End of Time Anthologie von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Besuch um Mitternacht Teil II ---------------------------------------- „Wollen wir uns nicht ein wenig unterhalten? Nein? Nicht? Ziemlich still hier oben. Man bekommt den ganzen Stadtlärm nicht so mit. Ist bestimmt nicht günstig hier zu hausen. Ich hoffe Sie haben sich schon gut eingelebt. Sie wohnen noch nicht lange hier? Habe in der Abstellkammer ein paar Umzugskartons stehen sehen. Zerreißen Sie die doch mal und werfen Sie die weg. Wer braucht so was schon?“   Die Wohnung war stockduster und nur durch die einrahmenden Vorhänge des Wohnzimmers drangen einen Spalt breit lebhafte neonfarbene Lichter der niemals schlafenden Stadt unter dem zehnten Stockwerk. Parker saß angespannt wie eine Harley Benton Saite auf einer Geige vor dem Chinesen. Zumindest glaubte er dass es ein Chinese war. Er sah nicht viel von dessen Gesicht, dafür war es eindeutig zu dunkel. Doch was er erkannte war der mandelförmige, clevere Blick des gegenüber und was er hörte war der typische lispelnde Einschlag auf den S-Lauten mit den langen, klagevollen Vokalen wie sie typisch für einen solchen Asiat waren. Der Chinese hatte es sich vor ihm auf einem umgedrehten Stuhl bequem gemacht und starrte ihn unentwegt über die Lehne gebeugt an, während er munter in Parkers sterilem Appartement seinen Zigarettenqualm paffte. Shuang Xi, eine abscheuliche Marke – feurig wie Drachenatem und würzig wie ein Potpourri zur Dämonenausräucherung. Doch den einzigen Dämon den es hier auszuräuchern gab, war der Syndikat-Wichsfrosch in seiner Wohnung, der sich als Mitglied der Bruderschaft vorgestellt hatte und ihm munter ins Gesicht schmauchte, dass seine Augen von beißenden, ätherischen Ölen nur so tränten. Während Parker durch die spaltbreit geöffneten Vorhänge gerade mal das nötigste in der Dunkelheit erkannte, die das Gegenlicht hinter dem lauernden Chinesen gebar, tanzten von draußen regenbogenfarbene Neonlichter auf seinen Zügen und der Chinese, wollte Parker wetten, sah alles. Er war kein Mensch, das wusste er auch ohne die ausgefahrenen Fänge des Mannes gesehen zu haben. Die Schnelligkeit mit der ihn dieser Drachen verfolgt und im Parkhaus aufgelesen hatte, war gewaltig. Die Kraft mit der er ihn an Armen und Beinen zurück in seine Wohnung geschleift hatte noch viel gewaltiger. Sein Atem unterschied sich von dem eines Menschen gänzlich, war viel flacher und reptilienhaft. Die Gelassenheit mit der ihn der Mann vor sich auf den Stuhl platziert hatte, wie ein lebloses Stoffpüppchen, war so rücksichtslos und grob wie eines Lageristen der Paletten weg sortierte. Gefühllos wie jemand der das schon tausendfach getan hatte und immer wieder eine diabolische Freude dabei empfand wenn sich das Püppchen – in diesem Falle Parker – vor seinen hungrigen Blicken unsichtbar machte. Doch Parker gab dem Mann nicht was er sehen wollte. Sein Kopf blieb oben, auch wenn seine Hände hinterm Rücken furchtbar zitterten und mit jeder Bewegung sich Kabelbinder scheußlich durch die Handgelenke fraßen. Mit trotzigem Stolz im Blick reflektierte er das erhobene Kinn des Mannes, der immer wieder an seiner Zigarette sog und den weißen Qualm durch die Finsternis auf ihn zu atmete. Ein und aus. Ein und aus. Er nahm möglichst flache Atemzüge und dennoch schmeckte es furchtbar bitter den Rauch aus seinen Lungen zu filtern. Parkers Magen war auch ohne das kohlenstoffdioxyd-Nikotin-Gemisch schwer ruhig zu halten, die Aufregung Gefangener seiner eigenen Wohnung zu sein war eine neue, schockierende Erfahrung auf die er gerne hätte verzichten können. Es war mitten in der Nacht. Heilig Abend. Kaum einer war auf der Straße, die meisten eifrig damit beschäftigt schnellstmöglich heimwärts zu fahren. Niemand würde kommen um ihm zu helfen. Die Leute hockten zuhause bei ihren Familien und beschenkten sich unterm Tannenbaum. Seine Nachbarn waren vor Tagen schon ausgeflogen nach Kanada zu einer entfernten Tante. Er erinnerte sich verschwommen daran dass über ihm die Leute seit dem Outcoming Srayedi verlassen wollten. Parker hatte die wilde Theorie gehabt, die freundliche Mrs. Olson und ihr taubstummer Ehemann seien selber Vampire, war der Sache aber aus Respekt vor dem zerbrechlichen Alter des Renterpärchens nicht mehr nachgegangen. Unter ihm die Wohnung stand noch frei. Er war ausgeliefert. Die Welt feierte die Geburtsstunde Jesus Christus und er? „Warum Sie nicht, Parker?“ Er brauchte eine Weile um zur Stimme zu finden. Kratzig wie Schmirgelpapier, wie jemand der lange und still geweint hatte klang sie. „Ich halte nicht viel von Feiertagen.“ „Ah, der Herr hat doch noch Stimme!“, schallte es falscher Freude. „Schlechte Erfahrungen gemacht?“, paffte der Chinese wissbegierig nach. Parker schwieg und antwortete nicht. Seine Hände waren kaltschweißig und klebten wie in Leim gebadet. „Also schlechte Erfahrungen gemacht“, glaubte der Chinese aus dem Schweigen zu deuten und rückte mit dem Stuhl ein wenig auf Parker zu, der seinerseits unwillkürlich zurückweichen wollte. Doch im Gegensatz zum anderen war er an seinen Stuhl gefesselt. Freiheitsentziehende Maßnahmen, Geiselnahme, Beamtenbeleidigung, Bedrohung und körperliche Gewalt. Der schlitzäugige Penner würde, käme das hier an die Öffentlichkeit – einige Jahre gesiebte Luft schnuppern dürfen. Seine Waden waren eins mit den Stuhlbeinen, um seinen Thorax lag ein enges, fast gezogenes Seil und seine Arme banden durch einen Kabelbinder auf dem Rücken zusammen. Er war verschnürt wie ein Weihnachtsgeschenk und völlig hilflos einem Vampiren ausgeliefert. Ein toller Verein, diese Bruderschaft, dachte er. Hatte Berceuse nicht gesagt diese Freaks seien für den Fortbestand der Menschheit da – ein Backup um das Überleben der unterlegenen Rasse zu sichern? Parker kam der Gedanke dass damit etwas ganz anderes gemeint gewesen sein könnte. Vielleicht hielten die Vampire die Menschen wie Schlachtvieh und ernteten hin und wieder – das waren vielleicht die Cold Cases des SKAs, die niemals Aufklärung fanden, weil dieses organisierte Verbrechen im Deckmantel des übermächtigen Paladin, seine Tricks hatte mit dem es Leute einfach so verschwinden lassen konnte. Parker dachte an Ryan. Er hatte sich kurz etwas anderem als dem Gesicht des Chinesen zugewandt. Um genau zu sein war er dessen Blick zu einer Schublade gefolgt, die noch halb offen stand und in der ein Konglomerat an Kerzen rollte. „Aber offenbar wollten Sie es sich hier etwas schnuckelig machen. Ist doch nett, Parker. Stehen Sie ruhig zu Ihren nostalgischen Gefühlen. Wer will Sie dafür verurteilen.“ Parker dachte nur: Der Typ hat weit gefehlt. Wie kann man nur so falsch liegen. Er dachte: Schlimm genug hier gegeißelt zu sein, doch was der Typ macht geht weit über physische Gefangennahme hinaus. Er spürte wie in seiner Brust unschuldige Furcht mit brodelndem Hass kämpfte. „In China hält man nicht viel vom Weihnachtsfest, auch wenn einige westliche Unternehmen am Nachmittag des heilig Abends und am Folgetag frei geben. Stattdessen haben wir das Frühlingsfest. Ist netter. Da werden bunte Buden für die Kinder aufgebaut und es gibt Karussells und so nen Scheiß.“ Der Chinese erhob sich und trug sich mit zähen Schritten an die Schublade, ging davor in die Hocke und ruckelte sie auf um einen Blick hinein zu werfen. „Rote Kerzen, weiße Kerzen, Kerzen mit Motiven. Hah! Sind das etwa Bären in Kleidchen? Meine Fresse, Parker. In Ihnen steckt also auch noch ein kleiner Junge. Fantastisch!“ Die waren ein Geschenk von einer guten Freundin. Parker fand diese Kerzen abscheulich, aber es wäre eine Verschwendung gewesen sie wegzuschmeissen. Außerdem war das Motiv egal, wenn die Kerzen ihre Funktion erfüllten. Er sah die Dinge praktisch und auf ihren Nutzen reduziert. Aber das erklärte er dem Chinesen nicht, der in seinen Sachen wühlte wie ein ein-Mann-Sonderkommando mit Hausdurchsuchungsbeschluss. Die eine Hälfte Parkers Gesichts überzog sich mit grünem Licht von draußen. „Also gut“, sagte der Drache, wie jemand der keine Lust mehr hatte noch länger um den heißen Brei zu reden. Er erhob sich wieder mit einem Bündel Kerzen in der Hand und reihte sie hinter Parker auf dem Tisch auf, während er bedächtig weiter sprach. „Sie wissen ja warum mich die Bruderschaft geschickt hat“, sagte er. „Ich kann's mir denken, ja.“ „Hat man Ihnen gesagt wie es von statten geht?“ „Sie meinen die Sache mit dem Gedächtnislöschen?“, vergewisserte sich Parker mit bebender Stimme. „Genau die, Sportsfreund.“ Er hörte es hinter sich klackern als eine Kerze zu Boden rollte. Der Chinese griff hinab um seine Dominoreihe aus Wachs zu vervollständigen. Er spielte mit ihm. „Miss von Berceuse erklärte mir den Vorgang… ein wenig spartanisch“, setzte Parker an, beließ es dann aber dabei. Er wollte nicht wirklich wissen wie sich der Vorgang einer Gehirnwäsche vollzog. Er wollte niemanden an seinen Gedanken rumdoktorn lassen. Niemand hatte das Recht dazu das heiligste eines Menschen zu manipulieren. Das was einen selbst ausmachte und was zurück blieb, wenn man schließlich nichts mehr hatte: Seine Gedanken. „Nett von ihr. Sie ist doch ne nette, finden Sie nicht? Nein? Ja, ich weiß. Sie stehen nicht auf Frauen. Ist der Mann neben Ihnen auf dem Bild im Schlafzimmer ihr Freund? Wo ist er jetzt eigentlich?“ Die Frage kam reichlich spät, dachte Parker. Dass sich der Drache nicht schon eher um einen möglichen Lebensgefährten gesorgt hatte, der zur späten Abendstunde heim kehrte, wunderte Parker. Doch gleichzeitig war er sich fast sicher, dass dieser Mann die Antwort bereits kannte. Die Frage war reine Willkür um die Unterhaltung am Laufen zu halten. Ein Zippo zündete hinter seinem Rücken, danach wurde es heller im Raum. Die Kerzen flackerten den finsteren Schatten eines an einen Stuhl gefesselten Mannes vor ihm an die TV-Wand. „Sie verbringen Weihnachten alleine in Ihrer Wohnung. Sie sind nicht mehr mit ihm zusammen. Ihr Ex also“, sagte der Chinese betont sachlich. Mit gewisser scharlatanischer Vorfreude tauchte er wieder vor Parkers Gesicht auf. Dann stutzte er. „Oh, nein. Nicht weinen, Parker“, kommentierte er eine Veränderung in Parkers hellen, vom grünen Licht durchbrochenen Seelenspiegeln. Der Cop schaute zu Boden und stellte betroffen fest dass er seine Füße nicht sehen konnte, so eng hatte ihn der Mann am Stuhl festgeschnürt. „Lassen Sie uns fröhlich sein. Es ist Weihnachten. Draußen leuchtet die Welt. Jeder weiß jetzt dass es Vampire gibt. Es gibt keinen Grund sich länger zu verstecken. Das ist ein Grund zu feiern.“ „Warum tun sie das?“ „Was?“, hakte der Drache ernstlich verwirrt nach. Parker sammelte Stimme, letztendlich schaffte es nur ein halb ersticktes „Das!“ über den Kloß in seinem Hals hinweg. „Sie meinen meinen Besuch hier? Das wissen Sie nicht?“ Er pausierte und bedachte Parker betont besorgt, wie ein Psychologe der ein hartes Stück Arbeit vor sich sah und ganz genau wusste, an dieser Phase der Selbsterkenntnis seines Patienten waren sie bereits vorüber und nun fiel der Patient in ein altes Muster zurück. Viel Arbeit würde das sein, den Kopf des Klienten wieder zu richten. Viel Arbeit. „Die Bruderschaft vergisst nie, Mister Parker. Sie haben uns entdeckt und wurden eingeweiht mit allem was es zu wissen gibt. Die Vampire haben sich der Welt gezeigt, das wäre angesichts ihres Wissens ein Vorteil für Ihre Situation, verstehen Sie? Jetzt weiß ja ohnehin jeder Bescheid, warum also schickt man einen Eraser zu Ihnen um Ihr Gedächtnis zurück zu setzen?“ Ja, warum tat man so etwas? Parkers Blick hob sich vorsichtig in das Leuchten einer magentafarbenen Reklametafel. Seine glänzenden Augen suchten in den Schatten das vergnügte Gesicht des Chinesen nach ersten Hinweisen einer Antwort ab. Doch da war nichts in diesem Mann vor ihm. Weder Erbarmen, noch ein anderes Gefühl neben dem unvergleichlichen Hohn dem ihm dieser Mann gegenüber ausstrahlte. So sehr wie er diesen Vampiren hasste, so sehr hasste dieser Mann ganz offensichtlich ihn, auch wenn Parker nicht verstand wieso oder was er dem Vampiren getan hatte. Er kannte den Mann ja nicht einmal. „Die Antwort ist ganz einfach. Sie haben sich wenig kooperativ gezeigt und haben nicht nur Insider-Wissen über Lesser und deren Position in der modernen Neuzeit, sondern kennen auch die wichtigsten Abläufe der Bruderschaft. Sie kennen mich. Sie wissen welche Aufgabe ich im Rahmen der Bewahrerfunktion unserer Gesellschaft vertrete und sie wissen von den Gaben, die uns Gott mit in die Wiege gelegt hat. Mister Terdion war so freundlich und hat uns einen Bericht zukommen lassen aus dem hervorgeht über welches Wissen sie verfügen, beispielsweise sind sie ja ein kleiner Profi in Sachen Regenerationsprozess eines Vampiren und sie kennen auch die lebensverlängernden Gaben von Miss von Berceuse oder den emotionalen Transfer von Mister Suaco. Sie haben Ahnung, Mister Parker. Viel Ahnung und das macht Sie selbst nach dem weltweiten Outcoming der Vampire zu einem gefährlichen Mitwisser.“ Parker blieb die Spucke weg. Er wusste gar nicht was er auf die Schnelle antworten sollte. Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein wie faustgroße Hagelkörner. Zum Beispiel dass er niemals um das Wissen über Vampire gebeten hatte. Terdion hatte ihm seinen Arm vor die Nase gehalten und demonstrativ mit einem Messer längs seiner Sehnen entlang geschlitzt, nur um ihm zu demonstrieren wie phänomenal die Heilungsfähigkeit eines Überwesens war. Von Berceuse meinte ihm erklären zu müssen was es mit der Gabe Leben zu geben und zu nehmen auf sich hatte, was sie am Verwelken und Erneuern einer Narzisse demonstriert hatte und was Suaco betraf, er hatte keinen blassen Schimmer was der Drache mit Suacos emotionalem Transfer meinte. Er wusste nur eines: „Ich wollte das alles doch gar nicht wissen!“ „Sehen Sie“, antwortete der Chinese gelassen. „Deswegen bin ich hier, um ihren Verstand zu rebooten. Sie werden das alles bald schon nicht mehr wissen. Das könnte ein wenig weh tun, aber Sie werden es schon überleben. Stellen Sie sich einfach etwas schönes vor. Hmm, denken Sie an Ihren Ex. Oder ist der Gedanke zu bieder? Nein, sonst hätten Sie womöglich nicht das nette Foto auf Ihrem Nachtisch stehen. Also, entspannen Sie sich. Wenn Sie wieder aufwachen ist alles vorbei und Sie sind wieder der pupsnormale SKA-Mitarbeiter, der in sein langweiliges Polizisten-Leben zurück kehren kann.“ Der Chinese trat einen Schritt auf Parker zu, die Hände nach seinen Schläfen ausgestreckt. Er spürte förmlich die Kälte aus der Ferne anrücken, die in diesen Fingerspitzen lauerte. Panisch platzte er ein „Warten Sie!“ hervor. Und in der Tat, der Chinese hielt kurz vor seinem Gesicht inne. Vermutlich dachte er dass es keine Rolle spielte ob sie noch fünf Minuten plauderten, wo er ohnehin schon fast eine halbe Stunde allein damit verplempert hatte ein paar Kerzen aufzustellen und sich die Umzugskartons in der Vorratskammer anzuschauen. „Werden auch noch andere Erinnerungen gelöscht?“, hastete er. Der Drache zuckte die Schultern. „Mal so, mal so. Ist ein wenig wie das Entleeren eines Papierkorbs. Was mit Kaugummi an der Tüte klebt bleibt zurück, selbst wenn man den Eimer umwirft.“ Das war nicht hilfreich. Im Gegenteil. Es versetzte Parkers ohnehin unruhig schlagendes Herz in ein angsterfülltes Flimmern. Konnte Blut schaumig werden? Falls ja, musste Parker bald um sein Leben fürchten. Er glaubte er würde ohnmächtig vor Angst. „Wie weit werden Sie gehen?“ „Wann sind Ihnen denn die ersten Vampire begegnet? Vor zwei oder drei Wochen? Dann wären es etwa drei Wochen. Gut möglich dass ich etwas mehr weg nehmen muss. Ich greife quasi ins dunkle Ihres Bewusstseins. Da nimmt man, was man zu fassen bekommt. Wenn man einen Tumor entfernt, schneidet man ja auch ins gesunde Fleisch. Kann also nichts versprechen. Aber Sie schaffen das schon, sind doch schon groß.“ „Und was ist mit anderen Erinnerungen? Was ist mit anderen Dingen, die nichts mit euch Vampiren zu tun haben? Kindheitserinnerungen zum Beispiel?“ Er brauchte Zeit. Ein Plan musste her. Eine Idee wie er sich aus dem Stuhl befreien und sich des Vampiren entledigen konnte. „Was weiß ich, Parker. Seien Sie nicht so eine Mimose und hören Sie schon auf zu heulen. Sie werden sich eh an nichts mehr erinnern. Ich schnapp mir Ihre Erinnerungen und dafür behelligt Sie die Bruderschaft nie wieder. Ich sag Ihnen, dass ist das Beste was Ihnen hier und heute passieren kann. Sie werden sehen, es ist gleich vorbei.“ Ohne weitere Vorwarnung umschlossen die kühlen Finger des Mannes Parkers Kopf wie einen Helm. Beinahe hätte er sich vor Angst kaum rühren können, doch der Wille seine Erinnerungen mit allem was er hatte zu verteidigen, war stärker. Von den klammen Fingern aufwärts, schüttelte Parker Arme, Beine und Kopf so wild er konnte um sich von dem festen Griff der Hände los zu reißen. „Hören Sie schon auf! Das ist doch albern“, belächelte ihn der Chinese und für einen kurzen Moment befreite er ihn aus seiner Klammer um ihm eine Backpfeife zu verpassen. Parker spürte jedoch weder einen Schmerz, noch sah er den Mann richtig vor sich. Das Bild verwackelte einen Augenblick wie die Störung auf einem Monitor. Er winkelte die Fersen an und schaukelte den Stuhl nach hinten. Erneut kippte das Bild, doch diesmal weil der Stuhl der Gravitation nach hinten folgte und Parker mit der Lehne auf die Tischkante aufschlug. Das Holz brach hinter seinem Nacken und schützte ihn womöglich vor einem hässlichen Genickbruch. Und dann, endlich, wich der Hochmut aus der Haltung des glattgesichtigen Drachen mit den Schlitzaugen. Der Chinese tobte und griff nach dem Kragen des Polizisten. „Sie Irrer. Haben Sie eine Ahnung was man mit Ihnen tut, wenn Sie das hier schadlos überstehen?“ Zwischen den zerbrochenen Überresten taumelten die wenigen brennenden Kerzen. Einige waren durch den Luftzug des umschwingenden Möbelstücks erloschen, doch die, welche noch brannten, rollten Richtung seines Kopfes und Parker blies panisch in Richtung des rollenden Bären in Knickerbocker und Hut. Doch in seiner verzweifelten Lage blies er gleich mehrfach daneben. Über funkelnden Bärenaugen flirrte blutrotes Licht der Kerze. Bevor ihn das heiße Wachs die Augen verbrannte, zerrte ihn der Chinese allerdings wieder in die Aufrechte und mit ihm den zerbrochenen Stuhl, der schwer an seinen Waden hing. Erneut klackerte es hinter ihm und das Sammelsurium an Kerzen verteilte sich auf dem Wollteppich. „Oh shit“ und irgendwelche chinesischen, unartikulierten Laute überfielen die entgleisten Züge des Drachen, dem die Zigarette nur so aus dem offenen Mund fiel. Unter dem Tisch brannte Parkers Teppich lichterloh und das noch kleine, gemütliche Feuer tanzte verzückt über echte Schafswolle Richtung Vorhang. Der Chinese trat mit einem Bein den Glastisch weg, entschlüpfte seinem Jackett und warf es wie einen Umhang über die Flammen. Riverdance auf weißem, in Flammen stehendem Satin ließ die vorherige, heimelige Stille weichen und in Parkers Wohnung überschlugen sich die Ereignisse binnen Sekunden. Hinter dem trampelnden Chinesen kam der Polizist wieder auf die Beine und humpelte umständlich mit dem Stuhl Richtung Tür. Binnen weniger Sekunden verlor er ein weiteres mal das Gleichgewicht, stürzte zu Boden wie ein Rugbyspieler und robbte auf allen vieren unterhalb des dichter werdenden Rauches, der sich in seinem Wohnzimmer ausbreitete. Der nächste Fluch des Chinesen ging in ein schrilles, ohrenbetäubendes Piepen über. Über dem Fernseher blinkte aufgeregt der Feuermelder und versetzte die gesamte zehnte Etage des Hochhauses in Aufruhr. Parker vernahm einen mächtigen Tritt in sein Kreuz, doch seinen Schrei hörte er selber kaum in dem tosenden Lärm des Alarms. „Du blöder Penner. Dafür lösche ich dir dein gesamtes Hirn und mach aus dir einen verdammten, sabbernden Lappen!“, hätten die Worte sein können, die der Chinese ihm entgegen spie als er ihn zurück auf den Rücken drehte, doch der Drache stand in züngelnden Flammen und Parker sah wie die brennende Gestalt über ihm nach seinem Hals angelte und falls das Worte sein sollten, die da aus seiner Kehle drangen, war es nur das animalische Gebrüll eines Tieres das er verstand. Der Rauch wölkte schwarz und monströs wie eine Gewitterwolke über ihren Köpfen zusammen und der kreischende Vampir drückte seine Kehle zu, streifte mit der anderen Hand Parkers Gesicht und legte ihm die Hand über Augen, Nase und Mund. Er brüllte etwas, vielleicht aber war es auch nur das Fauchen der Flammen oder die herabstürzenden, lodernden Vorhänge die in Parkers Ohren krachten wie aufplatzende Autoreifen. Seine Augen brannten und seine Kehle schwoll zu. Parker wusste, wenn er nicht ersticken sollte, dann würde er an einer Rauchvergiftung elendig krepieren. Beides bedeutete unweigerlich seinen Tod. Trotz seines wilden Herzschlags und der durcheinander tauchenden Rauchsäulen, sah er einen Augenblick verdammt klar. Er sah durch die Fingerzwischenräume das langsam in sich einfallende Gesicht des Chinesen, dessen schmale Schlitzaugen beinahe nur noch schmale Striche waren. Zum ersten mal war es hell genug dass er den schwarzhaarigen Asiat deutlich erkannte. Über seinen vollen Lippen kräuselte sich ein dunkler Bartflaum. Die Haare des Mannes waren so wild durcheinander geworfen wie das Feuer, das hinter ihm tanzte. In seinem weit aufgerissenen Mund glänzten zwei spitze Fänge. Parkers tränenfeuchter Blick verschwamm bevor der wahnsinnige Beisser seine Augen vollends bedeckte. Doch es fühlte sich wie weit mehr an, als wären nicht nur seine Augen blind, sondern auch seine Seele. Als läge sich ein Schatten über seine Gedanken, der ihn in eine dumpfe Schwerelosigkeit drückte und das knisternde Feuer, den Gestank von verbrannter Wolle und zerlaufender, wachsgleicher Vampirhaut in weite Ferne entrückte. Er würde sterben. Hier und heute. Wenngleich er es sich selbst verbockt hatte und in seiner panischen Aktion seine Wohnung in Flammen gesetzt hatte, erfasste ihn doch eine angenehme Zufriedenheit mit sich und der Welt. So wie er da unter dem Würgegriff des Vampiren nach Sauerstoff ringend röchelte, funkelte um ihn herum alles in wunderschönen orange-roten Tönen, da kam ihm nur ein befreiender Gedanke in den Sinn: Gleich bin ich bei dir Ryan.   ...   Das starre Piepen der Maschine ließ ihn aufschrecken. Er war hellwach, als hätte er nie geschlafen. Vor ihm, hinter einem metallischen Bettgitter, erspähte er einen Tisch auf dem jemand einen Blumenverkaufsstand eröffnet zu haben schien. Er hatte keine Ahnung welcher Gattung diese Gestecke angehörten, dafür sah er noch nicht klar genug, doch die satten, bunten Farben vor dem sterilen, neutralen weiß der Wand, erinnerten ihn an seinen vorletzten Krankenhausaufenthalt. Schwerfällig drehte Parker seinen Kopf auf einem weichen Kissen und schaute sich um. Rechts und links von sich standen große Geräte, die ihn weit überragten. Verworrene Kabelknoten spannen sich von den Apparaturen bis hin zu seinem Bett und geradewegs an seine Brust und Arme. Er glaubte irgendwo einen Schnabelbecher zu erkennen, außerdem stand dort ein Spind und auf einem Stuhl lag eine Sporttasche, die ihn an seine eigene von zu Hause erinnerte. Horchte er tief in sich hinein, sagte ihm irgendeine Stimme, dass das seine Tasche war und dass die Blumen ihm gehörten und dass er gestern Mittag Besuch hatte von netten Kollegen, die ihm damit Genesungswünsche vorbei brachten. Er wusste aus einem Instinkt heraus dass er erst mal liegen bleiben sollte, bis ein Arzt kam, weil er sich ein einem Krankenhaus auf der Intensiv-Station befand und er ahnte was der Grund für diesen Kurzurlaub war. Rauchvergiftung, klang es unheilkündend in seinem Hinterkopf. Eine mittelschwere Rauchvergiftung und viele fachsprachliche Worte kreiselten dort hinter seinem trüben Blick herum, die er nicht zuzuordnen wusste. Es dauerte einige Minuten bis endlich jemand durch die Tür an sein Bett trat. Das Gesicht der Pflegerin war matt, aber freundlich. Sie trug eine Haube und rosigen Lippenstift. Ihr Ausschnitt war von einem blauen Kittel bedeckt und sie half Parker auf die Bettkante, nahm ihm Blutwerte ab um eine Unterzuckerung auszuschließen, nahm seine Vitalwerte zu Protokoll und tastete seinen Puls. Sie sprach nur wenig, doch was sie sprach, brachte Parker zum Lächeln. „Da haben Sie aber noch mal richtig Glück gehabt. Ich glaube morgen früh verlegen wir Sie wieder auf die normale Station.“ „Das freut mich zu hören“, sagte Parker, weil er glaubte etwas sagen zu müssen, nicht weil es ihn wirklich freute. Er hatte das Gefühl dass so etwas wie Freude in nächster Zeit nicht möglich wäre. „Wie fühlen Sie sich allgemein?“, hakte die Schwester nach. „Uhm, etwas benebelt. Habe ich Schmerzmittel bekommen?“ „Ein paar. Vertragen Sie Novamin? Sie hatten keine Unterlagen dabei, aber das ist eigentlich ein gängiges Präparat in solchen Fällen.“ Novamin ist in Ordnung, dachte Parker. Allerdings sagte er nur „Ich fühle mich etwas leer.“ „Sie haben ein schweres Trauma, Mister Parker. Sie brauchen viel Schlaf nach dieser Sache.“ „Sie meinen den Brand.“ „Oh… ja“, sagte die Schwester. Parker schaute sie eine Weile fragend an. „Sie sollten sich nach Ihrem Krankenhausaufenthalt vielleicht einen Psychologen suchen. Wir haben ein paar gute an der Hand. Es ist oft schwer für Opfer von Gewaltverbrechen in Ihr normales Leben zurückzukehren. Vor allem nachdem sie so vieles verloren haben.“ Es wäre sicherlich trefflicher gewesen nun noch einmal den Blutdruck zu überprüfen. Parkers Herz machte einen Satz. „Opfer von Gewalt…? Ich verstehe nicht.“ „Sie erinnern sich sicherlich bald wieder. Gestern hat es auch einen Moment gedauert ehe die Gedanken wieder zurück kamen.“ „Gestern war ich schon wach?“ Er überlegte kurz. Ja, richtig, er war bereits erwacht. Doch diese Erinnerung konnte er nicht richtig erfassen. Es war so eine Ahnung: Ja, ich ahne dass ich wach war. „Ja. Sie sind schon seit einigen Tagen wieder unter den Lebenden, wenn ich das so sagen darf“, lächelte die Schwester in ihre Worte rein. „Aber heute sind Ihre Werte besser als die ganze vergangene Woche. Sie sind bald wieder fit.“ „Was genau ist passiert?“, beharrte Parker und versuchte dabei so locker wie möglich auszusehen. „Sie sollten sich noch etwas ausruhen, Mister Parker. Ihr Chef kommt heute Nachmittag vorbei, sagt er. Er möchte sich mit Ihnen über den Vorfall unterhalten.“ Nach einigem Zögern fügte sie jedoch etwas leiser hinzu: „Sie sagten im Schlaf immerzu Sie wurden von einem Vampiren attackiert.“ „Einem… Vampiren?“, wiederholte Parker fast lachend als wäre dieser Gedanke absolut absurd.   Doch dann hielt er einen Moment inne als würde er tief in sich hinein lauschen. Da war diese leise Stimme, die ihm half sich neu zu orientieren. Sie flüsterte ihm unaufdringlich zu, bis seine Gedanken wieder klarer wurden, dann verschwand sie. Parker mutmaßte das es seine eigene Stimme war, denn die Worte die sie sprach, waren formuliert, wie er für gewöhnlich formulierte. Schließlich wiederholte er was ihm die Stimme diktierte. Er sagte in das verblüffte Gesicht der Schwester: „Ist der Vampir tot? Habe ich ihn umgebracht oder war es das Feuer?“ Er machte eine kurze Pause und seine matten Züge formten ein halb hoffnungsvolles, halb verbitteres Lächeln. „Ich hoffe ich bin es gewesen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)