Der längste Weg nach Hause von Platypusaurus (It's never too late) ================================================================================ Kapitel 1: Viele Grüße aus Yellowstone! --------------------------------------- Upon your wall hangs your degree Your parents craved so much for you And though you're trained to make your mark You still don't quite know what to do   *     Rexford, Idaho. Eine verschlafene Kleinstadt in der Nähe des Yellowstone National Parks. Dean konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein und nach allem, was er auf seiner Fahrt durch die nächtlichen Straßen zu sehen bekam, hatte er damit auch nichts Großartiges verpasst. Vor nicht allzu langer Zeit schien es über dem Städtchen geregnet zu haben. Ein feuchter Schimmer lag über dem rauen Asphalt und spiegelte das Scheinwerferlicht des Impalas wider, als er an einer Kreuzung abbog. Wie hatte es Cas nur hierher verschlagen? Und, noch eine viel spannendere Frage: Wie war er allein so weit gekommen, ohne Auto, ohne himmlische Kräfte, ohne menschliche Unterstützung?   Das flaue Gefühl in Deans Magengegend hatte sich seit der kurzen Rast in Rawlins nicht gebessert. Im Gegenteil, es war zu einem beharrlichen Stechen geworden, das ihn beim Fahren halb gekrümmt über dem Steuer hängen ließ. Darüber hinaus ignorierte er sein Unbehagen. Die Schmerzmittel liefen ihm nicht davon und er war deutlich Schlimmeres gewohnt als ein kleines Ziepen.   Zu Hause, in Lebanon, hatte Dean Cas‘ Smartphone getrackt, um seinen genauen Aufenthaltsort ausfindig zu machen und bald herausgefunden, dass er sich wohl in der Nähe eines Gas-n-Sip aufhielt. Und tatsächlich bewegte sich der Pixel namens Cas erstaunlich selten vom Fleck, als hätte er dort Wurzeln geschlagen. Um ehrlich zu sein, bewegte er sich überhaupt nicht, schien in der Tankstelle zu verweilen, wie jemand, der dort eindeutig nicht als Kunde verweilte.   Sieht so aus, als hätte Cas einen Job.   Natürlich, Dean hätte Cas einfach anrufen können, um ihn zu fragen, wo er untergekommen war. Schließlich waren sie immer noch Freunde, beste Freunde. Oder nicht?   Sind Cas und ich beste Freunde?, dachte Dean, als er das Auto in eine Seitenstraße in der Nähe der Tankstelle lenkte.   Vermutlich nicht, denn seinen besten Freund anzurufen, sollte eigentlich nicht zu den Dingen zählen, die einen an sich selbst scheitern ließen. Ihn obdachlos vor die Tür zu setzen, dafür umso mehr.   Also keine besten Freunde. Aber … was dann, was sind wir dann?   Ja. Was dann? Es war so unwahrscheinlich viel zwischen ihnen vorgefallen.   Dean parkte am Straßenrand und griff nach seinem Telefon. Das Aufleuchten des Displays erhellte das Innere des Wagens nur spärlich und doch stach es in den Augen, nachdem sie sich den letzten Teil der Strecke auf die Fahrt bei Nacht konzentriert hatten. Dean blinzelte und warf einen langen Blick auf die Markierung der digitalen Karte. Während der ganzen Fahrt hatte er die Position des Punktes immer wieder kontrolliert. Cas schien das Gas-n-Sip nicht verlassen zu haben, nicht ein einziges Mal seit heute Morgen, seit Dean vom Bunker aus aufgebrochen war. Irgendwie seltsam. Kein Mensch arbeitete so lange.   Vielleicht macht er Doppelschichten?   Aber warum hatte Cas das überhaupt nötig?   Ein Job an der Tanke ist so dermaßen unter seiner Würde – er ist ein Engel, Gottverdammt!   Und, noch viel entscheidender:   Er ist Cas! Wenn Cas kein Engel mehr ist, ist er … ein Jäger! Mindestens!   Nicht, dass Jäger nicht arbeiteten. Aber sie waren eben etwas Besonderes, opferten einen Großteil ihres Lebens für eine größere Sache. In diesen Lebensstil passte kein Job hinein, der einen Menschen so unbeschreiblich … normal wirken ließ. So normal und – sterblich.   Er sollte nicht arbeiten, als ob er wie jeder andere darauf angewiesen wäre!   Cas ist NICHT wie jeder andere!   Cas ist nicht …   Cas ist ...   Was auch immer.   Was auch immer. Dean hatte einige Tage (Und Nächte, vor allem Nächte!) lang Zeit gehabt, um sich darüber Gedanken zu machen, dass Cas den Bunker verlassen hatte, ohne eine der falschen Kreditkarten anzunehmen, ohne Bargeld. Natürlich hatte er einen anderen Weg finden müssen, um flüssig zu werden. Wenn er es genau bedachte, war Cas nicht der Typ dafür, der stahl oder betrog. Nun ja, er hinterging seine Freunde höchstens, wenn er seine Motive für ehrenhaft genug hielt, das musste man ihm schon lassen. Zumindest eine Gemeinsamkeit zwischen Cas und ihm. Dean schnaubte ob dieses Gedankens in die dämmrigen Stille seines Wagens hinein. Es klang viel zu laut. Wann war er eigentlich das letzte Mal allein eine so lange Strecke gefahren?   Er schloss die laufenden Apps auf dem Smartphone; den restlichen Weg zu Cas würde er allein finden und nein, dafür brauchte er kein gottverdammtes GPS! Er fand Cas schließlich immer. Oder Cas ihn. Sein Finger schwebte kurz unentschlossen über dem beleuchteten Display, bevor er sich ein Herz fasste und die Kontakte im Menü aufrief. Mit der freien Hand trommelte er auf dem Lenkrad herum, während er sich das tutende Smartphone ans Ohr hielt. Sam hob nach dem zweiten Klingeln ab.   „Ja? Dean?“   Sam klang unbestreitbar besorgt, das hörte er schon an den zwei Silben durchs Telefon.   „Ja, ich bin‘s“, antwortete er etwas schroff. „Ich bin jetzt in Rexford. Was Neues an der Übersetzungs-Front?“   „Noch nicht. Kevin sieht aus, als ob ihm der Kopf raucht“, sagte Sam mit leisem Lachen und fügte dann, sehr viel behutsamer, hinzu: „Und bei dir, was Neues von Cas?“ Sein Tonfall klang, als würde er ein Kind davon überzeugen wollen, besonders übel schmeckende Medizin zu schlucken. So behutsam.   „Nope. Ich hab den Laden gefunden, in dem wir ihn lokalisiert haben, aber ich war noch nicht drin.“   In dem darauf folgenden Schweigen lag die stumme Bekenntnis, dass Dean möglicherweise angerufen hatte, weil er nicht wusste, wie er Cas gegenüber treten sollte. Sam, der das natürlich durchschaut hatte, seufzte leise.   „Dean, bring es einfach hinter dich. Ich weiß, du hast es gut gemeint, und dass du deine Gründe hattest und das versteht Cas sicher auch. Er hat auch schon oft Dinge getan, die uns verletzt haben, weil er sie für den besten Weg gehalten hat ...“   Sie wussten beide, dass das nur die halbe Wahrheit war, dass Sam nur so tat, als könnte er nachvollziehen, warum Dean Cas die Zuflucht bei ihnen verwehrt hatte. Tatsächlich war Sams erste Reaktion ob dieser Neuigkeit vollkommene Verständnislosigkeit gewesen. Was natürlich dazu geführt hatte, dass Dean dicht machte und auf stur schaltete. Seine Dickköpfigkeit hatte nicht nur verhindert, dass er Sam eine angemessene Erklärung für sein Handeln liefern konnte, nein, sie sorgte auch dafür, dass er in dem Moment gar nicht begriffen hatte, welche Konsequenzen sich nun für Cas und ihn selbst ergaben. Sams Fragen und seine Kritik an prallten ihm ab, bis ein handfester Streit vom Zaun gebrochen war.   Die einzige Erklärung, die Dean zu geben bereit war, war schwach; nämlich dass sie keine Engel in der Nähe der Engels-Tafel gebrauchen konnten. Was Sam alarmierenderweise so auffasste, als sei damit auch Cas gemeint.   Cas hat verstanden, dass es darum geht, nur keine anderen Engel anzulocken.Und dass ich damit nicht meinte, ich würde ihm nicht genug vertrauen, um ihn in der Nähe zu haben …   Wenn jemand irrationale Handlungen zugunsten des größeren Wohls begriff und dafür Verständnis hatte, dann wohl Castiel. Sam war es da offensichtlich anders ergangen, denn er hatte es gewagt, seinen Verdacht auszusprechen, ob Dean Cas von der Tafel fernhalten wolle, weil er ihn – selbst in seiner neuen menschlichen Form – für eine Gefahr hielt. Für einen Verräter. Nach dieser Frage hatte es kurzzeitig so ausgesehen, als wollte Dean ihm ins Gesicht schlagen. Was er nicht getan hatte. Dass es dafür aber nicht mehr an viel gefehlt hatte, zählte ebenfalls zu den Dingen, die sie zwar beide wussten, aber in stillschweigender Übereinkunft ruhen ließen.   Merkwürdigerweise hatte sich Ezekiel die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten – und irgendwann kam Kevin hinzu, angelockt durch die Lautstärke des Streites, was logischerweise dafür sorgte, dass Ezekiel erst recht nichts zur Diskussion mit Dean beitrug. Ein Glück. Dean war so wütend, dass er den Deal mit dem Engel möglicherweise gefährdet hätte. Aber Sams Augen behielten ihr vertrautes Braun-Grün und er (und Ezekiel) und ein ziemlich eingeschüchterter Kevin ließen Dean toben und schließlich Türen knallend in sein Zimmer ziehen. Das war der Moment gewesen, in dem bei Dean die Erkenntnis eingeschlagen hatte, wie eine Bombe. Die Erkenntnis, dass Cas fort war.   Wenn ich ihn wegschicken kann und er sich von mir wegschicken lässt, was bedeutet das dann?   … keine besten Freunde.   Schließlich ging es nicht darum, Cas aus dem Raum zu schicken, weil er sich nicht an Deans persönlichen Freiraum hielt. Schließlich war Cas nicht verschwunden, weil der vermaledeite Himmel nach seiner Anwesenheit verlangte. Möglicherweise würde dieser Fall auf ewig der Vergangenheit angehören und Cas säße für immer als Mensch auf der Erde fest.   Das war es, dieser eine Gedanke, der die ganze Angelegenheit so lächerlich, irrational schmerzhaft werden ließ: Gab es denn nichts, was sie zusammenhielt? Dean sagte nur ein einziges Mal „Du musst gehen!“ – und Cas ging einfach, ohne es zu hinterfragen? Ohne wieder zurückzukommen? Mit Sam funktionierte das so gänzlich anders, Sam war wie ein Bumerang: Egal, was war, er kam verlässlich immer wieder zu Dean zurück.   Und Familie waren sie beide, Sam und Cas. Wieso funktionierte Familie nicht einheitlich? War Cas eher eine Dad-Person, weniger ein Bruder? Eher ein John Winchester, dessen Rückkehr ins Leben seiner Familie immer ungewiss blieb, bis er schließlich aufhörte zu existieren?   „Ich schaff‘ das schon, Sam“, sagte Dean und legte Wert darauf, wie der genervte große Bruder zu klingen. Sie wussten beide, dass er nicht gut mit Worten umgehen konnte. Sie wussten beide, dass er es hasste, das zuzugeben.   Nein, Cas war kein John und auch kein Sam.   „Wie auch immer – ich bin da, ich hab‘s gefunden, alles läuft hervorragend!“   Es war überlebenswichtig, dass sie einander über solche Dinge informierten, wenn sie getrennt waren:   ‚Ich bin wie geplant am Ziel angekommen, keine aktue Gefahr, du brauchst deine verkrüppelte Seele nicht gegen mein Leben einzutauschen, Bitch.‘   – ‚Ich freu mich auch, dass du noch lebst, Idiot.‘   Über das stumme Eingeständnis von Deans Hilflosigkeit und seinem unaussprechlichen Wunsch nach brüderlichem Trost hinaus, bedeutete der Anruf diese schlichte Absicherung. Sam wusste das – zum Glück – und verzichtete darauf, ein tatsächliches Gespräch über Deans Gefühle beginnen zu wollen. Trotzdem war es nicht das einzige, was unausgesprochen zwischen ihnen in der Leitung schwebte. Weiter als mit solchen und ähnlichen Worten würden sie sich einem‚Ich hab dich lieb!‘ niemals nähern.   „Hervorragend, mhm“, kam es bloß ein bisschen spitz zurück, aber Dean spürte, dass er nach der langen Fahrt und dem Streit von vor ein paar Tagen etwas mehr Narrenfreiheit hatte als sonst. Sam ließ ihn wahrhaftig in Ruhe.   „Bist du jetzt in der Nähe der Tankstelle? Zwei Blocks weiter ist ein Motel.“   Du sorgst so gut für mich, Schatz, wollte Dean witzeln, aber der Spruch blieb ihm im Halse stecken, noch bevor er den Mund aufgemacht hatte. Ihm ging auf, dass er für Cas nicht einmal halb so viel getan hatte; er hatte sich nicht darum gesorgt, wo der Engel die erste Nacht nach dem Rauswurf verbringen würde. Dean musste schlucken, aber als er antwortete, war seine Stimme nur ein kleines bisschen rau.   „Danke, Sammy“, sagte er und beendete den Anruf mit dem Versprechen, sich am nächsten Tag schnellstmöglich wieder zu melden.   Dean straffte die Schultern und setzte sich gerade hin. Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und holte tief Luft, atmete bewusst in den lästigen Schmerz in seiner Körpermitte, wie um zu testen, ob er ihn provozieren konnte. Er konnte. Das flaue Gefühl in der Brust wurde schlimmer. Dean verzog das Gesicht, bevor er diese, wie auch alle anderen körperlichen und emotionalen Unannehmlichkeiten seines Lebens ignorierte, und aus dem Wagen stieg.   Feucht-kalte Abendluft schlug ihm entgegen und er schlug fröstelnd den Kragen hoch. Er verriegelte die Fahrertür, schob die Faust mit dem Autoschlüssel in die Tasche und vergrub auch die andere Hand auf der Suche nach etwas Wärme in seiner Jacke. Die ganze Angelegenheit konnte nur unangenehmer werden.   Bringen wir‘s hinter uns, Cas.   Nein, er sah nicht die ganze Zeit über auf die Uhr, aber er brauchte genau viereinhalb Minuten von seinem Auto bis zur Auffahrt des Gas-n-Sip. Es war völliger Zufall, dass ihm das auffiel. Das fortlaufende Ticken des Sekundenzeigers war es schließlich nicht, das ihm Mut einflüsterte oder Dean seinem Ziel näher brachte. Er blieb in Höhe der Tanksäule, die am weitesten entfernt vom Gebäude aus dem Boden ragte, stehen und starrte unentschlossen hinüber. Das Innere des Ladens war hell erleuchtet und obwohl es bereits nach neun Uhr am Abend war, herrschte reger Betrieb zwischen den Regalreihen.   Ziemlich ungewöhnlich für so ein Kaff.   Ein hässlicher alter VW Lupus und ein nagelneuer Alfa Romeo parkten hintereinander an den Zapfsäulen und gaben Dean die Möglichkeit, sich nicht unmittelbar durch die Glasscheibe zu erkennen zu geben. Allerdings konnte er Cas auf diese Distanz nirgends entdecken und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Gas-n-Sip weiter zu nähern. Mit lässigen, großen Schritten passierte er die übrigen Zapfsäulen und beide Autos und überbrückte die letzten zwanzig Schritte bis zur Eingangstür, wofür er, zugegeben, noch einmal vier Minuten brauchte. Schließlich fasst Dean sich ein Herz und betrat den Laden.   Drinnen war es hell und warm. Billige Plastikdekoration an den Wänden erinnerte Dean daran, dass Thanksgiving vor der Tür stand. Das hatte er vollkommen vergessen. Vermutlich war das der Grund für die vielen Menschen; Besorgungen der kleinen und großen Artwaren bereits seit Wochen in vollem Gange. Donnerstag in einer Woche war es soweit: Alles schrie wieder nach Dankbarkeit und Familie. Anscheinend war das genug Anlass für viel Durchreiseverkehr unter der Woche und für die Einheimischen ein Grund, ihre Alkoholvorräte und Thanksgiving-Dekorationen an einem regulären Mittwochabend aufzustocken. An einer Tankstelle. In der Cas arbeitete.   Der Schmerz in Deans Magengegend pochte wütend und Dean zuckte zusammen. Er schien etwas in die rechte Seite zu ziehen und er legte kurz die Hand über die Rippen. Nicht, dass das etwas half.   Reiß dich zusammen, Winchester!   Er wandte sich nach rechts, ging an dem Gang mit Ansichtskarten und Krimskrams vorbei und versuchte, sich einen Überblick über die Menschen im Laden zu verschaffen. Er kam nicht weit.   „Dean?“   Innerlich fuhr Dean erneut zusammen. Nach außen hin gelang es ihm, die Kontrolle über seine Gliedmaßen zu wahren, nicht vor Schreck herumzufuchteln, als er Castiels Stimme hinter sich hörte. Kontrolle, ja. Bloß die Augen hatte er kurz zugekniffen.   Eine Woche war es jetzt her, dass er diese Stimme gehört hatte, sieben Tage. Es konnte einem schon einen Schauer über den Rücken jagen, wenn sie plötzlich wieder mit einem sprach, vor allem so unerwartet. Dean gönnte sich zwei lange Sekunden, ihrer beider Überraschungsmoment voll auskostend, um seine Gesichtszüge wieder in den Griff zu kriegen. Nervosität, Unsicherheit, Scham, Panik – Gefühle – das alles hatte in seinem Gesicht nicht das Geringste verloren. Nicht, wenn er Cas ruhig und gefasst gegenüber treten wollte, um ihm zu helfen. Und ihn (Vielleicht!) um Verzeihung zu bitten.   Langsam drehte er sich herum; gleich würde er Cas vor sich sehen, gleich musste er sich zusammenreißen! Zusammenreißen, weil – Nun ja, er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass Cas so plötzlich hinter ihm auftauchte, nichts weiter.   Und weil du Mist gebaut hast. Aber kein Problem, kein Drama. Stell dich nicht so an!   Das neutrale Lächeln fühlte sich sicher auf seinen Lippen an, ja, geradezu professionell. Genau so sollte es sein! So und nicht anders sollte man einen Freund – seinen besten Freund – begrüßen.   Gesetzt des Falls, diese Definition traf überhaupt auf sie zu. Wie begrüßte man eigentlich einen vermutlich-hoffentlich-immer-noch-besten-Freund, den man vor einer Woche aufs Schlimmste im Stich gelassen hat? Und dem man nun gegenübersteht, weil man für ihn eine Tagesreise auf sich genommen hat, um ihn auf Knien um Verzeihung zu bitten?   Auf Knien?   Das kaum. Dean stand aufrecht, stolz und … mutig, ja, wie ein Mann, wie ein Jäger, so wie es sein sollte. Wenn da nur nicht diese grauenhaften Magenschmerzen und das fiese Stechen in der Brust wären, ginge es vielleicht noch etwas aufrechter.   Niemals auf Knien.   „Hi, Cas!“, presste er mit deutlich spürbarem Anflug von Röte hervor, als er dem menschlichen Engel gegenüber stand. Das Lächeln auf Deans Lippen erstarb, als er Cas‘ Gesicht sah. Es war ungewohnt blass und schmal. Nicht so ausgemergelt, wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen, aber besonders wohlgenährt und gesund wirkte er auch nicht. Dafür allerdings recht sauber und gepflegt. Vor allem für jemanden, der eine ganze Zeit auf der Straße gelebt hatte und keine Ahnung vom Leben als Mensch. Hatte Cas sich die Haare gekämmt? Roch er nach Aftershave? Dean widerstand dem Drang, tief einzuatmen und konzentrierte sich stattdessen verstärkt auf den Anblick vor sich.       Es sollte definitiv nicht so schwer fallen, in Castiels Gesicht zu sehen. Oder in seiner Nähe zu sein. Aber offenbar war Dean nicht der einzige, der mit sich kämpfte. Der Mund stand Cas offen, formte ein überraschtes „O“ und die tiefblauen Augen waren weit aufgerissen.   ‚Hallo, Dean‘, dachte Dean mit klopfendem Herzen und in der Erwartung von Cas‘ immer wiederkehrender Begrüßungsformel. Für einen winzigen Moment gab es ihm herrliche Sicherheit, die Zuversicht, dass manche Dinge sich einfach nie änderten.   Nicht mal zwischen uns. Wir kriegen das hin!   „Was machst du denn hier, Dean?“, fragte Cas. Keine Begrüßung.   Oh.   Dean blinzelte die Verunsicherung fort und kramte eilig wieder das Profi-Lächeln hervor. Schief, der eine Mundwinkel etwas höher als der andere, ein verschmitztes Zwinkern in den Augenwinkeln. Es war normalerweise die richtige Wahl, um eine Nummer zu landen, wenn er es darauf anlegte. Die meisten Menschen fanden ihn mit diesem Lächeln unwiderstehlich. Manche trieb es auch zur Weißglut. Cas war weder die meisten Menschen, noch war er manche. Cas stand einfach nur vor Dean und – schaute. Sein Blick war frei von jeglicher Wertung, nicht aber frei von Gefühlen. Dean konnte sie im Moment nicht zuordnen; normalerweise kannte er Cas‘ Mimik eher als minimalistisch und neutral. So viel Ausdruck darin war ungewohnt, fast ein bisschen überfordernd. War es irgendwie zu … nun ja … intim, so viel Teilhabe an den Emotionen eines Engels zu haben? War es verwerflich, so unverhohlen der Auslöser dafür zu sein? Dean unterdrückte die Versuchung, unsicher von einem Bein aufs andere zu treten. Das war schließlich überhaupt nicht sein Stil.   Cas schien seine Nervosität nicht aufzufallen. Dean musste dafür sorgen, dass das so blieb, musste schnell etwas finden, das ihm den Hintern rettete. Ablenken von der eigenen Schwäche. Üblicherweise tat ein Dean Winchester das mit Spott, einem lockeren Spruch auf der spitzen Zunge. Doch was bot sich dafür in dieser Situation an? Und wollte er Cas wirklich ein weiteres Mal zu seinem Opfer machen, nur, um vor ihm nicht blöd dazustehen? Dean musterte Cas. Er trug eine blaue Weste, ein hässliches Teil; Mitarbeiterkluft, mit einer Metallplakette über der Brust, die ihn als ‚Steve‘ auszeichnete.   Sein Profi-Lächeln für Wiedergutmachungs-Rettungen von vermutlich-fast-besten-Freunden wurde immer dünner. Es war so sehr unter Cas‘ Würde, unter seinem Niveau, dass er hier arbeitete. Und doch sah er gut dabei aus. Zwar nicht glücklich, nicht einmal zufrieden, nicht vor Gesundheit und Energie strotzend. Aber irritierenderweise auch nicht gänzlich fehl am Platz. Und er wirkte so, als würde er sich ins Zeug legen. Aber das tat Cas ja immer.Wo blieb da überhaupt noch Raum für ein paar rettende Sticheleien?   Cas‘ Blick wurde derweil immer durchdringender und schließlich ging Dean auf, dass er auf eine Antwort von ihm wartete. Was war noch gleich die Frage gewesen? Und was, zum Teufel, wollte Dean noch mal eigentlich hier?   „Ich – oh. Heh. War in der Gegend. Steve“, stammelte Dean mit einem lässigen Kopfnicken in Richtung des Namensschildes.   Krieg dich wieder ein, es war lässig!   Mehr als diese lässige Antwort war nicht nötig, um erneut sichtbare Gefühle auf Castiels Gesicht entstehen zu lassen. Der Anblick währte nur einen winzigen Moment, den Hauch einer Sekunde, ganz ähnlich wie zuvor. Unglücklicherweise war Dean immer noch nah genug dran, um das Wechselbad, das Cas zu durchleben schien, eindrucksvoll mitansehen zu können. Und diesmal konnte er es deuten. Enttäuschung, Trauer, eine Prise verletzter Stolz, vielleicht. All das huschte rasend schnell über Cas‘ vertraute Züge, aber in einer Intensität, die den Schmerz in Deans Eingeweiden höher trieb und ihm unangenehm die Kehle zuschnürte. Tatsächlich erschien Dean der Ausdruck in Cas‘ Gesicht wie ein schwaches Echo des Blickes, den er ihm geschenkt hatte, als er Cas gesagt hatte, er könne nicht im Bunker bleiben.   Hatte Cas gerade möglicherweise eine andere Antwort von Dean erwartet? Hätte Dean die Wahrheit sagen sollen? Schon direkt zu Anfang, einfach so? Dass er hier war, weil er sich sorgte, sich besser um seine Familie kümmern wollte?   Konzentrier‘ dich darauf, warum du hier bist und hör mit diesem Psycho-Scheiß auf, verdammt!, schalt er sich in Gedanken selbst.   „Ich verstehe“, sagte Cas nach einigem Zögern. Seine Stimme war ruhig, gefasst. Entsetzlich.   Wieso fühlte sich die ganze Sache auf einmal so verräterisch an, wieso, zum gottverdammten Teufel, erinnerte es Dean an das Gefühl, eine wichtige Beziehung in den Sand zu setzen, jemanden zu betrügen, ihn wider besseren Wissens abzuservieren?   Weil du genau das getan hast, du Genie!, meldete sich sein Hirn zurück und zeigte ihm eine bereits verblassende Erinnerung an Lisa und Ben. Der Familie, die er hintergangen hatte, indem er sie nicht um ihre Einwilligung bat, als er sich selbst aus ihrem Leben löschen ließ. Direkt danach blitzte der unbequeme Gedankengang von der Hinfahrt auf: Dass er mit dem Deal mit Ezekiel Hochverrat an Sam begangen hatte – Lebensretter hin oder her. Er konnte nicht umhin, Parallelen zu erkennen.   Beziehungen und Familie, oh ja. Deans große Stärken. Die kümmerlichen Überreste seines Lächelns fühlten sich inzwischen seltsam gequält an, waren anstrengend, zerrten an seiner Gesichtsmuskulatur, doch Cas zuliebe hielt er es aufrecht. Der jedoch nickte nur, wohl weil Dean nichts weiter sagte. Das Nicken wirkte nachdenklich, und … verständnisvoll? Der Ausdruck auf Cas‘ Gesicht war plötzlich wieder so neutral, wie Dean es sich für sich selbst gewünscht hätte. Schließlich drehte Cas sich um und ging in den Gang zurück, aus dem er gekommen war: Offenbar war er dabei gewesen, einen Metallständer mit Ansichtskarten aufzufüllen, bevor Dean ihn mit seinem Auftauchen bei der Arbeit unterbrochen hatte.   Dean stutzte. „Hey, Cas!“, rief er und rannte ihm den Gang entlang hinterher. Von hinten sah er Cas nervös den Kopf einziehen und sich hektisch nach ihm umdrehen.   „Pscht! Ich heiße Steve!“, ermahnte er in lautem, eindringlichen Flüsterton und musterte besorgt die Leute im Laden, die sich keinen Deut um ihn oder Dean scherten.   „Okay, okay. Steve.“ Er zog die Brauen hoch. Und die Schultern. Ihm war plötzlich kalt. Nicht so kalt wie vorhin draußen, aber beinahe. Cas war verletzt, okay. Das zu begreifen, war nicht schwer, das bekam selbst Dean hin. Schwieriger, weitaus schwieriger war es, die Ausmaße dessen zu erkennen – und zu ertragen.   „Ich muss mit dir reden“, brachte Dean gepresst hervor, ließ den Blick über die Postkarten schweifen, um Cas nicht ansehen zu müssen, nicht sofort, zumindest. Auf den Karten war fast ausschließlich der Yellowstone National Park abgebildet. Sonnige Aufnahmen vom Horizont oder aus der Vogelperspektive, die nichts, absolut gar nichts mit dem verregneten Novemberabend vor der Ladentür gemein hatten.   Es ist deine Schuld, Dean.   Steh dazu, Dean.   Sei ein Mann, Dean!   Die Stimme in seinem Kopf klang plötzlich verstörenderweise genau wie Dad. Der gleiche Tonfall.   „Pass auf deinen Bruder auf! Steh zu deinen Taten! Sei ein Mann!“   Ja, Sir …   Cas war definitiv kein John in seinem Leben. Aber was war er dann? Eine seit kurzem immer wiederkehrende Frage, mit der er einfach nicht weiterkam. Erinnerungen an Dad waren nicht hilfreich, wenn man eine Freundschaft retten wollte. Sie halfen höchstens, wenn man versuchte, Sammy das Leben zu retten. Das hatte er bereits getan.   Du hast es geschafft, Auftrag erfüllt, Sam geht‘s gut. Jetzt ist Cas dran. Kümmer dich um Cas!   Und dieser Gedanke schien ihn genug zurück in die Realität zu werfen, um sich ihr endlich und wahrhaftig zu stellen.   „Ich muss mit dir reden!“, wiederholte Dean entschlossen. Er sah Cas fest ins Gesicht, der plötzlich an seiner Stelle auswich.   „Ich arbeite, Dean“, murmelte Cas, ohne selbst von den Karten aufzublicken. Es klang nicht unfreundlich oder gar abweisend. Höchstens ein klein wenig müde.   „Es ist wichtig!“, beharrte Dean. „Wann hast du Feierabend?“   Cas sah nicht auf die Uhr. „Ich habe heute Spätschicht.“ Seine breiten Hände sortierten weiter Karten in die einzelnen Fächer des Ständers.   „Schön, okay. Wie lange geht die?“, hakte Dean nach.   Cas zögerte einen Moment; sein Blick huschte nun doch flüchtig zu Dean, stoppte aber kurz vor seinen Augen. Ebenfalls ungewohnt. Cas hatte noch nie seinen Blick gescheut, niemals. Ihr stummer Austausch war normalerweise eher zu intensiv. Oder nein, nicht zu intensiv. Einfach … intensiv. Vielmehr an Deans Lippen gewandt, antwortete Cas schließlich: „Das kommt darauf an. Es ist zurzeit sehr viel los. Am Wochenende beginnt der Thanksgiving Verkehr, weißt du!“   Er erklärte es in einem Tonfall, als habe Dean unter Umständen noch nie etwas von Thanksgiving gehört oder davon, dass das ein Anlass für viele Durchreisende an einer Tankstelle sein könnte.   Dean lachte leise, hörte aber augenblicklich damit auf, da Cas es offensichtlich als Grund nahm, den Blick wieder gänzlich von ihm abzuwenden. Seine großen blauen Augen schimmerten ungewohnt hell.   „Cas, pass auf, ich – es dauert nicht lange ...“   „Nicht hier, Dean, nicht jetzt. Meine Chefin ist hinten, ich kann mich jetzt nicht unterhalten!“   „Aber ich –“   „Wenn du nichts kaufen willst, muss ich dich bitten, zu gehen, Dean!“   Autsch.   Cas musste aufgegangen sein, dass seine Worte Dean plötzlich zum Schweigen gebracht hatten. Und das aus einem Grund, der Cas offenbar sehr bewusst war.   „Du kannst nicht hier bleiben.“   Deans eigene Worte von vor einer Woche hallten wie ein Echo durch seinen Kopf. Der Ausdruck in Cas‘ Augen war plötzlich voller Bedauern, nahezu mitfühlend.   „Wir unterhalten uns später, ja? Sieh mal, ich bin auf diese Arbeit angewiesen und ich mache sie gut. Ich mache sie gründlich. Aber ich bin unerfahren und … Ich darf mir keine Fehler erlauben.“   Also bin ich ein Fehler, ja?   Ein Fünkchen Wut flackerte in Dean auf, doch ihm war sehr bewusst, dass vielmehr die Verzweiflung aus diesem Gedanken sprach, Notwehr gegenüber unerklärlich verletzten Gefühlen, und er schaffte es zum Glück, den Mund zu halten. Ausnahmsweise.   „Schön“, sagte Dean betont leichthin. Er zog wahllos einen Stapel Postkarten aus Cas‘ Hand und wedelte ihm damit vor der Nase herum.   „Ich nehm‘ die. Wann können wir reden? Wo treffe ich dich?“   Cas starrte Dean eine Weile an, zwischen seinen Augen (Endlich sah er ihm wieder in die Augen!) und den Ansichtskarten in seiner Hand hin und her wechselnd.   „Aber … Bist du dir sicher, Dean? Du schreibst doch gar keine Postkarten?“, fragte Cas und neigte den Kopf zur Seite. Eine Sache, wenigstens das, das war geblieben. Eine vertraute Geste, für die Dean ihn am liebsten umarmt hätte. Fest. Fast.   „Klar schreib‘ ich welche – ich schreib‘ Kevin!“, behauptete Dean, wenig überzeugend.   „Aber sie sind nicht von hier. Das hier ist nicht der Yellowstone National Park.“ Cas wirkte verunsichert. „Das habe ich ohnehin nicht verstanden. Warum Menschen Postkarten von Yellowstone aus Rexford schicken. Das hier ist Rexford, Dean!“   Sein Kopf neigte sich noch um ein paar Grad weiter gen Schulter. Es erinnerte Dean unweigerlich an einen ratlosen Welpen und die Beschwerden in seiner Magengegend flatterten rastlos, doch glücklicherweise etwas weniger schmerzhaft als zuvor.   „Weiß Kevin, dass du hier bist? Würde er sich nicht betrogen vorkommen, wenn du ihm eine falsche Karte schickst?“ Cas schien ernsthaft darüber nachzudenken.   Dean stöhnte. „Cas, es ist egal, woher die Karten kommen und was drauf ist. Verkauf sie mir einfach und sag mir endlich, wann wir reden können?“   Cas wirkte wenig überzeugt von Deans Vorhaben.   „Du kaufst falsche Postkarten, um mit mir zu sprechen?“, fragte er schließlich.   Dean lachte freudlos. „Ich fahre 900 Meilen, um mit dir zu sprechen!“   Falls überhaupt möglich, sah Cas nach dieser Antwort noch irritierter aus. Dean konnte es nahezu hinter seiner in Falten gelegten Stirn rattern sehen. Schließlich nickte Cas zögernd und er hieß Dean, ihm zur Kasse zu folgen.   „Warum hast du denn nicht einfach angerufen?“, fragte er ernst, als er um den Tresen herum ging. „Warum hast du eben gesagt, du seist nur zufällig in der Gegend?“   Dean stutzte. Ja, warum eigentlich? Hatte er darüber nicht eben erst selbst nachgedacht? Konzentrier‘ dich!   „Ich ...“   Cas nahm ihm behutsam die Karten aus der Hand und sah sie durch. Betrachtete jeden Aufdruck einzeln mit beinahe so etwas wie liebevoller Aufmerksamkeit.   „Es fällt mir schwer, Dean“, sagte er leise und strich andächtig über eine der Karten. Ein Vogel war darauf abgebildet; eine seltsam aussehende Ente mit gebogenem blauem Schnabel. „Eine Schwarzkopfruderente“, sagte er beiläufig, als er etwas in die Kasse einzutippen begann.   Dean runzelte die Stirn. „Was fällt dir schwer?“   Cas seufzte und betrachtete die nächste Karte. Sie war deutlich größer und aus einem anderen Material als die übrigen. Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich so stark darin, dass Dean das Motiv auf der Karte nicht erkennen konnte.   „Die hier kostet drei Dollar und fünfzig“, sagte Cas. „Nimmst du sie trotzdem? Die anderen kosten einen Dollar und fünfundsechzig Cents.“   Dean verdrehte die Augen. „Ja, ich nehm‘ sie alle. Komm schon, Cas! Was wolltest du eben sagen?“ Cas tippte unbeirrt weiter Zahlen, schien sich mit der Antwort Zeit nehmen zu wollen. „Dann bekomme ich elf Dollar und fünfundsiebzig Cents von dir, Dean.“ Er zog ein kleines Papiertütchen unter dem Tresen hervor, gerade groß genug für alle Ansichtskarten, die er als Stapel darin verstaute. „Oder möchtest du Briefmarken dazu?“   „Nein, danke, Cas!“, sagte Dean mit Nachdruck und schob Cas einen Zwanziger hin. „Passt schon so! Aber jetzt spuck‘s schon aus, rede mit mir! Bitte!“   Wieder seufzte Cas. Er machte weder Anstalten, den Schein von Dean zu nehmen, noch gab er etwas in die Kasse ein.   „Weißt du, ich brauche dieses Gerät nicht, um zu wissen, wie viel du bezahlen musst oder wie viel Wechselgeld du bekommst“, begann er und Dean wollte ihn bereits unterbrechen. Ihn ungeduldig anfahren, um ihm zu sagen, dass er endlich zur Sache kommen sollte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er nur plötzlich das Gefühl, dass er zuhören sollte, dass es vielleicht wichtig war, was Cas zu sagen hatte. Immerhin redete der Engel endlich mit ihm.   „Ich muss eingeben, was ich verkaufe, für den Warenbestand. Das ist extrem wichtig, es gehört zu meinen Aufgaben und ich erfülle meine Aufgaben. Ich kenne meine Pflichten. Und ich weiß die Zahlen, die Summen, und das ist hilfreich. Aber ich weiß nicht, was du denkst, Dean. Wir kennen uns schon sehr lange, für … einen menschlichen Zeitraum. Letzten Monat waren es fünf Jahre. Wir haben Dinge miteinander erlebt, die … zwei Personen normalerweise nicht miteinander erleben. Und doch weiß ich nicht, was in deinem Kopf vor sich geht, wenn du solche Dinge sagst. Ich … Es fällt mir schwer, Dean. Ich kann damit nichts anfangen, wenn du sagst, du seist zufällig in der Gegend, obwohl es nicht der Wahrheit entspricht. Ich weiß nicht, was es bedeutet, dass du 900 Meilen fährst, um mich zu sehen. Das fällt mir schwer, Dean.“   Dean blinzelte perplex. Eine so lange Rede hatte er nicht erwartet und schon gar nicht mit diesem Inhalt. Insbesondere, weil er sich diese Frage selbst schon gestellt hatte. Mehrfach, sogar, in diversen Variationen.   Weil du zur Familie gehörst, Cas, wäre eine mögliche Antwort gewesen. Allerdings keine besonders solide, denn sie widersprach seinem Rauswurf und wie sollte er den Cas bitte erklären, ohne dabei den Deal mit Ezekiel – und somit Sam – zu gefährden? Wie sollte er Cas erklären, dass er weder ein Sam noch ein John war?   Dean spürte, wie er ins Schwimmen kam. Er sehnte sich nach seinem Telefon, danach, Sammy anzurufen und seinen kleinen Bruder peinlicherweise wieder um Rat zu fragen, ohne ihm tatsächlich von den Problemen erzählen zu müssen.   Hallo, Sammy. In deinem Kopf steckt ein Engel, den ich ohne dein Wissen reingelassen hab und inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir ihm vertrauen können. Wenn du ihn rauswirfst, stirbst du. Oh, und ha ha, wie sage ich Cas, dass er nicht wie du ist, ohne dass es wie die letzte Arschlochnummer klingt?   Wieso besaß Sams Superhirn eigentlich keine Engels-Radio-Funktion? Das wäre manchmal wirklich nützlich. Vielleicht sollte Dean einfach einsehen, dass er nicht dazu in der Lage war, für seine Familie zu sorgen und sie zusammen zu halten.   Reiß.   Dich.   Zusammen!   „Okay, Cas. Ich versteh‘ das“, hörte Dean sich sagen und fühlte, wie er in den vertrauten ‚Es liegt nicht an dir, es liegt an mir!‘-Modus schaltete, den er normalerweise für anstrengende One-night-stands auffuhr.   Noch schlimmer. Wenn Cas in seinem Leben etwas am allerwenigsten war, dann eine kurzlebige Flamme, die er loswerden wollte, sobald er sie im Bett gehabt hatte!   Ich will mit Cas nicht … Jesus. Was denk‘ ich da überhaupt?   Strategiewechsel. Sofort!   „Lass mich dich mit nach Hause nehmen, okay? Ich warte einfach im Auto und … du sagst Bescheid, wenn du fertig bist!“   Was er mit ‚zu Hause‘ meinte, wusste Dean selbst nicht so genau. Zunächst vermutlich bloß die Unterkunft, in der Cas zurzeit wohnte. Dass Cas inzwischen diese Art von ‚Zuhause‘ besaß, war nahezu unausweichlich, schließlich arbeitete er auch und das offenbar ziemlich hart. Und nein, Dean verspürte bei der flüchtigen Vorstellung dessen, wie es wohl ‚zu Hause bei Cas, der nicht mehr bei uns wohnt‘ aussehen mochte, keinen eifersüchtigen Stich. Er war nicht eifersüchtig auf ein Zuhause, dass Cas allein gehörte und mit dem Dean nichts zu schaffen hatte!   Kein Wort davon, dass er Cas überhaupt nicht mit zurück nach Lebanon nehmen konnte, zumindest nicht, um mit ihm, Kevin, Sam und Ezekiel im Bunker zu wohnen. Kein Wort davon, dass er das Auto voll beladen mit Kleidung und Lebensmittelvorräten hatte, damit Cas in Idaho zurechtkam – und nicht in Kansas.   Es hatte lange gedauert, das ganze Gespräch, bis zu diesem Moment, bis es Dean endlich dämmerte. Ja, er hatte das Auto voll beladen, die allermeisten Sachen selbst besorgt, eigenhändig seinen zweiten Seesack mit Kleidung, Waffen und Jagdausrüstung für Cas gepackt. Dass er damit gleichzeitig ‚Cas zurückholen‘ und ‚Cas vom Bunker fernhalten‘ nebeneinander her geplant hatte, war ihm bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Cas musterte ihn eine Weile schweigend. Bereits bevor er den Mund aufmachte, wusste Dean, dass er verloren hatte. Zumindest für heute Abend.   „Warte nicht auf mich, Dean. Du solltest schlafen, du hast eine lange Reise hinter dir. Ich … ich melde mich, Dean.     *   Dean kletterte etwas ungelenk ins Auto, knallte die Tür hinter sich zu und warf die Ansichtskarten mit einem leisen Ächzen neben sich auf den Beifahrersitz. Durch den Schwung rutschten sie aus der Papiertüte heraus; zwei von ihnen verschwanden zwischen den Einkäufen, die immer noch unangetastet im Fußraum des Impalas standen. Schön, sollten sie doch da liegen bleiben. Sowohl die Einkaufstüten als auch die scheußlichen Postkarten!   Mir doch egal.   Dean stöhnte genervt auf, als er auf seinem Platz herumrutschte, konnte sich aber nicht richtig anlehnen. Der Saum seiner Jacke war zwischen seinem Rücken und der Lehne hochgerutscht und die Reibung der unterschiedlichen Textilien blockierte jede größere Bewegung. Gereizt nestelte er an seiner Jacke herum, doch es half nichts. Als er den rechten Arm hob, um hinter sich zu greifen, durchzuckte ihn erneut dieser seltsame Leibesschmerz, der ihm allmählich Sorgen zu machen begann. Er gab es auf, sich richtig setzen zu wollen.   Verdammter Mist!   Mit der linken Hand tastete er vorsichtig nach der rechten Schulter. Das Stechen hatte eben beunruhigenderweise bis dorthin ausgestrahlt. Was konnte das nur sein? Der Blinddarm lag tiefer, viel tiefer. Vielleicht ein sich ankündigender Herzinfarkt? Aber spürte man den normalerweise nicht eher auf der linken Seite? Was saß noch rechts? Die Leber? Ein kurzer frustrierter Schrei brach plötzlich aus ihm heraus und er schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad, so heftig, dass seine kalten Finger wie elektrisiert zu prickeln begannen.   „KANN NICHT EINMAL IRGENDWAS IN DIESEM VERDAMMT BESCHISSENEN DRECKSLEBEN GUT LAUFEN?“, brüllte er gegen das Armaturenbrett, wobei seine Stimme mit dem letzten Wort in ein Röcheln überging. Der Schmerz verhinderte, dass er tief genug einatmete, um lange so laut schreien zu können. Also lachte er. Und klang dabei wie ein Wahnsinniger, selbst in seinen eigenen Ohren. Er lachte und lachte, bis er Schluckauf bekam und zuckte bei jedem Hicks zusammen, denn natürlich verschlimmerte all das den Schmerz nur. Das Lachen verebbte allmählich.   Verzweifelt ließ Dean die Stirn gegen das Lenkrad sinken, hielt sich mit geschlossenen Augen die schmerzende rechte Seite und gluckste vor sich hin. Es tat beinahe genau so weh wie sein Gebrüll.   Vielleicht sollte ich Sammy – nein. Ich kann das alleine. Es wird schon nichts Schlimmes sein. Das ist nur … nur der Stress.   Er drehte den Kopf, so dass seine Wange gegen das Lenkrad gepresst war und hob ächzend die rechte Hand, gen Autoradio. Behutsam tätschelte er es und murmelte in die Stille hinein:   „Tut mir leid, Baby. Du kannst nichts dafür.“   Er wusste, dass noch ein Tape im Rekorder steckte und drückte auf Play. Der Rekorder schluckte, klapperte und startete Steppenwolf. Einen seiner Lieblingssongs der Band, irgendwo mittendrin.       Well, it's much too late to start again To try and find a little bliss So on your woman and your child You release your bitterness   You drift apart some more each day You feel the guilt and loneliness And the God of your childhood you can't find To save you from your emptiness     Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er die Kassette ausgesucht hatte; die Strecke nach Rexford hatte er gänzlich ohne Musik zurückgelegt. Manchmal hasste Dean Musik, manchmal verfluchte er seinen eigenen Musikgeschmack. Jetzt, zum Beispiel.   Reiß dich zusammen, stell dich nicht so an!   Er ließ das Band laufen, drehte nur die Lautstärke etwas herunter, und warf einen Blick auf den Beifahrersitz. Nur zwei der Postkarten hatte es auf der Sitzfläche gehalten. Ehrlich gesagt hatte er keine Ahnung, wie viele er überhaupt gekauft hatte; vermutlich konnte Cas ihm das sagen, denn Cas hatte mit Zahlen kein Problem. Mit ihm, Dean, aber dafür umso mehr. Denn Cas verstand Dean nicht und Dean verstand Cas nicht und ungünstigerweise verstand Dean Dean auch nicht.   Im Handschuhfach fand Dean einen stumpfen Bleistift. Er war tatsächlich so abgenutzt, dass er kaum mehr funktionsfähig war. Selbst der Radiergummi am anderen Ende war abgebrochen, so dass der Stift eigentlich zu überhaupt nichts mehr taugte, wenn man keinen Anspitzer dabei hatte. Aber Dean fuhr keinen Bürobedarf mit sich spazieren und für seine frustrierten Zwecke genügte der Stummel allemal. Er klaubte eine der Postkarten vom Sitz. Es war die mit der komischen Ente darauf. Schwarz … Blau? Kopf-Schnabeldingens-Ente …   ‘ne Ente, halt.   „Viele Grüße aus dem Yellowstone National Park“, stand in geschwungenen Lettern über dem badenden Vogel. Dean drehte die Karte achtlos herum. Und wie er Kevin eine Postkarte schrieb, Cas würde ja sehen! Und Sam, dem schrieb er auch! Karten hatte er definitiv genug.   „Schwarzkopfruderente“ stand auf der Rückseite der Karte, winzig klein, ganz am Rand. Er war sich ziemlich sicher, dass Cas das nicht abgelesen hatte. Aber eigentlich war es auch egal. Dean schrieb auf seinem Oberschenkel. Aus einem geplanten ‚Hi, Kev‘ wurde plötzlich ein krakeliges … ‚Cas‘. Einfach so. Er hatte gar nicht weiter darüber nachgedacht.     Cas, du verdammter Schweinehund. Ich bin 900 Meilen gefahren, um dich zurück nach Hause zu holen. Ich kann nicht Du kannst nicht zurück in den Bunker Wir kriegen das hin. D.W.     Bei seiner Schriftgröße war die Karte damit voll. Den Bleistift stopfte er zurück ins Handschuhfach, die Karte landete wieder auf dem Sitz. Dean steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor, um sich auf die Suche nach dem Motel zu machen, von dem Sammy erzählt hatte.       * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)