Zwei Seiten einer Medaille von Shino-Tenshi ================================================================================ Kapitel 9: ----------- Die Dunkelheit, die mich umschließt, wurde nur durch ein sanftes Gitarrenspielen durchbrochen. Sie schien mich zu locken und zu rufen. Ich wusste, wer mich dort erwarten würde und dennoch fragte ich mich, ob er erneut auf mich wartete. Noch bevor ich mich tatsächlich dazu entschlossen hatte, liefen meine Füße von selbst los und trugen mich den ruhigen Klängen entgegen. Ich konnte nicht sehen wohin mich mein Weg führte, doch ich verspürte keine Angst in mir. Denn die Musik führte mich und wurde mit jedem Schritt lauter, aber nicht aufdringlicher. Langsam tauchte aus der Finsternis eine Couch auf und an einem Ende saß Luzifer. Mir war klar, dass es nur sein Avatar war, den meine Fantasie zum Leben erweckt hatte, doch er wirkte plötzlich so real auf mich. Er beugte sich über die Gitarre auf seinem Schoß und seine Finger glitten sanft und schon fast andächtig über ihre Saiten. Ich traute mich nicht näher heran aus Angst, dass ich diesen Zauber dadurch zerstören könnte. Und so blieb ich schweigend am anderen Ende der Couch stehen und beobachtete ihn dabei, wie er sein Instrument spielte. „Wie lange willst du mich noch anstarren? Hab ich was im Gesicht?“ Plötzlich stoppte sein Spiel und er sah mich genervt an. „Nein. Ich wollte dich nur nicht stören.“ Es kam nur ein verächtlicher Laut über seine Lippen und ich spürte erneut eine leichte Wut in meinem Inneren, während mein Blick sich kurz abkühlte. „Worauf wartest du? Sitzplätze kosten auch nicht mehr!“ Er deutete mit seinem Plektrum auf den Platz neben sich. „Wir sollten noch ein wenig üben, damit du endlich brauchbar wirst.“ Ruhig trat ich neben ihn und kaum nahm ich Platz tauchte ein Schlagzeug vor mir auf. Er sah mich abwartend an und nur zögerlich griff ich nach den Drumsticks, die auf einer der Trommeln lagen. Sie fühlte sich seltsam an. Meine Erinnerung daran war verschwommen. Es war ewig her, dass ich sie tatsächlich in der Hand gehalten hatte. Schlagzeug war kein Instrument für Gewinner und somit verbaten meine Eltern mir es zu erlernen. Kaum hatte ich die zwei Sticks fest umschlossen, begann Luzifer wieder mit dem Spielen. Er zupfte bedächtig an den Saiten. Es war eines der Lieder, die wir auch im Spiel geübt hatten und sofort versuchte ich die Bewegungen meines Avatars nachzuahmen, doch es gelang mir nicht. Mein Spiel klang schrecklich. Daher verwunderte es mich nicht, dass Luzifer schließlich stoppte und sich eine tiefe Zornesfalte auf seiner Stirn bildete. „Du bist echt miserabel. Du wirst niemals brauchbar werden. Tu uns allen einen Gefallen und verlasse die Band.“ Seine stechenden blauen, schon fast grauen Augen sahen mich erbarmungslos an und ich spürte erneut diesen Trotz in mir, doch ich traute mich im ersten Moment nicht etwas zu sagen. Wie konnte ich seine Worte entkräftigen? Es stimmte. Mein Spiel klang fürchterlich. Ich... ich würde niemals gut genug für sie sein, oder? „Verschwinde einfach. Du bist es nicht wert, dass wir unsere Zeit mit dir verschwenden.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verschwand. Sofort wollte ich aufspringen, doch anstatt seine Gestalt war plötzlich meine Zimmerwand vor mir. Ich saß in meinem Bett und hörte das penetrante Piepen meines Weckers, der mir zeigte, dass es Zeit für die Schule war. Doch anstatt ihn auszuschalten, starrte ich eine Weile auf meinen geschlossenen Laptop. Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare, bevor ich das Piepen stoppte und schließlich aufstand. Kurz streckte ich mich und musste kräftig gähnen, bevor ich aufstand und mir ein paar neue Klamotten suche, um dann unter die Dusche zu steigen. Es war ein seltsames Gefühl dort zu stehen. Das warme Nass auf meiner Haut zu spüren und so jede einzelne Faser meines Körpers wahr zu nehmen. Mit dem Wasser verschwanden auch langsam die Bilder des Traumes im Abfluss und es blieb nur dieses schale Gefühl des Versagens zurück. Ich kannte diesen Luzifer erst seit ein paar Stunden, doch irgendetwas störte und faszinierte mich an seiner Art zugleich. Bestimmt würde ich irgendwann mehr über ihn erfahren. Jetzt hieß es aber erst einmal kurz frühstücken und dann in die Schule. Kaum trat ich aus der Duschkabine, trocknete ich nur kurz meine Haare ab und schlüpfte in die neue Unterhose und Hose. Richtete noch mit schnellen Griffen meine Haare, bevor ich mir das Hemd anzog und es schon beim Rausgehen zuknöpfte, um mir dann meine Krawatte umzulegen und blind zu binden. Ich wusste nicht mehr, wann es für meinen Vater wichtig war, dass ich so in die Schule ging. Am Anfang hatte ich mich gewehrt, doch ich musste sehr schnell einsehen, dass dies keine allzu gute Idee war und es nicht wert war, dass man sich dagegen auflehnte. Meine Mutter stand nur kurz in der Küche, um sich selbst eine Tasse Kaffee einzuschenken und saß dann am Tisch, wo sie durch die Zeitung blätterte. Hingegen mein Vater schon vor der Garderobe stand und sich Schuhe und Jacke anzog, bevor er dann auch schon mit einem kurzen Abschiedswort verschwand. Alleine, dass er nicht mehr da war, ließ mein Leben leichter erscheinen. Ich nahm ebenfalls kurz am Tisch Platz und griff mir ein Brötchen um es zu beschmieren. Butter und eine Scheibe Käse. Ich mochte nichts Süßes und somit ignorierte ich die Marmelade und den Schokoaufstrich, der noch auf dem Tisch stand. Ersteres wurde sowieso gerade von Amber in Beschlag genommen, während sie sich angeregt mit unserer Mutter unterhielt. Es ging anscheinend um irgendeine Shoppingtour, die sie am Nachmittag mit ihren Freundinnen unternehmen wollte, während kurz ihre Blicke auf mir ruhten, doch ich ignorierte es. Ich hatte gar keine Lust den Packesel für die Drei zu spielen, wodurch ich mein Frühstück schnell beendete, bevor sie mich darauf ansprechen konnten. „Nathaniel! Hast du heute Nachmittag etwa schon etwas vor? Deine Schwester kann bestimmt Hilfe gebrauchen!“ Die Stimme meiner Mutter war wie immer kühl und sie verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, um mehr Autorität auszustrahlen. Doch in meinen Augen wirkte sie dadurch nur aggressiv und distanziert. Nichts, was mich dazu veranlasste eher auf sie zu hören. „Ich muss noch etwas für die Schule machen. Ein paar Schülersprecher Angelegenheiten. Keine Ahnung, wann ich heute nach Hause komme.“ Ich packte meine Brotzeit ein und sah dann noch einmal kurz auf Amber. „Wie sieht es bei dir aus? Bist du fertig? Können wir los oder soll ich schon einmal vorgehen?“ Amber sah mich entgeistert an und stopfte sich dann noch den letzten Bissen Brot in den Mund, bevor sie sich von unserer Mutter mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete und dann schließlich ebenfalls ihre Pause zusammenstellte. Ich wartete ein wenig ungeduldig. An sich mochte ich es nicht, wenn wir gemeinsam zur Schule gingen. Ihr Ansehen war nicht besonders gut dort, aber meine Eltern bestanden darauf. Ihrer kleinen Prinzessin könnte ja irgendetwas passieren. Was ihre Anwesenheit für meinen Ruf bedeutete, war ihnen egal. Ihnen war alles egal, was mich betraf, solange es nicht meine schulischen Leistungen betraf oder beeinträchtigte. Wir verließen wie jeden Tag Seite an Seite unser Haus und machten uns auf den Weg. Eigentlich hoffte ich darauf, dass wir wie immer schweigen würden, doch anscheinend war irgendwas in der Marmelade, denn Amber begann ein Gespräch: „Du hast doch bestimmt noch das Spiel weitergespielt, als dich Paps aus dem Wohnzimmer geschmissen hat, oder? Das ist doch total langweilig. Warum verschwendest du deine Zeit damit?“ Ich sah sie kurz strafend an, bevor ich dann seufzend den Kopf schüttelte. „Vielleicht hättest du das Spiel länger als fünf Minuten spielen sollen. Es ist nämlich richtig schön, wenn man in einer Band ist und sich mit den Menschen dort austauscht. Bis jetzt macht es mir Spaß und dir kann es an sich egal sein mit was ich meine Zeit verbringe.“ „Mir vielleicht. Aber unseren Eltern ist es bestimmt nicht egal. Vielleicht hast du heute Nachmittag doch lieber Zeit mit meinen Freundinnen und mir shoppen zu gehen.“ Ein bösartiges Funkeln trat in ihre Augen und ich traute meinen Ohren nicht. War das wirklich das, was ich gerade glaubte? Ist doch nicht ihr Ernst, oder? „Versuchst du gerade mich zu erpressen, Schwesterherz? Außerdem ist es auch unseren Eltern egal. Solange meine Noten nicht darunter leiden und das habe ich nicht vor.“ Ich beschleunigte meine Schritte. Auf dieses Gespräch hatte ich definitiv keine Lust. Vor allem nicht wenn es auf Erpressung hinaus lief. „Hey! Warte! Das sag ich unseren Eltern!“ Wie ich diesen Satz von ihr hasste! Am Liebsten würde ich ihr jedes Mal dafür eine Ohrfeige verpassen, doch ich rettete mich in ein gequältes Lächeln. „Was willst du ihnen sagen?“ „Dass du mich alleine auf der Straße lässt!“ Sie atmete ein wenig schwerer, als sie neben mir zum Stehen kam, doch ich hatte kein Mitleid mit ihr. „Wenn wir so schnell laufen, dann fang ich das Schwitzen an und das geht nicht. Ich kann doch nicht verschwitzt in die Schule gehen.“ Die hatte Probleme. Mit einem abfälligen Laut wandte ich mich ab und ging jetzt jedoch wieder im normalen Tempo weiter. Ihr süßliches Parfüm drang in meine Nase und desto öfters ich es wahrnahm, umso weniger konnte ich es leiden. Es bedeutete immer Ärger und da war sie wieder: Die Sehnsucht nach einem eigenen Leben. Ich konnte es gar nicht erwarten auf eigenen Beinen zu stehen und endlich meine Ruhe zu haben. Doch das würde noch so lange dauern. Viel zu lange... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)