Der längste Weg nach Hause von Platypusaurus (It's never too late) ================================================================================ Prolog: Irgendwo in Idaho ------------------------- It‘s never too late   Your eyes are moist, you scream and shout As though you were a man possessed From deep inside comes rushing forth All the anguish you suppressed     *     Das Radio schwieg und der Sitz neben ihm war leer. Kein Sam auf der Beifahrerseite, kein Classic Rock von Band. Nur das Geräusch von Motor und Straße, der Autobahn unter Babys Reifen, dem Fahrtwind, der geräuschvoll an den Scheiben vorbei preschte, auf dem schnellsten Weg nach Idaho. Der zerbeulte Schuhkarton, in dem Dean selbstzusammengestellte Tapes und alte Originalkassetten seines Vaters sammelte, seit er zwölf war, lag achtlos auf dem Rücksitz des Impalas, direkt neben seinem Seesack. Dean konnte weder das eine noch das andere durch den Rückspiegel sehen; der Winkel war falsch, trotzdem verließen seine Augen für einen Moment die Straße, um beim Fahren einen Blick in den hinteren Innenraum des Wagens zu werfen.   Kein Cas.   Die Rückbank war und blieb leer, aus jeder Perspektive. Cas war in Idaho. In Rexford, um genau zu sein. Rexford, Idaho – gute 900 Meilen von Lebanon, Kansas entfernt. Castiel, gefallener Engel des Herrn, zurückgelassen ohne himmlische Kräfte, ohne Mojo, war vierzehn Stunden Autofahrt von den Winchesters getrennt.   Von seiner Familie. Von Sam, Kevin – und Dean. Dem Bunker.   Von zu Hause. Deans Gesicht blieb ausdruckslos. Sicher, kein Bruder auf dem Beifahrersitz, und somit auch kein Undercover-Engel, der ihm sagte, er müsse Cas um jeden Preis fernhalten. Von Ezekiel, von Sam und dem Bunker. Von Dean. Niemand da, vor dem er so tun musste, als wäre er stark, als hätte er noch einen Überblick über das Chaos, das sich sein Leben nannte. Er war vollkommen allein mit sich und Baby, niemand zwang ihn, die schützende Fassade weiter aufrecht zu erhalten. Er tat es trotzdem. Macht der Gewohnheit. Rechtfertigen musste er sich schließlich immer noch vor sich selbst. Dean wagte es nicht, dem flauen Gefühl viel Aufmerksamkeit zu schenken, das von seiner Magengegend in höhere Regionen gewandert war und sich als formloser Gedanke in seinem Hirn eingenistet hatte. Er durfte seiner Besorgnis auf keinen Fall mehr Raum als nötig geben, wenn er so tun wollte, als würde er noch an den Plan dahinter, an das große Ganze, glauben. Sam musste geheilt werden und es galt, einen Weg zu finden, wie sie Abaddon besiegen und Metatron unschädlich machen konnten.   Der Deal mit Ezekiel war ein Fehler.   Vielleicht lag es an der Tatsache, dass er schon seit Stunden geradeaus fuhr; bereits nach wenigen Meilen war er unempfindsam für das Tempo geworden, mit dem er Baby über die Interstate 80 Richtung Westen jagte.   Vielleicht der größte Fehler deines Lebens.   Wie die Autobahn, so wollten auch seine Gedanken immer geradeaus führen, bloß einer einzigen Richtung folgen, nur zu einem einzigen Schluss kommen. Um ehrlich zu sein, hatte ihn dieser Verdacht schon deutlich früher beschlichen, ihn in Form eines schlechten Gewissens heimgesucht, noch bevor der fremde Engel von ihm verlangt hatte, seinen besten Freund vor die Tür zu setzen. Dass Sam lebte, hatte oberste Priorität, ja. Und nicht nur das.   Sam muss leben.   Ich schaff‘ das nicht alleine.   Sam muss heilen, Sam muss gesund werden …   Ich schaffe das nicht …   – Du musst.   Aber konnte Dean damit wirklich rechtfertigen, dass er Sams Geist und Körper ohne dessen bewusste Zustimmung von einem der gefiederten Arschlöcher hatte besetzen lassen …? Ezekiel war ein guter Kerl, eine Ausnahme – so wie Cas, oder?   So wie Cas. Dean verzog keine Mine. Irgendwo, tief in seinem Inneren, war ihm klar, dass Sam dafür niemals sein Einverständnis gegeben hätte. Seinem Miststück von Bruder waren Autonomie und freier Wille wichtiger, als das nackte Überleben. Was Dean bis zu einem gewissen Grad auch verstand, vor allem nach der Sache mit der Apokalypse und Lucifer: Der Tod war einer Existenz als willenlose Fleischhülle vorzuziehen. Für sich selbst hätte er definitiv so entschieden. Aber Sammy konnte er natürlich nicht sterben lassen.   Nicht, solange ich lebe!   Dean nahm eine Hand vom Lenkrad, um sich damit über das Gesicht zu fahren. Kurz. Nüchtern. Gefühle abschütteln, die er nicht haben durfte. Nein, natürlich hätte er Sam niemals sterben lassen. Hätte vielleicht sogar Schlimmeres in Kauf genommen, selbst einen erneuten Tausch seiner zweifellos wertlosen und verabscheuungswürdigen Seele, wenn sein Bruder dadurch nur am Leben bliebe. Offensichtlich war er dafür sogar bereit, Castiel zu verstoßen.   Dean fröstelte. Die Haut in seinem Gesicht fühlte sich kühl an, aber in seinem Inneren brannte es. Wut, Scham und Selbstekel bohrten tief in seinen Eingeweiden. Offenbar weniger metaphorisch als ihm gut tat, denn er spürte die unheilvolle Säure von Sodbrennen in seiner Brust aufsteigen. Vielleicht zu viel schwarzer Kaffee auf leeren Magen. Vielleicht zu viele Schuldgefühle.   Mit Cas war es nicht gut gelaufen, seit Sam und Dean versucht hatten, die Höllentore zu schließen und der Engel eigene Ziele verfolgt hatte. Ihn zum ersten Mal als vollkommen menschlich zu erleben, hatte nichts an ihren beiderseitigen Fehlentscheidungen der letzten Zeit geändert, wohl aber an der persönlichen Ebene, auf der sie sich befanden. Ein gestrandeter Engel in der menschlichen Neuzeit war immer noch ein mächtiges Wesen, das sich mit einem Fingerschnippen gegenüber eines jeden Problems, vor jedem Gegner behaupten konnte. Aber Cas war jetzt vollkommen machtlos. Ein gestrandeter Engel mit ausgebranntem Mojo in Menschenkostüm – das war schlimmer als Tim Allen in Galaxy Quest. Grimmig umklammerte er das Lenkrad ein wenig fester. Dean Winchester, der Mann, der nicht in der Lage war, für seine Familie zu sorgen, sie am Leben zu erhalten, ohne dass er sie dafür hintergehen musste, ihnen Schmerzen bereitete. Er hielt ein bitteres Lachen über diesen Gedanken zurück und atmete konzentriert durch die Nase. Das saure Kratzen in seiner Kehle ließ nicht nach. Es war früher Nachmittag und leicht bewölkt, doch die tiefstehende Novembersonne brachte den grauen Himmel noch zum Glühen und blendete ihn bei der Fahrt. Ein berechtigter Grund, die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach zu kramen. Eine Wohltat für seine brennenden Augen. Er konnte nicht sagen, wieso ihm diese Erinnerung ausgerechnet in diesem Moment in den Sinn kam, aber Frank Devereaux, dieser verfluchte Mistkerl, meldete sich in seinem Kopf zu Wort. „... Mach es richtig und mit einem Lächeln. Oder lass es sein …“ Frank hatte das kurz nach Bobbys Tod zu ihm gesagt. Auf die Frage, wie es ihm gelänge, weiterzumachen, morgens aufzustehen, zu funktionieren. „... Beschließe, dass es dir bis zum Ende der Woche gut geht. Bring dich dazu, ein bisschen zu lächeln. Denn du lebst und das ist deine Aufgabe. Und nächste Woche tust du das gleiche …“ Dean holte tief Luft. Noch war niemand gestorben. Diesmal hatte er es verhindern können. Sam zu retten, war richtig gewesen, Sam lebte. Er war sicher und wohlbehalten im Bunker mit Kevin und steckte, vermutlich mehr als zufrieden damit, bis zum Hals in Recherche, um dem Propheten bei der Übersetzung der Tafel zu helfen. Und auch Cas lebte. Ja, sogar mehr denn je, denn Cas war menschlich, sterblich und vollkommen allein. In einem Körper gefangen, der nicht sein eigener war. Ein Körper, der ihn zwang, sein Leben nicht als neugeboren, sondern als erwachsener Mann mit einem Schockstart zu bestreiten, mittellos, ohne Dach über dem Kopf ... „... Denn du lebst und das ist deine Aufgabe …“ Cas' Blick, als Dean ihm gesagt hatte, er könne nicht im Bunker bleiben. Der schockierte, schmerzerfüllte Ausdruck in seinen blauen Augen, der so deutlich machte, wie hintergangen er sich fühlte. Die kurze Freude über menschliche Annehmlichkeiten in seinem Gesicht erfroren, völlig niedergeschmettert davon, von Dean abgewiesen zu werden. Cas' Blick hatte ihn in einer Reihe von Nächten bis in seine Träume verfolgt. Dean warf einen flüchtigen Blick auf den Beifahrersitz. Er war leer, wie die Rückbank. Kein Cas, kein Sam. Allerdings ruhte auf dem weichen, abgenutzten Leder ein weiterer Seesack, so vollgestopft, dass die Nähte unter der Spannung hervortraten. Im Fußraum davor waren einige Tüten verstaut: Zwei große braune, zweifelsohne von einem Supermarkteinkauf, und bis zum Rand gefüllt, und eine kleinere weiße aus Plastik, typisch für Besorgungen aus einer Drogerie. Ich kann Cas nicht zurückholen, solange Sam auf Ezekiel angewiesen ist. Aber ich kann dafür sorgen, dass er zurecht kommt … Dean gab etwas mehr Gas. Noch knapp 80 Meilen bis Rawlins; dort würde er eine Pause einlegen, um zu tanken, sich zu erleichtern und etwas zu Essen zu besorgen. Nur diese eine Pause. Ab Rawlins dauerte es noch etwas sechs Stunden bis Rexford. „... Mach es richtig und mit einem Lächeln. Oder lass es sein …“ Das Lächeln hinter seiner Sonnenbrille war gepresst, die Zähne darunter fest zusammengebissen. Nein, er konnte seine Fehler nicht rückgängig machen. Aber er konnte dafür sorgen, dass alles gut wurde. Er konnte dafür sorgen, dass Sam und Cas lebten. Er konnte dafür sorgen, dass es ihnen an nichts fehlte. Er konnte seine Familie zusammenhalten und vielleicht würde ihm Cas sogar irgendwann einmal verzeihen.   „… Mach es richtig ...“ Das Lächeln auf seinem Gesicht war lange verschwunden, wie die Sonne hinter den Wolken, als er Rawlins erreichte. Die Sonnenbrille behielt er trotzdem auf. Nur für den Fall.     ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)