Verliebtsein macht kurzsichtig von Whiscy (1) ================================================================================ Kapitel 1: Liebe außer Sichtweite ---------------------------------   Als die sechzehnjährige Charlotte Fetzer still und heimlich Tassilos Namen auf ihren Block kritzelte, ahnte sie nicht, welche Konsequenzen diese Offenbarung der Gefühle nach sich ziehen würde. Nämlich viele. Blöde. Blöd war auch, dass sie jetzt von der Seite angetippt wurde: Ihre beste Freundin Eileen hatte leider entziffern können, wessen Name auf dem karierten Papier prangte. »Na na, keine feuchten Träume im Unterricht!«, witzelte die Blondine und grinste verschmitzt, woraufhin Charlotte so rot wie eine Ampel anlief. Ja, sie hätte vielleicht besser aufpassen sollen – sowohl auf den Unterricht, als auch darauf, sich nicht von ihrer Freundin beim Tagträumen erwischen zu lassen. Denn: Eileen war dafür bekannt, kein Geheimnis für sich behalten zu können. »Höhöö! Da wird aber jemand rot!«, kommentierte sie zu allem Überfluss Charlottes Gesichtsfarbe. »N-nein! Das ist nur ... Ach lass mich in Ruhe!«, quetschte diese hektisch hervor. »Na schön. Aber dann verrate mir, seit wann du auf unseren Schulschwarm stehst!« Verlegen sah Charlotte zur Seite, nach links unten auf den Boden. Dahin, wo ihre gestreifte Schultertasche an dem Tischpfosten lehnte. Sie liebte diese Tasche, es war eines der wenigen Markenteile, das sie besaß. June, so hieß das Label. Die machten wirklich schöne Sachen. »Erde an Charlotte!«, nervte Eileen weiter, die sich mittlerweile mit dem Oberkörper über den Tisch gelegt hatte. Dank ihres Stufenschnitts zerteilte sich ihr hochgebundener Pferdeschwanz in mehrere Abschnitte, wie bei einem Palmenstrauch. Dieser wippte lustig hin und her, als Eileen den Kopf hob, um Charlotte direkt anzusehen. »Okay, also ... es war Liebe auf den ersten Schluck!«, verriet sie ihr endlich, immer noch knallrot im Gesicht.   -o-o-     »BITTE WAS?!« »Ich ... stand gerade vor der Bibliothek und habe mir die Neuerscheinungen von Jugendbüchern angeschaut, als Tassilo kam ... und dann ... dann ... « »Jetzt mach es doch nicht so spannend!« » ... dann hat er mir seine Cola geschenkt!« »Bist du sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast ... ?«, flüsterte Eileen leise, was Charlotte jedoch getrost ignorierte. » ... mein Herz klopfte wie wild!«, fuhr sie unbeirrt fort. »Mir hat noch nie ein Junge ein Getränk geschenkt! Oder sonst irgendwas!« »Ach ja?« Mega skeptisch zog Eileen eine Augenbraue hoch. Charlotte schwärmte weiter: »Tassilo ist groß, sportlich, kann singen und ist beliebt! Er ist mein Traumprinz!« »Klar ist Tassilo beliebt, er ist der Schulschwarm ... «, erwähnte Eileen und beschloss, ihrer blind verliebten Freundin den Kopf zu waschen. »Charlotte, du hast dir da den Falschen ausgesucht!« »Wieso?« »Weil alle Weiber hinter Tassilo her sind.« »Na und?« Charlotte funkelte sie trotzig an, so viel Mut hatte Eileen ihrer Freundin gar nie zugetraut. Es war ihr einfach mal egal, dass es schwer war, an Tassilo, den Schulschwarm, heranzukommen. Oder sie hatte einfach noch nicht realisiert, was da auf sie zukommen würde ... das wäre eher typisch Charlotte. »Und außerdem ist Tassilo ein Abbild von Finn!«, dudelte die Voll-Verliebte weiter. »Die sehen sich überhaupt nicht ähnlich!«, konterte Eileen, doch das hielt ihre Freundin nicht vom Schwärmen ab: »Die beiden haben so viel gemeinsam!« Finn war ein Musical-Star aus einer Fernsehserie, die Charlotte vergötterte wie keine andere. »Schluss jetzt!«, versuchte Eileen dem ganzen Geglitzer um den Schulschwarm ein Ende zu setzen. »Das alles ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe. Du solltest dir Tassilo aus dem Kopf schlagen.« Sie legte ihre rechte Hand an die Stirn, unterstrich damit ihre Bestürzung. Da schwieg die Frischverliebte kurz, bevor sie noch einmal das Wort ergriff: »Eileen.« Diese sah sie mit offenen Augen an. »Ich habe mich wirklich verliebt ... «, gestand Charlotte und driftete selbst mit ihren Gedanken ab, in die Vergangenheit.   -o-o-   »Na Wischmopp, schau mal was wir hier haben ... ?« Ein paar Jungen hatten die achtjährige Charlotte umkreist. Wie Monster drängten sie sich dem kleinen, zarten Mädchen auf, grenzten sie ein. Ihre wilden, kupferfarbenen Locken standen zerzaust in alle Richtungen ab. In den Armen hielt sie ein Mathebuch, das sie eigentlich gerade in ihrem magentafarbenen Rucksack verstauen wollte. Die Kinder standen vor der Grundschule, es war Unterrichtsschluss. Zeit, nachhause zu gehen. Aber heute scheinbar nicht für Charlotte. Einer der Jungen trug eine dicke, rechteckige Brille. Er grinste hämisch. Urplötzlich stürmte er direkt auf Charlotte zu, riss ihr das Buch aus den Händen. So grob, wie er das tat, kratzte er sie versehentlich am Arm – aber es tat weh, als wäre es Absicht gewesen. »Komm und hol dir dein Scheiß-Buch, Streberin!«, brüllte er. Sie warfen ihr Mathebuch im Dreieck herum, Charlotte jagte von einer Ecke zur anderen, konnte das Buch nicht in die Finger kriegen. Sie waren zu groß. Sie waren zu schnell. Sie waren zu stark. Tränen flossen. Viele. Warum nur waren alle Jungs so gemein zu Charlotte? Warum konnten sie sie nicht in Ruhe lassen? Warum?   -o-o-   Die gegenwärtige Charlotte trug einen großen, runden Haarknödel auf dem Kopf. Das schräge Pony fiel ihr in die Stirn, doch kein einziges Haar stand ab. Dafür sorgte sie jeden Morgen mit ihrem Glätteisen. Wischmopp-Charlotte, die gab es schon lange nicht mehr. »Möchtest du eine Cola?« Tassilo blitzte in ihren Gedanken auf. Wie er sie mit sanften Augen ansah, die Coladose in der Hand. Seine schwarzen, glatten Haare waren leicht zerzaust – aber nicht unordentlich. Sie hatten eher etwas Wildes, Rebellisches. Etwas Liebenswertes. Er war nicht so, wie die anderen, das wusste Charlotte. Nein. Tassilo war ein Gentleman, ein Retter, ein Prinz. Er war der erste Junge, der Charlotte angesprochen und respektiert hatte. Und der erste, in den sich verliebt hatte.   -o-o-     »Charlotte!«, rief Herr Özdemir in der Gegenwart aus heiterem Himmel. »Wer ratschen kann, der kann auch antworten!« Der für seinen trockenen Humor bekannte Deutsch-, Geschichts- und Sportlehrer war so gut gelaunt wie eh und je. »Also?« »Ähm ... also ... der erste Weltkrieg begann ... 1890?«, brachte Charlotte stammelnd hervor. Noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, fing Herr Özdemir an den Kopf zu schütteln. Hinter ihr streckte der bebrillte Klassen-Oberstreber Klaus seinen Arm hoch in die Luft, sodass Charlotte sich wünschte, er würde ihn überdehnen oder sich eine fiese Zerrung davon holen. »Ja, Klaus.« Der Geschichtslehrer winkte dem Jungen zu, er solle die Klasse aufklären. Dieser holte tief Luft, bevor er losschmetterte: »Der erste Weltkrieg begann am 28. Juli 1914 aufgrund der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Auslöser dafür war das Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914 und die damit ausgelöste Julikrise. Beendet wurde der erste Weltkrieg durch den Waffenstillstand von Compiégne, der einen Sieg aus der Triple-Entete bedeutete, einer Kriegskoalition. Beteiligte Länder waren Deutschland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, Russland, Serbien, Belgien, Italien, Rumänien ... « Klaus laberte noch weiter, es kam Charlotte wie eine Stunde vor. Tatsächlich verstrichen nicht gerade wenige Minuten während seines Vortrags. Am Ende grinste der Klassenstreber frech vor sich hin und meinte nur noch: »Stimmt's?« Dabei lehnte er sich mit dem Stuhl nach hinten, kippelte. Offensichtlich hatte Klaus nur angeben wollen, was Gott sei Dank Herr Özdemir auf den Senkel ging: »Hervorragend Klaus. Jetzt wissen wir sogar über den ersten Weltkrieg, was wir nicht wissen wollten.« Charlotte feierte ihren Geschichtslehrer, der sich jetzt der gesamten, verschlafenen Klasse zuwandte: »Ihr dürft wieder aufwachen, Schnarchnasen. Klaus ist endlich fertig.« Da streckte der Brillenstreber schon wieder den Zeigefinger nach oben und protestierte: »Nicht ganz, Herr Özdemir!« Eileen, die mit verschränkten Armen auf ihrem Pult kauerte, beugte sich zu Charlotte vor. »Ich will ihn töten«, äußerte sie ihre aktuelle Mordlust. »Nicht nur du.« Wenn es etwas gab, was Charlotte wirklich hasste, dann waren es Streber. Aber wer tat das nicht. In diesem Moment machte Klaus den Fehler, sich zu sehr auf seine Balancierkünste zu verlassen. Der Stuhl glitt ins Nichts und der Junge kippte mit ihm um. Fatz! So lag der Klassenstreber mit einem Mal rücklings auf dem Boden, seine lockigen blonden Haare küssten die Dielen. Das war Anlass genug, um dem Gelächter seiner Mitschüler ausgesetzt zu werden. »HAHAHAHAHA!«, giggelte der Schülerpulk. »Und raus ist Klaus!«, kommentierte einer von ihnen. Im selben Moment bimmelte es, die Stunde war endlich vorüber. Ein schöner Schlussakt, fand Charlotte. Als Eileen und sie sich erhoben, verkündete ihre Freundin: »Ich geh dann mal zum Training, wir sehen uns morgen.« Und verließ das Klassenzimmer. Klaus, der immer noch scheinbar besinnungslos am Boden lag, wurde von seinem Sitznachbarn Theo aufgelesen: »Hey Kumpel, es hat geklingelt. Steh auf!« Er tippte ihn mit dem Fuß an, als wäre Klaus ein Karton mit übelriechendem Inhalt. Charlotte konnte darüber nur den Kopf schütteln. Das geschah dem Streber recht. Gerade, als auch sie das Klassenzimmer verlassen wollte, erhaschte sie allerdings ein paar Worte. Worte von Mitschülerinnen, die sie an Ort und Stelle erstarren ließen, die sie binnen einer Sekunde fesselten. »Hast du schon gehört? Tassilo soll ... « Sie sprachen über Tassilo! Heimlich stellte Charlotte sich in die Nähe der zwei Mädchen und tat so, als würde sie die Pinnwand studieren. »Nee, oder?« »Doch.« »Neiiiin ... « »Doch.« Worüber redeten die beiden? Charlotte bückte sich, als wäre ihr etwas heruntergefallen, um ihre Klassenkameradinnen genauer zu verstehen. »Es ist wahr. Tassilo hat heute einer seine Liebe gestanden.« »Hör auf! Ich will das nicht hören!« Charlotte ... wollte das auch nicht hören.   -o-o-     Benebelt von der neuen Nachricht torkelte Charlotte auf den Schulhof hinaus. Tassilo hatte einem Mädchen seine Liebe gestanden. Ihr Tassilo! »Wieso? Wieso, wieso, wieso, wieso nicht ich?«, ärgerte sie sich, mit beiden Händen an den Kopf greifend. Sollte der tollste Junge der Schule wirklich bald nicht mehr zu haben sein? »Was geht mit der denn heute«, kommentierte Klaus von weitem Charlottes seltsame Verrenkungen. Sein Freund Theo und er hatten gerade das Schulgebäude verlassen. »Keine Ahnung. Aber ich muss los, wir sehen uns morgen.« Theo, der schwarzhaarige Asiate, rückte sich die Brille zurecht und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nicht so Klaus, der heimwegbedingt hinter Charlotte herspazierte. Das Mädchen trug die Haare zu einem kupferfarbenen Wollknäuel zusammengebunden. Wie jeden Tag. Klaus ärgerte sich oft darüber, da ihm der Dutt die Sicht auf die Tafel erschwerte. Doch weil er sich noch im Wachstum befand und die letzten sechs Monate bereits stolze fünf Zentimeter aufgeholt hatte, war er sich sicher, dass Charlottes Frisur ihn nicht mehr allzu lange nerven würde. Wrumm! Aus der Ferne raste ein Auto die Straße herunter. Die Ampel blinkte rot, was Charlotte gekonnt ignorierte, indem sie den ersten Fuß auf den Straßenasphalt setzte. Der Wind trug ein paar Kirschblüten über die Gegend, denn alles blühte an diesem Tag. Auch Charlotte würde gleich etwas blühen, wenn er nichts unternahm. Ohne groß nachzudenken spurtete Klaus los. Er griff nach ihrem Arm, zog sie nach hinten. Das Auto war bereits da. Angekommen, um Charlotte mit ins Jenseits fahren. Reifen quietschten in einem unerträglich hohen Ton. Sie fielen und fielen. Der Bruchteil einer Sekunde kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Dann landeten sie beide auf dem harten Beton. Der Autofahrer drückte auf das Gaspedal, fuhr davon. Mit röhrendem Motor. Und ließ die Oberschüler auf dem Gehweg liegend, zurück. Die kleine Ewigkeit war vorüber, die Stille des Schockes verflüchtigte sich und der Lärm von Schaulustigen erreichte sie wieder. Charlotte war auf Klaus gefallen, mit dem Rücken zu seiner Brust. Ihn hatte der Aufprall total erwischt, seine Knochen schmerzten. Außerdem presste ihm das Mädchen mit seinem Gewicht die Luft ab. »Charlotte.« »Unter die Räder ... ich wäre beinahe ... «, brachte Charlotte nur hervor, ohne eine Absicht sich zu rühren. »Charlotte!«, wiederholte sich Klaus. Das Bild von dem Wagen, der sie beinahe überfahren hätte, hatte sich wohl in ihren Kopf gebrannt und ließ sie nicht mehr los. »HEY, CHARLOTTE!«, motzte Klaus deshalb noch lauter. »Was?!« Sie reagierte dezent zickig. »Geh von mir runter ... «, stöhnte er. »Oh!« Endlich verstand sie und erhob sich, sodass Klaus wieder einatmen konnte. Als die beiden sich schließlich aufrichteten und direkt gegenüber standen, warf der bebrillte Streber dem Mädchen einen strengen Blick zu. »Was guckst du so?« Mehr fiel Charlotte in dem Moment wohl nicht dazu ein. Das brachte ihn auf hundertachtzig. Klaus räusperte sich, bevor er ausbrach wie ein Vulkan: »Hast du keine Augen im Kopf?! Wie kann man nur diese knallrote Ampel übersehen!« So wütend hatte Charlotte ihn bestimmt noch nie erlebt, doch sein Gezeter schien sie nicht wirklich zu interessieren. Genervt wandte sie den Blick ab und betrachtete die Kirschblütenbäume rings um den Schulhof. Oh nein, mit Ignoranz würde sie ihm nicht davonkommen. »Was, wenn dich Kinder nachahmen? Du bist ein schlechtes Vorbild!« Die letzten beiden Wörter schrie er fast. Einige der Schüler blieben kurz stehen, bis sie merkten, dass da nichts weiter Aufregendes passierte. Außer, dass Klaus eben seine Mitschülerin zur Schnecke machte, die weniger einsichtig und mehr gestresst wirkte. »Hm ... meinetwegen: Sorry! Kann ich jetzt gehen?« Charlotte zeigte sich unbeeindruckt und verschränkte die Arme. »Wie wär's noch mit: Danke, dass du mir das Leben gerettet hast?«, schlug Klaus vor. Charlotte verzog das Gesicht. »Nee, lass mal.« Damit ließ sie den blonden Lockenkopf einfach so stehen. Mit seinem zerknitterten Gesicht, das vor Zorn rot angelaufen war. »Ciao Glasauge!«, warf sie ihm noch hinterher, bevor sie komplett aus seinem Blickfeld verschwand. Die Zicke.   -o-o-     Abends saß Charlotte in ihrem Zimmer und schmollte. Mit einer Tasse Kaba bewaffnet, gegen den Kummer. Ihr Zimmer war nicht besonders groß, neben Schrank, Schreibtisch, Bett und Kommode passte nicht allzu viel hinein – dafür schmückten umso mehr Pferdeposter die Wände. Sie hatte diese Mädchenphase niemals überwunden. »Vielleicht bin ich nicht dafür bestimmt ... mit Tassilo zusammen zu sein.« Mit gesenktem Kopf starrte sie in ihre heiße Schokolade. »Aber wozu dann?« Der Fast-Unfall kam ihr wieder in den Sinn, das Bild des blauen BMWs, der sie um ein Haar ins Jenseits befördert hätte wenn ... »Ist das etwa mein Schicksal? Zumindest wäre es das gewesen, wenn Glasauge nicht gewesen wäre ... « Sie hob die Tasse, pustete die Hitze weg und trank einen Schluck. »So oder so, muss ich damit leben, dass Tassilo mich nicht liebt.« Wehmütig ließ sie das Getränk wieder in ihren Schoß gleiten, mit beiden Händen fest umklammert. »Ich werde nie wieder glücklich sein.« Tock, tock! Ein Klopfen unterbrach ihre Gedankengänge. Es war ihre Mutter Jolinde. »Charlotte, Glee fängt gleich an!«, rief sie durch die Tür. Sofort begannen die rehbraunen Augen des Mädchens zu glitzern. »Komme sofort, Mama!« Wie ausgewechselt pflanzte Charlotte sich neben Jolinde auf die Couch im Wohnzimmer. Ihre Mutter hatte sogar eine Schüssel Chips auf dem gläsernen Wohnzimmertisch abgestellt, über die sie sich nun freudig hermachten. Wenn es eines gab, was sie gerade jetzt, in ihrem Liebeskummer, aufheitern konnte, dann war es ihre Lieblingsserie Glee. Eine Musical-High-School-Serie aus Amerika. Von der ersten Episode an war Charlotte hin und weg gewesen, und vor allem: abhängig. Sie war ein stolzer Serien-Suchti. Für ihre Mutter war das in Ordnung, da sie die Fernsehserie auch mochte, wenn auch nicht so sehr wie ihre Tochter. »Du Mama ... würdest du mich diese Woche krankschreiben«, fragte Charlotte in der Werbepause. »Wir schreiben bald einen Englischtest und ich möchte lieber mehr lernen als mir Mathe anzutun.« Das war glatt gelogen, Charlotte wollte einfach nicht Tassilo in der Schule begegnen. Ihr Herz würde zerspringen. »Englisch, hm? Wann schreibt ihr den?«, erwiderte Jolinde daraufhin, mit kritischem Blick. »Die Woche darauf« Das war nicht gelogen. Jolinde fackelte nicht lange. »Aber nur, wenn du die Lernhilfen benutzt, die ich dir gekauft habe.« »Yay, Mama du bist die Beste!« Charlotte fiel ihr glatt um den Hals. Sie hatte wirkliche die beste Mutter der Welt! Aber vielleicht hatten die ja alle Scheidungskinder. Wer wusste das schon.   -o-o-   Nach diesem Beschluss verbrachte Charlotte die Tage allerdings weniger mit Lernen, als mit Fernsehen. Eingemummelt in ihrem dunklen Stern-Hoodie, von morgens bis abends – während niemand zuhause war, weil Charlotte allein mit ihrer Mutter lebte – kauerte sie auf der roten Ledercouch und starrte in das Viereck. Wenn ihre Mutter heimkehrte, tat das Mädchen dann so, als würde es lernen. Die perfekte Masche war das natürlich nicht, spätestens am Wochenende entlarvte Jolinde sie. »Charlotte, du weißt, ich schreibe dich immer krank, wenn du damit besser lernen kannst ... solange du akzeptable Noten heimbringst! Aber unter Lernen verstehe ich etwas anderes!« Ihre Mutter starrte sie an. Sie, Charlotte, deren Augen bereits tiefe, blutunterlaufene Ringe kennzeichneten, was natürlich vom vielen Fernsehen kam. »Mama! Meine Augen brennen!«, heulte sie. »Schluss jetzt! Morgen geht es wieder in die Schule! Und du hast Fernsehverbot!«, bestimmte Jolinde wütend. Charlotte jedoch war noch völlig abgelenkt von dem Schmerz ihrer Augen, den sie jetzt erst wahrnahm. »Ich sehe nur ... weißes Licht! Waaas? Fernsehverbot?!« Die Realität traf sie hart.   -o-o-   Schließlich musste Charlotte nach dieser Woche wieder zu ihrer liebsten Bildungsanstalt – der Kopernikus-Gesamtschule. Mettlingen, die Kleinstadt, in der sie lebte, verfügte über genau zwei Schulen: Die Kopernikus und eine Zicken-Zucht-Anstalt, die St. Sophia Mädchenschule. Letztere lag etwas außerhalb der Stadt und hätte die Familie monatlich um ein Busticket ärmer gemacht, insofern Charlotte sich geweigert hätte, täglich eine halbe Stunde hin und zurück zu radeln. »Wir haben kein Geld für Monatsfahrkarten! Du gehst auf die Kopernikus!«, hatte ihre Mutter damals beschlossen. Und daraufhin hatte Charlotte nur: »Ja, Mama!« erwidert. Und so kam es, dass Charlotte die Kopernikus-Gesamtschule besuchte – eine Bruchbude mit Konfliktpotenzial. Die Außenwände rissen bereits ein, die Einrichtung lebte schon länger als Charlottes Uroma. Schlägereien waren hier nicht selten, dafür gab es viel zu viele Raudis. Neulich hatten die Lehrer sogar Haschisch bei einem Schüler gefunden – das Theater darum war lange Zeit Gesprächsthema Nummer Eins in den Klassenzimmern gewesen. An diesem Montagmorgen musste Charlotte nur zur Seite schielen, um mitzubekommen, wie sich zwei Schüler schon wieder einmal gegenseitig anmuckten. »Was glotzt du?!« »Ich glotz nicht, Alter!« »Ich hab's genau gesehen, lüg nicht!« »Ich lüg nicht!« »Du willst Stress, oder?« Bevor die zwei aufeinander losgingen, machte sie sich lieber schnell vom Acker – und marschierte direkt zum Klassenzimmer. Die Wahrscheinlichkeit, Tassilo dort anzutreffen, hielt sich sehr gering, da dieser die Parallelklasse besuchte. Das Einzige hier, was Charlotte schlimmer als die Raudis fand, waren die Streber. Beispiel A saß gerade auf dem Tisch hinter ihrem Sitzplatz, mit den Füßen auf ihrer Stuhllehne. Mit ein paar kuschenden Handbewegungen scheuchte Charlotte sie weg und starrte Klaus böse an. »Guten Morgen, Charlotte!«, begrüßte dieser sie genauso begeistert. »Morgen, Glasauge.« »Zicke.« »Spießer.« Ja, Charlotte und Klaus würden sich wohl nie mögen. Da betrat ihr Lieblingsdeutschlehrer Herr Özdemir das Klassenzimmer. »Morgen, ihr Schnarchnasen! Freut euch auf eine schöne Bescherung! Denn heute gibt's die Klausur zurück!« Alle stöhnten. »Was, wir kriegen Deutsch raus!? Das heißt ... Mama bringt mich um ... « Charlottes Gedanken liefen Amok. »Heute bin ich ganz besonders enttäuscht von euch!«, verkündete der Deutschlehrer mit dem südländischen Teint. »Es gibt unter euch tatsächlich ein paar Spezialisten, die es schaffen, jegliches Wort, das ich sage, zu ignorieren!« »Bitte, lieber Gott ... «, betete sie. Ihre Nebensitzerin Eileen blieb im Gegensatz zu ihr vollkommen cool – aber sie war ja auch ziemlich gut in Deutsch. Nicht so Charlotte, deren einziges gutes Fach tatsächlich Mathe war. Unheilvoll stapfte der Özdemir durch die Reihen, legte den Schülern jeweils eine umgedrehte Klausur an den Platz. Als er fertig war, befahl er: »Aufdecken!« Charlotte kniff ein Auge zu, als sie das Blatt mit den Fingerspitzen anhob. »Waaas?! Wie ist das möglich?!«, riefen sie und ihr Hintermann Klaus gleichzeitig aus. Moment – gleichzeitig? Charlotte drehte sich um und erkannte, dass auch der Streber diesmal eine Sechs abgesahnt hat. Grund: Themaverfehlung der Gedichtinterpretation. Bevor sie ein wenig Schadenfreude verspüren konnte, fuhr ihr eine Eiseskälte in Mark und Knochen – es stand nämlich jemand hinter ihr, direkt vor ihrem Tisch. »Wollt ihr da eine ehrliche Antwort drauf? Die könnt ihr haben ... «, erwiderte Herr Özdemir auf ihren Ausruf von eben und hob eine seiner schwarzen, dicken Augenbrauen. Dann verschränkte er die Arme und begann mit der Schulaufgabenbesprechung.   -o-o-   »Ab in die Pause mit euch!« Als der Deutschlehrer endlich die erlösenden Worte von sich gab, war Charlotte durch mit der Welt. Es fehlte nur noch, dass sie Tassilo begegnete, damit das Chaos komplett war. Doch das konnte sie nicht zulassen. Darum schritt sie nach dem Pausenklingeln so schnell wie möglich zu den Toiletten, schloss sich in eine der Kabinen ein. »Ich werde hier solange warten, bis die Pause vorbei ist!« Natürlich blieb sie nicht lange alleine, andere Mädchen kamen und gingen mit der Zeit. Zwei der Stimmen kannte Charlotte gut. Es waren die der beiden Mädchen aus ihrer Klasse, die sie vor gut einer Woche schon belauscht hatte. Die beiden, die erzählt hatten, dass Tassilo ... ihr Tassilo ... in eine andere ... »Haha, echt jetzt?« »Ich hab's auch erst nicht geglaubt, aber es stimmt wirklich, wenn es sogar Bente bestätigt!« »Das ist schon eine göttliche Fügung ... « Ihre Schritte bewegten sich auf die Kabinen zu, sodass Charlotte die Mädchen laut und deutlich sprechen hören konnte. Worten lauschen konnte, die ihre Welt komplett umwälzten. » ... dass Tassilo einen Korb bekommen hat!« Und so begann Charlottes Geschichte.     Kapitel 2: Hilfe, ich bin ein Glasauge! --------------------------------------- Miesepetrig glotzte Klaus auf das Stück Papier, das ihm heute noch mächtig Ärger einbringen würde. Diese dämliche Gedichtinterpretation. Er hatte noch nie verstanden, wozu man sowas können sollte. Sein Freund Theo, der Chinese mit Topffrisur, putzte sich unbekümmert die Brille. »Kommst du mit raus? Scheiß auf die Note«, meinte er dabei. Klar, Theo hatte leicht reden, mit seiner guten Drei. Wie ein Besessener starrte Klaus auf das Blatt und murmelte: »Dad wird diesmal extrem sauer sein ... ich habe ihm Minimum eine Zwei prophezeit.« Schließlich schaute er auf und registrierte, dass sein Kumpel ihn erwartungsvoll ansah. »Was, eh? Ja, geh du schon mal vor Theo! Ich muss noch ins Sekretariat.« »Alles klar. Dann bis nachher!« Der Asiate nickte und ging. Theo waren seine Noten egal. Mit der Einstellung hatte er es gut, fand Klaus. Denn ihm selbst war ein gutes Zeugnis enorm wichtig. So wichtig, dass diese eine Note seinen ganzen Schnitt vermasselte. Oh weh. Er seufzte und besann sich wieder – auf seine Pflichten. Das bedeutete, dass er nun schnurstracks Richtung Sekretariat marschierte. Die Flure der Kopernikus-Gesamtschule waren mit einem dunkelgrünen Flachnoppenboden versehen, und genau dieselbe Farbe zierte die Fensterrahmen. Die Tapete im Schulgebäude war überall vanillefarben, außer im Keller, dort hatte ihr Kunstlehrer einmal einen Grafittikurs erlaubt – was der Schulleitung im Nachhinein nicht besonders gefallen hatte. Die hatte nämlich erst davon mitbekommen, als es zu spät war. Klaus schritt einen hellen Flur mit großen Fenstern entlang, erreichte das Sekretariat und klopfte an die Tür. Es öffnete ihm eine pummelige Mittdreißigerin mit Hamsterbacken. »Grüß Gott.« »Hallo Frau Meißner! Ich würde gerne den Aushang vom Schachclub einholen. Wir sind jetzt vollzählig.« »Gut. Dann schließe ich den Kasten mal auf.« Sie liefen gemeinsam zum Schwarzen Brett in der Aula, Frau Meißner watschelte im Schlendergang vor Klaus her. Vor dem ebenfalls dunkelgrün lackierten Glaskasten machten sie halt. Die Sekretärin sperrte ihn auf. »So, jetzt kannst du ihn abhängen!« »Vielen Dank!« Am Schwarzen Brett hingen eine Menge Zettel, der wichtigste für die Schüler war wohl der Stunden-Ausfall-Plan. Ausrufe zum Ski-Ausflug, Wettbewerbsausschreibungen und Clubmitglieder-Gesuche tummelten sich daneben – und Letzteres durfte Klaus heute für die Schach AG entfernen. Denn endlich hatten sie es geschafft: Sie hatten nicht nur genug Teilnehmer für Turniere, nein, sie hatten endlich ihren zweiten Ersatzspieler gefunden! Ohne zweiten Ersatzspieler war eine Teilnahme an Wettbewerben zwar möglich, aber nicht unbedingt vorteilhaft. Ahnungslos griff Klaus in den Kasten, nahm die Annonce heraus. Dahinter kam dadurch die Siegerliste der letzten Matheolympiade zum Vorschein. Er konnte seinen Augen nicht trauen, denn diejenige, die angeblich den ersten Platz belegt haben sollte, war tatsächlich ... ... Charlotte. »Ist nicht wahr!«, entfuhr ihm. »Dieses Mädchen ... soll bei der Matheolympiade gewonnen haben ... ?« »Das war's dann, ja?«, brummte Frau Meißner genervt, die ungeduldig mit dem Fuß aufstampfte. »Äh ... Ja ... «, wandte Klaus sich an sie, nahm Abstand vom Glaskasten und ließ die Sekretärin ihn wieder zuschließen. Er konnte es einfach nicht glauben. Er hatte Charlotte immer für dumm gehalten. Das hieß ...   -o-o-   Das hieß ... »Juchuuu!«, jubelte Charlotte in der Kabine, streckte die Arme freudig von sich, die Hände energisch zu Fäusten geballt. »Mmh? Was ist da drin los? Gut abgeseilt?«, wunderten sich ihre Klassenkameradinnen im Vorraum. Es war Charlotte komplett egal, was die Mädels oder irgendjemand über sie dachte. Glücklicher als jedes Einhorn dieser Welt verließ sie die Mädchentoilette und sprang quietschvergnügt durch die Flachnoppenflure der Kopernikus-Gesamtschule. »Ich habe noch eine Chance!« Selten hatten Schüler so ein fröhliches Mädchen innerhalb der Schule gesichtet, darum drehten sich einige nach ihr um. »Was geht bei der?«, fragte ein dicklicher Junge aus der Neunten. »Koks, eindeutig Koks«, antwortete ihm sein großgewachsener Freund, der daraufhin einzustimmendes Nicken erntete. Derweil vollführte Charlotte einen Freudentanz Richtung Aula, drehte ein paar Pirouetten und drohte gegen den Stützbalken neben dem Schwarzen Brett zu tanzen.   -o-o-   »Das kann einfach nicht sein. Charlotte muss einen intelligenten Zwilling haben.« Zumindest wirkte das auf Klaus so, der zufällig neben diesem Balken stand, den Schachclub-Mitglieder-Gesucht-Wisch zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. Um sie aufzuhalten, ließ er den Zettel fallen. Das Papier segelte wie eine Feder zu Boden. Klaus griff mit beiden Händen an ihre Taille, um sie abzustützen. Dadurch konnte er sie weg von dem Balken führen, fast wie bei einem Tanzschritt. Weil Charlotte anscheinend keine männlichen Berührungen gewohnt war, zuckte sie zusammen und errötete. Er war ihr zu nah. Viel zu nah. »Fass mich nicht an ... !«, sprudelte es prompt aus ihr heraus. Überwältigt von so viel Freundlichkeit, erwiderte Klaus nur ironisch: »Dir auch guten Tag. Keine Angst, ich habe dich garantiert nicht mit Absicht angefasst – du wärst fast da dagegen gedanced.« Er deutete genervt auf den Betonklotz. »Huh?«, machte Charlotte und registrierte jetzt erst das Ausmaß ihres Ausdruckstanzes. »Tatsächlich! Also gut, Danke.« Jetzt staunte Klaus nicht schlecht. Sie hatte sich bedankt! Vielleicht war Charlotte ja doch noch lernfähig. Musste sie sein, wenn sie tatsächlich die letzte Matheolympiade gewonnen hatte. Klaus nutzte die Gelegenheit, um sich zu vergewissern, dass er nicht spann: »Sag mal Charlotte, hast du eigentlich einen Zwilling?« Vehement schüttelte sie den Kopf. »Zwilling? Ich? Nein! Wie kommst du darauf?!« »Ach ... nicht so wichtig!« Er konnte es nicht fassen. Dieser Maulwurf zählte also tatsächlich zu den klügsten Köpfe an der Schule! Und das ohne die Begabtenklasse zu besuchen! Die Zwillingstheorie hätte er glaubwürdiger gefunden. »Übrigens finde ich, du solltest dir eine Brille besorgen«, äußerte Klaus nun, jetzt, wo er schon gedanklich beim Thema »Blindsein« war. Natürlich wurde Charlotte erstmal sauer, aber lief auch ein klein wenig rot an. Im Grunde ihres Herzens wusste sie bestimmt, dass er Recht hatte. »Vergiss es! Ich werde niemals so ein Glasauge wie du!«, rebellierte sie. Klaus Mundwinkel wanderten nach unten. Diese ... »Gut, dann mach doch was du willst, blinde Kuh! Aber wenn du wieder irgendwo dagegen läufst, werde ich dich gewiss nicht aufhalten!«, brüllte er wütend, was Charlotte wenig interessierte. Sie streckte ihm nur die Zunge heraus und suchte das Weite, genau wie nach dem Beinah-Autounfall.   -o-o-   Den ganzen restlichen Tag über hielt Charlotte Ausschau nach ihrem heißbegehrten Tassilo, aber konnte ihn nirgends sichten. Vielleicht war er ja krank? Vermutlich sogar richtig krank, und nicht so wie sie, wenn sie ihre Mutter mal wieder um eine Unterrichtsbefreiung angebettelt hatte. Eine Schniefnase hatte zurzeit auch Milou, Charlottes und Eileens andere beste Freundin. Sie war eine Halb-Französin ging ebenfalls in ihre Klasse, hatte aber die letzten zwei Wochen aufgrund einer Frühlingsgrippe gefehlt. Charlotte freute sich schon sehr darauf, Milou wiederzusehen. So verstrich die Zeit ohne nennenswerte Ereignisse, bis das Mädchen mit dem Kupferdutt spätnachmittags den Altbau betrat, in dem sie wohnte. Die Fassade des Gebäudes war schön anzusehen, an manchen Stellen glänzten Schmuck und Stuck, zum Beispiel am Giebel. Jedoch prangten dort keine allzu aufwendigen Ornamente. Es war fein, aber schlicht, und trotzdem noch gemütlich. Ihre Mutter und sie fühlten sich jedenfalls wohl dort. Diese war übrigens ausgeflogen – also auf der Arbeit. Jolinde Fetzer stand nämlich von morgens bis abends an der Kasse von Poppies, einem Übergrößenmodegeschäft. Darum hatte Charlottes Mama sich so organisiert, dass sie ihrer Tochter jeden Tag etwas Essbares im Kühlschrank hinterließ, das diese sich in der Mikrowelle aufwärmen konnte. Heute war der Gaumenschmaus sogar noch simpler angerichtet worden als sonst. »Hallo Charlotte, im Kühlschrank steht Buttercremeschnitte. Gruß, Mama!«, stand da auf einem Post-It, das einsam an dem weißen Futterkasten vor sich hinklebte. Das musste Charlotte nicht zweimal lesen, um sich den Leckerhappen zu schnappen. Bewaffnet mit einer Gabel lümmelte sie sich vor den Fernseher und schaltete eine Wiederholungsfolge von Glee ein. Die Torte schmeckte sehr cremig, wenn auch wenig süß. Gar nicht süß, um genau zu sein. Da würde sie sich nachher beschweren müssen, die Konditorei musste bei dieser Kuchenschnitte grob gepfuscht haben. Nach drei weiteren Bissen war Charlotte schon leicht angeekelt. Aber sie war so hungrig ... Da erklang das Klirren eines Schlüssels im Hausgang, ihre Mutter Jolinde kehrte heim. Verwundert steckte sie ihren Kopf durch den Türrahmen zum Wohnzimmer. »Charlotte? Was machst du da mit der Butter?« Prompt wurde dem Mädchen klar, warum die Buttercremeschnitte so widerlich schmeckte. Augenblicklich spuckte sie den Happs, den sie gerade zu sich genommen hatte, wieder aus, bombardierte das Sofa damit und fing an zu husten wie ein alter Kettenraucher. Derweil spazierte Jolinde in die Küche, gaffte ihre Notiz und das Innere des weißen Kastens an. Und zählte eins und eins zusammen: »Ach Charlotte! Das ist die Butter! Die Schnitte steht noch im Kühlschrank ... Ach Gottchen ... « »Ich glaube, ich geh mich kurz übergeben ... «, erwiderte ihre Tochter nur und schlang die Arme um den Bauch, der auch endlich festgestellt hatte, welch Gräueltat das Mädchen ihm angetan hatte. Er knurrte nämlich lautstarke Widerworte. »Und du hast das nicht mal geschmeckt?!«, fragte ihre Mutter eine Spur entsetzter. »Schon, aber ich dachte, der Bäcker wäre eine Niete gewesen oder so ... « »Herrje, Kind! Dass du mir nie zuhörst, weiß ich schon lange! Aber, dass jetzt auch noch deine anderen Sinne versagen ... Wie kann man nur Butter mit Buttercreme verwechseln ... ?« In Charlottes Augen sammelten sich schon die Tränen vor lauter Magengegrummel. »Ich hatte Hunger und es war cremig ... « »Vielleicht solltest du mal wieder zum HNO-Arzt gehen – oder zum Augenarzt. Wer weiß, am Ende brauchst du eine Brille!«, zog Jolinde in Erwägung. Was Charlotte in blanke Panik versetzte: »Nein! Alles, nur das nicht!« Gedanklich ergänzte sie: »Mit einer Brille werde ich bestimmt keine Chance mehr bei Tassilo haben ... « Jolinde wunderte sich zwar über diese starke Abwehrreaktion, hatte aber allmählich die Faxen dicke. Darum entgegnete sie nur zerknirscht: »Wenn so was nochmal passiert, gehst du auf jeden Fall zum Arzt, basta!«   -o-o-   »Ich bin mir sicher, dass Tassilo mich mit einer Brille noch weniger wollen würde als sowieso schon.« Am nächsten Schultag brannte die Frühlingssonne vom Himmel herunter, als wäre es Juni – dabei hatten sie erst Mitte April. Die ersten Blumen waren erblüht und das Grün der Sträucher um die Schule herum strahlte satt und frisch. Es schrie nach Frühlingsgefühlen. Die hatte Charlotte definitiv, doch Tassilo noch nicht. Zumindest nicht für sie. Aber wie könnte sie den Schulschwarm dazu bringen, sich für sie zu interessieren? Mit einer Brille schon mal nicht. Tassilo war zwar zu jedem freundlich und nett – aber mal ehrlich: An der Seite des Prinzens der Schule wurde eine ebenso schöne Prinzessin erwartet. Das war nun mal so. Gleich und gleich gesellte sich gern. Und deshalb wollte Charlotte auf keinen Fall ein Glasauge werden. Über mehr konnte sie nicht nachdenken, denn auf den Stufen der kleinen Pausenplattform des Schulhofes erkannte sie ihre beiden besten Freundinnen wieder. Milou war endlich wieder gesund – das stimmte Charlotte froh. Winkend lief sie auf sie zu. »Guten Morgen Eileen, Morgen Milou! Hast du eine neue Frisur?« Eigentlich trug Milou einen schwarzen, schrägen Bob, der ihr bis kurz unter das Kinn ging. Mit einem leichten Pony, das sie meistens zur Wange hinkämmte. Doch heute waren ihre Haare um einiges kürzer, fast streichholzkurz geschoren. Charlotte fand, es stand dem Mädchen gut.   -o-o-     Das sahen die beiden Schüler, die das Mädchen angesprochen hatte, etwas anders. »Wer ist das?«, flüsterte der Junge dem Mädchen zu, das Charlotte für Milou gehalten hatte. »Keinen Schimmer!«, wisperte es zurück.   -o-o-   Abseits des Geschehens standen die echte Eileen und die echte Milou. Kopfschüttelnd. »Sie ignoriert uns ... Was will sie denn von denen?«, quengelte Milou enttäuscht. »Mag Charlotte uns nicht mehr?« Eileen verschränkte die Arme. »Das glaube ich weniger ... « Noch ein paar Augenblicke lang beobachteten die Zwei, wie ihre Freundin die beiden Fremden zulaberte. Während Charlotte ihren »Mädels« nun also von der verhauenen Themaverfehlung erzählte, tuschelten diese: »Glaubst du, sie will uns Stoff verkaufen?« »Ich tippe eher auf Psycho ... !« Die Möchtegern-Milou ließ den Zeigefinger kreisen, deutete die Flugbahn eines kleinen Vögleins an. All das bemerkte Charlotte nicht. »Ich geh schon mal vor, wir sehen uns dann im Unterricht. Bis gleich!«, verabschiedete sie sich endlich und marschierte ins Schulgebäude. Hinterließ die fremden Schüler mit großen Fragezeichen in den Köpfen. Die hatten auch Eileen und Milou. »Das ist doch irgendwas faul. Lass uns hintergehen!«, meinte Eileen, die heute ein Sportdress mit jeweils zwei Streifen an den Säumen trug, das Charlotte offensichtlich mit dem Shirt des Basketballmannschaftskapitän verwechselt haben musste. Milou nickte nur. Als die Mädchen ihre Freundin mit dem Kupferdutt einholten, klatschte Eileen erstmal fassungslos ihre Hand gegen die Stirn. »Oh Charlotte!«, seufzte sie. Die Sechzehnjährige war allen Ernstes in die Jungentoilette gelaufen. Es dauerte auch nicht lange, bis Charlotte wieder herausrannte und sich keuchend gegen die Außentür stemmte, an die von innen ein wütendes Teenagerexemplar klopfte. Schließlich gewann der Schüler das Türdrücken und riss diese auf. Mit erhobener Faust brüllte er: »Schwänze kannst du dir auch im Internet angucken!« In diesem Moment konnte nicht nur Charlotte in Grund und Boden versinken – auch Eileen entdeckte erstmals das Fremdschämen für sich. »Milou, ich fürchte, Charlotte ist allgemein komisch heute«, stellte sie fest.   -o-o-   Wie komisch, durfte Eileen in den folgenden Unterrichtsstunden live miterleben. In Mathe zum Beispiel. »Was steht da?«, wollte Charlotte von ihr wissen und verrenkte sich halb den Hals, um zu erkennen, was sie gerade abschreiben sollten. Hinter ihnen nervte das natürlich Klaus, der das Mädchen am liebsten zum Friseur geschickt hätte, damit ihm ihr Haarknödel endlich nicht mehr ins Sichtfeld ragte. Charlotte kniff angestrengt die Augen zusammen, da reichte es Eileen. Sie konnte es sich nicht länger mit ansehen. »Setz dich vor!«, zischte sie ihrer Maulwurf-Freundin leise, aber bestimmt, zu. Das tat Charlotte zwar nicht, dafür traute sie sich nicht mehr, bei Eileen abzuschreiben. In der darauffolgenden Unterrichtsstunde stellte sich das Mädchen nicht besser an. Die Schüler hatten die Aufgabe, wunderschöne Wasserfarbengemälde auf A3-Papier zu zaubern. Gerade wollte Charlotte aus dem Schmutzbecher trinken, als Eileen sie ermahnend fragte: »Was willst du mit dem Farbwasser?« Von Chemie wollte die Schülerin im Sportdress gar nicht erst anfangen. Da nahm sie Charlotte nämlich den Erlenmeyerkolben weg, bevor noch etwas Schlimmeres passieren konnte. Nachdem der Schlussgong für den heutigen Unterricht ertönt war, machte sich Eileen gravierende Sorgen um ihre Freundin: »Kann ich dich wirklich ganz alleine nach Hause gehen lassen?« »Ja, Mama«, erwiderte Charlotte mit einem leicht sarkastischen Unterton. Eileen verzog die Backe. »Gut, schreib mir aber nachher eine SMS, damit ich weiß, dass du noch lebst!« »Dir auch viel Spaß beim Training!«, winkte Charlotte nur ab und stopfte ihre Bücher in die June-Tasche. Stirnrunzelnd verließ Eileen das Klassenzimmer. Sie hoffte, dass ihre neue Blindschleichenfreundin keinen Unsinn anstellte, während sie sich zum Volleyballtraining in der örtlichen Turnhalle begab.   -o-o-   Unterdessen legte Charlotte ihre June-Tasche nochmal auf dem Boden ab, um sich ihre leichte Frühlingsjacke auszuziehen. Es war wärmer als gedacht geworden. Dann griff sie wieder hinter sich, stellte die gestreifte Tasche auf den Tisch und verstaute die Fleecejacke darin. Hinter ihr saßen Streber Klaus und sein Schlitzaugenfreund Theo. Sie knobelten immer noch an der Redox-Reaktions-Gleichung herum, die sie in der Chemiestunde aufgebrummt bekommen hatten. Verächtlich sah Charlotte sie an, bevor sie hinaus in die Freiheit der Freizeit schritt. »Sag mal ... hat die Knödeltussi gerade deine Tasche mitgenommen?«, stellte Theo nach fünf Minuten fest, als er die June-Tasche einsam und verlassen vor ihrem Tisch entdeckte. Vor lauter Schreck ließ Klaus seinen Stift fallen. »Was?! Dieser Maulwurf ... !« Er ging vor und hielt die übrig gebliebene Kuriertasche hoch, die eindeutig Charlottes war. Zugegebenermaßen ähnelten sich ihre Schultaschen – aber Klaus war davon überzeugt, dass seine viel männlicher aussah. »Viel Spaß noch, Kumpel«, wünschte Theo ihm und klappte das Chemiebuch zu. Den würde Klaus garantiert haben. Er überließ dem Chinesen seine restlichen Sachen und stürmte raus aus der Schule, Charlotte hinterher. »Und ab die Post!«, kommentierte Theo, der Klaus nur amüsiert nachsah.   -o-o-   »Jetzt renn ich der auch noch hinterher ... Wo ist sie nur hin?« Das Erste, was Klaus einfiel, war den gewohnten Heimweg abzusuchen, den sie sich stückweise teilten. Das war keine schlechte Idee, er fand Charlotte tatsächlich in einer der Straßen der Innenstadt, die sie beide immer durchqueren mussten. »Charlotte! Halt!«, rief er aus der Ferne, doch sie hörte ihn nicht. Oder wollte ihn nicht hören. Er konnte sie da nie richtig einschätzen. Er spurtete schneller, erkannte, worauf der Maulwurf gerade zulief. »Pass auf, vor dir!«, versuchte er sie zu warnen. Noch zehn Meter, dann hätte Klaus sie erreicht. Dann hätte er sie aufhalten können. Hätte, hätte, Fahrradkette. Er kam zu spät. »Hä?« Charlotte drehte sich genau in dem Moment um, in dem sie den verheerenden Schritt tat, der beide Teenager gleich eine Menge Nerven kosten würde. »VOR DIR IST EIN LOCH!«, schrie Klaus augenblicklich. »Eh?« Noch während Charlotte realisierte, dass sie das geöffnete Gulliloch einer Baustelle getreten war, fiel sie. Tief. »AAAAAAAAH!« Platsch! Samt Klamotten, Schulsachen, Haut und Haar plumpste Charlotte in den Abwasserkanal. Dunkelheit empfing sie, einzig Kälte und Nässe verrieten, dass sie in der Kanalisation gelandet war. »Alles ok da unten?«, rief Klaus von oben und lugte mit dem Kopf durch das Loch. » ... «, schwieg Charlotte, entfernte sich eine Art Alge aus dem Haar. Sie wollte gar nicht so genau wissen, was das war. »Mehr oder weniger!«, brüllte sie mies gelaunt zurück. »Schaffst du es wieder rauf?« Sie sah sich um, entdeckte eine Leiter neben sich, die nach oben führte. »Ja!« Vorsichtig umklammerte Charlotte die Sprossen, kletterte langsam hoch. Klonk für Klonk rückte sie näher an die Oberfläche. Der letzte Schritt erforderte mehr Klimmzugfähigkeiten, als sie besaß, deshalb streckte Klaus ihr den Arm aus und half ihr heraus. Völlig fertig standen sie nun vor der Baustelle, die übrigens mit hellorange leuchtenden Verkehrshüttchen und Warnschildern abgesteckt worden war. Das ärgerte Klaus umso mehr. »So und jetzt erklär mir mal, was du mit MEINER Tasche wolltest«, stellte er sie nun zur Rede. Verwundert stierte Charlotte auf den nassen Klumpensack, den Klaus als sein Eigen betrachtete. »Deine? Oh ... Tatsache ... « Klaus biss sich auf die Lippen. »Willst du mir nicht etwas sagen ... ?« Sie sah auf, direkt in seine Augen. »Du hast einen echt schwulen Modegeschmack.« Dong! Jetzt reichte es ihm. »Ach, vergiss es ... ! Wie kann man nur so einen unausstehlichen Charakter haben ... ?!« Der Satz machte Charlotte nun genauso wütend: »Hey, Moment mal! Ich kann nichts dafür, dass ich unsere Sachen verwechselt habe! Die sehen sich eben sehr ähnlich!« »Natürlich kannst du was dafür! Wenn du dir bereits eine Brille geholt hättest, wäre das gar nicht erst passiert! Du denkst dir vielleicht, dass es dir selbst nichts ausmacht, wie ein Maulwurf herumzulaufen, aber hast du schon mal an andere gedacht?« Bei dem Satz musste Charlotte tief schlucken. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Klaus fort: »Vermutlich nicht. Deine Freundinnen waren heute auch schon ziemlich angepisst deswegen.« Damit brachte er sie allerdings noch mehr in Rage. »Was mit Eileen und mir ist, hast du überhaupt nicht zu beurteilen! Und belausch uns gefälligst nicht! So was macht man nicht!«, konterte sie. »Tss«, machte Klaus. »Belauschen? Ich sitze direkt hinter euch. Selbst wenn ich mir die Ohren zuhalte, kriege ich euer Geschrei mit. Jedenfalls verspreche ich dir, dass du bald sehr einsam sein wirst, wenn du so weitermachst. Zumindest, wenn dich vorher nicht ein Auto überfährt, da liegen die Chancen hoch.« Eiskalt rückte er sich die Brille zurecht, schob sie zurück auf ihren angemessen Platz. Charlottes Stimmung kippte, ihr Tonfall wurde leiser und bedachter, als sie antwortete: »Wow. Dir macht's wohl Spaß, auf mir rumzuhacken. Fühlst dich jetzt wie was Besseres, mmh?« »Ich hacke nicht auf dir rum, sondern offenbare dir, wie dein Verhalten auf andere wirkt. Immerhin hast du nicht nur meine Tasche, sondern auch meine ganzen Bücher und Aufzeichnungen ruiniert und entschuldigst dich nicht mal dafür ... Huh?« Klaus hatte den Kopf angehoben, weil seine Mitschülerin seltsame Laute von sich gab. Sie wimmerte. Grübchen hatten sich auf ihrem Kinn gebildet und ihre Augen schimmerten feucht. »Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin. Und ich wollte dich garantiert nicht in meine Pannen mitreinziehen. Aber dein besserwisserisches Getue kannst du dir sonstwohin stecken! Ich erlaube dir nicht, über meinen Charakter zu urteilen! Du kennst mich überhaupt nicht!« Eine einzelne Träne kullerte über ihre linke Wange. Obwohl Klaus sah, dass Charlotte sichtlich mitgenommen war, konnte er sich sein Gegenargument nicht verkneifen, dafür hatte sie ihn zu sehr aufgeregt: »Okay. Du hast Recht, ich kenne dich nicht. Alles, was ich weiß ist, dass ich mir dank dir jetzt neue Bücher kaufen kann. Herzlichen Dank dafür. Mehr muss ich über dich auch nicht wissen.« Mit diesen Schlussworten wollte er an ihr vorbeiziehen, aber sie ließ ihn nicht. Charlottes Finger krallten sich an seinem Oberarm fest. »Ich werde die Sachen ersetzen«, sagte sie plötzlich. Vergrub die Finger tiefer in dem Ärmel seiner schwarzweißen Collegejacke. Sie zitterte dabei. »Sag mir nur, wieviel.« Dieses Mädchen verblüffte Klaus. »Schon gut. Lass stecken«, meinte er schließlich und tat einen Schritt vorwärts, sodass sie ihn loslassen musste. »Kauf dir von dem Geld lieber eine gute Brille.« Und das war sein letztes Wort.   -o-o-     So kam es, dass Charlotte ein paar Tage später zu einem Termin beim örtlichen Augenarzt eingeladen war. Sie bibberte, und das nicht, weil sie nur eine Weste mit Fellkragen über einem T-Shirt trug, nein. Vor der Praxis bekam sie die weichen Knie ganz allein aus Furcht heraus. Sie musste sich regelrecht dazu durchringen, das Gebäude zu betreten. »Bitte, bitte, lieber Gott! Mach, dass ich keine Brille brauche!« Ob das Stoßgebet etwas nutzen würde? Charlotte würde es bald erfahren. »Guten Tag, haben Sie einen Termin?«, begrüßte die Empfangsdame sie freundlich. »Ja! Fetzer, um 15 Uhr ... « »Ah ... ja, da haben wir es! Bitte nehmen Sie im Warteraum Platz.« Die folgenden fünfzehn Minuten vergingen zäh und quälten Charlotte zutiefst. Noch mindestens fünfmal betete sie zum Herrn, er möge ihren Wunsch erhören, ihr keine Brille zu bescheren. Dann endlich riss eine Assistenzärztin sie aus ihren Gedanken: »Frau Fetzer? Sie können mit mir mitkommen. Der Doktor kommt dann gleich.« Die junge Frau in weißer Bluse begleitete sie zum Patientenstuhl im Arztzimmer. Dort standen neben einem Glas Gummibärchen allerlei lustige Geräte herum. Wackelbilder, eine Sehtafel und ein Augenmodell, das wenn man es anstieß, lustig auf und ab wippte. Es hörte gar nicht mehr auf sich zu bewegen. Gruselig starrte der Augapfel Charlotte an. Verlieh ihr ein ungutes Gefühl. »Unheimliches Ding. Was der Doktor wohl für einer ist?« Da wanderte die Türklinke nach unten, ein großer Mann im weißen Kittel betrat den Raum. Das, was Charlotte sofort an dem Arzt bemerkte, war seine rechteckige, dünn gerahmte Brille. Sie zog nervös die Luft ein. »Oh nein! Er trägt eine Brille – das ist ja schon mal ein schlechtes Omen!« »Guten Tag, ich bin Dr. Guggenmoos. Wie kann ich dir helfen?« Der Brillenträger mit den kurzgeschorenen, blonden Haaren streckte ihr höflich die Hand aus. Charlotte nahm an und schüttelte sie. Stammelnd brachte sie hervor: »Äh ... also ... ich ... Ich will einen Sehtest machen ... « Dr. Guggenmoos zückte seinem Zeigestab und deutete auf die Sehtafel auf der gegenüberliegenden Wand. »Alles klar. Dann lies mal vor!« Wie im Matheunterricht kniff Charlotte die Augen zusammen, um einigermaßen klar sehen zu können. »S ... A ... 8 ... B1 ...6 ...4?«, antwortete sie. »Du bist also hier, weil du eine Sehschwäche hast«, stellte der Doktor aufgrund ihrer Antwort fest. In der ersten Zeile stand nämlich in Wirklichkeit »ABC1D3E«. »Dann schauen wir mal, welche Stärke du brauchst.« Charlotte klappte die Kinnlade herunter. »Warten Sie! Heißt das, ich brauche eine Brille?!« Aus einer Schublade holte der Doktor ein Brillengestell mit auswechselbaren Gläsern hervor. »Das fragst du noch?« Das Mädchen schniefte. Bevor sie ein Theater veranstalten konnte, kam der Augenarzt auch schon mit dem Gestell auf sie zu, setzte es ihr vorsichtig auf die Nase. »So, gib Bescheid, wenn du scharf siehst«, brabbelte er und wechselte die Probegläser aus, noch während die Brille auf Charlottes Nase lag. Beim dritten Versuch verschärfte sich ihre Sicht. »Wow! Ich sehe alles in HD!«, staunte sie. »Sieht aus, als hättest du Minus 3,25 ... «, meinte Dr. Guggenmoos nur. » ... «, äußerte Charlotte ihre Begeisterung darüber. Da schob sich der Augenarzt seine Rechteckbrille zurecht. Irgendwie kam ihr die Geste bekannt vor. »Hast du überhaupt noch die Hand vor Augen gesehen?«, ermahnte er sie schließlich. »Übrigens: Das kommt davon, wenn man in jungen Jahren zu viel und zu lang vor dem Bildschirm hockt.« Unwillkürlich musste Charlotte an die letzte Woche denken – vor lauter Liebeskummer hatte sie sich wohl mit ihrem Serienmarathon die Augen ruiniert. »Oweia. Und jetzt werde ich deswegen niemals eine Chance bei Tassilo haben!« Gleichzeitig panisch, wütend, traurig und enttäuscht zu sein, war gar nicht so einfach, aber Charlotte kriegte das locker hin. Der Doktor bemerkte ihr zermürbtes Gesicht zwar nicht, aber lieferte dafür einen schier unbezahlbaren Tipp, der der Schülerin neue Hoffnung schenkte: »Jedenfalls brauchst du eine Brille. Oder Kontaktlinsen.«   -o-o-     Glücklich summend lief Charlotte aus der Praxis heraus. Ihr Plan stand fest: Mit dem Wisch vom Doktor holte sie sich Kontaktlinsen! Damit wäre sie ihre Sehschwäche ein für alle Mal los, und das, ohne sich optisch verunstalten zu müssen. Gerade wollte sie sich auf den Weg zum Optiker machen, als ihr ein bekannter Lockenkopf entgegen kam. Offensichtlich mit dem Willen, ebenfalls die Augenarztpraxis zu betreten. »W-was machst DU denn hier?!«, riefen sie beinahe synchron aus. Klaus fasste sich als Erster wieder und grinste überlegen. »Aha, verstehe! Du hast zur Abwechslung mal auf mich gehört und holst dir eine Brille! Brave Charlotte!« Der Kommentar brachte sie zum Grummeln. »Nur zu deiner Info: Ich hole mir Kontaktlinsen. Und deine Sachen kriegst du trotzdem ersetzt! Was machst du eigentlich beim Augenarzt, Glasauge?« »Ich wohne hier.« »Hä? Hier?« Verblüfft sah sie nach links und rechts, doch überall um sie herum befanden sich nur andere Geschäfte. Ein Juwelier, ein Dönerstand und ein Buchladen. Da zeigte er hoch in den Himmel. »Da oben!« Sie folgte seinem Blick, er deutete direkt auf die Augenarztpraxis. »Huh? In der Praxis?!« »Schwachsinn. Darüber!«, klärte Klaus sie endlich auf. Und Charlotte verstand. »Warte, über der ... Halt! DU bist der Sohn von meinem Augenarzt?!«, erschrak sie. »Du hast es wohl nicht so mit Namen, was? Und warum schockiert dich das so? Was macht dein Vater denn von Beruf?«, konterte der Sechzehnjährige. Einen Moment lang schwieg Charlotte. Einen flüchtigen Moment nur. Dann begann sie zu strahlen, als gäbe es kein Morgen. Sie lächelte, und ihr Lächeln haute Klaus um. »Hach weißt du ... mein Vater ist von Beruf Arschloch.« Ihre Worte passten überhaupt nicht zu ihrem fröhlichen Gesichtsausdruck. Einfach überhaupt nicht. Er begann, sich Sorgen zu machen. Hatte Charlotte womöglich einen Vaterkomplex? »Also ich muss dann los, bevor der Optiker zumacht. Ciao!« »Ciao.« Immer noch baff von ihrer Reaktion stand er da und sah ihr nach, wie sie im Getümmel der Innenstadt verschwand.   -o-o-   Hoffnungsvoll hastete Charlotte durch die Straßen. »Ich hole mir Kontaktlinsen, ich hole mir Kontaktlinsen!« Sie hatte wirklich gute Laune. Die solange hielt, bis sie das Schild über dem größten Optikerladen in Mettlingen las: »Ja zur Brille«. Augenblicklich schwang ihre Stimmung um. »Bitte, lieber Gott, lass das kein schlechtes Omen sein!« Charlotte schluckte kurz, nahm sich zusammen und stapfte mutig zum Tresen. Immerhin wusste sie genau, was sie wollte! »Willkommen, was kann ich für Sie tun?«, begrüßte sie eine bebrillte Frau mit langen, dunklen Haaren und geradem Ponyhaarschnitt. Der gelbe Rollkragenpullover in Kombination mit dunkelblauer Cordhose schrie nach modischer Vergewaltigung, weshalb Charlotte versuchte, nicht genau hinzusehen, um sich vor Augenkrebs zu schützen. »Ich, ich hätte gerne Kontaktlinsen!« Aufgeregt überreichte sie der Optikerin ihr Rezept. »Alles klar ... « Die Brillenträgerin tippte gab etwas in den Kassencomputer ein und teilte ihr anschließend mit: »Bei dieser Stärke wären das ... 120 Euro für eine Halbjahrespackung.« Game over. Die ganze Zeit über war die Angst des Mädchens begründet gewesen – denn die Kontaktlinsen konnte sie sich definitiv abschminken. Jetzt, wo sie den Preis dafür kannte. Mit einem schiefen, gespielten Lächeln rang Charlotte sich trotz aller guten Vorsätze zu folgenden Worten durch: »Hach wissen Sie, vielleicht schaue ich mir vorher doch noch mal ein paar Brillen an ... « »Eine gute Entscheidung!«, fand die gelbe Rollkragenpullover-Trägerin. »Auf dieser Seite hier sehen Sie unsere Trendmodelle!« Mit einer schwungvollen Armbewegung präsentierte sie das angesprochene Regal. Eigentlich hasste sie sich nun selbst, dafür, dass sie sich tatsächlich zum Kauf einer Brille herabließ, so wie Klaus es vorgeschlagen hatte. Aber dann fand Charlotte ihre große Ausnahme unter den Brillen. »Oh, die ist aber schön!«, sagte sie und nahm ein Modell mit dickem, schwarzem Rahmen in die Hand. »Das ist eine aus der Serie von Ralf Lorenzo, die gerade sehr in Mode ist«, erläuterte die Optikerin und kratzte sich am bedächtig am Kinn. »Wollen Sie sie anprobieren?« Da musste die Jugendliche nicht lang fackeln. Gemeinsam steuerten sie den Spiegel an, sodass sie ihr neues Brillen-Ich betrachten konnte. Es sah umwerfend aus. Die Form der schwarzen Rahmen verlieh Charlotte in Kombination mit ihrem Dutt einen schicken Sekretärinnen-Look, der mehr Hot als Not wirkte. »Die nehme ich!«, sprudelte es aus ihr heraus. »Das macht 350 Euro!«, sagte die Optikerin strahlend. Sie schien froh darum, eine so teure Brille vermittelt zu haben. Leider machte das Charlotte überhaupt nicht froh. Sie schniefte. Der Traum von der Ralf-Lorenzo-Brille zerplatzte augenblicklich. »Ach, wissen Sie was ... ich glaube, ich habe meine Entscheidung zu schnell gefällt – was wäre denn ihr günstigstes Modell?«, fragte das Mädchen piepsig. Da leckte sich die Rollkragenpulloverfrau über die Lippen und führte Charlotte zu einem Regal ums Eck. Dort zeigte sie auf eine kreisrunde Brille mit einem dünnen, goldenen Rahmen. »Dieses hier. Sie müssen nur die Gläser zahlen, das Gestell gibt es sogar umsonst!« Es tat Charlotte in der Seele weh, aber sie musste es sagen: »Die nehme ich ... aber diesmal wirklich.«   -o-o-   Missmutig guckte Charlotte ein paar Tage später an dem Schulgebäude hoch, das sie gleich betreten würde. Auf der Nase saß ihre neue Brille mit den kreisrunden Gläsern. Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass ihre Klasse sie auslachen würde – und zwar weitaus heftiger als Streber-Klaus, als dieser neulich vom Stuhl gefallen war. Ein Unfall. Genau das war Charlottes Gesicht nun. »Ich werde da jetzt reingehen ... « Im Klassenzimmer angelangt provozierte sie genau die Reaktion, die sie die ganze Zeit über gefürchtet hatte. Ihre Mitschüler brachen in schallendes Gelächter aus. »HAHAHAHA!« »Wie sieht die denn aus?!« Deprimiert und gedemütigt schlenderte Charlotte an ihren Platz. »Ich geh sterben ... « Da erkannte sie auf halbem Wege, dass es eine Person gab, die sie nicht auslachte. Sondern ihr ermutigend ein Daumenhoch zeigte und lächelte. Klaus. Ein leises Lächeln huschte über ihre Lippen bei seinem Anblick. Dann richtete sie ihre Körperhaltung auf, schritt sicherer als zuvor den Weg zu ihrem Tisch entlang und ließ sich auf den dazugehörigen Stuhl plumpsen. Danach kruschtelte sie aus ihrer gestreiften June-Tasche einen weißen Umschlag heraus. Ohne, dass es jemand außer ihm bemerkte, schob sie diesen auf Klaus Tisch unter seinen Ordner. Der Lockenkopf wunderte sich zwar, doch bevor er Charlotte auf das Kuvert ansprechen konnte, kamen ihre Freundinnen herein. Von hinten fasste Eileen ihr an die Schulter, was Charlotte erstmal erschreckte. »Waah! Eileen!« »Du hast gar nicht erzählt, dass du eine Brille bekommst!«, meinte Milou, die sich neben sie stellte. Eileen grinste feixend. »Hattest du etwa Angst, wir könnten es rumerzählen? Tassilo zum Beispiel?«, stichelte sie. »N-nein! Quatsch! Ich war erst letzte Woche beim Arzt!«, verteidigte sich Charlotte. »Und Moment – was heißt hier ‚wir'?!« Prompt lief Milou rot an. »Also ... äh ... Eileen hat es mir erzählt. Aber sei ihr nicht böse, Charlotte!« Sie hatte es gewusst. Eileen konnte einfach niemals nie ihre Klappe halten.   -o-o-   Während die Mädchen redeten, öffnete Klaus sanft den Briefumschlag. Darin lagen Geldscheine – hundert Euro um genau zu sein. Dabei eine kurze Nachricht: »Ich hoffe das reicht. – Charlotte«. Klaus schmunzelte. »Charmant wie immer.« Dann sah er wieder zu der frisch gebackenen Brillenschlange, die aufgeweckt mit Eileen diskutierte.   -o-o-   »Reg dich wieder ab. Ich hab es nicht so vielen Leuten erzählt, dass du in Tassilo verliebt bist, und Milou ist ja wohl mehr als okay«, argumentierte diese. »WIE VIELEN LEUTEN HAST DU DAS DENN ERZÄHLT?« Charlotte tickte dezent aus. »Mmmh ... ich zähle nicht so gerne Menschen ... « Unbeeindruckt vom Tonfall ihrer Freundin steckte Eileen sich den kleinen Finger ins Ohr. »Oh Mann Eileen! Das war geheim und geht niemanden etwas an!«, maulte Charlotte. »Ups.« »Nnnghh ... « Die Brillenschlange mit dem Kupferdutt blies Trübsal. »Bestimmt weiß es jetzt die ganze Klasse.« »Vielleicht muntert dich ja auf, was Milou in Erfahrung gebracht hat.« »Und was ... ?«, fragte Charlotte gereizt. Eileen zwinkerte ihr zu. »Angeblich ist jetzt raus, wer das Mädchen war, das Tassilo gekorbt hat.« Augenblicklich besserte sich Charlottes Stimmung. »Waaas, wirklich?! Und wer ist es ... ?« Geheimnisvoll winkte Milou die Freundinnen an sich heran und wisperte: »Eine gewisse Anna Marbach ... «   Kapitel 3: Das Glück der Erde ----------------------------- »Anna Marbach, ist bekannt als Schulschönheit, Klassensprecherin, Präsidentin der Schach AG, regionale Meisterin im Springreiten und ... seit kurzem als diejenige, die Tassilo angeblich abserviert hat.« Soviel hatte Charlotte bereits über Tassilos Schwarm herausgefunden. Über das Mädchen, das sie von allen am meisten beneidete – und dem sie nicht ganz abkaufte, dass sie wirklich nichts von Tassilo wollte. Den halben Schultag über war Charlotte der Schülerin mit den dunklen, schwarzen Haaren gefolgt, um an all die Informationen zu gelangen. Dabei hatte Anna es ihr nicht einfach gemacht: Diese blieb gern aus heiterem Himmel stehen und warf den Hals zurück, wie bei dem Kinderspiel Opa-liest-die-Zeitung. Nur, dass Charlotte dabei keine Zeitung, sondern ein Buch über Quantenphysik in der Hand hielt. Es dauerte genau zwei Pausen, bis ihre Beschattung aufflog. »Warum verfolgst du mich?!«, stellte Anna sie im Schulflur zur Rede. Die ebenfalls Sechzehnjährige war mit der perfekten Figur gesegnet worden: Schlank aber vollbusig. In der Größe übertraf Charlotte sie um einiges, ein Laufstegmodel könnte Anna damit nie werden. Aber warum sollte man das auch werden wollen, wenn einem auch so schon alle Männerherzen zu Füßen lagen? »Verfolgen? Ich? Ich les hier nur ... «, beteuerte Charlotte, während sich bereits kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. »Ach ja? Dafür zitterst du ganz schön ... « Diese Anna war nicht nur bildhübsch, sondern auch scharfsinnig. Innerlich vermerkte Charlotte, dass ein weiterer Charakterzug nötig sein würde, um Tassilos Herz zu erobern. »Das ist ... weil ... äh ... ich ... «, gab das Brillenmädchen weniger schlagfertig von sich. »Spar's dir und sag mir, was du von mir willst. Immerhin verfolgst du mich schon den ganzen Tag.« Charlotte schluckte. »Das hat sie gemerkt?!« »Du hättest das Buch weglassen sollen. Mal abgesehen davon, dass du es verkehrt herum hältst, ergibt es an manchen Orten einfach keinen Sinn, ein Buch zu lesen«, entlarvte die dunkelhaarige Schönheit mit den Mandelaugen Charlottes Spionage-Aktion. In der Tat hätte das Mädchen mit dem Kupferdutt die Verfolgung sein lassen sollen, nachdem sie in der Bibliothek zum ersten Mal einen Blick auf das Äußere der sagenumwobenen Schulschönheit hatte werfen können. Aber nein, sie hatte ihr unbedingt noch in die Aula, Mensa und auf den Schulhof folgen müssen. »Vor allem auf den Gängen nicht! Also?«, hängte Anna noch an. Charlotte versteckte ihr erschrockenes Gesicht hinter dem Quantenphysikschmöker. »Was mache ich nur, was mache ich nur?! Ich kann ihr doch nicht einfach ins Gesicht sagen, dass ich mich vergewissern wollte, ob das Gerücht wahr ist?! Was, wenn es gar nicht stimmt ... und sie und Tassilo doch ... « Da rannte plötzlich eine Schülerin direkt auf die beiden zu.   -o-o-   »Anna Marbach, ist bekannt als Schulschönheit, Klassensprecherin, Präsidentin der Schach AG, regionale Meisterin im Springreiten und ... seit kurzem als diejenige, die Tassilo angeblich abserviert hat.« Soviel hatte Charlotte bereits über Tassilos Schwarm herausgefunden. Über das Mädchen, das sie von allen am meisten beneidete – und dem sie nicht ganz abkaufte, dass sie wirklich nichts von Tassilo wollte. Den halben Schultag über war Charlotte der Schülerin mit den dunklen, schwarzen Haaren gefolgt, um an all die Informationen zu gelangen. Dabei hatte Anna es ihr nicht einfach gemacht: Diese blieb gern aus heiterem Himmel stehen und warf den Hals zurück, wie bei dem Kinderspiel Opa-liest-die-Zeitung. Nur, dass Charlotte dabei keine Zeitung, sondern ein Buch über Quantenphysik in der Hand hielt. Es dauerte genau zwei Pausen, bis ihre Beschattung aufflog. »Warum verfolgst du mich?!«, stellte Anna sie im Schulflur zur Rede. Die ebenfalls Sechzehnjährige war mit der perfekten Figur gesegnet worden: Schlank aber vollbusig. In der Größe übertraf Charlotte sie um einiges, ein Laufstegmodel könnte Anna damit nie werden. Aber warum sollte man das auch werden wollen, wenn einem auch so schon alle Männerherzen zu Füßen lagen? »Verfolgen? Ich? Ich les hier nur ... «, beteuerte Charlotte, während sich bereits kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. »Ach ja? Dafür zitterst du ganz schön ... « Diese Anna war nicht nur bildhübsch, sondern auch scharfsinnig. Innerlich vermerkte Charlotte, dass ein weiterer Charakterzug nötig sein würde, um Tassilos Herz zu erobern. »Das ist ... weil ... äh ... ich ... «, gab das Brillenmädchen weniger schlagfertig von sich. »Spar's dir und sag mir, was du von mir willst. Immerhin verfolgst du mich schon den ganzen Tag.« Charlotte schluckte. »Das hat sie gemerkt?!« »Du hättest das Buch weglassen sollen. Mal abgesehen davon, dass du es verkehrt herum hältst, ergibt es an manchen Orten einfach keinen Sinn, ein Buch zu lesen«, entlarvte die dunkelhaarige Schönheit mit den Mandelaugen Charlottes Spionage-Aktion. In der Tat hätte das Mädchen mit dem Kupferdutt die Verfolgung sein lassen sollen, nachdem sie in der Bibliothek zum ersten Mal einen Blick auf das Äußere der sagenumwobenen Schulschönheit hatte werfen können. Aber nein, sie hatte ihr unbedingt noch in die Aula, Mensa und auf den Schulhof folgen müssen. »Vor allem auf den Gängen nicht! Also?«, hängte Anna noch an. Charlotte versteckte ihr erschrockenes Gesicht hinter dem Quantenphysikschmöker. »Was mache ich nur, was mache ich nur?! Ich kann ihr doch nicht einfach ins Gesicht sagen, dass ich mich vergewissern wollte, ob das Gerücht wahr ist?! Was, wenn es gar nicht stimmt ... und sie und Tassilo doch  ... « Da rannte plötzlich eine Schülerin direkt auf die beiden zu.   -o-o-   »Anna! Du musst mir helfen! Es ist ein Notfall ... meine Eltern wollen mich sonst auf ein Internat schicken!«, schrie sie verzweifelt. Das Mädchen, das der Kleidung nach zu urteilen in Annas Klasse ging, schlug bittend die Hände zusammen. Dabei fielen ihr die kurzen, hellblonden Ponysträhnen ins Gesicht. Klar, natürlich gingen Anna und ihre Freundin in die Begabtenklasse der Kopernikus-Gesamtschule. Eine Klasse, die den bildungspolitischen Flausen irgendeiner Ministerin entsprungen war. Die Begabtenklasse schrieb eine gewisse Kleiderordnung vor, deshalb trugen beide Mädchen weiße Blusen, einen hellgrauen Blazer und eine schwarze Krawatte. Ob Rock oder Hose war den Schülern freigestellt worden, darum zierte Annas Beine nur eine schlichte, schwarze Skinnyjeans. Im Gegensatz zu dem fremden Mädchen, das die femininere Variante, einen hellgrau-schwarzkarierten Faltenrock gewählt hatte. »Ohje. Wobei denn genau, Bente?«, wollte Anna wissen und klemmte sich eine ihrer langen, schwarzen Haarsträhnen hinter das Ohr. Die Freundin namens Bente hielt ein offenes Mathebuch vor Annas Nase und zeigte mit dem Finger auf eine Aufgabe. Anna las sie sich durch und erschrak. »Das kann nicht sein! Das ist doch gar kein Schulstoff mehr ... Das muss unser Mathelehrer was verwechselt haben ... Wieso musst du sowas überhaupt machen?« »Der Brückner meinte, dass ich nur in der A-Klasse bleiben darf, wenn ich diese Aufgaben löse. Er hat was von ‚Man sollte sich Wissensinhalte selber erarbeiten können' gefaselt, du weißt schon, wegen meinem letzten Mathetest ... das ist jetzt die letzte Chance für mich, nicht durchzufallen. Hilf mir, Anna! Mathe ist mein einziges Problemfach, ich bin nur wegen dem Sprachangebot in die A-Klasse gegangen! Und jetzt haben meine Eltern gedroht mich auf ein Internat zu schicken, wenn ich aus der Begabtenklasse fliege ... Aber ich will nicht weg von hier ... « Die arme Bente. Mitleidig studierte Anna die Problemaufgaben nochmals. »Ich würde dir wirklich gern helfen, aber ich habe auch keine Ahnung von der vollständigen Induktion ... « Charlotte horchte auf. »Vollständige Induktion? Darf ich mal sehen?« Unsicher reichten die Mädchen das Buch an sie weiter und beobachteten verwundert, wie konzentriert sie sich die Fragestellungen durchlas. »Also im Grunde ist es gar nicht so schwer ... wenn du davon ausgehst, dass der Beweis durch das Einsetzen von eins oder null ... dann behauptest du ... und dann löst du die Gleichung nach n plus eins ... und das ist es im Prinzip«, meinte sie schließlich in der Kurzfassung. Anna und Bente staunten. »Du kannst das?! Wahnsinn!« »Du musst mir unbedingt helfen, ich bitte dich!«, bettelte Bente und rüttelte sanft an Charlottes Oberarm. »Ich ... also ... äh ... wobei denn?«, entgegnete diese. Anna sah erst Bente an, dann Charlotte und wendete sich an sie: »Denkst du ernsthaft, wir hätten das jetzt kapiert ... ?« Weil Charlotte sich ihres Mathegenies nicht bewusst war, versuchte Bente ihr Anliegen anders zu verpacken: »Würdest du mir das nochmal langsamer erklären können? In der Bibliothek oder so? Ich wäre dir sehr, sehr dankbar!« »Äh, ja klar!«, sagte Charlotte ohne Hintergedanken. Da passierte, worauf sie niemals gekommen wäre – Anna verkündete: »Ich komme mit, wenn es euch nichts ausmacht. Mich würde die Lösung auch interessieren.«   -o-o-   In der Bibliothek war um die Mittagszeit kaum etwas los. So konnten sich die drei Schülerinnen ungestört mit Bentes teuflischem Matheproblem beschäftigen. Das Lehrbuch, Hefte und ein Collegeblock lagen ausgebreitet auf dem Tisch in der Mitte des Bücherzimmers, in das sie sich zurückgezogen hatten. Bente kaute grübelnd auf ihrem Bleistift herum, während Charlotte versuchte ihr die Aufgabe zu erklären. »Beim Induktionsbeweis musst du zunächst den Induktionsanfang machen – das heißt, du stellst klar, dass die Formel für null oder eins gilt. In dem Fall hier eins ... « Bentes Gesicht verriet ihr Unbehagen, doch Anna folgte Charlottes Erklärung aufmerksam. »Jedenfalls stellst du, wenn du die kleinste Zahl eingesetzt hast, erst einmal die Behauptung auf. Dazu schreibst du eigentlich nur die Aufgabenstellung ab.« »Was ist überhaupt meine Aufgabenstellung ... ?«, winselte Charlottes neuer Mathefittich deprimiert. »Hier. Beweisen Sie, dass für alle natürlichen Zahlen gilt ... «, klärte sie Bente auf. »Achso! Dann muss man das einfach nur abschreiben«, verstand Anna. »Genau! Die Aufgaben hier sind auch nicht so schwierig zu beweisen, keine Angst.« »Ich versteh immer noch nur Bahnhof!«, warf Bente ein. Deshalb fing Charlotte ganz von vorne an: »Ok, dann sagen wir es mal anders ... was natürliche Zahlen sind, weißt du?« Derweil schaltete Anna ab und betrachtete die Mädchen ohne ihnen weiter zuzuhören. Ihr fiel ein, woher sie Charlotte kannte – natürlich! Sie war die Siegerin der letzten Matheolympiade gewesen. Nie im Leben hätte Anna es dem Mädchen geglaubt, von ihrem Verhalten her. Aber jetzt wurde ihr einiges klar ... Da schwang die Tür auf und ein bekanntes Gesicht trat herein. Freundlich winkte Anna Klaus zu, den wohl die Suche nach einer Lernhilfe her verschleppt hatte. Er stellte sich gut gelaunt neben sie, was die anderen allerdings nicht bemerkten – zu sehr waren sie in der Welt der Zahlen versunken. »Nanu, was macht ihr denn zusammen hier?«, fragte Klaus neugierig. »Charlotte hilft uns freundlicherweise in Mathe«, erklärte Anna ihm. »Also war das neulich doch keine Einbildung ... «, murmelte er daraufhin. Da schaute Charlotte vom Blatt auf und entdeckte ihren Mitschüler. »Moment! W-wa – Klaus!? Du kennst Anna?« Sie war fassungslos. Klaus eher weniger: »Klar kenne ich Anna. Seit über zehn Jahren, stimmt's?« Grinsend sah er zu Anna, die leicht errötete. Ja, sie kannten sich schon lange. Sehr lange. Aber es gab etwas, das Anna störte. »Die Frage lautet eher, woher du ihn kennst«, wandte sie sich an die Intelligenzbestie mit dem Knödel auf dem Kopf und lächelte dabei zuckersüß. Bevor diese antworten konnte, erläuterte Klaus: »Charlotte geht in meine Klasse.« »Achso«, meinte Anna daraufhin schulterzuckend. Wenn es nur das war, war es ihr recht. Charlotte wurde dadurch allerdings neugierig. »Und woher kennt ihr euch genau?«, wollte sie wissen. »Wir reiten zusammen.« Kaum, dass Klaus den Satz ausgesprochen hatte, bereute er ihn. Denn: Charlottes Augen begannen zu glitzern und ihr ganzes Ich drehte auf wie bei einem Fünfjährigen auf Zuckerwatte. »Reiten? In einem Reitstall? Hier in der Nähe?«, sprudelten die Fragen aus ihr heraus. »Jaa ... «, antworteten Anna und Klaus ganz, ganz vorsichtig. Sahen einander unsicher an. »Darf ich mal mitkommen ... ? Bitte, bitte, bitte!«, flehte das Mädchen mit der kreisrunden Brille. Ratlos beugte Klaus sich zu Annas Ohr und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Was machen wir jetzt?« »Ich versuche ehrlich gesagt schon den ganzen Tag sie loszuwerden ... ohne Erfolg, wie man unschwer erkennen kann«, flüsterte sie zurück. Auf einmal rief Bente einen Jubelschrei aus: »JA! Ich hab's! Ich hab's kapiert! Tausend Dank, Charlotte, ohne dich hätte ich das nicht geschafft! Der Brückner kann mich jetzt mal! Gerade noch gerettet!« Mit den Armen veranstaltete Bente einen kleinen Freudentanz, bewegte die Fäuste in einem nur für sie hörbaren Rhythmus nach links und rechts. »Haha, keine Ursache. Du hättest das bestimmt aber auch ohne mich gepackt!«, behauptete Charlotte, was die Mädchen nur zum Stirnrunzeln brachte. Anna dachte sich stumm ihren Teil. »Schwachsinn! Das ist Mathematik auf Uniniveau. Was hast sie eigentlich noch auf einer staatlichen Schule zu suchen?« Mit einem Grinsen im Gesicht lauschte Klaus dem Geschehen, bis er irgendwann ganz leise, sodass es nur Anna hören konnte, wisperte: »Charlotte ist viel bescheidener, als ich dachte ... «   -o-o-   Am selben Nachmittag standen sie schließlich zu dritt in stalltypischen Klamotten auf dem Reiterhof. Das hieß, Klaus und Anna. Charlotte trug dasselbe wie am Vormittag: Ein sommerliches Top, süße Shorts und eine gemusterte Strumpfhose, dazu Sneakers. Was das Mädchen mit dem Kupferdutt hier zu suchen hatte? Auch Klaus und Anna wussten es nicht. »Warum nochmal haben wir sie jetzt mitgenommen?«, zischte sie dem blonden Lockenkopf zu. »Weil sie nicht locker gelassen hat ... « Klaus dachte wehmütig an den Vormittag zurück. Die Matheolympiadesiegerin hatte solange darum gebettelt, den Hof besuchen zu können, bis sie schließlich nachgegeben hatten. »Und, weil sie es sich ja irgendwie verdient hat. Findest du nicht?«, fiel ihm dazu noch ein, wobei Bentes glückliches Gesicht in seinen Gedanken aufblendete. »Stimmt. Aber nach heute will ich sie nicht mehr hier sehen – sonst bekommen wir noch Ärger mit den Besitzern«, wandte Anna ein. »Ja, ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass Charlotte sonderliches Aufsehen auf sich ziehen wird ... das werden die eh nicht bemerken ... Halt Charlotte! Nicht anfassen, das ist ein Elektrozaun!« Prompt spurtete er der Intelligenzbestie hinterher, die wohl hatte testen wollen, wieviel Volt genau durch den silbernen Draht flossen. »Ohje. Ich muss jetzt allerdings zum Training ... «, sagte Anna zu sich selbst und marschierte zu den Stallungen.   -o-o-   Klaus trat näher an Charlotte heran, die eben die Bekanntschaft mit 3000 Volt gemacht hatte. »Ich würde mich jetzt um meine Reitbeteiligung kümmern. Du kannst mitkommen, wenn du willst.« Als wäre nichts gewesen, funkelte sie ihn an: »Oh jaa! Unglaublich gern!« Nun gut, die Stromstärke des Zauns war vermutlich nicht besonders hoch. Während sie zu den Stallungen laufen, konnte Klaus nicht anders, als zu fragen: »Sag mal, wenn du so pferdebegeistert bist, warum gehst du dann nicht einfach irgendwo reiten?« Charlottes Mundwinkel wanderten nach unten. »Das würde ich gerne, aber ich könnte nicht einmal die Ausrüstung bezahlen, um überhaupt Reitstunden zu nehmen ... « Da dachte er an die hundert Euro, die sie ihm als Schadenersatz zugesteckt hatte. »A propos: Hundert Euro waren etwas viel. Aber mal abgesehen davon, hatte ich dir ja gesagt, dass du es stecken lassen kannst.« Reuevoll schüttelte sie den Kopf. »Nein, du hattest Recht. Ich habe deine Sachen ruiniert, mich nicht mal dafür entschuldigt und bin anderen mit meinen Problemen auf die Nerven gegangen. Außerdem hast du mir die Woche davor das Leben gerettet. Jetzt sind wir quitt.« Jetzt war Klaus baff. »Wow. Mit der neuen Brille sieht sie nicht nur klüger aus, sondern benimmt sich auch gesitteter! Wer hätte das gedacht!« »Welche Box ist es?«, riss sie ihn aus den Gedanken, als sie die Stallungen betraten. Anna war längst weg, sie hatte sich bereits zum Reitplatz begeben. »Da vorne ... Aber renn nicht hin, sonst erschrickt ... « Bevor er den Satz beenden konnte, nahm Klaus wahr, dass Charlotte bereits losgeschlichen war und sich bedacht an die Box heranpirschte. »Nanu, sie weiß es.« Als Charlotte die Box erreichte, streckte ein Falbe mit Klecks auf der Stirn seinen Kopf heraus. Ein kleines Hallo. Sofort schloss das Mädchen das Pferd ins Herz und andersherum – nach kurzem Beschnuppern ließ sich der Falbe mit Charlottes Streicheleinheiten verwöhnen. Dabei warf sie einen kurzen Blick auf das Boxenschild. »Morgenstern heißt du also? Jaa, mein Lieber! Du bist ein ganz Lieber!«, quiekte sie ganz vernarrt. Klaus musste bei dem Anblick schief lächeln. »Ist ja süß.« »In der Futterkiste da drüben findest du Äpfel, du kannst ihm gern einen geben«, teilte er ihr mit. »Au ja! Jetzt gibt's ein Leckerli für dich, Morgenstern!« Charlotte holte sich den Apfel und hielt ihn Morgenstern vor die Nase, der ihr Angebot schmatzend annahm. Nochmals musste Klaus schmunzeln und schüttelt dabei lächelnd den Kopf. Er ließ seine Mitschülerin noch ein wenig Morgenstern verhätscheln, bis ihm eine Idee kam: »Anna trainiert jetzt dann gleich. Hast du vielleicht Lust, zuzusehen?« Charlotte schaute ihn fragend an. »Was ist das für ein Training?« »Springreiten.«   -o-o-   Draußen auf dem Springplatz ritt Anna geradewegs mit ihren Pferd auf ein Hindernis zu. Der große Schecke legte einen majestätischen Galopp hin, flog über den Sand, über die Stangen, über die Welt. Gleich danach flitzten sie weiter zur nächsten Herausforderung. Anna wirkte hochkonzentriert, ihre Haltung war einwandfrei. »Wohaa! Das ist wirklich beeindruckend!«, bewunderte Charlotte sie aus der Ferne. Sie und Klaus hatten sich an den hölzernen Außenzaun des Springplatzes gelehnt. Er hatte Charlotte wohl richtig eingeschätzt. »Irgendwie wusste ich, dass es ihr gefällt ... « »Nicht nur schön und klug, sondern auch noch so eine tolle Reiterin ... «, lobte das Brillenmädchen sie weiter. »Anna ist wirklich talentiert!« Klaus runzelte die Stirn. »Also Talent würde ich das nicht nennen.« »Warum?« »Anna ist der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne. So viel Zeit, wie sie mit Training verbracht hat, ist es kein Wunder, dass aus ihr eine fabelhafte Springreiterin und Trainerin geworden ist.« »Trotzdem gehört doch ein wenig Talent dazu, oder?« Klaus sah eingeschnappt zu Boden. »Ansichtssache.« Darum, und weil sie neugierig war, wechselte Charlotte das Thema: »Sag mal ... kennt ihr euch wirklich schon so lange? Ihr habt ja vorhin was von zehn Jahren gemurmelt ... « »Ja. Wir haben zusammen reiten gelernt, als wir Kinder waren.« »Wow! Sei mir nicht böse, aber ... bei Anna verstehe ich es ja, dass sie früh reiten gelernt hat ... aber als Junge ... äh.« »Schon gut. Ich wurde oft damit aufgezogen, ich bin das gewohnt und es macht mir nichts aus. Meine Mutter ist eine Pferdenärrin und hat mich, sobald ich alt genug war, auf ein Pony gesetzt. Und mir hat das gefallen. Deshalb habe ich nicht damit aufgehört.« Klaus verschränkte die Arme und stützte sich auf der obersten Zaunlattenkante ab. »Und deshalb ist es mir egal, was andere denken.«   -o-o-   »Das heißt, Klaus wurde bestimmt auch gehänselt. Aber er ... stand einfach darüber ... im Gegensatz zu mir ...  « Langsam schwappten Charlottes Gedanken in die Vergangenheit über. In eine Zeit der Einsamkeit. Der Trauer. Eine Zeit, die sie hatte vergessen wollen. »Früher hatte ich keine Freunde. Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich allein, oder mit meinem Vater, als er noch da war.« Die kleine Charlotte saß allein Zuhause nach der Schule. Sie malte, löste Rätselhefte, lernte. Lernte, lernte und lernte. Der Stift war ihr Freund. Wenn sie fleißig war, wurde sie von ihrem Vater beachtet. Ihre Mutter war untertags fort, sie hatte zu arbeiten. Tag für Tag. »In der Schule nannten sie mich ... Wischmopp-Charlotte. Es lag an meinen Haaren. Sie kräuselten sich, bildeten einen dichten Urwald. Vielleicht wäre ich nicht so empfindlich gewesen, wenn ich Geschwister gehabt hätte. Wenn meine Sachen nicht zerknüllt in der Ecke gelegen wären ... wenn Stifte nicht verschwunden wären  ... wenn die Papierkügelchen mich nicht getroffen hätten ... Vielleicht wäre ich nicht so wehleidig gewesen, wenn mein Vater uns nicht verlassen hätte. Aber vermutlich hätte ich so oder so ... jeden Tag ... in Strömen geweint.« Die kleine Charlotte mit den Kupferlocken wusste nicht, was sie tun sollte, außer zu antworten. Auf die Fragen, die die Lehrer ihr in der Schule stellten. »Die anderen Kinder sagten, ich wäre ein Streber. Weil ich die richtigen Antworten wusste. Aber auf die meisten meiner eigenen Fragen wusste ich nie eine Antwort. Warum. Warum tun sie das. Warum tun sie mir das an. Verdammt, warum hassen sie mich. Warum hassen mich alle?« Es wurde schlimmer. Sie stellten ihr das Bein. Oft. Die kleine Charlotte küsste den Boden. Die Kinder klauten ihre Sachen, um sie im Dreieck herumzuwerfen. Um ihr zu zeigen, wie schwach sie war, die Streberin. Und noch schlimmer. Eines Tages fand sie ihr Mathebuch im Mädchenklo. In der Schüssel. Durchtränkt mit Urin. »Streber sind scheisse!« stand darauf mit Edding gekritzelt. Die kleine Charlotte war überzeugt davon, dass es immer schlimmer werden würde. Bis in jenem Moment ein Mädchen aus ihrer Klasse die Toilette betrat. Sie hatte kinnlange, schwarze Haare, von denen zwei Strähnen links und rechts abgezweigt und zu Zöpfchen gebunden waren. Binnen Sekunden bemerkte sie, was ihre Klassenkameraden Charlotte angetan hatten. Sie ging langsam zu ihr herüber, holte wortlos ein Taschentuch aus ihrem Schulranzen hervor und reichte es dem aufgelösten Mädchen. Mitfühlend lächelte sie Charlotte an. Diese biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuheulen. Tapfer wandte sie sich ihrer Klassenkameradin zu und nahm das Taschentuch an. Putzte sich die Nase. Währenddessen glitten die Hände des dunkelhaarigen Mädchens an ihre Zöpfe. Sanft entfernte sie ihre beiden Haargummis, legte sie auf ihre rechte Handfläche und streckte sie vor Charlotte aus. Sie waren Milous Geschenk. Von da an gab es keine Wischmopp-Charlotte mehr. Keine Streberin mehr. Aus dem Mädchen mit den Kupferlocken wurde das Mädchen mit dem Kupferdutt. Der Haarknollen bot keine weitere Angriffsfläche mehr, genau wie Charlottes Verhalten. Sie meldete sich nicht mehr. Stellte sich dumm. Oder rebellierte, zickte herum. Antworten auf Fragen von Lehrern? Kannte sie nicht. Grundsätzlich nicht. Nur auf dem Papier, da spiegelte sich wieder, was sie die meiste Zeit ihres Lebens getan hatte.   -o-o-   In der Gegenwart lehnten Charlotte und Klaus noch immer am Zaun. Sie seufzte. »Ich habe mich immer versucht anzupassen. Aber Klaus sieht heute noch belämmert aus. Er ist viel stärker als ich ... « Dann sah sie rüber zu Anna. »Und Anna erst. Zu hören, dass sie sich ihre Anerkennung selbst verdient hat  ... macht mich noch viel trauriger. Wie kann ich ... mit so jemandem mithalten? Wie kann ich jemand werden, den du gern hast, Tassilo?« Dass Klaus sie musterte, bekam Charlotte erst mit, als er das Wort ergriff. »Komm mit!« »Eh? Wohin?« Er versetzte ihr einen kleinen Stoß in den Arm und lief einfach los. Aus Mangel an Alternativen folgte sie ihm zurück zum Stall. Dort fing er an, Morgenstern zu putzen. Sorgfältig kratzte er seine Hufe aus und entfernte groben Schmutz aus seinem Fell mithilfe einer Wurzelbürste. Danach ging er kurz raus, in eine andere Kammer, und kam mit Sattel- und Zaumzeug wieder. »Wir machen einen Ausritt«, verkündete Klaus knallhart. »Was?! Wir? Aber ... ich habe doch keine Ahnung vom Reiten!«, stellte Charlotte goldrichtig fest. »Keine Sorge, ich hab genug Ahnung für uns beide. Allerdings musst du dich sehr gut an mir festhalten.« Mit diesen Worten verschwand er aus der Box, bis er wiederkam und ihr einen Reithelm zuwarf, den sie ungeschickt auffing. »Sonst geht es nicht. Ist das okay für dich?« Charlotte starrte den Helm an, dann den gezäumten Morgenstern und zuallerletzt Klaus. »Du willst mich wirklich ... auf Morgenstern mitnehmen?«, fragte sie ungläubig. »Brauchst du jetzt auch noch ein Hörgerät?« Jetzt schüttelte sie den Kopf und begann glücklich zu strahlen. »Ich komme mit!« Dann rückte sie ihren Haarknödel so zurecht, dass sie den Reithelm problemlos aufsetzen konnte. Klaus half ihr beim fest machen. Dabei kam er ihr sehr nahe – für einen kurzen Moment fragte Charlotte sich, ob er zu allen Mädchen so nett war. Sie führten Morgenstern raus auf den Hof, dann machte der Brillenträger es ihr vor und stieg auf. Mehr oder weniger begabt stellte sich Charlotte an, aber schließlich saßen sie beide auf dem Pferd. »Am besten schlingst du so deine Hände um mich ... Lass auf keinen Fall los und lehne dich immer vor, nicht zurück«, wies er sie an. Charlotte errötete leicht. »Ich war noch nie einem Jungen so nah ... « »Denk jetzt bitte nichts Falsches, ich will bloß nicht, dass du unter die Hufe gerätst«, fügte er noch hinzu, nachdem ihm selbst eingefallen war, was er da von seiner Mitschülerin verlangte. »Pah! Lockenköpfe sind eh nicht mein Typ, also mach dir da keine Sorgen!«, stellte sie daraufhin trotzig klar. »Gut«, meinte Klaus nur und sie ritten los. Also, sie schritten los. »Wir machen erst mal langsam. Wichtig ist, dass du die Beine zumachst, also mit den Innenseiten deiner Oberschenkel dicht dran bist. Und pass ja auf, dass du die Hacken nicht reinhaust!« »O-ok ... « »Ich kann es nicht fassen ... ich reite zum ersten Mal richtig auf einem Pferd! Es ist endlich der Tag gekommen!« Charlotte konnte weinen, vor so viel Glück. »Dann: Auf, auf!«, meinte Klaus abenteuerlustig. Sie erreichten den nahegelegenen Waldeingang und trabten endlich los. Die holprige Fortbewegungsart war ungewohnt, aber Charlotte kam damit klar – immerhin erfüllte sich gerade ihr Kindheitstraum. Im Handumdrehen gelangten sie in das Herz des Waldes. Vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch die Decke, die frische Frühlingsluft kitzelte sie. Lud ein zum Draußensein. Die Bäume, die Blüten, das Licht: All das spiegelte sich in Charlottes runden Brillengläsern wider. Sie genoss es.   -o-o-   Zurück im Stall reinigte Klaus gerade das Gebissstück, als Charlotte sich dezent vor ihm verbeugte: »Danke, Klaus! Ich habe mir schon immer mal gewünscht, eines Tages zu reiten ... « »Kein Ding. Hab ich mir gedacht.« »Was?! Sieht man mir das etwa an?!« »Man müsste schon ziemlich blind sein, um das nicht zu peilen«, erwiderte er trocken. »Trotzdem, hab vielen, vielen Dank! Ich freue mich sehr!« Charlotte lächelte ihn überglücklich an. »Klaus?« Es war Anna, die nun frisch umgezogen hereinspazierte. »Ach hier seid hier. Wo wart ihr denn? Mein Training ist jetzt aus ... « »Hi Anna! Wir waren nur etwas im Gelände unterwegs. Aber wir haben dir auch zugeschaut! Spitzenleistung!« Klaus zeigte ihr ein Daumenhoch und grinste sie fröhlich an. Annas Blick schweifte zu dem benutzen Zaumzeug. »Im Gelände?«, fragte sie. »Kleiner Ausritt«, erwiderte er. Da änderte sich ihre Stimmung schlagartig. »Ich hoffe, du weißt, was dir blüht, wenn Laura das rausfindet – Du kannst nicht einfach irgendwelche Stümper auf Morgenstern drauf setzen!« »Keine Sorge, ich hab aufgepasst.« »Aber ...!« »Vertraust du mir etwa nicht?« Anna nahm sich zusammen. »Doch ... « Klaus lächelte erneut und legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf ihren Unterarm. »Ich versichere dir, dass alles okay ist. Laura ist außerdem die Woche im Urlaub.« »Trotzdem, denk bitte daran, dass Morgenstern nicht dein Pferd ist. Du wärst auch nicht begeistert als Besitzer ... « Charlotte, die die Zeit über stumm daneben gestanden hatte, mischte sich nun ein: »Also ... es tut mir Leid! Ich hätte nicht herkommen sollen ... « Bedröppelt sah sie zu Boden. »Quark! Das hat damit nichts zu tun. Anna, du hast schon Recht ... der Ausritt war gegen die Abmachung«, wandte er sich an diese, welche leicht die Lippen kräuselte. Ein »Aber« wollte ihr gerade entfleuchen, da hob Klaus den erhobenen Zeigefinger an die Lippen. »Bitte verrat uns nicht!« Er lächelte richtig süß, kniff dabei ein Auge zu. »Es geht mich eigentlich nichts an ... also ... «, erwiderte Anna schließlich. Dafür erntete sie Klaus Strahlen. Und Charlottes Bewunderung. »Anna ist ein sehr sorgfältiger Mensch. Sie beachtet Regeln, Ordnung ... ist diszipliniert und ehrgeizig. Irgendwie kein Wunder, dass die beiden enge Freunde sind ... « »Übrigens ... Charlotte? Kann ich dich kurz mal sprechen?«, sprach die Ordnungshüterin sie nun ernst an. »Mich? Ja klar!« Anna winkte sie raus vor den Stall. Die Nervosität holte Charlotte, sie begann zu zittern. Was die Schönheit wohl von ihr wollte? »Du hast mir noch nicht erzählt, warum du mir den ganzen Tag gefolgt bist.« »Äh!« Irgendwie hatte Charlotte gehofft gehabt, dass sie es vergessen hatte. Pustekuchen. »Hatte das einen besonderen Grund?«, hakte Anna weiter nach. »Ich ... äh ... « »Mist! Diesmal gibt's keinen Ausweg ... « So rang sich das Mädchen mit der kreisrunden Brille zur Wahrheit durch: »Also um ehrlich zu sein ... weil ich gehört habe, dass du Tassilo einen Korb gegeben hast ... stimmt das denn, überhaupt?« Annas Mundwinkel wanderten nach oben. »Achso! Die Gerüchteküche also!« »Gerücht? Bedeutet das etwa, Anna ist mit Tassilo etwa doch ... « Sie bemühte sich, ihr schmerzverzerrtes Gesicht vor ihrer Mitschülerin zu verbergen. Schirmte ihre Augen mit der rechten Hand ab. »Ich hätte dich gar nicht als Ratschkaddl eingeschätzt ... «, fuhr Anna fort. »Moment, das bin ich auch nicht! Auch wenn ich nicht weiß, was das sein soll!«, wehrte Charlotte im Piepston ab. »Ghihi! Leugnen ist zwecklos! Du kannst ruhig rumerzählen, dass es wahr ist.« »Wahr...? Moment ...? Du hast Tassilo also wirklich einen Korb gegeben?!« »Jup.« »Aber ... warum?« Charlotte konnte nicht fassen, was Anna sagte: »Ganz einfach: Ich bin in jemand anderen verliebt.«   Kapitel 4: Glasaugensippe ------------------------- Als Milou noch klein war, besuchte sie oft ihre Großeltern. Sie waren streng katholisch, genau wie ihr Vater und ihre Mutter. Damals las Milous Oma ihr oft Geschichten aus der Bibel vor. Viele davon waren grausam ... doch alle handelten sie von Nächstenliebe. Und das gefiel der Grundschülerin. »Hallo Zottel! Hallo Opa, Oma!« In dieser Zeit vor acht Jahren kam Zottel, der cremefarbene Zwergspitz, jedes Mal sofort auf Milou zugetrottet und sprang an ihr hoch, um ihr ein vergnügtes Hundehallo zuzubellen. Und jedes Mal wuschelte sie ihm liebevoll durch die aufgebauschte Mähne. »Na komm herein, Kind, Oma hat dir heute Hochzeitssuppe gekocht!«, rief Opa aus der Küche, die Milou nun betrat. Tief atmete sie den Duft von Suppe, Hund und vom Altherrenparfum ihres Großvaters ein. Der kleine Zwergspitz folgte ihr schwanzwedelnd. Die Küche war ein wundervoller Ort. Zwischen den blumengemusterten Kacheln zauberte Oma die leckersten Gerichte her, am Esstisch neben dem Fenster mit Karovorhängen machte Milou zusammen mit Opa ihre Hausaufgaben und bekam spätnachmittags meist noch eine Geschichte aus der Bibel vorgelesen. An der gegenüberliegenden Wand von Milous Stammplatz aus hing ein Kruzifix über der Uhr – für sie wirkte es, als würde der Herr über die Zeit wachen. Aber leider tat er das nicht. Ein paar Wochen später wurde Zottel krank. Sie brachten ihn zum Tierarzt, aber es konnte nicht festgestellt werden, was los war. Der kleine Hund litt immer mehr, er fraß kaum, wurde träge und schlief fast nur. Es wurde schlimmer und schlimmer. Immer weniger und mehr. Milou und ihre Großmutter beteten oft für Zottel. »Bitte ... mach Zottel wieder gesund! Bitte hilf ihm, O Herr!« Doch es brachte alles nichts. Irgendwann erklärte der Tierarzt, dass der Hund eingeschläfert werden musste. Damit er sich nicht weiter durch das Leben quälte. Zottel starb und Milou fragte sich, warum Gott nicht geholfen hatte. Kurz darauf entdeckte sie an einem Schulvormittag die weinende Charlotte in der Mädchentoilette. Mit den krausen, widerspenstigen Kupferhaaren erinnerte das Mädchen sie an den Zwergspitz. Wegen dem wässrigen Ausdruck in ihren Augen. Wegen dem leidenden Blick. An dem Tag fasste Milou einen Entschluss. »Wenn Gott nicht hilft, dann helfe ich.«   -o-o-   »Ich finde, du solltest es ihr sagen.« Milou und Eileen, die jungen Frauen, standen vor dem Schulgebäude der Kopernikus-Gesamtschule und zögerten hineinzugehen. »Was sagen?«, erwiderte die Blondine mit der Palmenfrisur. »Das weißt du genau.« Mit einer Körpergröße von sagenhaften 1,60 Meter wirkte Milou auf die meisten Menschen wie ein ungefährlicher Zwerg, noch dazu mit der hohen Mädchenstimme. Aber sie war viel entschlossener, als die meisten von ihr dachten. Wenn sie von etwas überzeugt war. So wie jetzt. Eileen rümpfte die Nase. »Ich hab schon mit Charlotte geredet. So wie es aussieht, hat sie kein ernsthaftes Interesse. Es ist nur Schwärmerei.« Ungläubig schaute die schwarzhaarige Zwergin sie an. »Was? Was erwartest du jetzt von mir?«, fragte Eileen daraufhin. »Ihr solltet miteinander reden.« »Milou ... als meine Freundin bitte ich dich: Misch dich da nicht ein.« Diese war zwar skeptisch, akzeptierte jedoch die Bitte ihrer Freundin. Schweigend. Was sollte sie auch sagen – Charlotte war bereits im Anmarsch. »Guten Morgen! Ich habe fantastische Neuigkeiten!«, offenbarte sie ihnen. »Lass hören!« Auffordernd grinste Eileen sie an. »Anna hat Tassilo abserviert! Sie steht absolut nicht auf ihn!« Die Freundinnen sahen Charlotte verwirrt an. »Das wussten wir schon.« »Nein, wirklich! Es ist kein Gerücht, es ist hundertprozentig wahr!«, verdeutlichte Charlotte und wedelte dabei aufgeregt mit den Händen in der Luft herum, als wäre sie mit italienischem Blut gesegnet worden. Eileen runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen, entgegnete zerknirscht: »Natürlich ist es wahr ... warum sonst wäre Tassilo so urplötzlich aus dem Land verschwunden!« »WARTET, WAS?« Damit hatte das Mädchen mit der kreisrunden Brille nicht gerechnet. »Wusstest du das nicht? Tassilo ist mit den anderen Austauschschülern für ein halbes Jahr nach Amerika abgedampft, kurz nach seinem Geständnis«, erläuterte Eileen und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »WAAAS?!« »Nicht verzweifeln, Charlotte, er kommt ja wieder.« Liebevoll klopfte die Blondine ihr auf die Schulter. »Im Herbst.« »Gaah ...«, machte das Kupferduttmädchen, dem in diesem Augenblick jegliche Lebensfreude entwich. »Aber das bedeutet: Tassilo ist noch zu haben! Selbst wenn er in den USA jemanden kennen lernt, wird das eher nur ein Urlaubsflirt sein«, überlegte Eileen laut weiter. »Eileen ... «, ermahnte Milou sie sogleich, aber wurde von Charlotte unterbrochen: »Du hast Recht! Es ist kein Weltuntergang! Außerdem weiß ich jetzt, auf was für einen Typ Mädchen er steht!« »Ach ja? Wussten wir das nicht auch schon ... «, murmelten die Mädchen. »Als erstes muss ich irgendwie diese Brille loswerden ... Gott sei Dank hat er mich noch nicht damit gesehen ... «, nuschelte Charlotte nachdenklich. »Du willst dich ernsthaft ummodeln, nur um Tassilo zu gefallen?!« Eileen war entsetzt. »Also bitte! Kontaktlinsen hätte ich mir so oder so früher oder später geholt. Und gegen ein bisschen Sport spricht doch auch nichts. Genug Zeit habe ich dafür jetzt ja. Traurigerweise ... «, konterte Charlotte. Milou schielte scharf zu Eileen rüber, sagte leise: »Schwärmerei. Aha.« Daraufhin erntete sie einen vielsagenden Blick von dieser, bevor sie eine Ankündigung machte: »Na wenn das so ist, unterstützen wir dich dabei, Charlotte!« »Oh Eileen, ihr seid die Besten! Mein größtes Problem ist leider ... das Geld.« Charlotte mimte den Denker, legte das Kinn auf die Faust. »Wie wäre es dann mit einem Nebenjob? Am besten etwas Körperliches, dann sparst du dir gleich das Fitnessstudio!«, schlug ihre Freundin vor. »Geniale Idee, Eileen!« Erfüllt von Enthusiasmus strahlte sie sie an. Milous Lippen bibberten. Aufgewühlt und mit teils gemischten Gefühlen fragte sie sich: »Wie soll ich mich da nicht einmischen?«   -o-o-   »Ich muss nachher unbedingt mal die Zeitungsanzeigen durchgehen ... vielleicht finde ich auch was im Internet ... Eileen hat Recht, ein Job ist genau das Richtige für mich! Ich werde nicht nur schön werden, nein, ich kann auch genauso ehrgeizig werden wie Anna!« Charlotte war auf dem Nachhauseweg von der Schule, der Unterricht war wie im Nu verflogen. Als sie an der nussfarbenen Haustür im vierten Stock angelangte, konnte sie bereits von außen Stimmen vernehmen. »Nein ich werde nicht gehen, bevor du mir gesagt hast, wo es ist, Jolinde!« »Vergiss es, scher dich aus meiner Wohnung! Ich kann nicht glauben, dass du nach X Jahren hier aufkreuzt, nur weil du Geld willst!« Die Enttäuschung überkam die Sechzehnjährige. »Oh nein ... er ist wieder da.« Sie biss sich auf die Lippen, verharrte stumm vor der Tür und lauschte weiter. »Ich bin nicht wegen Geld hier, ich bin wegen MEINEM Geld hier.« »Du wirst mir Charlottes Notgroschen nicht anrühren, vorher rufe ich die Polizei! Ich kann nicht glauben, dass du nicht ein Stück an deine eigene Tochter denkst!« »Natürlich will ich das Beste für Charlotte. Aber ich glaube kaum, dass sie je studieren wird ... mal ehrlich, Charlotte ... « Das war genug für heute. »Ich sollte wohl besser gehen. Weit, weit weg ... Aber wohin? Es gibt keinen Ort, der mich vermisst. Papa hat Recht: ‚Charlotte hat schon in der Grundschule nur schlechte Noten mit heim gebracht'. Ich hätte mich nicht anpassen sollen. Und das habe ich jetzt davon.« Obwohl es draußen furchtbar kalt war, brach sie wieder auf. Schlenderte durch die Nässe der Stadt. Der graue Apriltag rieb ihr unter die Nase, dass sie das Wetter verdient hatte. Dass sie alles verdient hatte, was geschah. Inmitten der Fußgängerzone setzte sie sich auf eine Bank unter einen der vielen Bäume. Rings um sie herum lagen Geschäfte, die heute weniger lebhaft besucht wurden – kein Wunder, bei dem wolkigen Himmel. Es war ein Tag zum Zuhausebleiben. Ein Tag, der Charlotte verdeutlicht hatte, dass für sie kein Zuhause übrig blieb. Nach einer halben Stunde tröpfelte es. Charlotte blieb sitzen. Nach einer Stunde regnete es. Es war ihr egal. Nach eineinhalb Stunden war Charlotte völlig durchnässt. Aber sie wollte nicht zurück in die Wohnung. Sie wollte nicht hören, was ihr Vater zu sagen hatte. »Huh?« Sie wunderte sich, denn plötzlich hielt jemand einen großen gelben Schirm über sie. »Was sitzt du denn hier im Regen?«, fragte Klaus, eingelullt in einen Schal und eine dunkle Softshelljacke. »Uhm ... Ich ... warte hier.« » ... « Klaus schwieg und musterte das Mädchen. »Was stehst du jetzt da«, machte Charlotte ihn blöd an. Sie wollte nicht, dass er sie so sah – so schwach. »Ich überlege. Ich kann dich ja nicht einfach im Regen sitzen lassen«, erwiderte er. Sie blickte zu ihm auf. »Du weißt ja, ich wohne da vorne – warum wartest du nicht einfach bei mir weiter, bis der Regen nachgelassen hat?« Mit dem Finger zeigte er in die entsprechende Richtung. Tränen wollten Charlotte übermannen, doch sie riss sich zusammen und glotzte statt zu heulen auf den Boden. »Warum ... bist du immer so freundlich zu mir? Auch mit dem Ausritt ... « Sie konnte es nicht verstehen. Immer wieder dachte sie an die Worte ihres Vaters. Dachte an ihr Schicksal, und dass sie selbst an allem schuld war. »Ich habe das gar nicht verdient.« Da sagte Klaus, der bebrillte Lockenkopf-Streber, etwas Unglaubliches: »Kann sein. Du kannst dich ja revanchieren.« War das sein Ernst? Charlottes Gesichtsausdruck sprach Bände. Doch er fragte nur unbeirrt: »Kommst du jetzt mit?«   -o-o-   »Ich kann nicht fassen, dass ich tatsächlich mit Glasauge mitgegangen bin ... Andererseits war die Alternative nicht sonderlich verheißungsvoll.« Charlotte fröstelte beim Gedanken an den Sturm, der kurz nach Klaus Angebot aufgezogen war. Glasauge selbst sperrte gerade die Haustür auf. Die Wohnung des Augenarztes lag tatsächlich im sechsten Stockwerk, direkt über der Praxis. »Bin zuhause!«, rief er aus, als sie eintraten. Vom Flur aus konnte man direkt ins Wohnzimmer sehen, das direkt ans Esszimmer angrenzte. Dort saß am Tisch Dr. Guggenmoos und las die örtliche Zeitung. Als sie hereinkamen, blickte er nur kurz auf und widmete sich dann wieder den lokalen Nachrichten. »Die Praxis hat für heute schon geschlossen, junge Dame«, gab er dabei monoton von sich. »Oh nein, ich ... «, wollte das Mädchen einwenden, da unterbrach Klaus sie: »Das ist Charlotte, meine Klassenkameradin. Sie ist nur zu Besuch da.« »Oh, wir haben Besuch?«, quiekte es erfreut aus der Küche. Eine hübsche Frau mit hellbrauner Lockenpracht erschien in der Türschwelle. Ihre Haare waren nicht so wild zerzaust wie Charlottes – nein, sie hatte Hollywoodlocken. Locken, für die jede Frau töten würde. Und Locken, die sie eindeutig an ihren Sohn vererbt hatte ... bei welchem sie allerdings ihre Wirkung völlig verfehlten. »Das ist Klaus Mutter?! Die Pferdenärrin? Sie ist ... die schönste Frau, die ich je gesehen habe!« Klaus Mutter betrachtete sie von oben bis unten. »Oh Kind! Du bist ja klatschnass! Möchtest du vielleicht frische Sachen? Einen Föhn? Komm, ich zeige dir das Bad ... « Ohne, dass Charlotte oder Klaus hätten etwas unternehmen können, schnappte sie sich das Mädchen und führte sie ab ins Nebenzimmer.   -o-o-   Verdattert starrten die Männer ihnen hinterher. Wobei sich Klaus weniger wunderte: »War klar, dass Mama an ihr Freude hat.« Sein Vater Jürgen linste kurz zu Klaus rüber, während er weiter die Zeitung vor sich hielt. Dann sagte er bestimmend: »Ich weiß, dass in deinem Alter das Thema Mädchen wahnsinnig spannend ist, aber du solltest dich dieses Jahr zusammenreißen.« Seine Worte ärgerten Klaus. »Charlotte ist nur eine Klassenkameradin! Und ich gebe mir wirklich Mühe momentan!«, schmetterte er seinem Vater entgegen. Dieser rückte sich nur die rechteckige Brille zurecht. »Dein Deutschlehrer hat da etwas anderes unter deine Arbeit geschrieben«, sprach er Klaus wunden Punkt an, sodass dieser kurz zusammenzuckte und verlegen an die Decke blickte. »Das ... war eine Ausnahme. In den anderen Fächern habe ich schon viel aufgeholt!«, rechtfertigte sich der Sechzehnjährige. Klaus Vater blätterte um. »Mit einem guten Notendurchschnitt wirst du es nicht ins Medizinstudium schaffen, mein Sohn.« Verärgert und verzweifelt ballte der Junge seine Hände zu Fäusten. Er schwieg nur. Was sollte er auch sonst tun.   -o-o-   Das Badezimmer im Appartement der Familie Guggenmoos war altrosa tapeziert worden. Darin befanden sich weiße Schränke und eine Keramikbadewanne. Das Bemerkenswerte an dem Bad war allerdings weniger die Einrichtung als die Bildlandschaft: Überall hingen Familienbilder über und neben dem ovalen, mit Schnörkeln umrandeten Spiegel. In natürlich ebenso stilvoll gestalteten Bilderrahmen. »Ich bin mir sicher, Klaus Mutter hat die ganze Wohnung eingerichtet ... Sie hat so einen guten Geschmack! Kaum zu glauben, dass die beiden verwandt sind ... « Frau Guggenmoos schloss die Tür hinter sich, nachdem sie kurz verschwunden und mit einem Kleiderstapel wieder aufgetaucht war. »Charlotte, richtig? Du musst unbedingt aus den nassen Sachen heraus, sonst bekommst du noch Grippe! Ich habe hier ein paar alte Kleider von mir, die müssten ungefähr deine Größe sein. Such dir heraus, was du möchtest!« »Oh, äh, vielen Dank Frau Guggenmoos!« »Nenn mich doch Inga, sonst fühle ich mich so alt!« Charlotte stutzte kurz, aber freute sich dann: »Danke, Inga!« »Dann lass ich dich mal kurz allein ... « Damit überließ Klaus Mutter das Mädchen sich selbst beim Umziehen. Überrascht stellte Charlotte fest, dass Inga ihr ein Sommerkleid mit Jäckchen dagelassen hatte – aber auch eine Feinstrumpfhose. Die müsste auf jeden Fall passen. Ansonsten lagen auf dem Stapel nur noch zwei Jogginghosen und ein Shirt, das Charlotte an einen Pyjama erinnerte. Also legte sie das blumige Kleid mit den Spaghettiträgern an. Am unteren Saum verlief ein Rüschenrand, was sehr mädchenhaft und romantisch aussah. Das fand vor allem Klaus Mutter, als sie wieder hereinkam. »Hübsch siehst du aus! War es doch zu irgendwas gut, dass ich die Sachen noch aufgehoben habe. Wenn es dir gefällt, kannst du es gern behalten. Ich passe sowieso nie wieder da rein!« Verlegen über das Kompliment errötete Charlotte und sah zur Wand, wo die Familienfotos hingen. Eines davon sprang ihr sofort ins Auge. »Uhm, danke ...! Vielen Dank! Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Ähm, diese Bilder ... ist das da Anna?«, wollte sie wissen. »In der Tat. Geht sie etwa in deine Klasse?«, fragte Inga zurück. »Uff. Das wäre eine Sache. Anna geht in die Begabtenklasse ... « »Äh, nein. Aber wir kennen uns«, antwortete Charlotte statt ihre Gedanken laut auszusprechen. »Soso! Ja, damals habe ich ein Foto von Klaus und Annas erster Reitstunde gemacht, das war so putzig, das musste ich einfach aufhängen! Allgemein kann ich mich schlecht beherrschen, die Finger von der Kamera zu lassen – Ein Kind wird ja nur einmal groß! Oh, deine Haare sind ja auch noch ganz nass! Soll ich sie dir föhnen und frisieren?« Charlotte zuckte bei der Erwähnung ihrer Haare zusammen. »Oh ... Oh nein, danke, Inga! Ich föhn sie mir lieber selbst!« Noch während sie redete, nahm sie Klaus Mutter den Föhn aus der Hand, steckte ihn in die Steckdose neben den Zahnputzbechern und begann, sich den feuchten Haarknödel trocken zu föhnen. »Oh ... ok«, stammelte Inga überrascht. Um ihre Haare nicht aufmachen zu müssen, versuchte Charlotte vom Thema abzulenken: »Ähm, und was ist mit diesem Bild?« »Hach, das ist der erste Fang vom Angelausflug mit Jürgens Vater. Niedlich, wie die Drei stolz auf diesen mickrigen Fisch sind, nicht?« Inga lachte. »Und das da drüben ist meine Mutter mit ihrem berühmten Apfelkuchen, es war das erste Mal, dass Klaus mitgebacken hat. Damals war er noch so klein!« Die liebevolle Art der Mutter brachte die Sechzehnjährige zum Schmunzeln. »Klaus Mutter ist wirklich nett. Ich mag sie.« »Du gehst in Klaus Klasse, oder Charlotte?«, fragte Inga neugierig. »Ja.« »Bist du dann auch im Schachclub?« »Äh ... nein.« Charlotte wunderte sich. »Wir haben einen Schachclub an der Schule?« »Achso.« Besonnen lächelte Klaus Mutter sie an, bevor sie zurück ins Wohnzimmer gingen.   -o-o-   Dort begegneten sie einem wütenden Klaus-Exemplar und dem immer noch in der Zeitung versunkenen Augenarzt. Als der Brillenträger Charlotte in dem Kleid samt Jäckchen erblickte, wusste er erst einmal nichts zu sagen. Seine Mutter schon. »Sieht sie nicht süß aus? Guck mal Jürgen, hatte doch was Gutes, dass ich das Kleid noch nicht zur Altkleidersammlung gebracht habe!« Jürgen schaute auch weiterhin nicht auf und gab knapp zurück: »Ja, wunderschön!« Der Kommentar provozierte Klaus offensichtlich, denn er machte prompt einen Satz auf Charlotte zu, packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich. »Komm mit Charlotte, wir müssen jetzt lernen!«, zischte er sauer wie eine Essiggurke. Dann zerrte er das Mädchen zurück in den Flur, in sein Zimmer. Als die beiden weg waren, behauptete Jürgen: »Die machen jetzt garantiert alles außer lernen.« Unschuldig kratzte sich Inga am Kinn. »Meinst du?«   -o-o-   »Sorry.« Klaus lehnte sich von Innen an seine Zimmertür, als würde ein Tyrannosaurus Rex versuchen, jeden Moment hier einzubrechen. »Würde es dir etwas ausmachen, ein zwei Stunden hierzubleiben? Du musst auch nicht wirklich lernen. Ich muss nur, unbedingt ... « Bedröppelt schaute er zu Boden. Diesen traurigen Ausdruck in den Augen kannte Charlotte bislang nicht vom Vorzeigestreber ihrer Klasse. Da klatschte er sich die rechte Hand an die Stirn und drückte damit eine seiner Ponylocken platt. »Ach halt, du hast ja auf jemanden gewartet, du musst bestimmt los, sobald es nicht mehr regnet – « Weil Charlotte nur herumstand, setzte sie sich nun auf den flauschigen, kreisrunden Teppich in Klaus Zimmermitte. »Nein, ich habe auf niemanden gewartet. Lass uns zusammen lernen.« Klaus hielt kurz inne und sah sie an, bevor er sie dankbar anlächelte. »Okay!« Dann begann er, die nötigen Unterrichtsmaterialien vorzubereiten. Nach kurzer Zeit hatte sich das Zimmer, in dem überwiegend Holzmöbel standen, in ein Lernhilfenlager verwandelt. Auf dem Teppich verteilt lagen Mathebücher, Hefte und Aufzeichnungen. Mitten darin kauerten Charlotte und Klaus im Schneidersitz. »Mir fällt gerade auf, dass ich nie lerne«, bemerkte das Mädchen im Blumenkleid, als sie die Nase in einer Analysis-Lernhilfe vergrub. »Was?!« Klaus dachte zurück an die Matheolympiadesiegerliste. »Vielleicht sind deshalb meine Noten gerade so schlecht«, brabbelte Charlotte weiter, was bei ihm einen emotionalen Tobsuchtsanfall hervorrief. »Gaah! Schlecht? Schlecht?! Bist du nicht die Erstplatzierte vom letzten Mathewettbewerb?!« »Ach das ... das ist mehr so ein Hobby.« »Du machst mich noch wahnsinnig!« Demonstrativ wuschelte er sich durch die Lockenpracht. »Meine Mathenoten sind auch nicht so supergut. Ich steh meistens auf einer Zwei Minus«, verteidigte Charlotte sich. »Das beißt sich ziemlich, findest du nicht?« »Na und?« Klaus seufzte. »Sie ist mir ein Mysterium ... « »Ich ... ich mache das mit Absicht.« Das Mädchen mit dem Kupferdutt starrte beschämt auf die Bücher. »Ich hasse es, ein Streber zu sein.« »Das sagst du ausgerechnet mir.« Verwundert sah sie ihn an. Klaus lachte nur heuchlerisch. »Ha. Haha. Du stellst dich im Unterricht also mit Absicht dumm, damit dich keiner Streber nennt? Und Zicke wäre dir lieber?« »Exakt.« Es war ihr offensichtlich peinlich, das zuzugeben, aber er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Wow. Wir sind wirklich grundverschieden. Was würde ich nicht dafür geben, nur den dritten Platz zu belegen ... « »Ich dachte immer, deine Noten wären super.« »Meine? Ha! Was glaubst du, warum ich mir so viel Mühe gebe ... « »Ich weiß nicht. Verrats mir.« Schlagartig wurde Klaus Tonfall eine Spur trauriger. »Eigentlich ... weiß ich es auch nicht. Es ist eh vergebens ... «   -o-o-   »So niedergeschlagen kenne ich ihn gar nicht ... « Während Klaus deprimiert schwieg, studierte Charlotte sein Zimmer erstmals genauer. Es war sehr ordentlich, der Junge besaß nicht besonders viel Krimskrams – bis auf die vielen Lernbücher und die Pokale, die sich stolz auf einem Wandregal präsentierten. Dort hingen ebenfalls ein paar bunte Stofffetzen über die Regalkante hinaus. »Du hast da ganz schön viele Pokale«, sprach sie den Brillenträger darauf an. »Die meisten sind vom Schachclub ... die wenigen Schleifen da sind noch von Reitturnieren von früher ... aber das war immer eher Annas Ding.« »Schachclub ... stimmt, das hat Inga auch erwähnt.« Charlottes Blick fiel nun auf Klaus Schreibtisch, wo ein Schachbrett einsam herumlag. »Du hast gesagt, ich muss nicht unbedingt lernen. Lass uns eine Runde spielen!«, schlug sie vor. »Du willst Schach spielen?« »Hast du etwa Angst vor einer Niederlage?« »Nicht im Geringsten. Ok, warum nicht.« Gemeinsam platzierten sie die Figuren auf dem Brett und fingen an zu spielen. In weniger als zehn Zügen schaffte Charlotte es schließlich, Klaus blöd dastehen zu lassen und ihn Schachmatt zu setzen. Schweißgebadet und niedergeschlagen hoch zehn saß er dann da, die Hände im Teppich vergraben. »Sie hat mich besiegt ... in weniger als zehn Zügen ... «, murmelte er in sich hinein. »Jippieh! Gewonnen!«, freute sich Charlotte nur. »Ich fass es nicht ... der einzige, der mich bisher besiegt hat, war Chris ... Du solltest deine Intelligenz nicht verstecken, Charlotte. Warum trittst du nicht dem Schachclub bei? So eine Verstärkung könnten wir gut gebrauchen!« Klaus Enttäuschung über sich selbst hatte sich in Bewunderung für Charlotte verwandelt. Diese fand sich selbst immer noch nicht toll. »Ich hab dir doch erklärt, dass ich nicht gern die Streberin bin.« Energisch schüttelte der Brillenträger den Kopf. »Ganz ehrlich: Das ist total lächerlich. Du solltest stolz auf dich sein. Aber musst du wissen. Ich muss jetzt aber wirklich lernen ... sonst kann ich mein Matheabi vergessen.« Pflichtbewusst wie immer schnappte Klaus sich das Aufgabenblatt, um es durchzurechnen. Charlotte schaute ihm nur stumm dabei zu. So konnte sie beobachten, wie der Klassenstreber immer nervöser wurde und sich immer mehr Fragezeichen in seinen Brillengläsern spiegelten, bis sein Kopf am Ende so sehr vor Ahnungslosigkeit zu rauchen schien, dass er sich wütend durch die Haare wuschelte. »Zeig mal her!«, befahl sie ihm schließlich und riss das Blatt an sich. Nachdem sie sich einen kurzen Überblick verschafft hatte, meinte sie zu Klaus: »Pass auf. Wenn ... dann ... und deswegen ... « Sie nahm ihm den Stift aus der Hand und zeichnete ein Beispiel auf. Und so lernten sie letztendlich gemeinsam.   -o-o-   Als Charlotte abends nach Hause kam, war ihr Vater bereits gegangen. Jolinde jedoch war immer noch aufgebracht von dem unangekündigten Besuch. »Charlotte, nimmst du bitte nachher die Wäsche mit in dein Zimmer? Und ich habe dir Brokkoli Auflauf gemacht.« »Ja Mama!« Zunächst einmal verschanzte sie sich in ihr Zimmer, um sich umzuziehen – blöde Kommentare wegen dem Kleid wollte Charlotte nämlich nicht von ihrer Mutter zu hören bekommen. In Jogginghose und Hoodie gekleidet kam sie wieder herausspaziert und erledigte ihre Wäschepflicht. Danach setzte sie sich an den Esstisch, auf dem Jolinde bereits das Abendessen angerichtet hatte. »Charlotte, stocher bitte nicht so in deinem Essen!«, ermahnte ihre Mutter sie, die gerade nebenbei im Wohnzimmer ihre Blusen bügelte. Um ihre Tochter zu nerven, unterbrach sie diese Tätigkeit, lief in die Küche und kam mit einer Schüssel wieder, aus der sie noch mehr Brokkoli auf Charlottes Teller schaufelte. »Und iss mehr Gemüse, damit du ja nie so wirst wie dein Vater! Er ist so ein großes A!« »Ja, Mama«, stöhnte das Brillenmädchen nur und mampfte brav ihren Brokkoli. Immerhin wollte sie die Gelegenheit nutzen. »Du Mama, könntet ihr im Laden vielleicht eine Aushilfe gebrauchen?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Du meinst einen Vierhundert-Euro-Job?« »Ja genau.« »Willst du etwa arbeiten?« »Ja. Ich möchte einen Nebenjob machen.« Wenig begeistert verzog Jolinde das Gesicht. »Kommt nicht in Frage! Verwende deine freie Zeit lieber, um deine Noten aufzubessern. Deine letzte Arbeit hat mich sehr enttäuscht. Deine Lehrer kannst du vielleicht für dumm verkaufen, aber nicht mich! Ich weiß, dass du nur stinkfaul bist, sonst nichts! Du lernst gefälligst auf die nächsten Prüfungen!« »Aber ... Mama, du verstehst das nicht! Ich brauche das Geld!« »Wofür?« »Ich will mir Kontaktlinsen kaufen!« »Das ist völlig unnötig, Charlotte. Du bist noch viel zu jung dafür.« »Für Kontaktlinsen ist man nur zu jung, wenn man unter zehn ist! Ich bin sechzehn!« »Ich verbiete es! Das ist mein letztes Wort!« Soviel zu Charlottes Hoffnungen.   -o-o-   Den Ereignissen des letzten Tages angemessen trudelte Charlotte am nächsten Schulmorgen mit hängendem Köpfchen im Klassenzimmer ein. »Nanu, was ist denn mit dir heute los?«, wollte Eileen natürlich sofort wissen. »Mama hat mir verboten, jobben zu gehen. Und Kontaktlinsen zu tragen. Jetzt muss ich bis in alle Ewigkeit ein Dasein als Brillenschlange ertragen!«, heulte Charlotte ihr sofort ihr Seelenleid vor. »Buhuu!« »Ohjee«, beteuerte ihre Freundin, zwinkerte jedoch Milou, die auch dabei stand, heimlich zu und flüsterte leise: »Na siehst du, Problem gelöst!« Milou schien nicht begeistert von Eileens Reaktion zu sein. Darum sagte sie zu Charlotte, die vor lauter Panikschieberei den bösen Kommentar ihrer Freundin nicht mitbekommen hatte: »Hör mal! Ich finde überhaupt nicht schlimm, dass du jetzt eine Brille trägst. Du siehst sogar richtig süß damit aus! Vielleicht solltest du dich einfach selbst akzeptieren.« Charlotte errötete und freute sich: »Oh Milou! Du bist so eine gute Seele!« »Stimmt. Anna mag zwar gut aussehen, aber sie ist auch mega selbstbewusst. Das ist mindestens genauso wichtig!«, stocherte Eileen weiter in Charlottes mangelndem Selbstbewusstsein. »Eileen!« Milou stieß ihr zischend in die Rippen. »Buhuu ... « Und Charlotte blies nochmal eine Runde Trübsal. Unterdessen war Klaus ins Klassenzimmer hereingekommen und winkte ihr zur Begrüßung zu, bevor er sich auf seinen Platz hinter den Mädchen setzte. »Hat der dir gerade zugewunken?!«, kommentierte Eileen nuschelnd, damit er sie nicht hören konnte. »Quatsch!«, stritt Charlotte sofort ab.   -o-o-   »Wenn Eileen wüsste, dass ich gestern bei Klaus war ... dann wüsste es gleich die ganze Klasse. Und die würden das garantiert falsch verstehen.« Nun betrat auch der Mathelehrer den Raum, sodass die Mädchen ihr Kaffeekränzchen unterbrachen und sich auf die Stühle begaben. Wie zu Anfang jeder Stunde kramte er seine Abfrageliste hervor, fuhr sie mit dem Zeigefinger entlang und wählte schließlich ein Opfer aus. »Guten Morgen. Dann schauen wir mal, wen ich heute abfrage ... ah, der Klaus braucht noch eine Note. Klaus, bitte vorkommen!«, fällte der Lehrer seine Entscheidung schnell. Der Brillenträger ging vor an die Tafel. Was keiner sah, außer Charlotte: Klaus war nervös. Unsicher spielte er mit dem Stück Kreide in der Hand herum, mit dem er gleich ein paar Gleichungen lösen musste. Doch überraschenderweise fragte der Mathelehrer genau das ab, was die beiden Brillenschlangen am Vortag geübt hatten. Klaus gab Charlottes Erklärungen eins zu eins wider. Die Kreide wanderte über die Tafel, hinterließ dort Zeichen, die für manche Schüler immer noch große Rätsel darstellten. Diese Schüler waren es, die Klaus den Erfolg nicht gönnten. »Typisch Streber!«, murmelten sie. Oder: »Echt mal, der weiß alles ... « »So, noch irgendwelche Ergänzungen? Nein?«, fragte der Mathelehrer, nachdem der Klassenstreber seine Beispiele fertig an der Tafel veranschaulicht hatte. Klaus schüttelte den Kopf. Er war durch mit der Aufgabe – und würde gleich erfahren, ob er mit seinen Schlussfolgerungen richtig lag. »Dann gibt's eine glatte Eins darauf. Du darfst dich setzen.« Ein Stein fiel ihm von Herzen, das erkannte Charlotte sofort. Auf dem Rückweg zu seinem Platz lächelte Klaus sie dankbar an. »Nicht schlecht, Kumpel«, bemerkte Theo, der Asiate mit Topffrisur, als sein Kumpel sich wieder neben ihn setzte. Während des restlichen Unterrichtes passierte nicht viel. Sie nahmen neue Aufgabengebiete in Angriff, die Charlotte langweilten. Für Abwechslung sorgte Klaus gegen Ende der Stunde: Der Frechdachs wagte es tatsächlich, sie von hinten mit Papierkügelchen zu bewerfen! Charlotte wurde richtig aggressiv – da half sie ihm und dann so was! Bis sie feststellte, dass in einem der Kügelchen eine Nachricht versteckt zu sein schien. Gespannt faltete sie den zerknüllten Papierstreifen auseinander. »Ohne dich hätte ich das nicht gerafft. Du bist eine prima Nachhilfelehrerin!«, stand da. Und in diesem Augenblick ging Charlotte ein Licht auf. »Das ist es ... « Kapitel 5: Der Schäferzug ------------------------- Kaum, dass der Pausengong ertönte, eilte Charlotte ins Sekretariat, als ginge es um ihr Leben – nun gut, das tat es auch in gewisser Weise. »Wenn ich Nachhilfe gebe – dann wird Mama mehr als einverstanden damit sein. Es kann sein, dass ich dann wieder Streberin genannt werde ... aber ... vielleicht kann ich lernen, darüber zu stehen ... So wie Klaus.« Charlotte ließ sich von der pummeligen Sekretärin mit den Hamsterbacken in die Nachhilfelehrerliste eintragen und lächelte megazufrieden. »Bei einem richtigen Nebenjob hätte ich das Geld bereits nach einem Monat zusammen ... Aber da ich noch fünf Monate Zeit habe, ist selbst ein geringer Lohn ausreichend! Hoffentlich meldet sich nur jemand ... «   -o-o-   In der nächsten Unterrichtsstunde schneite Herr Özdemir mit sagenhaften Neuigkeiten herein: »Aufgepasst, ihr Fruchtzwerge! Einige von euch werden sich heute freuen. Anna Marbach aus der 10a hat in diesem Halbjahr mit ihrem Team den Pokal für die deutschen Schulschachmeisterschaften geholt. Deshalb hat die Schulleitung beschlossen, die Schach AG weiter zu fördern, indem sie dessen diesjährige Bildungsfahrt sponsern. Theodor Hoffmann, Klaus Guggenmoos ... « Er klopfte zweimal bedächtig auf den Tisch, bevor er fortfuhr: »Herzlichen Glückwunsch!« Dann fing Herr Özdemir an, enthusiastisch in die Hände zu klatschen, sodass die gesamte Klasse miteinstimmte. »Echt jetzt...? ... Der ... geht UMSONST auf Clubfahrt? So gut kann Anna dann doch gar nicht sein! Wenn er besser als Anna sein soll, was Schach betrifft ... « Charlotte grübelte und grübelte, sie fand den Gewinn ziemlich ungerecht. Außerdem erlaubte sie sich den Gedanken, dass es vielleicht eine Sache gab, in der sie Anna überlegen war. Auf jeden Fall machte sie die Clubfahrtsache extrem neugierig. »Psst, Klaus, wo fahrt ihr denn hin?«, flüsterte sie Klaus deshalb zu. Dieser antwortete zwar, aber Charlotte konnte kein Wort verstehen. »Hää, was soll das heißen?!«, wunderte sie sich daher. Aber nicht lange, denn vor ihrem Tisch stand bereits Herr Özdemir und empfing sie mit seinem finsteren Todesblick. »Laberbacken sitzen nach, weißt du ja, Charlotte?«, ermahnte der Lehrer sie, woraufhin das Mädchen energielos stöhnte: »Ja ... Ich weiß ... «   -o-o-   Als das Nachsitzen endlich vorüber war, atmete Charlotte tief aus – sie musste sich beruhigen, sonst würde sie den nächstbesten Schüler, der ihr über den Weg lief, vor lauter Wut umlegen. »Wo ist diese blöde Schach AG!« Die Sechzehnjährige blies die Backen auf, guckte die gegenüberliegende Tür des Nachsitzraumes an und stellte fest, dass sich der Schachraum genau hier befand. »Das ging ja schnell ... « Dennoch war sie entschlossen – in der letzten Stunde hatte sie viel Zeit gehabt, um über ihr weiteres Vorhaben genau nachzudenken. Deshalb klopfte sie nun kräftig an die Tür. Von innen drangen ein paar Stimmen nach draußen, eine näherte sich. Schließlich machte Anna ihr auf. »Ja ...? Oh, Charlotte. Was kann ich für dich tun?«, fragte sie höflich. »Ich ... hrmmhrmm«, räusperte sich die Brillenträgerin. » ... ich möchte gerne der Schach AG beitreten!« Verdattert glotzte Anna sie an, bevor sie beteuerte: »Das tut mir leid, aber ... wir nehmen momentan keine neuen Mitglieder auf, erst Anfang nächsten Schuljahres wieder.« »Oh ... «, entfuhr Charlotte. Da rief einer der Mitglieder lautstark nach Anna. »Ich muss dann wieder ... « »Oh, ja – kein Problem!« Das Mädchen mit dem Kupferdutt winkte ab und verkniff sich ihre Enttäuschung. Doch bevor sich die Tür zum Schachclub schloss, stemmte sich eine Hand dagegen – Klaus Hand. »Wer ist denn da? Oho, Charlotte! Sag bloß du willst jetzt doch in die Schach AG!«, traf er den Nagel auf den Kopf. »Woher weißt du das?!«, sprudelte sofort aus Anna heraus. »Hehe. Ich hab sie eingeladen«, verriet er ihr grinsend. Die Schulschönheit wirkte darüber nicht besonders glücklich. »Oh ... Achso ... «, sagte sie trocken. Da fügte Klaus hinzu: »Charlotte ist wirklich schlau. Sie hat immerhin bei der letzten Matheolympiade den ersten Platz gemacht.« »Wir könnten sie zwar tatsächlich gebrauchen, aber ... Regeln sind Regeln.« Anna sorgte wirklich immer für Ordnung und Sitte, das musste man ihr lassen. »Ach komm schon, Anna. Stell dir vor, wie cool das wäre, wenn wir noch jemanden aufstellen könnten. Und Gonzales ... «, wandte Klaus ein. Zähneknirschend gab sie nach – Seine Argumente hatten sie wohl überzeugt. »Ok, schon gut. Du musst trotzdem den Aufnahmetest bestehen, Charlotte. Ist das in Ordnung?« »Äh ja klar!«, stammelte sie und schob sich die Brille wieder hoch, die heruntergerutscht war. »Dann komm rein!«, sagte Anna und hielt ihr die Tür auf. Das Zimmer der Schach AG war ein alter Kollegstufenraum für Oberschüler, der kurzerhand nach Gründung des Clubs umfunktioniert worden war. Darum stellten sich hier einige verratzte Sofas quer, es gab ein Waschbecken, eine Tafel und eine Pinnwand. Auf letztere hatten die Mitglieder ihre Siegerurkunden gepinnt – es waren verdammt viele. Charlotte staunte. Mitten im Raum, im Herzen von zwei Sofas und zwei Sesseln, präsentierte sich ein Wohnzimmerglastisch mit Schachbrett. Darum herum saßen Theo, der Quotenasiate aus Charlottes Klasse, und zwei weitere Typen, die der Uniform nach zu urteilen mit Anna die Begabtenklasse besuchten. Die grauen Blazer hatten etwas Erhabenes an sich. Schmerzvoll dachte Charlotte daran, dass sie wohl auch in diese Klasse gepasst hätte, hätte sie sich in der Vergangenheit mehr Mühe gegeben. So wie Anna. Klaus pflanzte sich zu den Jungen auf das Sofa neben Theo mit der Topffrisur. Schon immer hatte Charlotte die zwei für ein passendes Duo gehalten: beide Brillenschlangen, beide Nerds, beide mit lächerlichem Haarschnitt. Da sie nun leider mit zum Glasaugentrupp zählte, durfte sie eigentlich nicht weiter über die Zwei herziehen. Deswegen ließ sie die bösen Gedanken ruhen und setzte sich ebenfalls in einen der Ledersessel vor dem Schachbretttisch. »Hey Leute, das hier ist Charlotte. Charlotte, das sind Theo, Chris und Gonzales. Charlotte möchte gern dem Schachclub beitreten. Wer von euch möchte sie herausfordern?«, stellte Anna sie einander vor. Theo guckte in die Luft, als wolle er nichts mit der Sache zu tun haben und Chris erweckte den Anschein zu frieren – so stark zitterte er. Der Junge wirkte auch ziemlich schmächtig und blass, vielleicht war er ja krank? Oder die hellblonden Haare brachten seinen Teint einfach nicht gut heraus. Auf jeden Fall war ersichtlich, dass der Möchtegern-Schwede keine Lust auf ein Schachspiel hatte. Der letzte in der Runde verschränkte selbstgefällig die Arme. »Ich würde mich heute dazu bereiterklären«, meinte er und grinste kampflustig. Gonzales hatte kurzgeschorene, rotbraune Haare und buschige Augenbrauen, von denen er eine selbstsicher hochgezogen hatte. Anna klatschte einmal kurz die Hände zusammen und sagte dann zu Charlotte: »Prima. Um bei uns Mitglied zu werden, musst du eines der bestehenden Mitglieder besiegen. Aber du hast nur einen Versuch, also lass dir ruhig Zeit bei deinen Zügen.« Charlotte musterte Gonzales genauer, er schien wild entschlossen und siegessicher zu sein. Von der Statur her schätzte sie ihn als sportlichen, muskulösen Typen ein. Dessen Größe sein Übriges zu diesem Eindruck beitrug. Er war körperlich gesehen ein langer, breitschultriger Schrank. »Auweia. Was das für ein Typ ist ... « Sie war froh, dass es sich bei dem Wettkampf um Schach und nicht um Wrestling handelte. »Bitte sei nicht allzu traurig, wenn es nicht klappt. Ich bin kein einfacher Gegner!«, prahlte Gonzales während sie die Figuren aufstellten. »Eingebildet also ... !« Es blieb Charlotte keine Zeit, ihre Gedanken fortzuführen, die Präsidentin des Schachclubs starrte sie bereits erwartungsvoll an. »Seid ihr bereit? Weiß beginnt!«, moderierte Anna. In dem Fall: Charlotte. Sie wusste genau, was sie bei ihrem ersten Zug tat – und einige Clubmitglieder erkannten ihre Strategie ebenfalls. »Ist das nicht ... ?«, raunte Klaus Anna zu, die neben dem Sofasitzer stand. Sie nickte ihm zu: »Ja.« Zwei Züge später fielen dem stämmigen Gonzales fast die Augen heraus. »Was?! Ich bin matt?!«, fiepte er entsetzt. Charlotte grinste selbstzufrieden. »Wie ist das möglich?!«, plärrte ihr Gegner weiter, und wollte eigentlich überhaupt nicht wissen, wie das Ganze von statten gegangen war – doch Anna klärte ihn trotzdem auf: »Die Technik, die sie angewandt hat, ist der Schäferzug! Es ist ein Anfänger- oder Kindertrick um ahnungslose Gegner in drei Zügen zu schlagen. Allerdings spielt diese Taktik heute kaum noch jemand, da der Schäferzug bereits aus dem ersten Zuge heraus ersichtlich ist und sofort geblockt werden kann.« »Ich verlange eine Revanche! So ein mieser Trick ist kein echtes Schach!«, protestierte der Schrank und zeigte mit dem nackten Finger auf die angezogene Charlotte. »Nun ja ... sie hat fair gewonnen, Gonzales. Als erfahrener Spieler hättest du den Schäferzug bemerken sollen. Deshalb ... herzlich Willkommen im Schachclub, Charlotte!« Anna und die anderen fingen alle an zu klatschen – bis auf Gonzales. »Huh? Ich hab's geschafft! Bin ich jetzt etwa schon ein bisschen mehr ... wie Anna?« Diese ging durch die zweite Tür, die Charlotte erst jetzt bemerkte und welche vermutlich zu einem ehemaligen Putzschrank führte, holte einen Papierstapel hervor und setzte diesen auf dem Glastisch neben dem Schachbrett ab. Es waren alles Reisemagazine und Prospekte. »Gut. Da wir jetzt alle vollzählig sind, schlage ich vor, dass wir mit der Planung der Clubfahrt beginnen. Ich bin mir sicher, ihr habt viele Wünsche und Ideen ... « »Anna, wie kannst du nur dulden, dass diese Brillenschlange mitfährt!«, motzte Gonzales weiter »Die ist doch bestimmt nur angetanzt, um umsonst zu verreisen!« Leider fühlte sich Charlotte jetzt seltsam ertappt. Zum Glück verteidigte Klaus sie: »Halt Mal Gonzales, ich habe Charlotte in den Schachclub eingeladen, ganz unabhängig von der letzten Siegerehrung. Und ich wusste bisher selbst nichts von der Sponsorenreise.« Charlotte wurde immer mulmiger zumute, sie bekam ein schlechtes Gewissen. »Uhm ... eigentlich hat Gonzales ja recht ... ich bin nur da, weil ich gerne umsonst verreisen würde – und, um mir zu beweisen, dass ich ... eines Tages der Mensch werden kann, den Tassilo gern hat.« Einer, der ihren Gefühlswandel registrierte, war Theo, der scharf zu ihr herüberlinste. Er schlug vor: »Vielleicht sollten wir sie nochmal gegen einen besseren Gegner antreten lassen.« Der Satz vernichtete das Ego des Schrankes im grauen Blazer. »Besser?! Was soll das heißen?! Eine Revanche mit mir genügt völlig!« Die beiden wollten sich fast schon an die Gurgel gehen, da ging Klaus dazwischen und mischte sich ein: »Hört mal. Charlotte hat mich besiegt. Darum habe ich sie erst gefragt.« »Oh!«, staunten alle Beteiligten gleichzeitig. »Na wenn das so ist«, meinte Theo und rückte seine Brille mit dem kleinen Finger zurecht. Die ganze Zeit über war Chris, der äußerlich betrachtete Möchtegern-Schwede, stumm geblieben und hatte Anna beobachtet. Jetzt meldete auch er sich zu Wort: »Ich finde, Anna sollte das entscheiden, als unsere Präsidentin.« Die Schulschönheit starrte verbissen auf den Prospekthaufen. Die Entscheidung schien ihr schwer zu fallen. Sie schaute erst zu Chris, dann zu Klaus. Dann sagte sie bestimmend: »Regeln sind Regeln. Und laut Regeln hat Charlotte aufrichtig unseren Aufnahmetest bestanden und ist jetzt ein vollwertiges Mitglied der Schach AG der Kopernikus-Gesamtschule. Und deshalb wird sie auch auf unsere Bildungsfahrt mit dürfen.« » ... « Die Jungs gaben Ruhe. Chris lächelte sie mild an. »Na also, alles geklärt.« Klaus zeigte seiner Kindheitsfreundin ein fesches Daumenhoch. »Gut gesprochen, Anna!« Gefasst wie immer sprach die dunkelhaarige Schönheit gleich den nächsten Diskussionspunkt an: »So und jetzt zurück zum Thema. Ich schlage eine Fahrt an die südfranzösische Küste vor.« Sie hielt eines der Magazine hoch. »Wohaa! Das Meer! Super Idee!«, rief Gonzales freudig aus. »Also ich bin dabei!«, bestätigte auch Theo, genau wie Klaus: »Meer klingt super!« »Was meinst du, Charlotte?«, wollte Anna von Charlotte wissen. Sie lächelte das neue Schachclubmitglied an. »Was, ich, ähm ... ja!«, schreckte sie hoch. Dass Anna Charlottes Meinung berücksichtigte, war wirklich nett. Um ehrlich zu sein, wäre das Mädchen überall hin mitgefahren. Daraufhin wendete die Schachclubpräsidentin sich allen zu: »Voll gut! Dann ist das schon mal beschlossen: Die Schach AG fährt ans Meer.«   Kapitel 6: Blick auf Meer ------------------------- Auf der Reise in die Region der rosa Flamingos würde Charlotte endlich die Gelegenheit haben, Anna aus nächster Nähe zu studieren. Als die Jugendlichen den himmelblauen Reisebus bestiegen, ließ sie sich genau auf dem Platz hinter der Schönheit nieder, denn neben diese hatte sich bereits Lockenkopf Klaus gepflanzt. Hinter Charlotte machten es sich die übrigen Jungen und Aufsichtslehrer Herr Özdemir bequem. Das Summen des Motors bei der Anfahrt zauberte dem Mädchen ein Lächeln ins Gesicht. »Ich bin total aufgeregt. Es ist das erste Mal, dass ich so weit verreise. Und dann auch noch ans Meer!« Inzwischen waren einige Wochen vergangen, der Sommer hatte Deutschland Mitte Mai eingeholt. Noch immer hatte sich niemand auf Charlottes Nachhilfeanzeige gemeldet, doch sie war frohen Mutes, dass das noch werden würde. Noch bevor sie die französische Grenze erreichten, nickte Chris im Sitz ein und Theo besiegte Gonzales im eSchach auf dem Tablet. Der Lehrer vergrub sich die ganze Zeit über in einer Zeitschrift, auf dessen Cover sich eine üppige Frau mit wenig Stoff räkelte. Vermutlich die Bildzeitung. In Klaus Ohren steckten In-Ears, auch er döste leicht weg, während der Bus vor sich dahinratterte. Und Anna starrte nur aus dem Fenster raus, bis sie ein paar Snacks aus ihrer Reisehandtasche – eine limitierte June-Tasche aus Leder! – hervorholte. »Magst du auch eins?«, fragte sie Charlotte durch den Spalt zwischen den Sitzen, als sie ihren beobachtenden Blick bemerkte. »Äh, ja danke!« Schüchtern nahm die Brillenträgerin den Schokoriegel mit Caramellgeschmack an. Obwohl Anna sie anlächelte, traute sie sich kaum, ihr dabei in die Augen zu sehen. Sie fühlte sich der Schulschönheit einfach nicht würdig. »Vielleicht kann ich auf dieser Reise auch daran arbeiten, selbstbewusster zu sein.« Da drehte sich auch Klaus zu ihr um, die Ohrstöpsel in der Hand. »Hey Charlotte, was hast du in den Sommerferien dieses Jahr vor?«, wollte er wissen. »Ich hoffe ... ich kann arbeiten.« »Arbeiten?« »Ich möchte Mathenachhilfe anbieten, aber bisher hat sich noch niemand gemeldet«, erzählte sie leicht gefrustet. »Das ist ja eine Spitzenidee! Find ich wirklich cool!« Wie so oft schon zeigte er ihr ein aufmunterndes Daumenhoch. Auch Anna fielen ein paar gute Worte zu Charlottes Vorhaben ein: »Ja, nachdem du Bente geholfen hast, hat sie richtig durchgeblickt beim Brückner.« »Und was habt ihr in den Sommerferien vor?«, fragte Charlotte zurück. Ihre Augen pendelten zwischen ihren beiden Vorsitzern hin und her. »Ich fliege mit meiner Familie nach Dubai«, sagte Anna mit demselben gemäßigten Tonfall, mit dem sie immer sprach. Dass sie jemals wütend oder verrückt sein konnte, bezweifelte Charlotte stark – sie war einfach eine stilvolle junge Frau, die durch ihr schmallippiges Lächeln verzauberte und ansonsten keine großen Gefühlsschwankungen offenbarte. Anna war eine Lady, durch und durch. »Wow! Dubai!«, staunte Charlotte und behielt den Rest ihrer Gedanken für sich. »Annas Eltern müssen viel Geld haben ... « »Ja ... mein Vater hat dort geschäftlich öfter mal zu tun und deshalb kriegen wir die Reise billiger«, fügte sie noch hinzu. Dann wandte sie sich Klaus: »Lass mich raten. Du fährst zu deinen Großeltern?« »Woher weißt du das nur ... ?«, erwiderte Klaus frech grinsend und ironisch. Charlotte erinnerte sich wieder an die Bilder im Guggenmos'schen Badezimmer. »Ich fahre jedes Jahr zu meinen bayrischen Großeltern. Das ist schon immer Tradition gewesen«, klärte der Brillenträger sie nett auf. Nachdenklich sah sie ihn an. »Das bedeutet ... sie sind beide nicht da im Sommer ...  «   -o-o-   Mittags machten sie eine Pause an einer französischen Tankstelle. Die Schülermeute streckte und reckte sich, nachdem sie dem engen Sitzgebilde entflohen waren. »Puuh! Tut das gut!« »Endlich Frischluft!« »Wir machen jetzt eine Pipi-Pause. In zwanzig Minuten sehe ich euch im Bus wieder«, verkündete Herr Özdemir und pilgerte zu den Toiletten. Ließ die Schachclubber einfach stehen. Gonzales nutzte das für eine Gelegenheit. »Anna, ich gehe kurz zum Kiosk, darf ich dir was Bestimmtes mitbringen?«, fragte er liebevoll, woraufhin er aggressive Blicke seitens Theo und Chris erntete. Klaus hingegen rieb sich genervt die Stirn mit dem Handrücken – als er könnte er das Theater nicht mitansehen. Es war glasklar, was hier vor sich ging. Dieser Proleten-Muskelschrank war ... »Weißt du was, ich komme mit, Gonzales. Was möchtest du, Anna?«, mischte sich Theo nun ein. »Ich komme auch mit!«, meinte Chris. Jetzt war es Gonzales, der dumm aus der Wäsche guckte. Die Chance, sich Bonuspunkte bei der Schulschönheit zu holen, hatte er verpatzt. Dennoch brauchte er noch eine Information. »Anna?« »Ähm ... wie wäre es mit Eis am Stiel für alle?«, schlug diese leicht überfordert vor. Die Jungs grinsten zufrieden. »Super Idee!« Und dann stürmten sie weg, zum Kiosk. Klaus jedoch trat näher an Charlotte heran, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Wunder dich nicht, die stehen alle drei auf Anna. Und Anna ... « »Habt ihr was gesagt?« Lächelnd warf die Besagte den Kopf zurück. »Nein, gar nichts ... «, flunkerte der Lockenkopf unschuldig. »Was Klaus mir wohl noch über Anna sagen wollte ... ich hätte es zu gern gewusst.« Im Handumdrehen kamen die Schachjungs zurück. »Anna! Wir haben nicht nur Eis am Stiel, sondern dir auch noch dein Lieblingsgetränk mitgebracht! Und Macarons! Die magst du doch auch, oder?«, schleimte Theo und hielt ihr einen Kaffeebecher vor die Nase, während Gonzales schon mal ein Wassereis an Klaus verteilte und Chris eine Tüte mit Keksen präsentierte. »Vielen Dank, Jungs! Das wäre doch nicht nötig gewesen! Hö hö!«, freute sich die Schulschönheit und nahm dem Asiaten den Pappbecher ab. Charlotte kniff die Augen zusammen. »Aber ich glaube ich sehe, was Klaus meint ... «   -o-o-   Es dämmerte, als sie ihr Hotel in Le-Grau-du-Roi erreichten. Dass hier ein anderes Klima als im verhältnismäßig kalten Deutschland herrschte, spürte Klaus deutlich. Die Luft roch frischer, sandiger. Seine Nase sagte ihm, dass das Hotel kaum hundert Meter vom Strand entfernt lag. Dabei konnte man das vom Haupteingang aus gar nicht ahnen, da das extrem hohe und breite Gebäude wie ein Wall entlang des Strandes gebaut worden war. Darum freuten sich die Schüler umso mehr, als sie durch einen schmalen Durchgangsspalt die Himmelsröte über den Wellen betrachten konnten. »Wow! Das sieht echt cool aus!« »Nicht schlecht, wo genau liegt unser Zimmer denn?« »Weiß nicht, aber morgen müssen wir unbedingt schwimmen gehen!« Das Gelaber der Jugendlichen stoppte prompt, als Herr Özdemir sich räusperte. »So, ihr Schachscheißer. Hier ist meine Handynummer. Ruft mich nur im äußersten Notfall an – wir sehen uns in vier Tagen wieder.« Dann drückte er Anna ein paar Reisepapiere in die Hand und verzog er sich in Richtung Hotelhalle. Verdutzt gafften die Schachclubmitglieder ihm nach, wie er locker mit der Sporttasche über der Schulter wegspazierte. »Was für ein verantwortungsvoller Lehrer ... «, kommentierte Klaus. Anna fasste sich als Zweite wieder. »Egal. Lasst uns auch einchecken! Komm mit, Charlotte!« Gut gelaunt zerrte sie das Brillenmädchen mit sich, sodass beide ihre Koffer bei den Jungs vor dem Haupteingang vergaßen. Mehr oder weniger absichtlich. »Die Koffer lässt sie natürlich stehen. Typisch Anna.« Schon als sie klein waren, hatte Anna alles Mögliche hinterhergetragen bekommen – ein Charakterzug, von dem Klaus hoffte, dass sie ihn sich noch abgewöhnen würde. Gonzales übernahm die ehrenvolle Aufgabe, sich um Annas Gepäckverfrachtung zu kümmern, was Klaus dazu brachte, kopfschüttelnd mit seinem kleinen schwarzen Rolleykoffer zur Rezeption zu rollen. Als schließlich alle Clubmitglieder mit Gepäck an der Rezeption standen und die Zimmerschlüssel abgeholt hatten, dämmerte auch Charlotte, dass ihre Reisetasche sich noch einsam auf dem Gehsteig langweilte. »Oh Mist! Ich habe mein Gepäck draußen vergessen ... «, zischte sie und spurtete hinaus. »Arme Charlotte ... « Klaus beobachtete das Spektakel stumm, sah Gonzales und den anderen Jungs nach, wie sie sich sogar darum stritten, wer von ihnen Annas Koffer in den zweiten Stock hieven dürfte.   -o-o-   Am Ende der Tortur gewann Gonzales. Hechelnd schleppte er die Sachen ins Mädchenzimmer wie ein treuer, alter Hund. Genauso erschöpft torkelte fünf Minuten später Charlotte herein. Mies gelaunt linste sie mit schmalen Augen zu Gonzales rüber. »Die Jungs im Schachclub sind alle nur wegen Anna da ... Kein Wunder, sie ist ja auch die Schulschönheit. Aber irgendwie komme ich mir dumm daneben vor.« Dann verabschiedete sich der Schrank wieder und ließ die Mädchen allein. Augenblicklich begann Anna damit, ihre Sachen auf dem Tisch auszuladen. »Oh, Anna packt aus! Die Gelegenheit!« Hellwach schnappte Charlotte sich einen Notizblock aus ihrer June-Tasche und schrieb alles auf, was Anna so an Hygieneartikeln benutzte. »Shampoo mit Zitronenduft. Duschgel mit Buttermilch. Auch Zitrone. Bodylotion ohne Duft, mit Gütesiegel. Haarbürste. Gesichtscreme mit Aloe Vera. Geldeodorant gegen Extra-Schweiß ... « Natürlich tat Charlotte das nicht sonderlich unauffällig, sodass Anna bald stutzte. »Charlotte? Was machst du da?« »Oh ... äh ... nichts! Nur mein Reisetagebuch!«, schwindelte die Brillenschlange. Anna hob kurz den Kopf und nickte dann, bevor sie weitermachte und besagte Hygieneartikel ins Bad brachte. »Ah! Voll die gute Idee!« Dann trug sie ihre Kleider zu dem Holzschrank daneben und überzog ihr Bett mit einem frischen Laken. Charlotte sah ihr sehnsüchtig nach und starrte missmutig auf ihre Notizen. »Anna ist so wunderschön. Ich bin mir nicht sicher, ob da eine Creme hilft ... « Da tippte die Schönheit ihr unerwartet von hinten auf die rechte Schulter. »Ich hab es soweit ... wollen wir mal Küche, Bad und Gemeinschaftsraum angucken?«, fragte sie. Charlotte nickte. Gemeinsam lugten sie ins Badezimmer, das sich in ihrem Zweier-Zimmer befand. Es sah normal aus, sauber. Kachelfließen, Waschbecken und WC glänzten in altrosa, die Lampe strahlte sie hell an. Ein paar weiße Handtücher hingen über zwei Metallstangen. Anschließend begutachteten die Mädchen die Küche – diese und den Gemeinschaftsraum teilten sie sich mit den Jungs, denn: Sie hatten sich eine Ferienwohnung gemietet. Mit einem Zweier- und einem Viererzimmer, die jeweils zwei Bäder hatten. Eigentlich purer Luxus, aber wenn es die Schule bezahlte ... Außerdem waren die Preise scheinbar gering in Le-Grau-du-Roi. In der kleinen Küche mit Holztheke, Herd und Wasserkocher trafen sie auf Chris. Sofort riss Anna ein paar Schränke auf. »Wohaa! Das bietet sich ja super zum Kochen an! Alles da, sogar ein Nudelsieb!« »Ja. Theo hat vorhin schon gemeint, wir könnten ja morgen Curry machen oder so«, erwiderte Chris und fummelte an dem Reisverschluss seiner Kapuzenweste herum. »Curry! Ich liebe Curry!« Anna strahlte wie eine Sternschnuppe an Weihnachten. »Ich weiß ... «, sagte der blonde Junge leise und errötete leicht. »Komm Charlotte, wir schauen mal ins Jungs Zimmer!«, beschloss die Schachclubpräsidentin daraufhin. Sie schien Chris Reaktion nicht bemerkt zu haben. Oder ignoriert, je nachdem. Charlotte konnte ihr Verhältnis zueinander nicht wirklich einschätzen. Doch eines war klar: Sowohl Gonzales und Theo als auch Chris schmachteten Anna hinterher. Chris folgte ihnen ins Jungenzimmer, das aus zwei Stockbetten auf engem Raum bestand. Eng im Vergleich zum Mädchenzimmer. »Oh, Damenbesuch! Hier gibt's nichts zu sehen, gespannt werden hier nur Bettlaken!«, witzelte Klaus. Charlotte konnte darüber nicht lachen – Anna schon, sie kicherte zuckersüß. Ihre Fröhlichkeit berührte die Jungs. Gonzales wurde richtig tomatenrot bei Annas Anblick, Theo blieb eher cool. Alle Jungs waren noch am Auspacken, Klaus und Chris hatten offenbar die oberen Betten für sich beansprucht. »Wir waren nur neugierig, wie euer Zimmer aussieht. Stimmt's, Charlotte?«, meinte Anna. »Äh ... ja.« Nervös zupfte diese an ihrem Brillenrahmen herum. »Anna sagt solche Sätze einfach so ... offen und ehrlich. Und die Jungs werden alle ganz nervös in ihrer Gegenwart. Sie hat so eine krasse Ausstrahlung! Naja alle, bis auf Klaus. Der ist wie immer.« Klaus summte nämlich nur fröhlich vor sich hin, als er sein Kissen frisch überzog.   -o-o-   Nachts lag Charlotte wach und versuchte einzuschlafen. Immer wieder schielte sie zu Anna hinüber, die seelenruhig vor sich hinschlummerte. »Anna sieht sogar im Schlaf aus wie ein Engel. Jetzt kenne ich sie zwar ein Stück besser ... aber je mehr ich herausfinde, desto mehr glaube ich ... « Der Tag brach an, die Sonne kitzelte ihre Augenlider durch die dünnen Stoffvorhänge hindurch. » ... dass ich niemals so werden kann wie sie.« Völlig übermüdet machte Charlotte sich an jenem Morgen fertig, zog ihren sattroten Erdbeerbikini an. Wie der Name schon verriet, war dieser gemustert wie die Oberfläche einer Erdbeere. Anna hingegen trug ein kleines Schwarzes, schlicht und elegant. Als sie so und mit Handtüchern und Strandtaschen bewaffnet runter zum Strand liefen, fielen Charlotte fast die Augen raus. Wie Anna sich bewegte, wie ihre Figur zur Geltung kam – Sie sah atemberaubend aus. Darum mussten die Jungs auch mehrmals schlucken, als sie die Schulschönheit in Badebekleidung erblickten. Charlotte meinte an Gonzales rechtem Mundwinkel Sabber zu erkennen. »Da hilft definitiv keine Creme. Tassilo wird mich nie mögen.« Klaus und die anderen hatten nahe am Wasser einen Sonnenschirm mit Handtuchlager aufgestellt, dort ließ Charlotte ihre Strandtasche fallen. »Komm, lass uns auch ins Wasser gehen!«, drängte Anna sie munter und fasste ihr dabei an den Unterarm. Charlottes Laune besserte sich. »Super Idee! Ins Wasser ... !« Bis ihr ein gravierendes Problem auffiel. »Moment ... Was mache ich mit meiner Brille? Wenn ich sie mitnehme, könnte ich sie verlieren ... dann wäre die Reise gelaufen ... Hilfää ... ? Und wenn ich ohne gehe, finde ich womöglich nicht mehr zurück zum Strand ... Also ... « Charlotte nahm sanft Annas Hand von ihrem Arm weg. »Ich bleib lieber an Land!« »Mist. Dabei habe ich mich schon darauf gefreut ... Die Gelegenheit, meine Bikinifigur zu verstecken.« Skeptisch schaute Anna sie an, fand sich dann aber mit dem Korb ab und pilgerte zu Klaus zurück.   -o-o-   »Hrrm«, grummelte dieser. »Weißt du, was mit ihr los ist?« Anna schüttelte den Kopf. »Ich geh mal zu ihr.« Mit diesen Worten ließ Klaus seine Kindheitsfreundin stehen. Breitbeinig lief er auf Charlotte zu, die miesepetrig mit hängendem Köpfchen im Halbschatten unter dem Sonnenschirm saß, während die anderen bereits ihre Runden im Wasser drehten. Klaus stellte sich genau vor ihr in die Sonne. »Charlotte? Was ist los?«, fragte er direkt. »W-was meinst du?« »Na du bist offensichtlich zum ersten Mal am Meer. Warum gehst du nicht mit ins Wasser?« Das Brillenmädchen erschrak: »Gah! Woher weißt du das?!« »Geraten.« »Ich ... ich kann nicht ... « Sie verschränkte die Arme um die Knie, zog sie näher an sich heran. »Mh?« »Es ist ... wegen der Brille ... «, erklärte Charlotte schließlich wahrheitsgetreu. Einen Moment lang sah Klaus weg, überlegte. Dann meinte er: »Hmh. Pass auf. Wir spritzen dich nicht nass, keiner tunkt dich. Und falls du sie doch verlierst, werde ich sie wiederfinden. Versprochen. Kommst du nun mit?« Ermutigend streckte er ihr die Hand aus. Ein Lächeln huschte über Charlottes Lippen. Dann nahm sie sein Angebot an und erhob sich mit seiner Hilfe. »Okay, dann ja! Aber sag mal ... Wie machst du das mit deiner Brille?«, wollte sie wissen. »Tjaa ... Ich muss damit leben ... Kontaktlinsen wären sicherlich besser, aber ... Ich habe Angst davor, mir ins Auge zu fassen.« Zur Demonstration deutete er auf sein rechtes Auge. »Na so was ... «, fiel Charlotte dazu nur ein. Gemeinsam liefen sie zu Anna, die ihre Füße in den Wellen badete und auf sie gewartet hatte. »Heii ihr zwei, alles gut? Kannst du vielleicht nicht schwimmen, Charlotte?«, fragte sie besorgt. »Doch, doch! Alles ok, keine Sorge! Ich war nur noch nie im Meer.« Untermalend hob sie die Hände und winkte ab. Anna zog eine Schnute und grinste im Anschluss. »Achso ... Das ändern wir gleich!«   -o-o-   Gemeinsam verbrachte der Schachclub einen wundervollen Tag am Strand. Sie spielten Wasserball, veranstalteten ein Wettschwimmen, bauten Sandburgen. Anna und Charlotte gingen Muscheln sammeln, während Theo und Klaus ihren Lieblingsangeber Gonzales im Sand eingruben ... Abends warf Klaus dann eine letzte Frage in die Luft: »Ich gehe nochmal eine Runde schwimmen, bevor wir zurückgehen. Kommt jemand mit?« »Nö«, antwortete Gonzales. »Nö«, antwortete Theo. »Ich verzichte!«, antwortete Chris. »Hä?!«, antwortete Charlotte. »Ich komme mit!«, antwortete Anna. »VERDAMMT!«, riefen alle Jungen außer Klaus gleichzeitig aus. Charlotte dachte sich dabei nur ihren Teil. »So sehr ich Anna bewundere ... um ihren Fanclub beneide ich sie nicht! Oh je ... Ich gehe mich umziehen.« So lief sie zurück zum Handtuchlager und schnappte sich ihre Strandtasche samt frischen Klamotten. Doch bevor sie die Umkleidekabinen neben dem Strandimbiss erreichte, ließen die Stimmen der Schachjungs sie aufhorchen. Hinter der angrenzenden Hecke saßen sie auf einer Bank und redeten. »Schade, dass die Charlotte so hässlich ist.« »Und so unweiblich.« »Oh ja.« »Da ist einfach nichts dran, und wenn, dann an den falschen Stellen.« »Ich hatte gehofft, dass sie zumindest hier am Strand ein bisschen besser aussehen würde, aber die Brillenschlange macht ja nicht mal im Bikini eine gute Figur! Und dann noch mit diesem Knödel auf dem Kopf.« »Anna 2.0 wäre cool gewesen.« »Tja, man kann nicht alles haben. Wenigstens gab es heute Anna im Bikini.« »Wo gehen wir eigentlich essen?« »Ich dachte wir kochen Curry im Hotel ... ?« Mit Tränen in den Augen wandte Charlotte sich von der Hecke ab und verschwand ohne sich umzuziehen. »Es passiert schon wieder. Alle hassen mich ... nur wegen meinem Aussehen ...! Warum kann ich nicht hübscher, weiblicher sein? Selbstbewusster sein? So wie Anna?«   -o-o-   »Wir sind wieder da! On y va!«, rief Klaus munter, als er und Anna triefend nass von ihrer Sonnenuntergangs-Schwimmrunde zurückkehrten. [Übersetzung: Lasst uns gehen!] »Jo, auf geht's!«, sagte Gonzales und schwang sich den zusammengefalteten gelben Sonnenschirm über die Schulter. »Wo ist Charlotte?« Suchend sah Anna sich um. »Keine Ahnung ... «, antwortete ihr Chris und hielt dabei ebenfalls Ausschau nach dem Brillenmädchen. »Wir können nicht ohne sie gehen«, sagte Klaus. »Weiß jemand, wo sie sein könnte?« »Ich glaube, sie wollte sich umziehen«, murmelte Theo. »Aber das ist schon länger her ... « Er schob sich seine Brille mit dem Zeigefinger hoch. »Wir sollten sie suchen. Ich schaue mal in die Damen-Umkleiden«, verkündete Anna und stürmte los. Sie klopfte an jede der Kabinen, doch in keiner war Charlotte aufzufinden. Enttäuscht kehrte sie zum Rest zurück. »Keiner da ... Jungs, es sieht schlecht aus ... Was machen wir jetzt? Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte ... « »Dann müssen wir sie wohl oder übel suchen.« Klaus sprach aus, was keiner tun wollte. »Ganz ehrlich: Ich hab keine Lust nach der Ollen zu suchen«, erklärte der Schrank der Gruppe knallhart. »Gonzales!«, ermahnte ihn Klaus daraufhin. »Was denn? Ich hasse Alleingänge«, erwiderte dieser schulterzuckend. Da mischte sich Theo ein: »Wir müssen aber auch die Sachen bedenken ... die können wir ja nicht einfach hier stehen lassen. Die Gegend hier ist zwar nicht bekannt dafür – aber Diebe gibt es überall.« »Wir könnten uns aufteilen ... «, schlug Anna vor. »Gut. Aber Anna sollte nicht allein in der Dämmerung suchen. Das wäre viel zu gefährlich«, fand Theo. »Stimmt!« Bei einer Sache waren sich alle einig. Gleichzeitig schien den Schachjungs ein und derselbe Gedanke aufzukeimen: Wer blieb bei Anna? Böse funkelten sich die Rivalen an. Da kam Gonzales eine Idee, er bestimmte einfach: »Klaus! Die Suche war dein Vorschlag, also geh du nach Charlotte suchen, während wir die Sachen wieder ins Hotel bringen! Wir treffen uns nachher in der Lobby!« Die anderen Jungs nickten eifrig. Die Lösung kam ihnen gelegen. Anna hätte so gern etwas eingewandt. Aber sie wusste, sie hatte sich dem Willen der Mehrheit zu beugen.   -o-o-   »Manchmal können die Jungs ganz schön asozial sein ... ich wette, sie haben was mit Charlottes Verschwinden zu tun.« Klaus lief den Strand entlang und es dauerte nicht lange, bis er Charlotte aufgabelte. Mit angewinkelten Beinen saß sie hinter einer Schilfwand und weinte. Ein wenig überfordert von der schluchzenden Charlotte, setzte er sich erstmal daneben. Er dachte kurz nach und erriet auf Anhieb die Ursache für den Tränenausbruch des Brillenmädchens. »Du heulst aber nicht wegen Gonzales oder so?« Charlotte ließ zur Antwort ihren Kopf noch weiter sinken. »Echt jetzt.« Genervt kratzte Klaus sich am Ohr. »Mann, bist du leicht zu kränken.« Der Satz veranlasste Charlotte zum Weiterweinen. »Mach dir nichts draus, das sind nur oberflächliche Behauptungen ohne Realitätsbezug, die er da vierundzwanzigsieben von sich gibt«, startete Klaus einen Trostversuch, der mächtig in die Hose ging. Erstmals sah Charlotte auf. »Wie würdest du das denn finden, wenn man über dich sagen würde, dass du hässlich wie die Nacht bist?« »Mir? Mir wäre das egal. Aussehen ist nicht alles«, erwiderte Klaus. Das Mädchen vergrub ihre Finger im Sand. »Und wenn du weißt ... dass eine dir wichtige Person, vermutlich genauso über dein Äußeres denkt?« »Wenn die Person sich nur für mein Aussehen interessiert, kann sie ja wohl nicht so wichtig sein.« »Du warst bestimmt noch nie verliebt«, behauptete Charlotte. Klaus Mundwinkel glitten nach unten. Er starrte in die Ferne. »Doch.« Die Aussage irritierte sie. Verwundert glotzte sie ihn an. Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort: »Nur halte ich nichts vom Verliebtsein. Das ist pure Zeitverschwendung.« »Zeitverschwendung ... kann sein. In wen ... warst du denn verliebt? Uhm, wenn ich fragen darf ... «, sprach sie doch noch ihre Frage aus. Die Antwort kam unerwartet schnell. Und hammerhart. »In ein Flittchen. Und in wen bist du verliebt?« Charlotte errötete leicht und blickte zur Seite, ins Schilf. »In jemanden, der mich nicht liebt. Er ... mag Mädchen wie Anna, genau wie Gonzales und die anderen ... Nicht so unweibliche Brillenschlangen wie mich.« Da sagte Klaus etwas Unglaubliches, noch während er die Wellen beobachtete, die das Rot des Himmels einfingen und davonschwappen ließen. »Also wenn du mich fragst, bist du die weiblichste Person, die ich kenne.« Das Brillenmädchen riss die verquollenen Augen auf. »Wirklich?!« »Du bist zickig, rechthaberisch, eine Heulsuse ... «, erläuterte Klaus, zählte die Punkte dabei an einer Hand ab. »Na super!« » ... aber hässlich bist du meiner Meinung nach nicht«, fügte er noch hinzu. Sie seufzte. »Das ist ein schlechter Versuch, das Gesagte wieder gut zu machen! Ich weiß selber wie scheisse ich aussehe, ich habe einen Spiegel zu Hause!« »Dann weißt du ja auch, dass du wie eine ganz normale Zehntklässlerin aussiehst.« Die Argumente prallten an Charlotte ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Trotzig hob sie die Arme und umfasste ihren Dutt mit beiden Händen. »Pass gut auf, ich werde dir jetzt zeigen, wie hässlich ich bin ... « Mit zwei Handgriffen fiel die kupferfarbene Mähne herab, die Charlotte so lange zu verstecken versucht hatte. Die keiner sehen durfte. Die ihr so viel Leid im Leben beschert hatte. Auch Klaus musste wegsehen – bei ihrem Anblick verdeckte er sich schnell die Augen mit seiner Hand. Oder besser gesagt die Wangen. »D-du kannst sie wieder zumachen!«, stotterte er und betete, dass sie seine Wangenfarbe nicht bemerkt hatte. »Wer hätte gedacht, dass Charlotte eine versteckte Schönheit ist?« »Na siehst du. Hab ich's doch gesagt!« Sie band sich die Haare wieder zusammen. Beschämt räusperte der Lockenkopf sich. »Ich will dir das überhaupt nicht sagen, aber du kapierst es sonst scheinbar nicht.« Charlotte sah ihn fragend an, ihre verlorenen Tränen hatten nass schimmernde Bahnen auf ihrer zarten Wange hinterlassen. »Ich finde du bist charmant, hübsch und intelligent. Sei einfach mehr du selbst und hör auf dich zu verstellen«, riet er ihr. Binnen Sekunden wandelte sich die Stimmung des Mädchens. »So etwas Liebes hat noch nie jemand zu mir gesagt! Bis auf Milou!«, rief sie dankbar aus und umklammerte Klaus Arm. »Nur nicht übermütig werden!« Er scheuchte sie mit einer Hand weg von sich. »Trotzdem glaube ich ... nein, weiß ich ... dass ich niemals gut genug für ihn sein werde ... « Jetzt hatte Charlotte sich wieder in das Häufchen Elend zurückverwandelt, das Klaus hinter dem Schilf vorgefunden hatte. »Mann, hast du ein schlechtes Selbstbewusstsein. Das hätte ich von der Zicken-Charlotte nicht erwartet.« »Deine Worte tun manchmal wirklich weh«, sagte sie. »Deine auch«, erwiderte er. Sie sahen sich direkt an. »Was ... habe ich denn gesagt?«, fragte Charlotte verunsichert und ahnungslos. Klaus verschränkte die Arme auf den Knien. »Zum Beispiel nennst du mich immer vor allen in der Klasse Glasauge. Das ist nicht nur inkorrekt, da ich eine Brille trage und kein Glasauge habe, sondern auch noch total auf mein Äußeres reduziert. Komplett oberflächlich. Ich hasse sowas.« Charlotte war sprachlos. Ihr war wohl nie eingefallen, dass auch sie andere mit ihren Worten verletzen könnte. »Keine Sorge, wegen so was fange ich nicht gleich an zu heulen«, meinte Klaus und traf damit einen Nerv. Erneut rannen ihr unter den Brillengläsern Tränen herunter. »Buhuu ... du hast keine Ahnung wie das ist, als Mädchen, wenn alle Jungs dich höchstens mit einem Stock anfassen würden!«, schluchzte sie. Er seufzte, fasste sich ein Herz und sagte: »Na komm her.« Während Charlotte Rotz und Wasser heulte und aufjaulte, als hätte ihr jemand den kleinen Zeh abgesägt, drückte Klaus sie an seine Schulter. Umarmte sie. Sekunden verstrichen und das Brillenmädchen erwiderte seine Umarmung. Sie waren sich nah. Zu nah. Was Klaus spürte, versetzte ihn in Aufruhr. »Moment ... sind das ihre ... BRÜSTE!« Augenblicklich vernahm Charlotte seine Erregung quiekte los: »IIIIIIIEEH!« Klaus Zelt war aufgeschlagen, sein Gesicht schimmerte komplett purpurrot und Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. »Äh ... also ... äh ... «, stammelte er unsicher. Doch Charlotte hatte sich längt wieder beruhigt und starrte ihn mit Knopfaugen an, beziehungsweise, seine Beule in der Hose. »Ich dachte immer, du wärst schwul«, kommentierte sie gelassener als erwartet. Peinlich berührt hielt Klaus beide Hände vor sein bestes Stück. »D-das ist ein Versehen! Es ist nicht wegen dir ... ! Bitte erzähl das keinem weiter! So was passiert manchmal, ohne dass ich an irgendwas denke ... wirklich! Bitte behalt das für dich! Und ich bin hetero!« Charlotte schaute dennoch zu der Stelle, die Klaus verdecken wollte. »DAS sehe ich.« Dann fing sie an zu lachen. »Wer hätte gedacht, dass mich das aufheitert. Jetzt weiß ich, dass ich vielleicht doch nicht ganz so hässlich bin!« »Ich bitte dich ... erzähl das nicht weiter ... «, flehte Klaus zerknirscht. »Ok, ok, mach ich nicht!« Sie lächelte. »Das werde ich nie vergessen!« Panisch rief der Lockenkopf nur: »Charlotte!«   -o-o-   Schließlich kehrten die beiden wieder zur Ferienwohnung zurück. Immer noch beschämt von der ganzen Sache flüsterte Klaus Charlotte ständig zu, dass sie es auch wirklich niemandem erzählen sollte. Diese tat das Thema jedes Mal mit einem genervten »Jaja« ab. Anna bemerkte natürlich, dass etwas nicht stimmte und verhörte Charlotte später, als sie allein in ihrem Zimmer saßen. »Was haben du und Klaus denn für ein Geheimnis?« Charlotte erschrak und ließ beinahe das Handtuch fallen, das sie gerade zurück ins Bad hängen wollte. Dann setzte sie ein schlechtes Pokerface auf, das Klaus Alltagsblick imitieren sollte. »Gar keins«, antwortete sie monoton. »Ach komm schon. Ich bin doch nicht blöd!« Anna lächelte und zwinkerte ihr zu. Deshalb errötete Charlotte leicht und wandte den Blick ab, um der Schönheit ja nicht in die Augen schauen zu müssen. Sie konzentrierte sich darauf, einen ruhigen Tonfall beizubehalten. »Es ist wirklich nichts Großartiges. Eigentlich will Klaus nur nicht, dass ich euch seinen Spitznamen verrate.« »Spitznamen?« »Ich nenne ihn in der Klasse immer Glasauge«, log Charlotte mehr oder weniger. Anna lachte auf. »Ach so. Wundert mich nicht, dass ihn das aufregt.« »Ja. Total lächerlich. Als ob ihn alle damit mobben würden.« »Das werde ich garantiert nicht.« »Habe ich ihm auch gesagt. Und von den Jungs glaube ich das auch nicht.« Das Kupferduttmädchen verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Die würden ihn vielleicht mobben, aber nicht aus diesem Grund.« »Ohje. Und ich dachte schon, es wäre was passiert«, äußerte Anna ihre Besorgnis, was Charlotte innerlich zusammenzucken ließ. Doch Gott sei Dank bemerkte die Schönheit ihre Unruhe nicht. »Ich gehe mal in die Küche und gucke nach dem Curry. Kommst du mit?« »Ich komme nach, muss mich noch umziehen.« Sie deutete auf den Stapel Klamotten, den sie sich für die Party, die sie noch besuchen würden, zurechtgelegt hatte. »Okay, bis gleich.« Anna verließ das Zimmer.   -o-o-   Im Flur traf die dunkelhaarige Schönheit auf Klaus. Frech grinste sie ihn an, was Klaus nervös machte. »Du, Anna ... Charlotte hat dir doch gerade nichts Komisches erzählt, oder?« Sie schnippte mit den Fingern. »Ach, wenn du das Geheimnis meinst: Das ist bei mir gut aufgehoben! Wir werden dir schon keinen Spitznamen verpassen!« Klaus hätte sein Getränk ausgespuckt, hätte er eines getrunken. Munter quetschte Anna sich an ihm vorbei in Richtung Küche, wo Theo seinen Kopf herausstreckte. »Anna, du kommst gerade richtig zum feinschmecken. Du darfst gleich ‚Aaah!' sagen! Oh und Klaus! Würdest du nachher mal kommen? Ghihihi!«, giggelte der Chinese. Am liebsten wäre Klaus im Erdboden versunken. Fuchsteufelswild wirbelte er um 180 Grad herum, stapfte zum Mädchenzimmer zurück und klopfte kräftig an die Tür. Eine überraschte Charlotte öffnete ihm. »Was ist denn los?« »Wie konntest du das verraten... ?!« Charlotte fehlten kurz die Worte. »Hä, was?« »Du bist echt das Letzte!«, warf er ihr an den Kopf. So zornig hatte sie ihn noch nie erlebt. »Was soll das denn jetzt?!« »Das weißt du ganz genau. Mir machst du nichts mehr vor, Miss Ich-bin-ja-so-hässlich. Vermutlich hast du das auch noch mit Absicht getan, um mich lächerlich zu machen!« »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, aber das solltest du jetzt nicht so laut rumbrüllen!«, zischte sie und deutete mit dem Zeigefinger Richtung Küche, von wo aus neugierige Schachgesichter zu ihnen rüber starrten. »Doch na klar, soll doch jeder wissen, dass du eine falsche Show abziehst! Aber weißt du was? Du hattest gar nicht mal so unrecht: Du bist wirklich hässlich wie die Nacht – von innen! Ich nehme jedes gute Wort über dich zurück!« »Was ... ?«, sagte Charlotte geschockt. »Richtig gehört. Du bist eine miese, verlogene Brillenschlange!« Langsam sammelte sich das Wasser in ihren Augen. »Wenn ich so scheiße bin wie du sagst, wieso hast du dich dann überhaupt mit mir abgegeben, du Idiot?!«, motzte sie mit erstickter Stimme. »Ich bin kein Idiot!« »Oh doch. Du weißt immer alles besser, aber bist dumm wie Brot!« »Wenigstens tue ich nicht so, als wäre ich dumm wie Brot!« »Grrrr.« »Weißt du, ich hatte echt Mitleid mit dir.« Er stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wie kann man auch kein Mitleid haben mit einem Mädchen, das behauptet, dass der eigene Vater ein Arsch ist.« Nun hatte er es geschafft, Charlottes wunden Punkt zu treffen. Die erste Träne tropfte auf den Teppichboden. »Wow. Du hattest also die ganze Zeit nur Mitleid mit mir. Gut zu wissen. Aber weißt DU was? Jetzt weiß ICH wenigstens, wie du wirklich bist: Ein Heuchler! Ein falsches Schwein! Und ein Lügner!«, brüllte sie. »Das geb ich alles gern zurück, falsche Zicke.« Klaus drehte sich um und ging ein paar Schritte weg. »Glasauge!«, rief sie ihm wütend hinterher, was ihn dazu veranlasste, den Hals nochmal kurz zurückzuwerfen. »Du weißt, wie sehr ich das hasse.« »Und wie ich das weiß!«   -o-o-   Die Sonne hatte sich bereits vom Tag verabschiedet, doch das störte Klaus nicht, als er zurück an den Strand lief, um sich abzureagieren. »Blöde Kuh! Jetzt muss ich mir die nächsten Wochen ständig Ständerwitze anhören! Nur weil sie die Klappe nicht halten konnte!« Nachdem er ein schönes Fleckchen im Sand gefunden hatte, setzte er sich und betrachtete die Sterne. Nicht lange blieb der Lockenkopf allein, sein Freund Theo war ihm hinterhergeeilt. »Verschon mich bitte«, sagte Klaus. Theo pflanzte sich gemächlich neben ihn. »Tu ich. Ich wollte nur mal anmerken, dass du die Knödel-Tussi voll hart rangenommen hast! Hätte ich nicht von dir gedacht! Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, was die hier soll ... sie hat zwar Gonzales besiegt, aber das sagt nicht wirklich was über ihre Intelligenz aus. Immerhin ist sie in der Klasse ja eher eine von den hirnlosen Hühnern. Außerdem redet sie mit uns kaum was, total komisch. Ich verstehe nicht, warum sie in den Schachclub wollte. Und dann sieht sie noch aus wie eine Mischung aus einer Sekretärin und Emily Erdbeer!« Irgendetwas an Theos Worten passte Klaus überhaupt nicht. »Mach mal halblang. Charlotte ist vielleicht eine blöde Zicke, aber man kann sich normal mit ihr unterhalten. Sie ist witzig, intelligent ... und so übertrieben hässlich, wie du und Gonzales sie darstellen, ist sie auch nicht.« »Na wenn das so ist, warum hast du sie eben so runtergemacht?«, fragte Theo verwundert. »Das weißt du doch ganz genau.« Grummelnd starrte Klaus ins Wasser. Theo sah seinen Lockenfreund solange an, bis dieser ihn ansah – und die Fragezeichen im Gesicht des Asiaten erkannte. »Moment. Charlotte hat euch nichts erzählt ... ?«, stellte Klaus schließlich fest. »Bro, ich hab dir doch gerade erklärt, dass sie nicht mit uns redet.« »Theo! Was sollte der Spruch eben in der Küche?« »Welcher Spruch?!« Ihm ging nun ein Licht auf. Das eine hatte nichts mit dem anderen zu tun. »Jedenfalls weint sie sich gerade die Seele aus dem Leib«, erwähnte Theo. Daraufhin erhob sich Klaus und ging zurück.   -o-o-   Dabei traf er die Clubpräsidentin im Flur der Ferienwohnung. »Anna, kann ich dich kurz sprechen?« Es war ihm ernst, das spürte Anna. »Äh ... aber klar doch.« »Du musst mir genau sagen, was Charlotte dir erzählt hat!« Prompt wanderte Annas Laune in den Keller. »Was interessiert dich das ... ich dachte, dir ist doch egal, was Charlotte sagt, oder?« »Bitte, Anna.« Klaus sah ihr direkt in die Augen. »Mist. Wieso interessiert er sich bloß so für sie? Ich hasse sie.« »Ich habe es dir doch schon gesagt – sie hat mir deinen Glasauge-Spitznamen verraten«, antwortete Anna wahrheitsgetreu. »War das alles?« »Was habt ihr zwei denn so ein großes Geheimnis, dass ihr es mir nicht erzählen könnt?« Anna lächelte, doch eigentlich war sie verzweifelt. »Warum? Warum habt ihr ein Geheimnis vor mir?« Erleichtert atmete Klaus aus. »Das macht mich wirklich froh. Ich glaube, ich muss mich bei Charlotte entschuldigen.« Die Panik übermannte Anna. »Was?! Nein!« Darum musste sie sich schnell etwas einfallen lassen. »Äh Klaus ... eine Sache wäre da noch ... « Sofort schrillten seine Alarmglocken los. »Was? Hat sie noch etwas gesagt?« Anna sah verlegen zur Seit auf den Boden, während sie sprach: »Ja also ... äh ... Sie meinte, am Strand wäre noch was passiert. Meinst du das?« Geschockt und verlegen gleichzeitig ballte Klaus seine Hand zur Faust. »Anna, lüg mich gefälligst nicht an.« Der Satz traf sie mitten ins Herz, so viel Wut lag darin. Dann fuhr er fort: »Als wir Kinder waren, hab ich dir die meisten Lügen abgekauft. Aber wir kennen uns immer länger und du schaust immer weg von mir, wenn du lügst. Unsere Freundschaft ist mir wirklich wichtig, also mach sie nicht durch so was kaputt. Ich denke, ich verstehe, was in dir vorgeht ... « Sie fühlte sich ertappt. Blanke Panik übermannte ihren Körper. So gut es ging, versuchte sie ihr Zittern zu verbergen. »Weiß er von meinen Gefühlen?!« »Ich denke, du hast Angst, dass Charlotte die Beziehung zwischen uns beiden verändern könnte. Aber du musst keine Angst haben. Zwischen dir und mir wird sich nichts verändern, das verspreche ich dir. Aber lüg mich nicht an.« Dann ging er in das Zimmer, in dem Charlotte sich gerade die Seele aus dem Leib heulte und ließ Anna allein. Mit dem Echo seiner Worte im Herzen.   -o-o-   Als Klaus das Mädchenzimmer betrat, sah er Charlotte nicht – dafür eine große, dicke Rolle aus einer Bettdecke, die an einen Burito erinnerte. Sie hatte sich wohl darin eingewickelt. »Hey ... Charlotte. Wegen dem, was ich vorhin gesagt habe ... «, begann er, ging langsam auf ihr Bett zu und setzte sich. Dann hob er sachte einen Teil der Decke hoch, an dem er ihren Kopf vermutete. Was er sah, ließ ihn in der Bewegung versteinern. Da saß eine völlig aufgelöste Charlotte. »Sie ... sie ist nicht einfach nur traurig, so wie am Strand. Sie ist nicht traurig. Das, was ich gesagt habe, unser Streit – hat sie richtig verletzt.« Erschrocken verdeckte er mit der Hand seinen Mund, als könnte er seine Gefühle verstecken. »Verschwinde!«, plärrte sie ihn an, mit einem leidenden Blick. Ihre Brillengläser waren milchig geworden durch das Tränenwasser. Es war alles seine Schuld. Klaus senkte den Kopf, sodass sich seine Brille spiegelte. »Was ich gesagt habe war nur, weil ich dachte, du hättest unser Geheimnis verraten ... «, brachte er mühsam hervor. Charlotte heulte immer noch Rotz und Wasser, schrie aufgebracht: »Und selbst wenn ...? Jetzt weiß ich ja, dass du mir die ganze Zeit nur aus Mitleid geholfen hast. Ich hasse dich, Klaus! Und jetzt hau endlich ab und lass mich in Ruhe, sonst knallt's!« Immer noch hockte Klaus mit gesenktem Kopf da, er biss sich nun auf die Lippen. Zitterte. Dann stand er auf, lief aus dem Zimmer und schloss die Tür. Von außen lehnte er sich dagegen, sank daran hinunter und kauerte sich zusammen. Legte wieder seine Handfläche auf die Lippen, als wäre ihm übel. Aber ihm war nur schlecht.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)