vieles geisterte ihm im Kopf herum, einiges, was er bewusst nach hinten stellen wollte, weil es jetzt zu aufdringlich war. Zu forsch.
 

„Stehst du auf Männer?“, entkam es seinen Lippen, bevor er sich davon abhalten konnte, auch wenn Nagi im nächsten Moment entsetzt sein eigenes Mundwerk verfluchte, das durch Schuldig gelenkt worden war, damit er etwas ausplauderte, was er zu diesem Zeitpunkt in keinem Fall hatte fragen wollen. Entsetzen wallte in ihm hoch und mit Mühe hielt er sich davon ab, sich die Hände vor den Mund zu schlagen. Nagi schluckte und sah Amüsement in dem aufmerksamen Gesicht, Schuldig in jeder Sprache, die ihm zur Verfügung stand, verfluchend.

„Bist du dir sicher wegen der sexuellen Gefälligkeiten?“, fragte Tsukiyono nach und dieses Mal war durchaus Humor in der Stimme zu hören. Humor, den er mit Schuldig teilte, der nun in seinen Gedanken deutlich seine Belustigung zeigte.
 

Nagi seufzte. Das Gespräch war ab dem Moment, in dem sich Schuldig eingemischt hatte, sowieso nicht mehr zu retten gewesen, also konnte er die Fragen nun auch so stellen, wie sie ihm in den Sinn kamen.

„Ja! Bin ich! Also?“

„Offensichtlich kann ich mit Männern einiges anfangen“, erwiderte der Weiß und Nagi las zwischen den Zeilen sehr deutlich das „wie du bereits weißt“. Natürlich wusste er es, spätestens, als Schuldig so freundlich gewesen war, ein paar Erinnerungen an Tsukiyonos letztes Stelldichein mit ihm zu teilen.

„Du auch?“, kam auch schon die Gegenfrage.

~Deine Chance, Kleiner. Deine Chance. Los, sag ihm, was du von ihm hältst. Na los.~

~Fick dich, Schuldig!~

~Falsch. Du sollst ihn ficken.~

„Ja natürlich“, grollte Nagi und wurde sich erst viel zu spät bewusst, dass er Schuldig und nicht Tsukiyono geantwortet hatte, das auch noch laut, auf die falsche Frage und eigentlich sollte er genau jetzt aufhören, weiterzusprechen bei dem Mist, der aus seinem Mund kam.
 

Vor Scham rollte er über sich selbst die Augen und wünschte sich, dass es gerade einen logischen Fokus gäbe, zu dem er seinen Blick abwenden könnte, ohne, dass es auffällig sein würde. Gab es aber nicht, natürlich nicht, so blieb ihm nur, die Überraschung des Weiß zu ertragen.

„Ja natürlich“, echote dieser langsam, als könne er damit nichts anfangen. Sekunden lang wog er die Informationen ab, die er erhalten hatte. „Ist es so? Ist jeder PSI auf das eigene Geschlecht fixiert?“

Nagis Augen weiteten sich und überrascht blinzelte er. „Nein?“

„Hmm. Warum ist es dann natürlich?“

„Ist es nicht.“

„Aber du hast gesagt-“

„Ich weiß, was ich gesagt habe, danke, Tsukiyono“, grollte Nagi. „Und jetzt lenke nicht vom Thema ab.“

Vielsagend hoben sich die hellen Augenbrauen.
 

„Gibt es für dich ein Danach?“, stellte er die weitaus sicherere Frage und kam nicht umhin, die Kombinationsgabe des Weiß zu bewundern, die diesen eben nicht nachfragen ließ, was er meinte.

Bitter war das Lächeln, das die schmalen Lippen umspielte. „Ich kann es mir nicht vorstellen, ohne das Töten zu leben. Einen Bürojob ausüben, von morgens bis abends? Nicht wirklich. Du?“

Nagi musste keine Sekunde überlegen. „Ich habe eine Aufgabe.“

Tsukiyono ließ seine Antwort als das stehen, was sie war. Eine Erläuterung, ohne wirklich in die Tiefe zu gehen. Nagi konnte und durfte auch nicht mehr darüber sagen.
 

„Wie war dein erster Mord?“, fragte der Weiß und Nagi musste sich tatsächlich einen Moment Zeit nehmen, um sich daran zu erinnern. Er war noch jung gewesen, sehr jung, als Crawford ihm das erste Mal anheim gestellt hatte, ob er einen Auftrag selbst ausführte oder ob er auf seinen Anführer, Jei oder Schuldig zurückgriff. Er hatte gezögert, aber schlussendlich hatte er den Mann getötet, der Rosenkreuz bei der Erfüllung ihrer Aufgaben ein Dorn im Auge gewesen war.

„Es war beängstigend einfach gewesen, dem Mann das Leben zu nehmen“, veräußerte Nagi seine Gedanken. „Wie war es bei dir?“

„Ich hatte Angst. Weniger vor der Zielperson, eher vor mir, was aus mir werden würde, wenn ich diese Grenze einmal überschritten hätte.“

„Und dennoch hast du es getan.“

„Ich musste es.“

„Warum?“

„Sonst hätte ich nie damit begonnen.“
 

Nagi suchte vergeblich nach dem schlechten Gewissen, das die Antwort des Weiß begleitete. Da war nichts, kein Funken an Schuldgefühlen, nur ruhige Akzeptanz dessen, was nun sein Tagesgeschäft war. Derjenige, der vor ihm saß, war ein Mörder, durch und durch. Genau deswegen hatte Tsukiyono sich auch nicht in die Diskussion um gut oder böse eingemischt. Er hielt sich nicht für gut, ganz und gar nicht, was eine der größten Fehlannahmen war, die Nagi jemals getroffen hatte.

Tsukiyono tötete, weil es notwendig war.
 

Der Gedanke daran erregte Nagi mehr, als er bereit war, es zuzugeben.
 

Verlegen räusperte er sich und begegnete natürlich wieder diesen durch und durch von ihm amüsierten Augen, die viel zu wissend waren für seinen Geschmack.

Ohne viel Federlesens nutzte Nagi den Drehmoment des anderen Schreibtischstuhls und drehte den Weiß mithilfe seiner Gabe mit dem Gesicht zur Wand, was mit einem empörten Grollen belohnt wurde.

„Was soll das denn jetzt?“

„Das weißt du selbst am Besten.“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du meinen könntest“, gab Tsukiyono ein Bild der Unschuld ab, was Nagi ihm keine Sekunde lang abkaufte. Nicht einmal eine Millisekunde. Vielleicht ließ er es deswegen zu, dass dieser sich wieder zu ihm umdrehte und nicht auf seinem Stuhl in der Ecke der Schande versauerte.
 

„Die Worst-Case-Simulation ist gleich fertig, wir sollten weitermachen“, lenkte der Weiß von seiner Fragerunde ab und Nagi runzelte die Stirn.

„Ich war noch nicht fertig mit meinen Fragen.“

„Seltsam, das letzte Mal habe ich mich nicht einfach in Luft aufgelöst, als wir mit unserer Arbeit hier fertig waren.“
 

Wir. Uns. Begriffe, die Nagi erstaunten und ihm wieder einmal deutlich machten, wie leicht und weit sie in der kurzen Zeit der Zusammenarbeit gekommen waren. Wie ungezwungen Tsukiyono mit ihm umging, nur Wochen, nachdem er sich ängstlich vor ihm zusammengekauert hatte. Das war erstaunlich und beängstigend, aber auch schön. Schön genug, dass Nagi lächelte und ebenfalls schön genug, dass der Weiß ebenfalls lächelte.

„Dann werde ich dich nachher weiter befragen“, sagte er und die erhobene Augenbraue Tsukiyonos erzählte ihm von der schmutzigen Doppeldeutigkeit, die er sicherlich nicht im Sinn gehabt hatte bei seinen Worten, die er aber dank Schuldig nicht mehr loswurde.
 

~~**~~
 

Soviel Ratlosigkeit in einem Raum war eigentlich schon amüsant, befand Aya, während er mit dem Rücken zu Tür an der Küchenanrichte lehnte und die letzten Reste seiner Limonade trank. Die Frage, wer denn nun dafür zuständig war zu kochen, wurde heiß und umstritten diskutiert und Aya wusste, wer auch immer der arme, geknechtete Verlierer sein würde, er wäre es nicht.

Crawford ebenfalls nicht, denn der hatte es sich einfach gemacht und sich in der Weitsicht eines Hellsehers in den Garten zurückgezogen, in dem er nun so tat, als wisse er, welche Namen die Pflanzen, die dort standen, überhaupt trugen. Als wäre das nicht genug, hatte sich das Orakel auch noch auf die Höhe der blühenden Blumen begeben und kümmerte sich beinahe hingebungsvoll um die Blüten.
 

Was man nicht alles tat um der Aufgabe zu entkommen, das Essen für die anwesenden Weiß und Schwarz zu kochen. Aya schnaubte. Das hatte sich das Orakel so gedacht.

„Naoe ist dran mit kochen“, war es an Ken, seinen Vorschlag in die Runde zu werfen, damit darüber diskutiert wurde. Zumindest bei Omi traf das auf Interesse, wenngleich der jüngste Schwarz diesen Vorschlag mit einem vernichtenden Blick aufnahm.

„Mach es doch selbst, Hidaka“, gab der Telekinet zurück, was bei den anwesenden Weiß nun wirklich auf taube Ohren stieß.
 

„Niemals“, zischte Youji und Aya wusste ganz genau, was ihr Ältester meinte. Ken als Koch war ein Garant dafür, dass dieses Haus noch vor seiner Zeit abbrannte, ebenso wie es ein Garant dafür war, dass sie sich die Adresse des nächsten Lieferdienstes suchen würden. Sobald die Feuerwehr mit dem Haus hier fertig war, hieß das.

„Ach? Wenn ich dir nicht gut genug bin, dann mach du es doch selbst“, grimmte Ken beleidigt.

Auch keine Lösung, wahrlich nicht, was nun Omi zu erkennen gab, der seine Arme in einer ernsten Imitation seines leiblichen Vaters verschränkte und sie alle mit missbilligendem Blick maß.
 

„Schuldig hat noch nicht gekocht“, ließ er verlauten und der rothaarige Telepath tauchte aus einem seiner Tierfilme auf, die er mittels seines Handys geschaut hatte. Blinzelnd fokussierte er sich auf Omi und hob seine Augenbrauen.

„Sollte die pubertierende „Ich bin so lebensmüde“-Phase nicht schon etwas länger vorbei sein, Tsukiyono?“, hakte er mit einem bösen Grinsen nach, bevor er sich, ohne auf eine Antwort zu warten, wieder seiner Reportage widmete, deren Sinn Aya sich wie immer nicht erschloss. Wie nebenbei deutete er nachlässig in Richtung Farfarello, der es nicht für nötig hielt, ihnen seine Aufmerksamkeit zu schenken, während er aus dem Fenster starrte.
 

Entsprechend schwieg er auch, als er von allen Anwesenden angestarrt wurde, doch noch bevor sich eine eindeutige Front formieren konnte, nahm er sich eines der Messer aus dem neben ihm thronenden Messerblock. Noch während er sich zu ihnen umdrehte, gewährte er ihnen einen Einblick in ein wahnsinniges Grinsen, das Aya dem Iren keine Sekunde lang abnahm. Keine. Einzige. Dafür war Farfarello zu normal gewesen, als dass er diese Rolle nun glaubwürdig ausfüllen mochte.
 

Testen wollte Aya seine Theorie hingegen jedoch nicht.
 

„Wen soll ich als Erstes kochen?“, fragte Farfarello unterdessen und niemand wagte es, ihm darauf eine Antwort zu geben. Nach zwölf Sekunden unangenehmer Stille steckte er das Messer ohne seinem Tun Aufmerksamkeit zu schenken, zurück in den Messerblock. Nachdenklich wiegte er seinen Kopf hin und her und fixierte schließlich Aya. „Arielle war doch in der Lage, Schneewittchen am Leben zu erhalten.“

Es war Omi, dessen Entsetzen deutlicher war als das der anderen Anwesenden und Aya schnaubte abfällig.

„Das war ein reines Wunder und kann sicherlich so nicht wiederholt werden.“

So schlimm waren seine Kochkünste nun auch nicht, meckerte Aya innerlich, tat aber gut daran, einfach seinen Mund zu halten. Zumindest in dieser Angelegenheit. Aber das Spiel, was sie hier spielten – nämlich den schwarzen Peter weiter zu schieben – konnte er auch spielen.
 

Sehr gut sogar. Aya löste sich von der Anrichte, an der er bis gerade gelehnt hatte. „Crawford wäre der ideale Kandidat dafür“, mischte er sich mit einem, zumindest in seinen Augen, rationalen Beitrag ein, während aller Augen auf ihn gerichtet waren. „Er versteht es, aus einer ungenießbaren Pampe ein Essen herzustellen, dass ma-“

Weiter kam Aya nicht, als sich eine schraubstockartige Hand auf seine Lippen legte und er in deutlicher Warnung gegen eine muskulöse Schulter gepresst wurde, die ihm alleine schon durch ihre Präsenz sagte, dass es kein guter Plan sein würde, nun weiter zu sprechen, auch wenn Aya das redlich mit unterdrückten Lauten und einem durchaus respektablen Grunzen versuchte.
 

„Was der Anführer von Weiß damit sagen möchte..“, ertönte es hinter ihm in einem beinahe schon gelangweilten Bariton. „…ist schlicht und ergreifend, dass du, Tsukiyono dich an den Herd stellen und kochen wirst.“

Aya gab einen protestierenden Laut von sich und versuchte, unter den erstaunten Blicken der restlichen Anwesenden, sich von der ihn knebelnden Hand zu befreien, damit ihm nicht noch mehr Worte in den Mund gelegt wurden, die er so niemals gesagt hatte.

„Was?“, begann Omi mit Unglauben in der Stimme. „Ich werde sicherlich nicht…“

„Denn, so hat es mir dein Anführer vor ein paar Wochen mitgeteilt“, fuhr Crawford fort, als hätte Omi rein gar nichts gesagt. „…du bist der Koch eures Teams und hast diese unfähigen Herren bisher am Leben erhalten.“

Verräter, elender! Aya biss auf die weiche, fleischige Haut des Handballens und grollte böse. Das führte allerdings nur dazu, dass er enger umfasst wurde und Crawford nun gar keinen Millimeter mehr nachgab, während Omis Blick ihm sehr deutlich machte, dass er nicht nur einen Tod dafür sterben würde.
 

„Und damit die Arbeit nicht alleine auf dir lastet, Tsukiyono, werde ich dich dabei unterstützen, wie es dein Anführer schon angedeutet hat. Damit die kommende Mission nicht durch Lebensmittelvergiftungen oder Hausbrände gestört wird“, beendete Crawford seine Entscheidung und Aya ließ es sich nicht nehmen, die Hand des Orakels mit seiner Zunge zu kitzeln.
 

Was unter dem Strich um ein Vielfaches wirksamer war als der Biss, wie er anhand des unmerklichen Zusammenzuckens und des ersten, abgehackten Atemzuges erkennen konnte.

Schneller, als er reagieren konnte, wurde Aya losgelassen und in den Raum geschubst. An sich eine rüde Geste, wenn es nicht die angespannte Stimmung kurz vor ihrem Auftrag auflockern würde. Das ganze Geplänkel hier hatte den Nebeneffekt, den Aya sehr zu schätzen wusste.
 

Ein Blick auf Crawford, der ihn mit unverhohlener Arroganz musterte, sagte ihm gut verborgen, dass er nicht der Einzige mit diesem Gedanken gewesen war.
 

~~**~~
 

„Momi-chan, du schon wieder! Oh wie geht mein Herz auf, wenn ich dich hier sehe!“, grölte Schuldig nahezu ekstatisch fröhlich in den Besprechungsraum hinein, in dem die Sondereinheit von Kritiker bereits Platz genommen hatte, die mit ihnen die Bohrinsel stürmen würde, die sie die letzte Woche über beobachtet hatten. Satellitenbilder, Sonarbilder, angezapfte Kameras vor Ort, alles, was sie hatten kriegen können, hatten sie zu einem Missionsplan verwurstet, an dessen Ende ein Schlachtfest sondergleichen stehen würde, das sich in einem Abwasch Takatori und Lasgo entledigen und sie von der Kontrolle des Rates befreien würde.
 

Nakamura rollte mit den Augen und wandte sich der großen Leinwand zu, an der sie die Simulationen abspielen würden, Schuldig betont ignorierend. Nicht, dass er sich wirklich ignorieren ließ, doch wieder einmal war es ein warnender Blick seines Anführers, der ihn davon abhielt, sein Spiel noch etwas weiter zu treiben.
 

So ließ sich Schuldig in einen Stuhl dem Leiter der Sonderheit gegenüber fallen und verschränkte die Arme. Wie alles andere auch in diesem Areal dominierte in dem Raum schlichte Nützlichkeit. Graue Wände, die schon einmal bessere Zeiten gesehen hatten, Möbel, die verwohnt und hässlich waren und dazu noch nach altem Verfall rochen, aber natürlich neueste Technik. Klar, was denn auch sonst, irgendwohin musste das Geld ja fließen, das die ganzen eingefrorenen Konten der Zielpersonen abwarfen.
 

„Prodigy, bitte“, eröffnete Crawford ihre Besprechung und ihr Jüngster stellte ihnen vor, was er mit dem Weißtaktiker zusammen erarbeitet hatte, der langsam eine Idee gewann, dass Nagi doch nicht ganz uninteressiert an ihm war. Allerdings vermutete er das aus den vollkommen falschen Gründen, was Schuldig wiederum ohne Ende amüsierte. Tsukiyono glaubte tatsächlich, der Telekinet wäre an seinen taktischen Fähigkeiten interessiert.
 

Nur daran und nicht auch an dem Körper, der diese so attraktiv machte. Junge Liebe, so wunderschön hindernisreich und tollpatschig. Schuldig grinste in sich hinein und lauschte den Worten, die noch einmal das wiederholten, was ihnen auch schon gesagt worden war.

Das Kritikerteam würde mit einem der Containerschiffe anlegen, die regelmäßig die Bohrinsel anfuhren um Güter zu transportieren. Die gesamte Besatzung würde zu dem Zeitpunkt schon unter Kritikers Kontrolle stehen und sich zur Not mit Waffengewalt Zutritt zu dem riesigen Stahlkoloss verschaffen, den sie sonst in verdeckter Mission betreten würden mit einem schnellen, präzisen Eingreifteam. Schwarz und Weiß hingegen würden die Bohrinsel mit dem Helikopter der Förderfirma betreten, der planmäßig dort eintreffen sollte.
 

Keine Gefangenen, so lautete das Motto, dem diese Mission unterlag. Niemand, der sich auf dieser Insel befand, würde sie lebend verlassen. Während sich Schwarz und Weiß um die oberen Ebenen der Insel kümmern würden, in denen sich Lasgo und Takatori aufhielten, würde das Einsatzteam von unten her aufräumen und den Rest der Männer wie Ratten ans Deck treiben, wo sie durch Jei und ihn empfangen werden würden. Wenn alles glatt ging.
 

Es war schön zu sehen, wie pragmatisch die Kritikeragenten, die vor ihnen saßen, darüber dachten und dem zustimmten. Wie pragmatisch und gehorsam sie auch eine Zusammenarbeit mit Schwarz sahen, die für sie nicht mehr als eine geänderte Konstante in ihrer sonstigen Rechnung war, die sie zu berücksichtigen hatten und die sie erneut bekämpfen würden, wenn die Order von oben kommen würde.
 

„Wer sind die Zielpersonen?“, fragte Iceman – auch dieses Mal konnte sich Schuldig den entsprechenden Soundtrack zum Mann nicht verkneifen – Nagi, der mit einem Wink seiner Gabe die Präsentation auf die Personalakten der Männer wechselte.

Nacheinander stellte er diejenigen vor, die es zu eliminieren galt. Takatori, Lasgo, den Vernarbten, die drei verrückten Alten von SZ, dazu kamen sämtliche Söldner und Wachleute, die angeheuert waren.
 

„Wer von denen ist ein PSI und was für Fähigkeiten haben die?“

„Bisher ist uns nur bekannt, dass es einen Empathen und einen Neutralisator geben kann. Wir vermuten, dass es sich bei dem vernarbten Mann, Matsuda Yuseii, um einen nichtklassifizierten Empathen und um einen Neutralisator handelt. Es kann jedoch sein, dass jemand anderes aus Lasgos direktem Umfeld über eine solche Gabe verfügt.“

„Inwieweit behindert das die Mission?“

„Der Empath könnte jedem Anwesenden Schaden zufügen, daher gilt es, ihn als Erstes ausfindig zu machen und zu töten. Der Neutralisator wird nur für andere PSI-Begabte zu einem Problem werden.“

„Wie groß ist dieser Unsicherheitsfaktor?“

„Er liegt bei 30 Prozent.“
 

Nakamura runzelte unwillig die Stirn. „Meine Männer mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in eine Falle laufen zu lassen, scheint mir wie ein Selbstmordkommando.“

„Deshalb werden wir uns noch im Flug in die Sicherheitskameras der Bohrplattform hacken und unsere Gesichtserkennungsprogramme nach dem Vernarbten suchen lassen, von dem wir glauben, dass er derjenige ist, welcher. Seine Koordinaten übermitteln wir Ihnen, damit Sie ihn mit oberster Priorität ausschalten können auf Ihrem Weg von unten nach oben“, erwiderte ihr Jüngster mit genau dem Ton an Arroganz, die Momi-chan dazu brachte, ihn wirklich nicht zu mögen.
 

Schuldig lehnte sich zurück und sprang zu den Gedankenfetzen und Visionen, die das Hirn seines angespannten und hoch schweigsamen Anführers aufgrund der Informationstrigger durchzuckten. Restlos alles davon bezog sich auf die kommende Mission und auf die Personen, die sie angesprochen hatten. Nicht alles war jedoch zu gebrauchen und Schuldig hatte bereits jetzt schon Kopfschmerzen vom Zusehen. Kopfschüttelnd entfernte er sich aus den Gedanken seines Anführers.

Wen wunderte es da, dass Crawford in der Vergangenheit immer mal wieder mit Migräne ausgefallen war, die ihn in Hochzeiten bis zu drei Tage lahmgelegt hatte?
 

Ihn sicherlich nicht mehr und Schuldig konnte sich ein minimales Schmunzeln nicht verkneifen. Natürlich hatte man ihnen im Rahmen ihrer Ausbildung erläutert, was die Schwächen und Stärken der einzelnen PSI-Gattungen waren und so war auch er vor den Nachwirkungen der Präkognition gewarnt worden. Doch es live und in Farbe zu sehen, dann auch noch den Grund dafür zu sehen, schaffte ein ganz anderes Vertrauensverhältnis.

~Manchmal bin ich wirklich froh, dass ich nicht du bin~, richtete er an Crawford, dessen Zucken im Augenlid die einzige Reaktion auf sein Gesagtes war, während sein Anführer sich um die noch offenen Fragen kümmerte und aufmerksam der Diskussion beiwohnte, die sie hier um die noch nicht geklärten Punkte führten.
 

Um dann endlich, nach einer endlosen Zeit des unnützen Geredes zu einem Ende zu kommen und sich aus diesem schmucklosen Raum zu begeben in ein noch viel schmuckloseres Schlafquartier.
 

Schuldig schauderte voller nervöser Vorfreude. Endlich konnte er dem Panda zeigen, wie wenig er es geschätzt hatte, von ihm mit einem Golfschläger verprügelt zu werden oder wie wenig er davon hielt, dass dieser wiederholt Hand an seinen Anführer gelegt hatte. Lasgo stand da auf einem ganz anderen Blatt und Schuldig würde sich Zeit lassen, mit dem Menschenhändler zu spielen, bevor er ihn seinem Anführer zum Fraß vorwarf.
 

Schuldig drehte sich und warf einen Blick auf seinen Anführer, der mit einer solch ausgesucht ausdruckslosen Mimik dem Ganzen beiwohnte und nicht zu erkennen gab, was für ein Tumult in seinem Inneren tobte bei der Vorstellung, in weniger als einem Tag dem Mann gegenüber zu stehen, der sich ihm aufgezwungen hatte. Da war nichts als ausgesuchte Neutralität, die ihm nur Hidaka glaubte und das auch nur, weil er lediglich einen flüchtigen Blick in seine Richtung geworfen hatte.
 

Schuldig streckte sich und gähnte. „Gibt es in diesem Saftladen eigentlich auch Alkohol?“, fragte er und rollte mit den Augen, als ihn das allzu pflichtbewusste Kritikerteam eben genau dafür abschätzig musterte.

„Was?“, grollte der Telepath zurück. Sie waren auf einer Basis mitten im Nirgendwo in der Nähe des Hafens, die Betten waren unbequem und sie teilten sich Mehrbettzimmer zu acht. Ja, zu acht. Wer auch immer sich diesen grandiosen Plan ausgedacht hatte, der hatte nicht damit gerechnet, zwei gegnerische Teams in einem Raum unterzubringen, von denen ein Agent Angst vor zwei anderen hatte, einer traumatisiert genug war um kein Auge zuzutun, einer sterben würde, weil er schnarchte und einer vermutlich den Raum gar nicht betreten würde, weil er sich für etwas Besseres hielt.
 

Wunderbar.
 

~Danke, Rote. Vielen Dank. Du willst es aber noch einmal so richtig wissen mit der Zimmerplanung, oder?~, richtete er an Manx.

~Eigenes Verschulden, Mastermind. Ihr hättet damals nicht zusammenarbeiten müssen~, erhielt er wieder das unsinnige, alte, nachtragende Argument, mit dem er gar nichts anfangen konnte und Schuldig grollte herzhaft und laut.

~Nach morgen wird das ein Ende finden.~

~Glaubst du das?~

~Ich hoffe es für dich.~

~Darf ich das als Drohung verstehen?~

Schuldig grinste. ~Als Versprechen, dass ich dir das Leben genauso zur Hölle machen werde, wie jedem meiner Auftraggeber.~

Dass sie das nicht im Geringsten beeindruckte, zeigte sie ihm sehr deutlich. ~Try me.~

~Deal.~
 

Manx sah ihn über ihre Schulter an und schenkte ihm ihr strahlendstes, abgrundtief bösestes Lächeln.

~Solltest du morgen lebend da rauskommen, darfst du dich gerne noch einmal an mich wenden.~
 

Pfeifend zeigte Schuldig ihr den Mittelfinger.
 

~~**~~
 

Natürlich war an Schlaf nicht zu denken.
 

Das hatte Crawford bereits zu Beginn des Tages gewusst, als seine Visionen ihm zuverlässig den Verlauf des Tages wiedergegeben hatten. Eine unumstößliche Tatsache war es gewesen, denn er würde den Teufel tun, der Kritikeragentin zu erkennen zu geben, wie unwohl er sich in der Gesellschaft der restlichen Männer fühlte, auch wenn er wusste, dass keiner sich ihm ungefragt nähern würde.
 

Bis auf Jei. Schuldig. Fujimiya. Hidaka, weil er nonverbale Zeichen nicht verstand oder verstehen wollte. Crawford seufzte innerlich und nahm eine Diskussion über die besten Schlafplätze zum Anlass, sich aus dem Raum zu entfernen und den am weitesten entfernten Punkt in dem Areal aufzusuchen. Die Nacht war zu immer noch zu warm für sein Jackett, also hatte er es über die Brüstung der verlassenen Instandsetzungshalle neben sich gehängt und starrte in die bewölkte Nacht hinaus, deren Sichelmond nur hin und wieder hervorkroch.
 

Dreimal hatte ihre Zielperson es nun schon geschafft, sich seiner zu bemächtigen. Dreimal hatte der Mann, dessen Namen er nicht über seine Lippen brachte, ihn mit einer spielerischen Leichtigkeit gefangen gesetzt und sich ihm körperlich und geistig aufgezwungen oder ihn foltern lassen, dass es beinahe schon an Hohn grenzte.

Und so gut wie alle ihre Pläne, sowohl für den leichten als auch für den Worst Case Fall, auch waren, so sehr plagten Crawford Zweifel, ob er nicht ein drittes Mal dem anderen Mann unterliegen würde. Dieses Mal endgültig, denn er würde sich nicht lebend fangen lassen. Lieber jagte er sich selbst eine Kugel durch den Kopf.
 

Seine Visionen verrieten ihm Bruchstücke, die allesamt darauf hindeuteten, dass sie erfolgreich sein würden. Sie sagten ihm, dass zumindest Takatori dem Schwert des Anführers von Weiß zum Opfer würde. Mitgeteilt hatte er das Fujimiya nicht, um den Lauf der Dinge nicht zu stören, der sich entfalten musste ohne dass der Anführer von Weiß durch eine unbewusste falsche Entscheidung das Ergebnis veränderte.

Was ihre Zielperson anbetraf, so sah er das Ende nicht voraus, wohl aber ihr Zusammentreffen, das ihm Übelkeit verursachte und seine Hände zittern ließ. Beinahe war es, als könnte er die Stimme des älteren Mannes in seinem Ohr flüstern hören, wie sie ihm Schmeicheleien und Komplimente entgegensäuselte, die Crawford wie nichts auf der Welt hasste.

Seine Vision endete damit, dass sich ein Schuss löste, die Frage war jedoch, aus welcher Waffe und wen er treffen würde.
 

Müde rieb sich Crawford über die Stirn und ließ den Kopf hängen, um die Schmerzen, die hinter seinen Schläfen pochten, zu vertreiben. Mit mäßigem Erfolg, insbesondere jetzt, da er Schritte hinter sich hörte und sich Anspannung seinen Rücken hinauffraß.

Die unsichtbare Hand, die sich um sein Handgelenk schloss, sprach gegen Fujimiya und ganz egoistisch war Crawford erleichtert darum. Er wusste nicht genau, woran es liegen mochte, dass er Nagi in diesem Moment bevorzugte; ob es das gemeinsam erlittene Leid war oder die Tatsache, dass sie ein Team waren, wusste er nicht, entspannte sich aber nach und nach.
 

„Darf ich?“, fragte der Junge, dessen Adoptionspapiere auf dem Weg in die offizielle Bestätigung waren und der bald sein Sohn sein würde. Nach all den Jahren nun auch auf dem Papier, wo er ihn doch schon großgezogen hatte.

Crawford nickte stumm und spürte mehr als dass er sah die Präsenz des Jungen neben sich, der anscheinend nach Worten rang, die er sich nicht traute zu veräußern.
 

Auch daran war Crawford schuld.
 

Als wäre es gestern gewesen erinnerte er sich daran, wie er den Telekineten geschlagen hatte, als dieser ihn nach seinem Zusammentreffen mit Lasgo in der Kaffeebar berührt hatte. Er wusste noch genau, welche Worte er ihm an den Kopf geworfen hatte um ihn zu verletzen, so wie ihre Zielperson ihn selbst verletzt hatte. Er wusste, mit welcher Betonung er sie Nagi ins Gesicht gespuckt hatte und wie der Junge ihn angesehen hatte.
 

Kein Wunder, dass Nagi nun nicht den Mut fand, ihn auf seinen augenscheinlich desolaten Zustand anzusprechen. Mitnichten war es ihm vorzuwerfen und so oblag Crawford die Aufgabe, Nagi genug Mut zu vermitteln, um ihn nicht zu vertreiben wie vor dem letzten Zusammentreffen mit dem Drogenhändler.

„Was möchtest du sagen?“, fragte er ruhig, auch wenn er sich ganz und gar nicht danach fühlte, ebensowenig wie sein hauseigener Stratege, der neben ihm stand und dessen Augen in der Dunkelheit zwischen der Brüstung und dem darunter liegenden Betonhof hin- und herhuschten. Schließlich schüttelte Nagi den Kopf und senkte seinen Blick, ohne auch nur ein Wort dessen gesagt zu haben, was ihm unter den Nägeln brannte.
 

Crawford hätte jetzt vieles sagen können, allem voran, dass Nagi schlussendlich den Mut dazu selbst hervorbringen musste, doch das wäre alles andere als angebracht gewesen. Er trug die volle Verantwortung für diese Scheu, sein Handeln war die Grundlage der Angst neben sich.

Also drehte er sich nach einer weiteren Sekunde zu Nagi und musterte ihn mit einem Lächeln, das – so hoffte Crawford – aufmunternd war. Hatte er gedacht, dass das den Jungen beruhigen würde, so hatte er falsch gelegen, zumindest im ersten Moment, bevor die Nervosität ihren Höhepunkt erreichte und der Telekinet im Nachgang zu einer schicksalsergebenen Ruhe fand um die Crawford ihn beneidete.
 

„Wir werden ihn vernichten“, sprach Nagi das aus, was Crawford immer noch in Zweifel zog. Das, was noch folgen sollte, bereitete Nagi jedoch mehr Probleme, das sah er. Aus Angst vor einem erneuten Schlag zogen sich die schmalen Schultern hoch und Crawford runzelte die Stirn. Nur er hatte das aus Nagi gemacht. Er und sein unüberlegtes Handeln.

„Aber da ist noch etwas“, hakte er ruhig nach und Nagi nickte.

„Ich werde nicht zulassen, dass er erneut Hand an dich legt“, presste der Telekinet hervor und schloss ruckartig die Augen. Das Zusammenzucken sprach Bände und das Gefühl der Schuld war für einen Moment viel zu gewaltig und ausfüllend, als dass Crawford auch nur im Ansatz wusste, er damit umgehen sollte.
 

~Für den Anfang könntest du ihn umarmen~, gab Schuldig eine Hilfestellung, von der Crawford nicht wusste, ob sie wirklich hilfreich war.

~Aber sicher ist sie das. Der Junge wünscht sich Zuspruch, gerne auch körperlich und trifft dann auf das Dilemma der Stachelschweine, du weißt schon. Und gern geschehen.~

Schuldigs entschwindende Gabe hinterließ bittere Leere in ihm, die er mit seinem Seufzen vertrieb. Gleichwohl umfasste er Nagis Schultern und zog nach einem weiteren Moment des Überlegens den Jungen langsam an sich, legte vorsichtig seine Arme um ihn.
 

Für Sekunden lang geschah nichts, dann klammerte sich Nagi schraubstockartig an ihn und barg sein Gesicht an seiner Brust.

„Ich werde das nie wieder tun“, sagte Crawford unbestimmt und doch mit einer für sie beide konkreten Bedeutung und Nagi nickte.

„Ich werde ihm jeden Knochen in seinem Körper brechen für das, was er getan hat“, erklärte Nagi durch sein Hemd gedämpft und Crawford schmunzelte. Keine unwahrscheinliche Möglichkeit, befand er.

„Aber lasse mir auch etwas übrig“, entgegnete er mit sachtem Humor und Nagi schnaubte doch tatsächlich.

„Dann musst du schneller sein als ich.“
 

Crawford hob erstaunt die Augenbrauen. Das war eindeutig Schuldigs Einfluss, der aus dem Jungen sprach. Der schlechte Einfluss seines Telepathen, der den Jungen frecher machte als es ihm lieb sein sollte. Dennoch. Sollte sich seine Vision bewahrheiten, so würde Schuldig seinen Platz einnehmen müssen und Nagi zur Seite stehen.

Und, so wurde er sich bewusst und der Gedanke erfüllte ihn mit Ruhe, das würde der Telepath. Beide würden sich zur Seite stehen, wenn er nicht mehr da war, neutralisiert durch Rosenkreuz.
 

Ungebeten überkam ihn erneut die Vision seines Puppenspielers, wie er sich ihm vorstellte und wie darauf alles schwarz wurde, seine Visionen unabdingbar und unwiderruflich endeten. Das war seine Zukunft, während Nagi und Schuldig lebten, eben weil sie sich selbst hatten und weil Jei auf sie aufpasste.
 

Auch wenn Crawford es nicht wahrhaben wollte, so löste es einen Großteil der Anspannung in ihm, sein Team miteinander und fähig zum Überleben zu sehen. Auch ohne ihn.
 

~~**~~
 

Die Kathedrale im Meer war ein durchaus passender Begriff für das, was aus den Weiten des Japanischen Meeres ragte. Drei Türme, Stahlkolosse, die Nagi unweigerlich an eine gotische Kirche erinnerten, die mit ihrem gesamten Aufbau zum Himmel strebte, als könne sie dort Gott erreichen. Stahl, Beton, Feuer und Wasser vereinten sich hier zu einem beeindruckenden Monstrum der modernen Ölförderung. Die Stelzen, auf denen die Plattform mit ihren beiden Teilabschnitten stand, ragte ohnehin schon weit aus dem Wasser hinaus und dazu kam nun noch die Höhe der Fördertürme, die gekrönt wurde von einer ewigen Flamme, die lodernd in den nächtlichen Himmel ragte.
 

Jeder einzelne Bereich der Ölbohrplattform war erleuchtet und aus der Luft heraus wirkten diese Lichter fast wie Laternen, klein und symmetrisch angeordnet. Spannend, dass der Unterschied zu unten so erheblich sein würde.

Über den Lärm des Helikopters, mit dem sie sich in zehn Minuten in den Landeanflug begeben würden, hinweg beugte er sich zu Bombay, der ebenso wie er mit der Recherche nach dem Vernarbten begonnen hatte. Gemeinsam hatten sie bereits jetzt das System unter ihre Kontrolle gebracht, waren aber noch stummer Zuschauer, die sich noch nicht zu erkennen gaben.

„Hast du schon was?“, rief er halb in sein Headset, halb in das Gesicht des Weiß und dieser nickte knapp.

„Zweites Deck von unten, in der Nähe des Besprechungsraumes“, gab er ihm zu verstehen du hielt sich an seinem Sitz fest, als eine weitere Windböe den Helikopter zur Seite trieb. Einer der Gründe, warum sich ihre Landung verzögerte.
 

Bombay gab seine Erkenntnisse an das Sondereinsatzkommando auf dem Tanker wieder und lehnte sich zurück, die Augen kurz schließend. Der Weiß sah nicht gut aus, schon seit sie den Helikopter bestiegen hatten und Nagi konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Tsukiyono Flugangst hatte.

„Wir sind gleich da“, sagte Nagi und ließ seinen Blick über den Weiß gleiten, der wie sie alle auch Overalls in den Farben der Firma trug, unter denen sie ihre normale Kleidung verborgen hatten. Laut Crawfords Visionen würde ihnen das in den ersten zwanzig Minuten exakt den Vorteil verschaffen, den sie benötigten, um die strategisch wichtige erste Ebene mit dem Kontrollraum einzunehmen. Kritiker hatten ihnen die Kleidung ebenso wie die Transportmittel bereitgestellt, die sie zu Takatoris privater Geldeinnahmequelle bringen sollten.
 

Nagi schauderte vor Vorfreude auf den Schlussstrich, den sie heute ziehen würden. Keiner von ihnen, weder der Panda, noch Lasgo, noch die drei verrückten Alten würden das hier überleben. Damit würde es zu einem Bruch zwischen Rosenkreuz und SZ kommen, der die Wege offen machte für Neues, das, so hoffte Nagi insgeheim, sie weg von einer offensichtlichen Feindschaft mit Weiß führen würde. Ganz egoistisch hoffte er, dass der Rat nach ihrem Erfolg beschließen würde, sie an die Seite von Kritiker zu stellen um Japan ruhig und stabil zu halten, und er die Gelegenheit haben würde, Tsukiyono besser kennen zu lernen.
 

Das Orakel hatte sich dazu noch nicht geäußert, aber Nagi wagte es, einen Gedanken daran zu verschwenden, auch wenn er wusste, dass es sicherlich auch in die andere Richtung gehen konnte und er den Weiß töten müsste. Auch das würde er mit dem gebotenen Pflichtgefühl tun, allerdings wäre es ihm lieber, wenn dem nicht der Fall wäre.
 

Nagi straffte sich, als sie sich in den Sinkflug begaben und verstaute seinen Laptop, den er bei der Landung nicht benötigen würde. Erst, wenn sie die Zielebene erreicht hatten, würde er ihn benötigen um die Steuerung zu übernehmen.

„Landung in drei“, gab ihnen der Pilot durch das Mikrofon zu verstehen und sie machten sich fertig, holten die Waffen hervor und gingen, so meinte es Nagi zumindest an den angespannten Gesichtern zu erkennen, noch einmal die ersten und wichtigsten Schritte durch.
 

„Zwei.“
 

Man konnte meinen, dass der kleine Landeplatz für den Helikopter nicht ausreichend war, wenn man von oben darauf schaute und sich vor Augen hielt, dass die Windböen, die hier draußen herrschten, um ein Vielfaches stärker waren als die stehende, warme Luft an Land.
 

„Eins.“
 

Er sah Menschen dort unten, die ihre Ankunft erwarteten und die noch nichts davon ahnten, dass dies die letzten Sekunden ihres Lebens sein würden. Fast bedauerte er sie, auch wenn er nicht wirklich die Muße dazu aufbringen konnte, sich in ihre Lage zu versetzen. Es hieß töten oder getötet zu werden, da wählte er lieber Ersteres. Bombay auch, wenn er sich die Darts ansah, die dieser kampfbereit in seinen Händen hielt und die, wie Nagi wusste, mit schnell wirkendem, tödlichen Gift getränkt waren. Nicht so wie bei ihm damals, wo ihn nur Schlafgift außer Gefecht gesetzt hatte.
 

„Landung. Go.“
 

Die Türen öffneten sich und der Fluglotse kam ihnen mit gesenktem Kopf entgegen um sie in Empfang zu nehmen. Schuldig übernahm den Mann, bevor er auch nur ein Wort an sie richten konnte und gaukelte ihm vor, dass sie die zu erwartende Crew für die nächste Woche sein würden. Mit einem Nicken führte der Mann sie hinaus, blind für seine Arbeitskollegen, die von Jei, Balinese und Siberian über das Rauschen der Wellen und das Dröhnen der Maschinen in den Fördertürmen hinweg getötet wurden in einem notwendigen, pragmatischen und tödlichen Tanz voller Effizienz.
 

Spannend, dass ihre Zusammenarbeit so gut und vor allen Dingen instinktiv funktionierte, als hätten sie schon Jahre lang miteinander und nicht gegeneinander gekämpft. Nagi gestattete sich ein kurzes Schmunzeln. Vielleicht war es genau das. Sie kannten einander so gut, als hätten sie miteinander gekämpft, weil sie schon oft genug gegeneinander angetreten waren um die Schwächen und Stärken des jeweils Anderen zu kennen.
 

~Helikopterdeck sauber~, sandte Mastermind über ihre mentale Verbindung, als er den Fluglotsen mit einer Kugel durch den Schädel getötet hatte.

~Zwanzig Personen auf dem Zwischendeck~, gab Crawford die Zahl vor, die es zu erledigen galt und wieder war es Schuldig, der den anwesenden Männern und Frauen vorgaukelte, dass alles in Ordnung war, während sich Jei einem nach dem anderen annahm und sich wie durch Butter schnitt.

~Erledigt~, lautete der knappe Bericht ihres Iren, dessen Gesicht über und über mit Blut beschmiert war. Ein Geruch, der stark mit dem allgegenwärtigen Geruch des Öls konkurrierte, der das ganze Stahlgerippe ausfüllte, das sie in seine orangefarbenen Eingeweide gezogen hatte. Dumpf dröhnte die Förderung des Öls an Nagis Ohren, während sie wie geplant in das Verbindungsdeck zum ersten Deck vordrangen.
 

~Wir trennen uns wie besprochen~, gab Oracle über ihre Verbindung den Befehl und die vorher besprochenen Teams nahmen die Abzweigungen in das Deck hinein. Oracle und Abyssinian würden den östlichen Flur nehmen, Bombay und er den westlichen, Mastermind und Balinese den nördlichen sowie Berserker und Siberian den südlichen. Nach Säuberung des Areals hatten sie mit dem darunter liegenden, ersten Deck leichtes Spiel und würden durch das Abschotten nach oben und das von unten kommende Kritikerteam die Zielpersonen einkesseln, noch bevor diese etwas ahnten.
 

~Team Momi-chan ist planmäßig auf dem Weg~, vermeldete Schuldig mit einem erwartungsvollen Grinsen und nickte Balinese knapp zu.
 

Nagi spürte schon das erwartungsvolle Prickeln seiner Gabe, als er sich von den Anderen trennte und sich in den Flur begab, der wie ein leerer, gleißend heller Schlund aus Metall vor ihnen lag.

Oh ja, dieses Mal würde er das Töten genießen.
 

Und so war es auch. Sie beide teilten sich die Arbeit. Sobald Bombay zwischen einen Angriffszyklen eine Pause benötigte, griff Nagi ein und entledigte sich den Söldnern und Mitarbeitern effizient und ohne ihnen einen langsamen Tod zu bescheren. Ein kurzer Ruck und die Genicke brachen so trocken wie Hühnerknochen.

So wie jetzt auch bei demjenigen, der knapp vor ihm aus der Tür getreten war, die Waffe an seiner Seite. Kurz maßen sie sich und Nagi hob die Hand, um mit ihm genauso zu verfahren wie mit den sechs Anderen zuvor auch. Doch da, wo er die gewaltige Kraft seiner Telekinese, die ihm innewohnte, erwartet hatte, war nichts. Da war nichts, nur Leere, die er noch niemals sonst in seinem Leben gefühlt hatte. Sie ließ ihn im ersten Moment angewurzelt und panisch hier stehen, während er Mann seine Waffe auf ihn richtete und bereit war, ihn zu erschießen.
 

Nur Bombays Pfeile hielten ihn davon ab, ihn umzubringen und ließen ihn mitsamt seiner Waffe zusammensacken, tödlich getroffen.
 

„Was ist los?“, fragte der Weiß stirnrunzelnd und Nagi sah auf seine Hände. Probeweise versuchte er es erneut, doch nichts. Seine Gabe schwieg, sie war nicht greifbar und fast übertönte sein rasend schneller Herzschlag das fragende Geräusch des Anderen.

Natürlich hatte er damit gerechnet, dass der Neutralisator seine Gabe einsetzen würde um sie außer Kraft zu setzen. Die Hälfte der Simulationen hatte sich damit befasst. Doch es zu planen und plötzlich damit konfrontiert zu werden, stand auf einem anderen Blatt, auch weil er nun nicht mehr auf ihre mentale Kommunikation mit Schuldig zurückgreifen konnte.
 

Grimmig lächelte er. „Es geht los, der Neutralisator hat seine Arbeit aufgenommen“, erwiderte er und zog sein Laptop hervor, mit dem er die Schotten zum Oberdeck abriegelte, die hinter ihm mit einem Knirschen zuglitten. Gleichwohl löste er die Notbeleuchtung aus, die in orangenem Licht um sie herum pulsierte und den Gang in ein schauriges Schattenspiel tauchte.

Nachdem er den Laptop wieder verstaute, zog er seine Schusswaffe.
 

„Gehen wir.“
 

~~**~~
 

Hatten sie vorher schon gut zusammengearbeitet, so schien es Crawford nun, als bräuchten sie sich noch nicht einmal abzustimmen, was ihre Handlungen anbetraf. Ohne einander anzusehen und ohne sich abzustimmen, nahmen sie sich jedes Hindernisses an, das sich ihnen in den Weg stellte und gingen Zimmer um Zimmer ab. Keiner der Anwesenden entkam ihnen und so ließen sie einen Flur hinter sich, dessen Wände über und über von Blut bespritzt waren.
 

Aus reiner Gewohnheit griff Crawford zu seiner Gabe, um sich der Zukunft zu versichern und erhielt nichts. Rein gar nichts zeigte sich ihm.

~Schuldig?~, probierte er es und scheiterte, wie sie es in einer ihrer Simulationen vorhergesehen hatten.

„Abyssinian, der Neutralisator ist aktiv“, richtete er an den Weiß an seiner Seite, der sich langsam zu ihm herumdrehte. Blutspritzer verunzierten das Gesicht und hatten sich teilweise in den Haaren gefangen. Die Augen des Weiß fixierten ihn durchdringend, wie es Jei ebenso tat, wenn er sich darauf konzentrierte, seinen Auftrag auszuführen, gefangen in dem Blutrausch.
 

Fujimiya nickte genau zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Schotten ihres Ganges hinter ihnen schlossen und die Lautsprecher knackten, während das Licht erlosch und die Notbeleuchtung pulsierte.
 

„Gehen wir“, merkte der Anführer von Weiß ruhig an und Crawford beobachtete das Licht- und Schattenspiel auf dem ebenmäßigen, entschlossenen Gesicht, in dem wie bei Schuldig und Jei auch eben die Freude am Töten stand, die Fujimiya so vehement verneinte. Wenn er gnädig war, würde Crawford das all dem Chaos der vergangenen Wochen und der damit verbundenen Rachsucht zuschreiben. Wirklich gnädig fühlte er sich aber nicht, so lächelte er dunkel. Ja, hier war wirklich niemand gut.
 

~~**~~
 

Keiner von ihnen war der Trennung zum Opfer gefallen, wie es in den Horrorfilmen des Technikjungen immer geschah, befand Jei, als sie in der kathedralenartigen Halle der zweiten Ebene zusammenkamen, die ihnen den Negierenden offenbaren würde. Aus den vier Himmelsrichtungen, als wären sie die vier Reiter der Apokalypse, betraten sie nun die weitläufige Halle, deren Metallstreben als stumme Säulen in den Himmel ragten.

Jei legte den Kopf schief, als er das Rauschen vernahm, jedoch kein einziges Lebenszeichen, ein enttäuschendes Antiklimax in sich.
 

Dennoch musste er nicht lange warten, bis das Knacken der Lautsprecher seine Enttäuschung negierte und er mit einem zufriedenen Lächeln den Worten lauschte, die ein Blutbad versprachen.
 

„Meine Herren, willkommen in unserer Kathedrale. Wie ich sehe, habt ihr den Weg ohne Probleme und ohne Zeitverzögerung zu uns gefunden und euch auf den Weg zu unserer kleinen Zeremonie begeben, die das Ende von Rosenkreuz und Kritiker einleiten wird und Japan in eine glorreiche, friedvolle Zukunft führt.“
 

Jei schloss die Augen und lauschte auf das dumpfe Grollen, das tief aus der Erde kam, weit tiefer, als dass es ein Mensch jemals anwesend sein könnte, wenn die Erde unter ihnen ihre Schätze ausspuckte und an die Oberfläche förderte. Es hatte genauso wenig Ordnung wie die Worte des Todgeweihten über die Lautsprecher auch, dessen Silben sich nicht im Einklang mit dem pulsierenden Licht befanden, wohl aber mit der Unruhe des grauen Gefüges um Jei herum, die so viele unterschiedliche Ursprünge hatte.
 

„Bedauerlicherweise werdet ihr kein Teil dieser Zukunft sein, die ihr so vehement zu verteidigen gesucht habt, auch wenn ich euch jede Möglichkeit gegeben habe, euch von euren fehlgeleiteten Wegen abzuwenden. Was wäre da passender, wenn ihr euch nicht eurer Emotionen besinnen würdet, die so mannigfaltig in euch schwelen und euch zu dem machen, was ihr seid? Mörder, Choleriker, Beinahevergewaltiger? Was wäre passender, wenn das, was ihr mit Freuden verneint, durch uns ans Licht gezerrt wird, auf dass ihr einander straft für das, was ihr euch angetan hab, und daran elendig zugrunde geht?“
 

Jei hob die Augenbrauen. Sie alle hatten gewusst, dass es noch jemanden gab, der nicht bekannt war. Einen Empathen, der zu dem Mann gehörte, der es gewagt hatte, das Orakel zu blenden mit seinen Berührungen und Demütigungen. Einen Gefühlsmischer, der Arielle gegen ihren Kronprinzen aufgehetzt und ihren Technikjungen gegen seinen Vater in den Kampf geschickt hatte.

Nun war er hier, er war greifbar und stellte sich ihnen. Jei lächelte erneut. Wie nichtig Worte doch im Angesicht von Taten waren.
 

Unbeeindruckt, so hatte er Arielle gegenüber dem Zukunftsseher genannt. Unbeeindruckt, das hatte auch die telepathische Teufelin aus ihm gemacht. Unbeeindruckt war er auch jetzt und würde es sein, wenn der Gefühlsmischer alles so verdrehen würde, dass Schwarz und Weiß sich abstoßen und vernichten würden in diesem Raum voller Säulen und steinernem Boden, der das vergossene Blut wie einen See zurücklassen würde.

Jei trat einen Schritt zurück, seiner Logik folgend, während die Bildschirme zum Leben erwachten und ihnen Bilder zeigten, deren Gesamtheit zu einem Gemisch an Emotionen führen würde, das keiner von ihnen in ihren Simulationen berechnet hatte.
 

Als die ersten Bilder und Geräusche die Aufmerksamkeit der Männer vereinnahmten und von Leid zeugten, das die Handlungen der letzten Wochen und Monate bestimmt hatte, menschliches, nacktes Leid, erkannten auch die Männer um ihn herum, dass eine jede ihrer Simulationen sie nicht darauf vorbereitet hatte, was passierte, wenn sie das, was sie getan hatten und erleiden mussten, noch einmal bildlich vor sich sahen.
 

Und schon schwanden all die schönen Pläne dahin. Schon waren sie so hilflos wie zu jenem Zeitpunkt, als es passiert war. So würde der Gefühlsmischer ein leichtes Spiel mit ihnen haben.

Jei runzelte die Stirn und drehte sich weg von dieser kommenden Katastrophe, unbeeindruckt wie es ihm geschenkt worden war.

Die Frage war niemals die gewesen, ob auch er beeinflusst werden konnte. Sie war seit Anbeginn schon diejenige gewesen, ob er schnell genug war.
 

~~~~~

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe bei der Durchsicht der letzten Teile festgestellt, dass eigentlich mal wieder ein Cliffhanger dran ist. Und was soll ich sagen? Voilá und bitteschön. :D. Könnte noch öfter passieren in den kommenden Teilen.

Kommentare sind natürlich immer erwünscht, Nektar einer Autorin und so.

Ach ja. Und ich habe eine Halloweengeschichte im Kopf. Gehört nicht zum DFG-Universum, wäre aber Crawford x Aya. Mal schauen, ob das etwas wird. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Meggal
2019-10-17T18:36:08+00:00 17.10.2019 20:36
Oh man! Das ist wirklich ein mieser cliffhanger! Schreibe bloß schnell weiter. Aber nicht zu schnell, ich habe einige Rechtschreib- und Grammatikfehler gefunden 😉

*Kürbissuppe und Tee rüberschieb*
Antwort von:  Cocos
17.10.2019 20:56
*schlüüüürf* Danke und arghs! Das kommt vom oberflächlichen Kontrollieren. Ich säubere das nochmal o.O.

Und jap, Cliffhanger ahoi! :D
Antwort von:  Cocos
18.10.2019 00:06
18 habe ich gefunden und eliminiert. *hust* *Dankeskekse reicht*


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