Verliebtsein macht kurzsichtig von Whiscy (1) ================================================================================ Kapitel 4: Glasaugensippe ------------------------- Als Milou noch klein war, besuchte sie oft ihre Großeltern. Sie waren streng katholisch, genau wie ihr Vater und ihre Mutter. Damals las Milous Oma ihr oft Geschichten aus der Bibel vor. Viele davon waren grausam ... doch alle handelten sie von Nächstenliebe. Und das gefiel der Grundschülerin. »Hallo Zottel! Hallo Opa, Oma!« In dieser Zeit vor acht Jahren kam Zottel, der cremefarbene Zwergspitz, jedes Mal sofort auf Milou zugetrottet und sprang an ihr hoch, um ihr ein vergnügtes Hundehallo zuzubellen. Und jedes Mal wuschelte sie ihm liebevoll durch die aufgebauschte Mähne. »Na komm herein, Kind, Oma hat dir heute Hochzeitssuppe gekocht!«, rief Opa aus der Küche, die Milou nun betrat. Tief atmete sie den Duft von Suppe, Hund und vom Altherrenparfum ihres Großvaters ein. Der kleine Zwergspitz folgte ihr schwanzwedelnd. Die Küche war ein wundervoller Ort. Zwischen den blumengemusterten Kacheln zauberte Oma die leckersten Gerichte her, am Esstisch neben dem Fenster mit Karovorhängen machte Milou zusammen mit Opa ihre Hausaufgaben und bekam spätnachmittags meist noch eine Geschichte aus der Bibel vorgelesen. An der gegenüberliegenden Wand von Milous Stammplatz aus hing ein Kruzifix über der Uhr – für sie wirkte es, als würde der Herr über die Zeit wachen. Aber leider tat er das nicht. Ein paar Wochen später wurde Zottel krank. Sie brachten ihn zum Tierarzt, aber es konnte nicht festgestellt werden, was los war. Der kleine Hund litt immer mehr, er fraß kaum, wurde träge und schlief fast nur. Es wurde schlimmer und schlimmer. Immer weniger und mehr. Milou und ihre Großmutter beteten oft für Zottel. »Bitte ... mach Zottel wieder gesund! Bitte hilf ihm, O Herr!« Doch es brachte alles nichts. Irgendwann erklärte der Tierarzt, dass der Hund eingeschläfert werden musste. Damit er sich nicht weiter durch das Leben quälte. Zottel starb und Milou fragte sich, warum Gott nicht geholfen hatte. Kurz darauf entdeckte sie an einem Schulvormittag die weinende Charlotte in der Mädchentoilette. Mit den krausen, widerspenstigen Kupferhaaren erinnerte das Mädchen sie an den Zwergspitz. Wegen dem wässrigen Ausdruck in ihren Augen. Wegen dem leidenden Blick. An dem Tag fasste Milou einen Entschluss. »Wenn Gott nicht hilft, dann helfe ich.«   -o-o-   »Ich finde, du solltest es ihr sagen.« Milou und Eileen, die jungen Frauen, standen vor dem Schulgebäude der Kopernikus-Gesamtschule und zögerten hineinzugehen. »Was sagen?«, erwiderte die Blondine mit der Palmenfrisur. »Das weißt du genau.« Mit einer Körpergröße von sagenhaften 1,60 Meter wirkte Milou auf die meisten Menschen wie ein ungefährlicher Zwerg, noch dazu mit der hohen Mädchenstimme. Aber sie war viel entschlossener, als die meisten von ihr dachten. Wenn sie von etwas überzeugt war. So wie jetzt. Eileen rümpfte die Nase. »Ich hab schon mit Charlotte geredet. So wie es aussieht, hat sie kein ernsthaftes Interesse. Es ist nur Schwärmerei.« Ungläubig schaute die schwarzhaarige Zwergin sie an. »Was? Was erwartest du jetzt von mir?«, fragte Eileen daraufhin. »Ihr solltet miteinander reden.« »Milou ... als meine Freundin bitte ich dich: Misch dich da nicht ein.« Diese war zwar skeptisch, akzeptierte jedoch die Bitte ihrer Freundin. Schweigend. Was sollte sie auch sagen – Charlotte war bereits im Anmarsch. »Guten Morgen! Ich habe fantastische Neuigkeiten!«, offenbarte sie ihnen. »Lass hören!« Auffordernd grinste Eileen sie an. »Anna hat Tassilo abserviert! Sie steht absolut nicht auf ihn!« Die Freundinnen sahen Charlotte verwirrt an. »Das wussten wir schon.« »Nein, wirklich! Es ist kein Gerücht, es ist hundertprozentig wahr!«, verdeutlichte Charlotte und wedelte dabei aufgeregt mit den Händen in der Luft herum, als wäre sie mit italienischem Blut gesegnet worden. Eileen runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen, entgegnete zerknirscht: »Natürlich ist es wahr ... warum sonst wäre Tassilo so urplötzlich aus dem Land verschwunden!« »WARTET, WAS?« Damit hatte das Mädchen mit der kreisrunden Brille nicht gerechnet. »Wusstest du das nicht? Tassilo ist mit den anderen Austauschschülern für ein halbes Jahr nach Amerika abgedampft, kurz nach seinem Geständnis«, erläuterte Eileen und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »WAAAS?!« »Nicht verzweifeln, Charlotte, er kommt ja wieder.« Liebevoll klopfte die Blondine ihr auf die Schulter. »Im Herbst.« »Gaah ...«, machte das Kupferduttmädchen, dem in diesem Augenblick jegliche Lebensfreude entwich. »Aber das bedeutet: Tassilo ist noch zu haben! Selbst wenn er in den USA jemanden kennen lernt, wird das eher nur ein Urlaubsflirt sein«, überlegte Eileen laut weiter. »Eileen ... «, ermahnte Milou sie sogleich, aber wurde von Charlotte unterbrochen: »Du hast Recht! Es ist kein Weltuntergang! Außerdem weiß ich jetzt, auf was für einen Typ Mädchen er steht!« »Ach ja? Wussten wir das nicht auch schon ... «, murmelten die Mädchen. »Als erstes muss ich irgendwie diese Brille loswerden ... Gott sei Dank hat er mich noch nicht damit gesehen ... «, nuschelte Charlotte nachdenklich. »Du willst dich ernsthaft ummodeln, nur um Tassilo zu gefallen?!« Eileen war entsetzt. »Also bitte! Kontaktlinsen hätte ich mir so oder so früher oder später geholt. Und gegen ein bisschen Sport spricht doch auch nichts. Genug Zeit habe ich dafür jetzt ja. Traurigerweise ... «, konterte Charlotte. Milou schielte scharf zu Eileen rüber, sagte leise: »Schwärmerei. Aha.« Daraufhin erntete sie einen vielsagenden Blick von dieser, bevor sie eine Ankündigung machte: »Na wenn das so ist, unterstützen wir dich dabei, Charlotte!« »Oh Eileen, ihr seid die Besten! Mein größtes Problem ist leider ... das Geld.« Charlotte mimte den Denker, legte das Kinn auf die Faust. »Wie wäre es dann mit einem Nebenjob? Am besten etwas Körperliches, dann sparst du dir gleich das Fitnessstudio!«, schlug ihre Freundin vor. »Geniale Idee, Eileen!« Erfüllt von Enthusiasmus strahlte sie sie an. Milous Lippen bibberten. Aufgewühlt und mit teils gemischten Gefühlen fragte sie sich: »Wie soll ich mich da nicht einmischen?«   -o-o-   »Ich muss nachher unbedingt mal die Zeitungsanzeigen durchgehen ... vielleicht finde ich auch was im Internet ... Eileen hat Recht, ein Job ist genau das Richtige für mich! Ich werde nicht nur schön werden, nein, ich kann auch genauso ehrgeizig werden wie Anna!« Charlotte war auf dem Nachhauseweg von der Schule, der Unterricht war wie im Nu verflogen. Als sie an der nussfarbenen Haustür im vierten Stock angelangte, konnte sie bereits von außen Stimmen vernehmen. »Nein ich werde nicht gehen, bevor du mir gesagt hast, wo es ist, Jolinde!« »Vergiss es, scher dich aus meiner Wohnung! Ich kann nicht glauben, dass du nach X Jahren hier aufkreuzt, nur weil du Geld willst!« Die Enttäuschung überkam die Sechzehnjährige. »Oh nein ... er ist wieder da.« Sie biss sich auf die Lippen, verharrte stumm vor der Tür und lauschte weiter. »Ich bin nicht wegen Geld hier, ich bin wegen MEINEM Geld hier.« »Du wirst mir Charlottes Notgroschen nicht anrühren, vorher rufe ich die Polizei! Ich kann nicht glauben, dass du nicht ein Stück an deine eigene Tochter denkst!« »Natürlich will ich das Beste für Charlotte. Aber ich glaube kaum, dass sie je studieren wird ... mal ehrlich, Charlotte ... « Das war genug für heute. »Ich sollte wohl besser gehen. Weit, weit weg ... Aber wohin? Es gibt keinen Ort, der mich vermisst. Papa hat Recht: ‚Charlotte hat schon in der Grundschule nur schlechte Noten mit heim gebracht'. Ich hätte mich nicht anpassen sollen. Und das habe ich jetzt davon.« Obwohl es draußen furchtbar kalt war, brach sie wieder auf. Schlenderte durch die Nässe der Stadt. Der graue Apriltag rieb ihr unter die Nase, dass sie das Wetter verdient hatte. Dass sie alles verdient hatte, was geschah. Inmitten der Fußgängerzone setzte sie sich auf eine Bank unter einen der vielen Bäume. Rings um sie herum lagen Geschäfte, die heute weniger lebhaft besucht wurden – kein Wunder, bei dem wolkigen Himmel. Es war ein Tag zum Zuhausebleiben. Ein Tag, der Charlotte verdeutlicht hatte, dass für sie kein Zuhause übrig blieb. Nach einer halben Stunde tröpfelte es. Charlotte blieb sitzen. Nach einer Stunde regnete es. Es war ihr egal. Nach eineinhalb Stunden war Charlotte völlig durchnässt. Aber sie wollte nicht zurück in die Wohnung. Sie wollte nicht hören, was ihr Vater zu sagen hatte. »Huh?« Sie wunderte sich, denn plötzlich hielt jemand einen großen gelben Schirm über sie. »Was sitzt du denn hier im Regen?«, fragte Klaus, eingelullt in einen Schal und eine dunkle Softshelljacke. »Uhm ... Ich ... warte hier.« » ... « Klaus schwieg und musterte das Mädchen. »Was stehst du jetzt da«, machte Charlotte ihn blöd an. Sie wollte nicht, dass er sie so sah – so schwach. »Ich überlege. Ich kann dich ja nicht einfach im Regen sitzen lassen«, erwiderte er. Sie blickte zu ihm auf. »Du weißt ja, ich wohne da vorne – warum wartest du nicht einfach bei mir weiter, bis der Regen nachgelassen hat?« Mit dem Finger zeigte er in die entsprechende Richtung. Tränen wollten Charlotte übermannen, doch sie riss sich zusammen und glotzte statt zu heulen auf den Boden. »Warum ... bist du immer so freundlich zu mir? Auch mit dem Ausritt ... « Sie konnte es nicht verstehen. Immer wieder dachte sie an die Worte ihres Vaters. Dachte an ihr Schicksal, und dass sie selbst an allem schuld war. »Ich habe das gar nicht verdient.« Da sagte Klaus, der bebrillte Lockenkopf-Streber, etwas Unglaubliches: »Kann sein. Du kannst dich ja revanchieren.« War das sein Ernst? Charlottes Gesichtsausdruck sprach Bände. Doch er fragte nur unbeirrt: »Kommst du jetzt mit?«   -o-o-   »Ich kann nicht fassen, dass ich tatsächlich mit Glasauge mitgegangen bin ... Andererseits war die Alternative nicht sonderlich verheißungsvoll.« Charlotte fröstelte beim Gedanken an den Sturm, der kurz nach Klaus Angebot aufgezogen war. Glasauge selbst sperrte gerade die Haustür auf. Die Wohnung des Augenarztes lag tatsächlich im sechsten Stockwerk, direkt über der Praxis. »Bin zuhause!«, rief er aus, als sie eintraten. Vom Flur aus konnte man direkt ins Wohnzimmer sehen, das direkt ans Esszimmer angrenzte. Dort saß am Tisch Dr. Guggenmoos und las die örtliche Zeitung. Als sie hereinkamen, blickte er nur kurz auf und widmete sich dann wieder den lokalen Nachrichten. »Die Praxis hat für heute schon geschlossen, junge Dame«, gab er dabei monoton von sich. »Oh nein, ich ... «, wollte das Mädchen einwenden, da unterbrach Klaus sie: »Das ist Charlotte, meine Klassenkameradin. Sie ist nur zu Besuch da.« »Oh, wir haben Besuch?«, quiekte es erfreut aus der Küche. Eine hübsche Frau mit hellbrauner Lockenpracht erschien in der Türschwelle. Ihre Haare waren nicht so wild zerzaust wie Charlottes – nein, sie hatte Hollywoodlocken. Locken, für die jede Frau töten würde. Und Locken, die sie eindeutig an ihren Sohn vererbt hatte ... bei welchem sie allerdings ihre Wirkung völlig verfehlten. »Das ist Klaus Mutter?! Die Pferdenärrin? Sie ist ... die schönste Frau, die ich je gesehen habe!« Klaus Mutter betrachtete sie von oben bis unten. »Oh Kind! Du bist ja klatschnass! Möchtest du vielleicht frische Sachen? Einen Föhn? Komm, ich zeige dir das Bad ... « Ohne, dass Charlotte oder Klaus hätten etwas unternehmen können, schnappte sie sich das Mädchen und führte sie ab ins Nebenzimmer.   -o-o-   Verdattert starrten die Männer ihnen hinterher. Wobei sich Klaus weniger wunderte: »War klar, dass Mama an ihr Freude hat.« Sein Vater Jürgen linste kurz zu Klaus rüber, während er weiter die Zeitung vor sich hielt. Dann sagte er bestimmend: »Ich weiß, dass in deinem Alter das Thema Mädchen wahnsinnig spannend ist, aber du solltest dich dieses Jahr zusammenreißen.« Seine Worte ärgerten Klaus. »Charlotte ist nur eine Klassenkameradin! Und ich gebe mir wirklich Mühe momentan!«, schmetterte er seinem Vater entgegen. Dieser rückte sich nur die rechteckige Brille zurecht. »Dein Deutschlehrer hat da etwas anderes unter deine Arbeit geschrieben«, sprach er Klaus wunden Punkt an, sodass dieser kurz zusammenzuckte und verlegen an die Decke blickte. »Das ... war eine Ausnahme. In den anderen Fächern habe ich schon viel aufgeholt!«, rechtfertigte sich der Sechzehnjährige. Klaus Vater blätterte um. »Mit einem guten Notendurchschnitt wirst du es nicht ins Medizinstudium schaffen, mein Sohn.« Verärgert und verzweifelt ballte der Junge seine Hände zu Fäusten. Er schwieg nur. Was sollte er auch sonst tun.   -o-o-   Das Badezimmer im Appartement der Familie Guggenmoos war altrosa tapeziert worden. Darin befanden sich weiße Schränke und eine Keramikbadewanne. Das Bemerkenswerte an dem Bad war allerdings weniger die Einrichtung als die Bildlandschaft: Überall hingen Familienbilder über und neben dem ovalen, mit Schnörkeln umrandeten Spiegel. In natürlich ebenso stilvoll gestalteten Bilderrahmen. »Ich bin mir sicher, Klaus Mutter hat die ganze Wohnung eingerichtet ... Sie hat so einen guten Geschmack! Kaum zu glauben, dass die beiden verwandt sind ... « Frau Guggenmoos schloss die Tür hinter sich, nachdem sie kurz verschwunden und mit einem Kleiderstapel wieder aufgetaucht war. »Charlotte, richtig? Du musst unbedingt aus den nassen Sachen heraus, sonst bekommst du noch Grippe! Ich habe hier ein paar alte Kleider von mir, die müssten ungefähr deine Größe sein. Such dir heraus, was du möchtest!« »Oh, äh, vielen Dank Frau Guggenmoos!« »Nenn mich doch Inga, sonst fühle ich mich so alt!« Charlotte stutzte kurz, aber freute sich dann: »Danke, Inga!« »Dann lass ich dich mal kurz allein ... « Damit überließ Klaus Mutter das Mädchen sich selbst beim Umziehen. Überrascht stellte Charlotte fest, dass Inga ihr ein Sommerkleid mit Jäckchen dagelassen hatte – aber auch eine Feinstrumpfhose. Die müsste auf jeden Fall passen. Ansonsten lagen auf dem Stapel nur noch zwei Jogginghosen und ein Shirt, das Charlotte an einen Pyjama erinnerte. Also legte sie das blumige Kleid mit den Spaghettiträgern an. Am unteren Saum verlief ein Rüschenrand, was sehr mädchenhaft und romantisch aussah. Das fand vor allem Klaus Mutter, als sie wieder hereinkam. »Hübsch siehst du aus! War es doch zu irgendwas gut, dass ich die Sachen noch aufgehoben habe. Wenn es dir gefällt, kannst du es gern behalten. Ich passe sowieso nie wieder da rein!« Verlegen über das Kompliment errötete Charlotte und sah zur Wand, wo die Familienfotos hingen. Eines davon sprang ihr sofort ins Auge. »Uhm, danke ...! Vielen Dank! Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Ähm, diese Bilder ... ist das da Anna?«, wollte sie wissen. »In der Tat. Geht sie etwa in deine Klasse?«, fragte Inga zurück. »Uff. Das wäre eine Sache. Anna geht in die Begabtenklasse ... « »Äh, nein. Aber wir kennen uns«, antwortete Charlotte statt ihre Gedanken laut auszusprechen. »Soso! Ja, damals habe ich ein Foto von Klaus und Annas erster Reitstunde gemacht, das war so putzig, das musste ich einfach aufhängen! Allgemein kann ich mich schlecht beherrschen, die Finger von der Kamera zu lassen – Ein Kind wird ja nur einmal groß! Oh, deine Haare sind ja auch noch ganz nass! Soll ich sie dir föhnen und frisieren?« Charlotte zuckte bei der Erwähnung ihrer Haare zusammen. »Oh ... Oh nein, danke, Inga! Ich föhn sie mir lieber selbst!« Noch während sie redete, nahm sie Klaus Mutter den Föhn aus der Hand, steckte ihn in die Steckdose neben den Zahnputzbechern und begann, sich den feuchten Haarknödel trocken zu föhnen. »Oh ... ok«, stammelte Inga überrascht. Um ihre Haare nicht aufmachen zu müssen, versuchte Charlotte vom Thema abzulenken: »Ähm, und was ist mit diesem Bild?« »Hach, das ist der erste Fang vom Angelausflug mit Jürgens Vater. Niedlich, wie die Drei stolz auf diesen mickrigen Fisch sind, nicht?« Inga lachte. »Und das da drüben ist meine Mutter mit ihrem berühmten Apfelkuchen, es war das erste Mal, dass Klaus mitgebacken hat. Damals war er noch so klein!« Die liebevolle Art der Mutter brachte die Sechzehnjährige zum Schmunzeln. »Klaus Mutter ist wirklich nett. Ich mag sie.« »Du gehst in Klaus Klasse, oder Charlotte?«, fragte Inga neugierig. »Ja.« »Bist du dann auch im Schachclub?« »Äh ... nein.« Charlotte wunderte sich. »Wir haben einen Schachclub an der Schule?« »Achso.« Besonnen lächelte Klaus Mutter sie an, bevor sie zurück ins Wohnzimmer gingen.   -o-o-   Dort begegneten sie einem wütenden Klaus-Exemplar und dem immer noch in der Zeitung versunkenen Augenarzt. Als der Brillenträger Charlotte in dem Kleid samt Jäckchen erblickte, wusste er erst einmal nichts zu sagen. Seine Mutter schon. »Sieht sie nicht süß aus? Guck mal Jürgen, hatte doch was Gutes, dass ich das Kleid noch nicht zur Altkleidersammlung gebracht habe!« Jürgen schaute auch weiterhin nicht auf und gab knapp zurück: »Ja, wunderschön!« Der Kommentar provozierte Klaus offensichtlich, denn er machte prompt einen Satz auf Charlotte zu, packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich. »Komm mit Charlotte, wir müssen jetzt lernen!«, zischte er sauer wie eine Essiggurke. Dann zerrte er das Mädchen zurück in den Flur, in sein Zimmer. Als die beiden weg waren, behauptete Jürgen: »Die machen jetzt garantiert alles außer lernen.« Unschuldig kratzte sich Inga am Kinn. »Meinst du?«   -o-o-   »Sorry.« Klaus lehnte sich von Innen an seine Zimmertür, als würde ein Tyrannosaurus Rex versuchen, jeden Moment hier einzubrechen. »Würde es dir etwas ausmachen, ein zwei Stunden hierzubleiben? Du musst auch nicht wirklich lernen. Ich muss nur, unbedingt ... « Bedröppelt schaute er zu Boden. Diesen traurigen Ausdruck in den Augen kannte Charlotte bislang nicht vom Vorzeigestreber ihrer Klasse. Da klatschte er sich die rechte Hand an die Stirn und drückte damit eine seiner Ponylocken platt. »Ach halt, du hast ja auf jemanden gewartet, du musst bestimmt los, sobald es nicht mehr regnet – « Weil Charlotte nur herumstand, setzte sie sich nun auf den flauschigen, kreisrunden Teppich in Klaus Zimmermitte. »Nein, ich habe auf niemanden gewartet. Lass uns zusammen lernen.« Klaus hielt kurz inne und sah sie an, bevor er sie dankbar anlächelte. »Okay!« Dann begann er, die nötigen Unterrichtsmaterialien vorzubereiten. Nach kurzer Zeit hatte sich das Zimmer, in dem überwiegend Holzmöbel standen, in ein Lernhilfenlager verwandelt. Auf dem Teppich verteilt lagen Mathebücher, Hefte und Aufzeichnungen. Mitten darin kauerten Charlotte und Klaus im Schneidersitz. »Mir fällt gerade auf, dass ich nie lerne«, bemerkte das Mädchen im Blumenkleid, als sie die Nase in einer Analysis-Lernhilfe vergrub. »Was?!« Klaus dachte zurück an die Matheolympiadesiegerliste. »Vielleicht sind deshalb meine Noten gerade so schlecht«, brabbelte Charlotte weiter, was bei ihm einen emotionalen Tobsuchtsanfall hervorrief. »Gaah! Schlecht? Schlecht?! Bist du nicht die Erstplatzierte vom letzten Mathewettbewerb?!« »Ach das ... das ist mehr so ein Hobby.« »Du machst mich noch wahnsinnig!« Demonstrativ wuschelte er sich durch die Lockenpracht. »Meine Mathenoten sind auch nicht so supergut. Ich steh meistens auf einer Zwei Minus«, verteidigte Charlotte sich. »Das beißt sich ziemlich, findest du nicht?« »Na und?« Klaus seufzte. »Sie ist mir ein Mysterium ... « »Ich ... ich mache das mit Absicht.« Das Mädchen mit dem Kupferdutt starrte beschämt auf die Bücher. »Ich hasse es, ein Streber zu sein.« »Das sagst du ausgerechnet mir.« Verwundert sah sie ihn an. Klaus lachte nur heuchlerisch. »Ha. Haha. Du stellst dich im Unterricht also mit Absicht dumm, damit dich keiner Streber nennt? Und Zicke wäre dir lieber?« »Exakt.« Es war ihr offensichtlich peinlich, das zuzugeben, aber er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Wow. Wir sind wirklich grundverschieden. Was würde ich nicht dafür geben, nur den dritten Platz zu belegen ... « »Ich dachte immer, deine Noten wären super.« »Meine? Ha! Was glaubst du, warum ich mir so viel Mühe gebe ... « »Ich weiß nicht. Verrats mir.« Schlagartig wurde Klaus Tonfall eine Spur trauriger. »Eigentlich ... weiß ich es auch nicht. Es ist eh vergebens ... «   -o-o-   »So niedergeschlagen kenne ich ihn gar nicht ... « Während Klaus deprimiert schwieg, studierte Charlotte sein Zimmer erstmals genauer. Es war sehr ordentlich, der Junge besaß nicht besonders viel Krimskrams – bis auf die vielen Lernbücher und die Pokale, die sich stolz auf einem Wandregal präsentierten. Dort hingen ebenfalls ein paar bunte Stofffetzen über die Regalkante hinaus. »Du hast da ganz schön viele Pokale«, sprach sie den Brillenträger darauf an. »Die meisten sind vom Schachclub ... die wenigen Schleifen da sind noch von Reitturnieren von früher ... aber das war immer eher Annas Ding.« »Schachclub ... stimmt, das hat Inga auch erwähnt.« Charlottes Blick fiel nun auf Klaus Schreibtisch, wo ein Schachbrett einsam herumlag. »Du hast gesagt, ich muss nicht unbedingt lernen. Lass uns eine Runde spielen!«, schlug sie vor. »Du willst Schach spielen?« »Hast du etwa Angst vor einer Niederlage?« »Nicht im Geringsten. Ok, warum nicht.« Gemeinsam platzierten sie die Figuren auf dem Brett und fingen an zu spielen. In weniger als zehn Zügen schaffte Charlotte es schließlich, Klaus blöd dastehen zu lassen und ihn Schachmatt zu setzen. Schweißgebadet und niedergeschlagen hoch zehn saß er dann da, die Hände im Teppich vergraben. »Sie hat mich besiegt ... in weniger als zehn Zügen ... «, murmelte er in sich hinein. »Jippieh! Gewonnen!«, freute sich Charlotte nur. »Ich fass es nicht ... der einzige, der mich bisher besiegt hat, war Chris ... Du solltest deine Intelligenz nicht verstecken, Charlotte. Warum trittst du nicht dem Schachclub bei? So eine Verstärkung könnten wir gut gebrauchen!« Klaus Enttäuschung über sich selbst hatte sich in Bewunderung für Charlotte verwandelt. Diese fand sich selbst immer noch nicht toll. »Ich hab dir doch erklärt, dass ich nicht gern die Streberin bin.« Energisch schüttelte der Brillenträger den Kopf. »Ganz ehrlich: Das ist total lächerlich. Du solltest stolz auf dich sein. Aber musst du wissen. Ich muss jetzt aber wirklich lernen ... sonst kann ich mein Matheabi vergessen.« Pflichtbewusst wie immer schnappte Klaus sich das Aufgabenblatt, um es durchzurechnen. Charlotte schaute ihm nur stumm dabei zu. So konnte sie beobachten, wie der Klassenstreber immer nervöser wurde und sich immer mehr Fragezeichen in seinen Brillengläsern spiegelten, bis sein Kopf am Ende so sehr vor Ahnungslosigkeit zu rauchen schien, dass er sich wütend durch die Haare wuschelte. »Zeig mal her!«, befahl sie ihm schließlich und riss das Blatt an sich. Nachdem sie sich einen kurzen Überblick verschafft hatte, meinte sie zu Klaus: »Pass auf. Wenn ... dann ... und deswegen ... « Sie nahm ihm den Stift aus der Hand und zeichnete ein Beispiel auf. Und so lernten sie letztendlich gemeinsam.   -o-o-   Als Charlotte abends nach Hause kam, war ihr Vater bereits gegangen. Jolinde jedoch war immer noch aufgebracht von dem unangekündigten Besuch. »Charlotte, nimmst du bitte nachher die Wäsche mit in dein Zimmer? Und ich habe dir Brokkoli Auflauf gemacht.« »Ja Mama!« Zunächst einmal verschanzte sie sich in ihr Zimmer, um sich umzuziehen – blöde Kommentare wegen dem Kleid wollte Charlotte nämlich nicht von ihrer Mutter zu hören bekommen. In Jogginghose und Hoodie gekleidet kam sie wieder herausspaziert und erledigte ihre Wäschepflicht. Danach setzte sie sich an den Esstisch, auf dem Jolinde bereits das Abendessen angerichtet hatte. »Charlotte, stocher bitte nicht so in deinem Essen!«, ermahnte ihre Mutter sie, die gerade nebenbei im Wohnzimmer ihre Blusen bügelte. Um ihre Tochter zu nerven, unterbrach sie diese Tätigkeit, lief in die Küche und kam mit einer Schüssel wieder, aus der sie noch mehr Brokkoli auf Charlottes Teller schaufelte. »Und iss mehr Gemüse, damit du ja nie so wirst wie dein Vater! Er ist so ein großes A!« »Ja, Mama«, stöhnte das Brillenmädchen nur und mampfte brav ihren Brokkoli. Immerhin wollte sie die Gelegenheit nutzen. »Du Mama, könntet ihr im Laden vielleicht eine Aushilfe gebrauchen?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Du meinst einen Vierhundert-Euro-Job?« »Ja genau.« »Willst du etwa arbeiten?« »Ja. Ich möchte einen Nebenjob machen.« Wenig begeistert verzog Jolinde das Gesicht. »Kommt nicht in Frage! Verwende deine freie Zeit lieber, um deine Noten aufzubessern. Deine letzte Arbeit hat mich sehr enttäuscht. Deine Lehrer kannst du vielleicht für dumm verkaufen, aber nicht mich! Ich weiß, dass du nur stinkfaul bist, sonst nichts! Du lernst gefälligst auf die nächsten Prüfungen!« »Aber ... Mama, du verstehst das nicht! Ich brauche das Geld!« »Wofür?« »Ich will mir Kontaktlinsen kaufen!« »Das ist völlig unnötig, Charlotte. Du bist noch viel zu jung dafür.« »Für Kontaktlinsen ist man nur zu jung, wenn man unter zehn ist! Ich bin sechzehn!« »Ich verbiete es! Das ist mein letztes Wort!« Soviel zu Charlottes Hoffnungen.   -o-o-   Den Ereignissen des letzten Tages angemessen trudelte Charlotte am nächsten Schulmorgen mit hängendem Köpfchen im Klassenzimmer ein. »Nanu, was ist denn mit dir heute los?«, wollte Eileen natürlich sofort wissen. »Mama hat mir verboten, jobben zu gehen. Und Kontaktlinsen zu tragen. Jetzt muss ich bis in alle Ewigkeit ein Dasein als Brillenschlange ertragen!«, heulte Charlotte ihr sofort ihr Seelenleid vor. »Buhuu!« »Ohjee«, beteuerte ihre Freundin, zwinkerte jedoch Milou, die auch dabei stand, heimlich zu und flüsterte leise: »Na siehst du, Problem gelöst!« Milou schien nicht begeistert von Eileens Reaktion zu sein. Darum sagte sie zu Charlotte, die vor lauter Panikschieberei den bösen Kommentar ihrer Freundin nicht mitbekommen hatte: »Hör mal! Ich finde überhaupt nicht schlimm, dass du jetzt eine Brille trägst. Du siehst sogar richtig süß damit aus! Vielleicht solltest du dich einfach selbst akzeptieren.« Charlotte errötete und freute sich: »Oh Milou! Du bist so eine gute Seele!« »Stimmt. Anna mag zwar gut aussehen, aber sie ist auch mega selbstbewusst. Das ist mindestens genauso wichtig!«, stocherte Eileen weiter in Charlottes mangelndem Selbstbewusstsein. »Eileen!« Milou stieß ihr zischend in die Rippen. »Buhuu ... « Und Charlotte blies nochmal eine Runde Trübsal. Unterdessen war Klaus ins Klassenzimmer hereingekommen und winkte ihr zur Begrüßung zu, bevor er sich auf seinen Platz hinter den Mädchen setzte. »Hat der dir gerade zugewunken?!«, kommentierte Eileen nuschelnd, damit er sie nicht hören konnte. »Quatsch!«, stritt Charlotte sofort ab.   -o-o-   »Wenn Eileen wüsste, dass ich gestern bei Klaus war ... dann wüsste es gleich die ganze Klasse. Und die würden das garantiert falsch verstehen.« Nun betrat auch der Mathelehrer den Raum, sodass die Mädchen ihr Kaffeekränzchen unterbrachen und sich auf die Stühle begaben. Wie zu Anfang jeder Stunde kramte er seine Abfrageliste hervor, fuhr sie mit dem Zeigefinger entlang und wählte schließlich ein Opfer aus. »Guten Morgen. Dann schauen wir mal, wen ich heute abfrage ... ah, der Klaus braucht noch eine Note. Klaus, bitte vorkommen!«, fällte der Lehrer seine Entscheidung schnell. Der Brillenträger ging vor an die Tafel. Was keiner sah, außer Charlotte: Klaus war nervös. Unsicher spielte er mit dem Stück Kreide in der Hand herum, mit dem er gleich ein paar Gleichungen lösen musste. Doch überraschenderweise fragte der Mathelehrer genau das ab, was die beiden Brillenschlangen am Vortag geübt hatten. Klaus gab Charlottes Erklärungen eins zu eins wider. Die Kreide wanderte über die Tafel, hinterließ dort Zeichen, die für manche Schüler immer noch große Rätsel darstellten. Diese Schüler waren es, die Klaus den Erfolg nicht gönnten. »Typisch Streber!«, murmelten sie. Oder: »Echt mal, der weiß alles ... « »So, noch irgendwelche Ergänzungen? Nein?«, fragte der Mathelehrer, nachdem der Klassenstreber seine Beispiele fertig an der Tafel veranschaulicht hatte. Klaus schüttelte den Kopf. Er war durch mit der Aufgabe – und würde gleich erfahren, ob er mit seinen Schlussfolgerungen richtig lag. »Dann gibt's eine glatte Eins darauf. Du darfst dich setzen.« Ein Stein fiel ihm von Herzen, das erkannte Charlotte sofort. Auf dem Rückweg zu seinem Platz lächelte Klaus sie dankbar an. »Nicht schlecht, Kumpel«, bemerkte Theo, der Asiate mit Topffrisur, als sein Kumpel sich wieder neben ihn setzte. Während des restlichen Unterrichtes passierte nicht viel. Sie nahmen neue Aufgabengebiete in Angriff, die Charlotte langweilten. Für Abwechslung sorgte Klaus gegen Ende der Stunde: Der Frechdachs wagte es tatsächlich, sie von hinten mit Papierkügelchen zu bewerfen! Charlotte wurde richtig aggressiv – da half sie ihm und dann so was! Bis sie feststellte, dass in einem der Kügelchen eine Nachricht versteckt zu sein schien. Gespannt faltete sie den zerknüllten Papierstreifen auseinander. »Ohne dich hätte ich das nicht gerafft. Du bist eine prima Nachhilfelehrerin!«, stand da. Und in diesem Augenblick ging Charlotte ein Licht auf. »Das ist es ... « Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)