Zwei Seiten einer Medaille von Shino-Tenshi ================================================================================ Kapitel 11: ------------ Ich bemerke, wie es langsam ruhig wird in unserem Haus. Die Lichter gehen aus und ich stehe immer noch mit Tayaka im Proberaum. Mein eigenes Zimmer ist mittlerweile in Finsternis getaucht und mein Verstand sagt mir, dass ich aufhören soll. Auch wenn morgen nichts Wichtiges ansteht, so sollte ich nicht als Zombie dort hinkommen. Mein Vater wird das bestimmt nicht gerne sehen. „Ich muss jetzt raus. Brauche schließlich meinen Schönheitsschlaf.“ Akikos Stimme ist angenehm, aber sie zeigt deutlich, dass sie sich nichts gefallen lässt. Sie und Nocturn holten sich Teamgeek, sodass wir uns das Schreiben endlich sparen konnten. „Das klingt nach einer guten Idee.“ Nocturn wirkt ruhiger und überlegter als sie. Er spricht eher weniger, aber seine Stimme ist angenehm und somit hört man ihm gerne zu. Ich kann mir vorstellen, dass er durchaus auch im richtigen Leben ein guter Sänger sein könnte. „Man sieht sich morgen, oder?“ Tayaka ist wie immer vollends begeistert und ich kann sein Lächeln direkt hören, wodurch ich ebenfalls leicht grinse, als schon die Antworten der beiden kommen. „Natürlich! Du kannst dich auf mich verlassen!“ - „Ja, bis morgen.“ Dann sind sie auch schon verschwunden. Kaum verklingt der Abmeldeton von ihnen, höre ich ein lautstarkes Gähnen von Tayaka. Dieses Phänomen ist wirklich immer wieder aufs Neue faszinierend. Sobald einer anfängt zu gehen, folgen so viele, denn auch Tayaka verabschiedet sich: „Du, Gabriel, ich bin auch raus. Bist du morgen wieder da? So wie immer? Eher abends?“ „Ja, ich werde es versuchen. Kann aber nichts versprechen. Du weißt ja.“ Ich lächel ein wenig zerknirscht, wodurch Tayaka kurz seufzt. „Immer noch? Hat sich daran nichts geändert? Spinnen deine Alten damit echt noch rum? Solltest du nicht bald alt genug sein, um es selber entscheiden zu können?“ „Ja, ja und nochmal ja. Aber... es passt schon.“ Ich will mit ihm darüber nicht reden. Auch damals habe ich kein Wort verloren. Nicht als es begonnen hat und auch nicht, wenn es passiert war kurz bevor ich zu ihnen gestoßen bin. Das ist der Vorteil der Anonymität des Internets. Du kannst deinen Schmerz und deine Verletzungen ganz gut verstecken. Einfach so tun als wäre es nie passiert. „Oh Mann. Du bist echt nicht zu beneiden. Na ja, ich bin raus. Bis morgen, okay? Cool, dass du wieder da bist, Gabriel.“ Ich verabschiede mich ebenfalls und dann ist er auch schon verschwunden. Ein tiefes Seufzen kommt über meine Lippen und ich schließe kurz die Augen. An sich sollte ich echt auch ins Bett gehen, aber... irgendwas blockiert mich und gerade will ich die Kopfhörer abnehmen und aus dem Chatraum gehen, als plötzlich jemand rein kommt. Ich traue meinen Augen nicht und muss trocken schlucken, als ich den Nick lese: Luzifer. Woher kennt er die Zugangsdaten? Warum ist er hier? Was soll das alles? Soll ich gehen oder bleiben? Bin ich der Grund oder wer anderes? Hat er sich vielleicht verirrt? Ich spüre erneut diesen Kloß in meiner Kehle und lausche nur auf das leise Atmen, das aus meinen Kopfhörern kommt, bevor ein leises Gitarrenspielen anfängt. Er sagt nichts und ich bin gerade auch nicht fähig dazu, sondern kann nur den sanften Klängen lauschen, die mir so bekannt sind. Dieses Stück spielte er immer wenn wir alleine waren. Jedes Mal kam dabei ein weiteres Stück dazu. Es wurde länger und komplexer, doch bis heute verstehe ich seinen Sinn nicht und auch jetzt kann ich nur lauschen und schweige. Die Erinnerung an unseren ersten gemeinsamen Abend alleine kommt zurück. Wie er auf mich wartete, während alle anderen schon gegangen sind. Auch damals spielte er dieses Stück. Ich schweige und lausche. Auch wenn alles in mir danach schreit, dass ich etwas sage. So kann ich es nicht. Bis jetzt ist es mir bekannt. Die Töne sind sanft, freundlich und verspielt, doch nach und nach werden sie schwerfälliger. Schon fast melancholisch. Diesen Teil kenne ich noch nicht und nur kurz erwacht in mir das Gefühl nachzufragen, doch ich kann nicht. Ich will das Spiel nicht zerstören. Der Song ist so voller Schmerz und Trauer, die sich nach und nach in Wut verwandelt. Die Noten werden aggressiver und auch das Stück wird wieder schneller. Impulsiver, bis es sich in einer großen Explosion entlädt und dann mit wenigen fröhlichen Noten endet. Der letzte Akkord hallt lange nach und ich merke erst jetzt, dass ich vor Spannung die Luft anhielt, wodurch ich erst einmal tief durchatme und dann weiter lausche. Soll ich etwas sagen? Will er etwas von mir hören? Doch ich kann nicht. Weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ich will ihn nicht verärgern. Niemanden mehr, doch dann höre ich ein Räuspern von ihm. Scheinbar scheint es ihm ähnlich zu gehen, bevor seine dunkle Stimme die Stille durchbricht: „Willkommen zurück.“ Ich will etwas sagen, doch er hat den Chat schon wieder verlassen. Noch bevor ich irgendetwas sagen kann und so lasse ich meinen Avatar aus dem Haus stürmen. In Richtung Stellenmarkt, wo auch die Herberge in der Nähe ist. Ich eile dorthin und sehe ihn vor einem der Schwarzenbretter stehen. Über seinem Avatar ist das Besichtigungssymbol und ich kann wirklich nicht glauben, was er da tut. Er sucht sich eine neue Band, anstatt sich unserer anzuschließen! Ernsthaft!? Ich spüre, wie erneut Zorn in mir aufkommt. Wie kann man nur so ignorant, verbohrt und stupide sein?! Er kann doch echt nicht unser Angebot ablehnen, weil er noch wegen damals schmollt! Schließlich gehören dazu immer zwei! Er hat genauso viel Schuld an all dem! Ich... ich ging doch nur, damit ich ihm sein Spiel nicht kaputt mache! „Was sollte das?!“, schreibe ich ihn privat an. „Wieso suchst du eine neue Band aber kommst nicht zu uns? Vor allem, wenn du nicht zu uns willst, warum gehst du dann in unser Teamgeek?! Woher hast du überhaupt die Daten?! Wieso verschwindest du einfach?! Was soll dieses Lied?“ „Bist du umgezogen?“ Seine Frage irritiert mich und ich sehe seinen Avatar verwirrt an. Was soll das jetzt? Soll ich darauf jetzt antworten? Er antwortet mir ja auch nicht, doch meine gute Erziehung lässt kein anderes Verhalten zu: „Nein.“ „Okay, morgen um Drei in den Park von damals, verstanden?“ Was? Was geht denn jetzt ab? Meint er wirklich, dass er so mit mir umgehen kann? Ernsthaft?! Nein, nicht mit mir! „Nein, geht nicht. Hab Schularbeiten zu tun.“ „Immer noch so ein Streber, hm? Hast immer noch Angst vor deinem Papi?“ Sein Avatar lacht und ich weiß, dass er mich damit provozieren will und es klappt natürlich auch. „Ich habe nun einmal meine Pflichten! Es ist nichts Schlimmes dabei gewissenhaft zu sein! Kann nicht jeder so rücksichtslos sein wie du!“ Wieso lasse ich mich immer von ihm provozieren? „Wenigstens verrate ich meine Freunde nicht.“ Dieser eine Satz trifft mich hart und ich muss trocken schlucken. Ich sollte gehen. Raus aus dem Spiel. Ab ins Bett, doch ich starre nur auf den Satz und den Avatar von Luzifer. Er will mich treffen und dann? Soll es so wie das erste Treffen werden oder eher wie das Letzte? Was will er von mir? Wie sieht er mich? „Du kennst den Grund ganz genau.“ Ich kann nicht mehr schreiben. Zu tief sitzt die Wunde, die er mir mit diesem Satz zugefügt hat, doch sein Avatar verzieht nur verächtlich die Lippen. Sie sind wirklich sehr genau geworden mittlerweile. „Wann hast du Zeit?“ Erneut übergeht er das Thema, das immer noch wie ein Damoklesschwert über uns schwebt. „Vielleicht am Wochenende. Aber... ich weiß nicht, ob das so gut ist. Mein Vater sieht es nicht gerne, wenn ich zu viel draußen unterwegs bin. Demnächst sind auch noch Prüfungen.“ Erneut lacht sein Avatar auf. „Immer noch? Muttersöhnchen. Na ja, dann halt nicht.“ Mit diesen Worten verschwindet er vor meinen Augen. Er hat sich einfach ausgeloggt und ich selbst spüre, wie mein Herz schwerer wird. Nein, er hat sich nicht verändert. Kein bisschen und dennoch bildet sich langsam ein Kloß in meinem Hals, wenn ich nur an das Treffen denke. Ein Kloß, den ich krampfhaft hinunter schlucke und der wie ein Stein in meinen Magen fällt. Damals schien alles nur perfekt. Bevor wir uns das erste Mal getroffen hatten, war die Welt noch in Ordnung und auch wenn es damals ins Chaos gestürzt wurde. Ich würde es immer wieder tun... 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