Der längste Weg nach Hause von Platypusaurus (It's never too late) ================================================================================ Kapitel 3: Umwege ----------------- You say you've only got one life to live And when you're dead you're gone Your family comes to your grave And with tears in their eyes They tell you, you did something wrong "You left us alone"   *   „Und du bist dir sicher, dass das eine Leiche ist, ja?“, fragte Dean skeptisch und betrachtete eingehend Wände, Decke und Fußboden der Herrentoilette. Die ehemals grauen Fliesen waren über und über mit etwas bedeckt, das wie ein dichter Sprühnebel aus pinker Farbe aussah. Ein Übelkeit erregender Geruch ging davon aus, der sich nur schwer ignorieren ließ. Aber Dean war auch anderes gewohnt; an den meisten Tatorten oder auf den Seziertischen der Leichenhallen, wenn der Zerfall des Organischen bereits eingesetzt hatte, roch es deutlich schlimmer.   Roher Typ, frisch püriert.   „Ja, Dean! Das muss der kranke Mann sein, der vorhin an uns vorbei zur Toilette gegangen ist.“   Oder zumindest das, was von ihm übrig geblieben war. Auch hierbei hatte Dean schon deutlich Schlimmeres erlebt als den Anblick, der sich ihnen bot. Er befand sich im Jagdmodus. Als hätte ihn sein Instinkt schon direkt mit dem Erwachen auf diesen Moment vorbereitet.   „Penner-Shake“, sagte Dean halblaut. Anders, als mit ein paar flapsigen Sprüchen, ließ sich eine solche Situation kaum bewältigen. Doch der Witz verfehlte gänzlich seine Wirkung. Cas wirkte so betroffen, als handele es sich bei dem Todesfall um eine persönliche Angelegenheit.   Wenn die pinke Suppe an den Wänden wirklich die verflüssigten Überreste eines Menschen sein sollten, war das hier der klare Fall eines Falles: Etwas Übernatürliches war am Werk.   „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das hier das Werk eines Rit Zien“, sagte Cas, als hätte er Deans Gedanken gehört. Er sah aus, als sei ihm so schlecht, wie Dean sich noch eine halbe Stunde zuvor gefühlt hatte.   „Rit ... was?“   „Eine eigene Art von Engeln“, erklärte Cas und versuchte sichtlich, nur durch den Mund zu atmen. Offenbar war er diese Art von Gestank als Begleiterscheinung des Jägerdaseins noch nicht aus menschlicher Perspektive gewöhnt.   Moment, von Engeln gibt es verschiedene Arten?   Cas schien seine Verwirrung zu bemerken.   „Ja, Dean, so wie es Cupidos, Erzengel und Seraphim gibt.“   Kann Cas immer noch Gedanken lesen?   „Was für - ?“   „Ich bin – ich war ein Seraph, Dean.“   Raus aus meinem Kopf!   „Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich vermute, dass der Mann – der Arsch, wie du gesagt hast – den ich für einen Engel gehalten habe, ein Rit Zien ist.“   „Oh!“   In Deans Kopf begann es zu rattern. Der vermeintliche Rit Zien war ihm verdammt nahe gekommen. Ob das bedeutete, dass er selbst nur um Haaresbreite diesem pink-flüssigen Ende entronnen war?   Brennen Engel normalerweise Leuten nicht eher das Hirn aus oder pulverisieren sie? Funktioniert die Flüssignummer mit Fingerschnippen oder Handauflegen?   Cas hatte von seiner zweiten Begegnung mit Blondie nichts mitbekommen. Er war aus dem Laden auf den Parkplatz der Tankstelle gestürmt, um Dean die unappetitliche Explosion auf der Toilette zu zeigen. Cas hatte zuvor, wie von Nora aufgetragen, die Verstopfung auf der Damentoilette beheben wollen. Weil er anhaltende Schwierigkeiten mit der Zuordnung der kleinen Rock bzw. Hosen tragenden Figuren auf den Klotüren zu haben schien, war er zuerst auf der Herrentoilette gelandet. Ein glücklicher Zufall; das Szenario war bislang unentdeckt geblieben.   „Und was ist das genau für eine Art von Engeln? Wieso tut einer von denen so was?“, fragte Dean langsam, die kryptischen Worte über Schmerz und Leid des blonden Mistkerls noch einmal Revue passieren lassend.   „Er hat das getan, wozu er erschaffen wurde“, antworte Cas bekümmert, doch Dean unterbrach ihn, einem plötzlichen Geistesblitz folgend: „Warte, er reagiert auf Schmerzen?“   Cas sah ihn überrascht an.   „Woher weißt du das?“   „Ich, ähm ... hatte eben noch einen netten Plausch mit Blondie.“   „Was meinst du damit?“, fragte Cas, sofort höchst alarmiert.   „Bevor du raus gerannt kamst. Der – wie heißt das? Rit Zion?“   „Rit Zien.“   „Rit Zien. Bin mit ihm zusammengestoßen und er hatte diesen abgespaceten Blick drauf und hat mich so komisch angestarrt und von Schmerzen geredet und dann ... hat er mich geheilt“, schloss Dean mit einem Schaudern. Es ging ihm deutlich besser, seitdem seine Gallenblase ihn in Ruhe ließ, aber das Unwohlsein über die Umstände der Heilung verstärkte sich mit all diesen Informationen nur noch.   „Willst du damit sagen, dass ein gefallener Rit Zien dich geheilt hat, Dean?“, fragte Cas mit unnatürlich hoher Stimme. Er sah mit einem Mal noch verstörter aus als nach der unmittelbaren Entdeckung der menschlichen Überreste.   „Hab‘ ich das nicht gerade? Also, schätze schon, ja?“, gab Dean zurück, nicht sicher, worauf Cas eigentlich hinaus wollte. Das Unwohlsein wurde schlimmer, da Cas so viel Missbilligung gegenüber der unfreiwilligen Heilung zu hegen schien.   „Das ist in so vielerlei Hinsicht eine Katastrophe!“, stöhnte Cas und allmählich begann Dean, sich wirklich ernsthafte Sorgen zu machen. Was hatte es mit diesen Rit Zien auf sich?   „Wovon hat er dich geheilt, Dean? Ich wusste nicht, dass du verletzt warst ... Was für Schmerzen hattest du?“   Dean kam sich plötzlich vor, als hätte er Cas hintergangen, weil ein anderer Engel ihm die Hand aufgelegt hatte, weil er nun die Spuren einer fremden Gnade in sich trug. Was spielte es dabei schon für eine Rolle, dass Cas zurzeit keinen Tropfen Mojo mehr in sich hatte? Cas war der erste Engel, der ihn geheilt und gerettet hatte. Wie oft hatte er die besondere Verbindung mit Dean durch die Rettung aus der Hölle betont? Nun, Dean hatte sich nicht ausgesucht, dass dieser Rit Zien ihn antatschte. Und er konnte sich auch nicht erklären, wieso es sich so anfühlte, als habe Cas das Exklusivrecht, auf himmlische Art und Weise in seinen Organismus einzugreifen.   Besondere Verbindung geht über persönlichen Freiraum, Arsch Zien.   Sein Gesicht fühlte sich plötzlich heiß an an.   „Eh ... Er hat gesagt, ich hätte ... Gallensteine. Ja. Und ‘ne Entzündung. Hat sich, ehrlich gesagt, auch so angefühlt, wenn ich's mir so überlege“, nuschelte Dean verlegen. „War mir nicht sicher, was das die ganze Zeit war, aber ich hab's seit ein paar Tagen gemerkt.“   „Wieso bist du nicht zu einem Doktor gegangen? Wieso hast du mir nichts davon erzählt, Dean?“, fragte Cas, zum ersten Mal mit echter Anklage in der Stimme.   Dean zuckte die Achseln, obwohl er sich innerlich unter Cas' Vorwurf wand. „Gab Wichtigeres. Und es hat sich ja jetzt auch erledigt, oder?“   „Dean, du musst mir genau erzählen, was der Rit Zien zu dir gesagt hat! Er hat sich offenbar Menschen zugewandt, also muss ich wissen, was er vorhat!“   Keine weitere Sorge darüber, dass ein Rit Zien Dean zu nahe gekommen war.   Okay. War vielleicht doch nicht so gefährlich. Oder es ist Cas egal.   Und wieso störte ihn das eigentlich?   „Er ... hm ... Er hat gesagt, dass ich ... ‚voller Leid‘ bin, oder so was in der Art“, begann Dean unbehaglich. Es war entsetzlich peinlich, zu wiederholen, was der Engel gesagt hatte.   Hoffentlich hält Cas dich jetzt nicht für das letzte Weichei. Aber das scheinen wichtige Infos zu sein … Und vielleicht ist ihm ja auch egal, wenn du ein Weichei bist.    Weil DU ihm egal bist, Dean.   Er holte unauffällig Luft (durch den Mund; so abgehärtet war sein Magen dann doch nicht) und nahm ein weiteres Mal Anlauf. „Und dass ich ... es vielleicht verdiene, Schmerzen zu haben, die er mir aber nicht ‚nehmen‘ will, weil ich eine von den Winchester-Hüllen bin und ich nach dem Fall der Engel vielleicht noch nützlich sein kann. So was in der Art. Oh, und er hat gesagt, dass er mir dann wenigstens die Gallengeschichte heilt. Cas, was bedeutet das alles?“   Cas wirkte wie das Musterbeispiel einer Person, die sehr schlimme Nachrichten erhalten hatte. Wie das passende Gesicht zur Hiobsbotschaft. Dean fühlte sich beinahe in der Versuchung, einen blöden Spruch zu reißen, nur um den Engel etwas aufzumuntern.   „Es bedeutet, dass der Rit Zien seinem Auftrag auf der Erde folgt und Menschen von ihrem Leid erlöst“, begann er langsam. „Rit Zien sind eine Art Heiler für die Schlacht, Dean. Ihre Kräfte sind diesbezüglich stärker als die von allen anderen Engeln; sie können selbst die schwersten Verletzungen heilen.“   Diese schlichte Information war eine Menge zum Verdauen. Die Wunden, die sich Engel gegenseitig in einer Schlacht zufügen konnten, mussten fürchterlich sein. Wenn es andere Engel gab, die nur dafür existierten, um Wunden zu heilen, die ein himmlischer Soldat mit seiner Gnade nicht selbst flicken konnte, war ihre Macht gewaltig. Das Aufeinandertreffen mit einem Rit Zien war auf einer anderen Ebene verstörend, als die bisherigen unerfreulichen Auseinandersetzungen mit den vier Erzengeln.   „Wenn eine Verletzung zu schlimm ist und die Schmerzen zu groß, dann haben Rit Zien die Möglichkeit, die Existenz eines jeden Engels auf schmerzfreie und schnelle Art zu beenden“, erklärte Cas weiter.   Die Frage nach dem Wie erübrigte sich mit einem Blick auf Wände, Decke und Fußboden.   „Alles klar, verstehe“, sagte Dean, sich rückblickend für seine Provokationen gegenüber dem fremden Engel in den Hintern beißend. Die Geschichte hätte ganz eindeutig auch anders ausgehen können.   „Und wieso jetzt dieses große Interesse an Menschen? Sind doch genug Engel auf der Erde, im Moment. Abgesehen von Metatron und den Erzengeln im Käfig ist eigentlich gerade jeder verfluchte Engel hier, oder? Und gut geht es denen wahrscheinlich auch nicht gerade ... Nach dem Fall und allem.“   Er erinnerte sich unschwer daran, wie geschwächt Ezekiel so kurz nach seinem Fall gewesen war. Hatte nicht gerade das, dieser Zustand, ihm (und Sam) die ganze Misere mit Cas eingebracht? Verfluchter Metatron. Wieso hatte Cas diesem Dreckskerl vertraut?   Cas sah bei Deans Worten aus, als hätte er das erste Mal im Leben eine Zitrone gekostet. Was ihm vermutlich tatsächlich noch bevorstand – aber den passenden Gesichtsausdruck hätte er bis dahin dann zumindest schon parat. So viel Mimik, so viel Menschlichkeit.   „Das mag sein, aber der Schmerz von Engeln ist ein anderer als der von Menschen. Außerdem gibt es weitaus mehr Menschen als Engel. Menschsein ist so ... ungewiss, Dean. Es gibt so viele Arten von Schmerz, das alles ist so ... verwirrend. Es gibt so viele Gefühle und es ist schwer zuzuordnen, woher sie alle kommen und mit ihnen umzugehen, ist überwältigend. Ein Rit Zien spürt jede Art von Leid und es ist ihm ein Bedürfnis, darauf zu reagieren. Dass er ein so großes Interesse an dir hatte, ist nicht gut, Dean. Du siehst ja, was mit dem kranken Mann passiert ist.“   Dean wusste, dass es ihm, auch über die geheilten Leibesschmerzen hinaus, nun – beschissen ging. Er wäre nicht auf die Idee gekommen, das zu hinterfragen, aber wenige Stunden Schlaf, Alpträume, eine Tagesfahrt in Sorge, Sorge um Cas, Sorge um Sammy, die Angst, Cas für immer zu verlieren, Ungewissheit Verwirrung, Zweifel, erdrückende Schuld ... Nein. Sein Leben war im Moment kein Sonntagsspaziergang. Aber das alles als ‚Leid‘ zu bezeichnen, erschien ihm seltsam abgedroschen, unangemessen sogar.   Okay, also wollte Blondie dich in pinke Suppe verwandeln, weil er findet, mit dem Gejammer gehörst du auf direktem Weg ins Hotel California.    Klasse.   „Der Kerl war aber auch ganz schön begeistert von dir“, versuchte Dean von sich abzulenken und erinnerte sich daran, dass der Rit Zien Cas tatsächlich eindeutig spannender gefunden zu haben schien, nachdem es für einen Moment lang so ausgesehen hatte, als könne er sich nicht recht entscheiden, wem von ihnen beiden mehr Begeisterung galt. Und dann war der Obdachlose dazwischen gekommen.   Cas' Gesicht wurde blank. Ein neutraler, distanzierter Ausdruck, als hätte jemand überraschend laut und abrupt eine Tür zugeschlagen, die zuvor nur einen winzigen Spalt breit geöffnet gewesen war.   Wusste doch, der Engel in ihm ist noch da.   „Er hatte wahrscheinlich so viel Interesse an mir, weil er mich erkannt hat“, sagte Cas vorsichtig, aber sah Dean dabei nicht an. „Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich vermute, dass mein wahres Gesicht für andere Engel durch die Hülle noch sichtbar ist. Auch, wenn darüber hinaus nichts mehr von mir da ist ...“   „Bullshit, Cas“, unterbrach ihn Dean augenblicklich und wurde fast wütend.   „Ich bin kein Engel mehr, Dean. Ich habe das akzeptiert. Du solltest das auch tun.“   Die Worte trafen seltsam tief. In Deans Augen würde Cas immer ein Engel sein.   „Du bist immer noch du! Das ändert sich auch nicht, niemals!“   „Dean ...“   „Nein, Cas!“   Cas konnte nicht ernsthaft so empfinden! Sicher, er mochte Zweifel gehabt haben, über seinen Auftrag, seinen Stand im Himmel und auf Erden, Zweifel über viele Dinge – aber doch nie in diesem Ausmaße an sich selbst! Gefühle dieser Art waren Dean nur allzu vertraut, aber herauszufinden, dass sie auch Cas plagten, sobald er nur ein paar Tage lang Menschlichkeit geatmet hatte, war beängstigend, nahezu verstörend. Es war die eine Sache, sich damit auseinander zu setzen, dass Cas einsam und mit einem Mal hilflos war, nichts zu Essen, keinen Platz zum Schlafen hatte, dringend Unterstützung brauchte. Dass Dean ihn mit seiner Kopflosigkeit ernsthaft verletzt hatte. Dass Cas plötzlich darauf angewiesen war, einen Lebensunterhalt zu bestreiten, wie ein ganz normaler Mensch. Etwas gänzlich anderes war es, zu begreifen, dass Cas emotional so sehr litt, dass ein Artgenosse in Erwägung zog, ihn durch Mord von seinem Elend zu erlösen.   „Es ist schon gut, Dean. Es geht mir gut.“   Dean war sich ziemlich sicher, dass die Dreistigkeit dieser Lüge selbst Crowley vor Neid hätte erblassen lassen.   Willkommen in der Familie, Castiel Winchester.   Die Familie, in der ‚Es geht mir gut!‘ gleichbedeutend war mit ‚Ich existiere immer noch!‘.   „Wäre es sinnvoll, die Polizei zu informieren?“, fragte Cas plötzlich und deutete auf die pinke Schmiere.   Dean ging der Themenwechsel gehörig gegen den Strich. Nicht, dass er sich darum riss, über Cas' (oder über irgendjemandes) Gefühle zu sprechen, aber eine Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, dass eine einmalige Ausnahme vielleicht nicht schaden könnte, vielleicht jetzt sogar wichtig war.   Besteh‘ drauf, dass er sagt, wie es ihm geht!   Cas' Blick war so durchdringend, dass Dean klein bei gab.   „Ich denke nicht, Cas.“   Loser! Er richtete seine Aufmerksamkeit widerwillig auf die neue Raumgestaltung.   „Angehörige wird der Typ sowieso nicht gehabt haben. War ganz gut, dass du das ‚Reinigen‘-Schild vor die Tür gestellt hast. Wir müssen das hier sauber kriegen. Und vor allem dafür sorgen, dass diese Think-Pink-Nummer von Dr. SM aufhört.“   „Du hilfst mir, das hier sauberzumachen?“, fragte Cas ungläubig. Dean unterdrückte eisern den Widerwillen und Ekel, die sich in seine Züge stehlen wollten.   „Klar, das gehört zum Job“, meinte er abwinkend.   Solange du so drauf bist, lass ich dich eh nicht mehr aus den Augen, Cas!   „Dem Job als Jäger?“   „Nein – ja. Das auch. Und als ... als Freund, und so.“   Es wurde mit einem Mal so still auf der Toilette, dass man den Straßenlärm durch das geschlossene Fenster hören konnte. Dean verspürte das heftige Verlangen, den Kopf gegen die Wand zu schlagen.   Das war's jetzt. Du hast's verbockt. Wie blöd bist du eigentlich?!   Cas neigte den Kopf gen Schulter. Der Anblick war wunderbar heilsam, nachdem er diese Geste zuletzt bei dem Amok laufenden Rit Zien gesehen hatte.   „Sind wir das? Freunde?“, fragte Cas so vorsichtig, als müsse er das Wort neu kosten.   Das ist … Okay. Er reagiert gar nicht mal so übel?   Dean fühlte seine Wangen erneut brennen. Cas anzusehen, wurde wieder seltsam ungemütlich.   „Hoff' ich doch mal“, murmelte er halblaut.   „Ja, Dean. W-wenn du es sagst ... Dann sind wir das wohl. Freunde.“ Wieder klang es so, als hätte er das Wort seit einer halben Ewigkeit nicht benutzt und müsse sich erst wieder daran gewöhnen, es in seinen Wortschatz aufzunehmen.   Sag was Nettes. Verflucht, sag was Nettes! Er braucht das jetzt …    Wenn du das … ‚Ding‘ zwischen euch retten willst, SAG WAS!   „Mein … mein bester Freund, eigentlich.“   Totenstille. Noch drückender, eindringlicher als das Schweigen vor einer halben Minute. Fast so, als hätten Deans Worte selbst der Welt den Ton abgedreht.   Er schielte vorsichtig zu Cas hinüber, der ihn, mit noch immer geneigtem Kopf und verräterisch schimmernden Augen, von der Seite her ansah. In seinem Gesichtsausdruck lag erstaunlich viel, das meiste davon rätselhaft für Dean, doch Ablehnung, Hohn oder Spott konnte er nicht darin entdecken.   „Man lässt Freunde die Drecksarbeit nicht alleine machen. Und ... wenn man sie hängen lassen hat, dann erst recht nicht“, fügte Dean schnell hinzu, bevor ihn der Mut verließ.   O-okay. So langsam wird‘s. Jetzt … solltest du dich vielleicht entschuldigen?   Dean holte tief Luft.   Sag, dass es dir leid tut.    Er hielt den Atem an.   Sag es.    Sag, es tut dir leid.   Tut mir leid, Cas.   Sag es!    Du weißt nicht, wie extrem ich bereue ...   SAG ES!   Er atmete aus.   Wenn ich's sage, wird es real. Dann kann er die Entschuldigung ablehnen und ... was mache ich dann? Der Moment war vorüber. Verspielte Gelegenheit.   Dean Winchester, du bist so ein Versager.   „Ich verstehe deine Beweggründe bei den Dingen, die du tust, oft nicht“, sagte Cas plötzlich in die entsetzliche, erdrückende Stille hinein. „Aber ich bin sicher, du tust nichts ohne gute Absicht. Habe ich recht?“   Ich bin enttäuscht von dir, Dean.   Dad. Cas war nicht Dad. Er war auch nicht wie Dad. Dafür war Dean wie Dad?   Dean brachte ein Nicken zustande. Ein klägliches, schwaches Nicken.   Ich auch, Sir.   Cas seufzte. Er wirkte plötzlich unvorstellbar müde.   „Du wartest am besten hier. Ich hole alles, was wir zum Putzen brauchen. Danach können wir in den Zeitungen, die im Laden verkauft werden, nachschauen, ob der Rit Zien schon andere Menschen ‚von ihrem Leid erlöst‘ hat. Am besten auch im Internet. Und vielleicht hören wir uns zusätzlich bei den Kunden um. Vielleicht übernimmst du das mit dem Internet und den Kunden, dann tue ich so, als würde ich Zeitungen sortieren, damit Nora nichts merkt.“   Verschiedene Dinge gingen Dean nach dieser Anweisung durch den Kopf.   Erstens: Cas klang wie ein Jäger, sachlich, professionell, ein bisschen wie Sam, wenn es darum ging, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren und Informationen zu beschaffen. Außerdem war es, für seine pflichtbewussten Verhältnisse, ziemlich durchtrieben, jemanden in der Position eines Vorgesetzten so sehr an der Nase herumzuführen. Dean konnte nicht anders, er war mit einem Mal unsagbar stolz auf Cas.   Zweitens: Cas klang zwar müde, aber eine Strategie zu haben, schien ihm genug Selbstsicherheit zu geben, dass er beinahe so etwas wie Autorität ausstrahlte. Einmal mehr war Dean überzeugt davon, dass von dem mächtigen, überirdischen Wesen, das unter Funkenschauern und Sturmgeheul selbstsicher in einer Scheune auf ihn zutrat, noch etwas übrig geblieben war. Dean konnte nichts dagegen tun, dass er eine Gänsehaut bekam. Er mochte Cas nicht nur, er war fasziniert von ihm. Und er bewies, dass Dean recht gehabt hatte – Cas war und blieb er selbst, egal, ob mit oder ohne Mojo.   Und drittens, und das war vielleicht am allerwichtigsten: Cas klang, als hätte er überwunden, was Dean ihm angetan hatte.   Sollte ihre Freundschaft damit bereits gerettet sein? So einfach? Cas hatte schließlich nicht widersprochen, als Dean sich als seinen ‚besten Freund‘ bezeichnet hatte.   Doch die zu erwartende Erleichterung blieb aus und die Schuld nagte weiter. Es fühlte sich an, als hätte Cas soeben seinen ersten Schritt in die richtige Richtung getan, direkt auf Dean zu, der sich ihm seit einem Tag zu nähern versuchte. Bisher war Cas noch vor ihm zurückgewichen, und nun war es Dean, der nach einem 900 Meilen weiten Satz nach vorn wieder 450 davon zurückgesprungen war.   „Okay, Cas. Du holst das Putzzeug. Ich ruf‘ in der Zeit Sam an. Mal sehen, was er noch ‘rauskriegt.“     *     Es tutete fünfmal, bevor Sam abhob.   „Hey, Mann!“   „Heya, Sammy.“   Sam sagte nicht sofort etwas. Es war fast unheimlich. Als schien er zu ahnen, dass Dean sich nicht mit guten Nachrichten bei ihm meldete.   Willkommen bei Dr. Samuel Freud und seinen gruseligen Psycho-Kräften.   „Was gibt's, Dean?“, fragte er schließlich. Und setzte dann, noch ein wenig forscher, hinzu: „Was Neues von Cas?“   Als würd‘ er direkt erwarten, dass ich‘s nur verbocken kann.    Was anderes ist von dir ja auch nicht zu erwarten, Dean.   „Ehrlich gesagt, ja. Wir haben 'nen Fall.“   Sam lachte mitfühlend auf. Natürlich, als Winchester brauchte man das Übernatürliche nicht zu suchen (außer, es hieß ‚Castiel‘). Es fand einen meistens schon ganz von selbst.   „Was? Was ist passiert? Geht es Cas gut? Wo seid ihr?“   Er verdrehte die Augen, tat, als könnte Sammy sehen, dass Dean so tun musste, als ob ihn dessen Sorge tierisch nerven würde. Und sich nicht verdammt tröstlich anfühlte.   Vergiss nicht, wer auf wen von euch beiden aufpasst! Er ist DEIN kleiner Bruder, nicht andersrum.   „Cas ist okay. Er hat wirklich 'nen Job an der Tanke. Aber das Thema hat Zeit. Hast du schon mal was von Rit Zien gehört?“   „Nein. Wie schreibt man das?“   „Gott, Sam, keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Jedenfalls sind das Engel, irgend so ‘ne besondere Art, und sie machen Ärger.“   „Wie sieht der aus?“   „Beliebig Menschen in Fleischsuppe verwandeln, denen was zwickt. Pinker Scheiß, Explosion. Du leidest, sie wollen dich ‚erlösen‘ und zack. Irgendwas auf dem Radar gehabt, davon?“   „Ugh. Pinke Explosionen? Nein, bisher nicht. Ich suche!“   „Danke. Und … Sammy?“   „Ja?“   „… was weißt du über … Gallensteine?“   Sam zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor er bereitwillig in den Lexikonmodus fuhr und sein Wissen mit Dean teilte. „Die bestehen aus kristallisierter Gallenflüssigkeit, die die Gallenblase blockieren können. Führt zu Gallenkoliken und die zu Entzündungen, was extrem wehtun soll. Ist wohl Veranlagung, man kann sie aber auch durch Stress bekommen. Ein … Kommilitone in Stanford hatte das mal in der ersten Prüfungsphase. Wieso fragst du?“   „Nur so, du Nerd. Hat vorhin jemand erwähnt.“   „Du weißt schon, dass du mich nicht anlügen kannst, Dean, oder? Nicht mal übers Telefon.“   „Kann‘s aber immer noch versuchen, Sammy.“   „Idiot.“   „Miststück.“   „Grüß‘ Cas und haltet mich auf dem Laufenden über den Fall! Melde dich heute noch mal. Und wenn ihr Hilfe braucht …!“   „Wir kommen klar. Alles gut.“   Das Winchester ‚Gut‘, eben. Frank Devereaux wäre mit Sicherheit stolz auf Dean gewesen.     *   Dean hatte in seinem Leben schon verwesende Körper seziert und Wasserleichen untersucht. Hatte Kontakt mit aller Art Körperflüssigkeiten von Menschen und Monstern, von Lebenden und Toten gehabt. Die Herrentoilette zu reinigen, war auf einer gänzlich neuen Ebene verstörend und ekelhaft. Die Substanz sah auf den ersten Blick unbedenklich aus, wurde an den trockensten Stellen allmählich rostbraun, aber das Wissen, um was es sich handelte, in Verbindung mit dem eigentümlichen Gestank nach Innereien, machte die Sache nicht unbedingt einfach.   Cas half ihm, so gut es ging, nachdem er den Abfluss der Damentoilette endlich erfolgreich von der Verstopfung befreit hatte. Damit Nora nichts merkte, musste er sich immer wieder im Verkaufsraum blicken lassen und er nutzte die Zeit, um in den Tageszeitungen nach Hinweisen auf den Rit Zien Ausschau zu halten. Wider Erwarten blieb die Suche erfolglos.   „Kein Pink in Idaho“, hieß es auch in einer SMS von Sam, die bald darauf eintrudelte, „Recherche Rit Zien läuft. Buch über Engelsarten in der Bibliothek ist großartig!!!“   Dean verdrehte die Augen über die vielen Ausrufezeichen und war froh, dass er wenigstens Sam auf so einfache Art glücklich machen konnte.   Mit aufmerksamkeitsheischendem Vibrieren traf eine weitere SMS von Sam ein. „P.S. Benutz richtige Worte, Dean. Sag Cas die Wahrheit!“   Noch mehr Augenverdrehen, einfach aus Prinzip. Welche Wahrheit sollte er Cas sagen? Dass es ihm Leid tat? Aber das wusste Cas doch inzwischen längst?   Weiß er das?, dachte Dean und drückte mit behandschuhten Fingern den Putzlappen, aus dem pinkes Seifenwasser quoll, über dem Eimer aus.   Nein, ‚richtige Worte‘ hatte Dean tatsächlich nicht benutzt. Dabei waren in ihrem Gespräch von vorhin schon zu viele Gefühlsduseleien gefallen, die scharf an Deans persönlichen Grenzen kratzten.   Dass Cas weder ein Sam, noch ein John war, dass er irgendwie in die Kategorie ‚bester Freund‘ passte, dessen war sich Dean mit einem Mal sehr bewusst. Aber ihm ging auf, dass da vermutlich noch etwas anderes sein musste. Dass es mit der Definition allein zwischen ihnen nicht getan war. Vielleicht war es manchmal in Ordnung, auf kleine Brüder zu hören?   Richtige Worte. Die musste man ja auch erst einmal finden. John Winchester wäre mit Sicherheit enttäuscht von Dean gewesen.   *​ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)