Verliebtsein macht kurzsichtig von Whiscy (1) ================================================================================ Kapitel 2: Hilfe, ich bin ein Glasauge! --------------------------------------- Miesepetrig glotzte Klaus auf das Stück Papier, das ihm heute noch mächtig Ärger einbringen würde. Diese dämliche Gedichtinterpretation. Er hatte noch nie verstanden, wozu man sowas können sollte. Sein Freund Theo, der Chinese mit Topffrisur, putzte sich unbekümmert die Brille. »Kommst du mit raus? Scheiß auf die Note«, meinte er dabei. Klar, Theo hatte leicht reden, mit seiner guten Drei. Wie ein Besessener starrte Klaus auf das Blatt und murmelte: »Dad wird diesmal extrem sauer sein ... ich habe ihm Minimum eine Zwei prophezeit.« Schließlich schaute er auf und registrierte, dass sein Kumpel ihn erwartungsvoll ansah. »Was, eh? Ja, geh du schon mal vor Theo! Ich muss noch ins Sekretariat.« »Alles klar. Dann bis nachher!« Der Asiate nickte und ging. Theo waren seine Noten egal. Mit der Einstellung hatte er es gut, fand Klaus. Denn ihm selbst war ein gutes Zeugnis enorm wichtig. So wichtig, dass diese eine Note seinen ganzen Schnitt vermasselte. Oh weh. Er seufzte und besann sich wieder – auf seine Pflichten. Das bedeutete, dass er nun schnurstracks Richtung Sekretariat marschierte. Die Flure der Kopernikus-Gesamtschule waren mit einem dunkelgrünen Flachnoppenboden versehen, und genau dieselbe Farbe zierte die Fensterrahmen. Die Tapete im Schulgebäude war überall vanillefarben, außer im Keller, dort hatte ihr Kunstlehrer einmal einen Grafittikurs erlaubt – was der Schulleitung im Nachhinein nicht besonders gefallen hatte. Die hatte nämlich erst davon mitbekommen, als es zu spät war. Klaus schritt einen hellen Flur mit großen Fenstern entlang, erreichte das Sekretariat und klopfte an die Tür. Es öffnete ihm eine pummelige Mittdreißigerin mit Hamsterbacken. »Grüß Gott.« »Hallo Frau Meißner! Ich würde gerne den Aushang vom Schachclub einholen. Wir sind jetzt vollzählig.« »Gut. Dann schließe ich den Kasten mal auf.« Sie liefen gemeinsam zum Schwarzen Brett in der Aula, Frau Meißner watschelte im Schlendergang vor Klaus her. Vor dem ebenfalls dunkelgrün lackierten Glaskasten machten sie halt. Die Sekretärin sperrte ihn auf. »So, jetzt kannst du ihn abhängen!« »Vielen Dank!« Am Schwarzen Brett hingen eine Menge Zettel, der wichtigste für die Schüler war wohl der Stunden-Ausfall-Plan. Ausrufe zum Ski-Ausflug, Wettbewerbsausschreibungen und Clubmitglieder-Gesuche tummelten sich daneben – und Letzteres durfte Klaus heute für die Schach AG entfernen. Denn endlich hatten sie es geschafft: Sie hatten nicht nur genug Teilnehmer für Turniere, nein, sie hatten endlich ihren zweiten Ersatzspieler gefunden! Ohne zweiten Ersatzspieler war eine Teilnahme an Wettbewerben zwar möglich, aber nicht unbedingt vorteilhaft. Ahnungslos griff Klaus in den Kasten, nahm die Annonce heraus. Dahinter kam dadurch die Siegerliste der letzten Matheolympiade zum Vorschein. Er konnte seinen Augen nicht trauen, denn diejenige, die angeblich den ersten Platz belegt haben sollte, war tatsächlich ... ... Charlotte. »Ist nicht wahr!«, entfuhr ihm. »Dieses Mädchen ... soll bei der Matheolympiade gewonnen haben ... ?« »Das war's dann, ja?«, brummte Frau Meißner genervt, die ungeduldig mit dem Fuß aufstampfte. »Äh ... Ja ... «, wandte Klaus sich an sie, nahm Abstand vom Glaskasten und ließ die Sekretärin ihn wieder zuschließen. Er konnte es einfach nicht glauben. Er hatte Charlotte immer für dumm gehalten. Das hieß ...   -o-o-   Das hieß ... »Juchuuu!«, jubelte Charlotte in der Kabine, streckte die Arme freudig von sich, die Hände energisch zu Fäusten geballt. »Mmh? Was ist da drin los? Gut abgeseilt?«, wunderten sich ihre Klassenkameradinnen im Vorraum. Es war Charlotte komplett egal, was die Mädels oder irgendjemand über sie dachte. Glücklicher als jedes Einhorn dieser Welt verließ sie die Mädchentoilette und sprang quietschvergnügt durch die Flachnoppenflure der Kopernikus-Gesamtschule. »Ich habe noch eine Chance!« Selten hatten Schüler so ein fröhliches Mädchen innerhalb der Schule gesichtet, darum drehten sich einige nach ihr um. »Was geht bei der?«, fragte ein dicklicher Junge aus der Neunten. »Koks, eindeutig Koks«, antwortete ihm sein großgewachsener Freund, der daraufhin einzustimmendes Nicken erntete. Derweil vollführte Charlotte einen Freudentanz Richtung Aula, drehte ein paar Pirouetten und drohte gegen den Stützbalken neben dem Schwarzen Brett zu tanzen.   -o-o-   »Das kann einfach nicht sein. Charlotte muss einen intelligenten Zwilling haben.« Zumindest wirkte das auf Klaus so, der zufällig neben diesem Balken stand, den Schachclub-Mitglieder-Gesucht-Wisch zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. Um sie aufzuhalten, ließ er den Zettel fallen. Das Papier segelte wie eine Feder zu Boden. Klaus griff mit beiden Händen an ihre Taille, um sie abzustützen. Dadurch konnte er sie weg von dem Balken führen, fast wie bei einem Tanzschritt. Weil Charlotte anscheinend keine männlichen Berührungen gewohnt war, zuckte sie zusammen und errötete. Er war ihr zu nah. Viel zu nah. »Fass mich nicht an ... !«, sprudelte es prompt aus ihr heraus. Überwältigt von so viel Freundlichkeit, erwiderte Klaus nur ironisch: »Dir auch guten Tag. Keine Angst, ich habe dich garantiert nicht mit Absicht angefasst – du wärst fast da dagegen gedanced.« Er deutete genervt auf den Betonklotz. »Huh?«, machte Charlotte und registrierte jetzt erst das Ausmaß ihres Ausdruckstanzes. »Tatsächlich! Also gut, Danke.« Jetzt staunte Klaus nicht schlecht. Sie hatte sich bedankt! Vielleicht war Charlotte ja doch noch lernfähig. Musste sie sein, wenn sie tatsächlich die letzte Matheolympiade gewonnen hatte. Klaus nutzte die Gelegenheit, um sich zu vergewissern, dass er nicht spann: »Sag mal Charlotte, hast du eigentlich einen Zwilling?« Vehement schüttelte sie den Kopf. »Zwilling? Ich? Nein! Wie kommst du darauf?!« »Ach ... nicht so wichtig!« Er konnte es nicht fassen. Dieser Maulwurf zählte also tatsächlich zu den klügsten Köpfe an der Schule! Und das ohne die Begabtenklasse zu besuchen! Die Zwillingstheorie hätte er glaubwürdiger gefunden. »Übrigens finde ich, du solltest dir eine Brille besorgen«, äußerte Klaus nun, jetzt, wo er schon gedanklich beim Thema »Blindsein« war. Natürlich wurde Charlotte erstmal sauer, aber lief auch ein klein wenig rot an. Im Grunde ihres Herzens wusste sie bestimmt, dass er Recht hatte. »Vergiss es! Ich werde niemals so ein Glasauge wie du!«, rebellierte sie. Klaus Mundwinkel wanderten nach unten. Diese ... »Gut, dann mach doch was du willst, blinde Kuh! Aber wenn du wieder irgendwo dagegen läufst, werde ich dich gewiss nicht aufhalten!«, brüllte er wütend, was Charlotte wenig interessierte. Sie streckte ihm nur die Zunge heraus und suchte das Weite, genau wie nach dem Beinah-Autounfall.   -o-o-   Den ganzen restlichen Tag über hielt Charlotte Ausschau nach ihrem heißbegehrten Tassilo, aber konnte ihn nirgends sichten. Vielleicht war er ja krank? Vermutlich sogar richtig krank, und nicht so wie sie, wenn sie ihre Mutter mal wieder um eine Unterrichtsbefreiung angebettelt hatte. Eine Schniefnase hatte zurzeit auch Milou, Charlottes und Eileens andere beste Freundin. Sie war eine Halb-Französin ging ebenfalls in ihre Klasse, hatte aber die letzten zwei Wochen aufgrund einer Frühlingsgrippe gefehlt. Charlotte freute sich schon sehr darauf, Milou wiederzusehen. So verstrich die Zeit ohne nennenswerte Ereignisse, bis das Mädchen mit dem Kupferdutt spätnachmittags den Altbau betrat, in dem sie wohnte. Die Fassade des Gebäudes war schön anzusehen, an manchen Stellen glänzten Schmuck und Stuck, zum Beispiel am Giebel. Jedoch prangten dort keine allzu aufwendigen Ornamente. Es war fein, aber schlicht, und trotzdem noch gemütlich. Ihre Mutter und sie fühlten sich jedenfalls wohl dort. Diese war übrigens ausgeflogen – also auf der Arbeit. Jolinde Fetzer stand nämlich von morgens bis abends an der Kasse von Poppies, einem Übergrößenmodegeschäft. Darum hatte Charlottes Mama sich so organisiert, dass sie ihrer Tochter jeden Tag etwas Essbares im Kühlschrank hinterließ, das diese sich in der Mikrowelle aufwärmen konnte. Heute war der Gaumenschmaus sogar noch simpler angerichtet worden als sonst. »Hallo Charlotte, im Kühlschrank steht Buttercremeschnitte. Gruß, Mama!«, stand da auf einem Post-It, das einsam an dem weißen Futterkasten vor sich hinklebte. Das musste Charlotte nicht zweimal lesen, um sich den Leckerhappen zu schnappen. Bewaffnet mit einer Gabel lümmelte sie sich vor den Fernseher und schaltete eine Wiederholungsfolge von Glee ein. Die Torte schmeckte sehr cremig, wenn auch wenig süß. Gar nicht süß, um genau zu sein. Da würde sie sich nachher beschweren müssen, die Konditorei musste bei dieser Kuchenschnitte grob gepfuscht haben. Nach drei weiteren Bissen war Charlotte schon leicht angeekelt. Aber sie war so hungrig ... Da erklang das Klirren eines Schlüssels im Hausgang, ihre Mutter Jolinde kehrte heim. Verwundert steckte sie ihren Kopf durch den Türrahmen zum Wohnzimmer. »Charlotte? Was machst du da mit der Butter?« Prompt wurde dem Mädchen klar, warum die Buttercremeschnitte so widerlich schmeckte. Augenblicklich spuckte sie den Happs, den sie gerade zu sich genommen hatte, wieder aus, bombardierte das Sofa damit und fing an zu husten wie ein alter Kettenraucher. Derweil spazierte Jolinde in die Küche, gaffte ihre Notiz und das Innere des weißen Kastens an. Und zählte eins und eins zusammen: »Ach Charlotte! Das ist die Butter! Die Schnitte steht noch im Kühlschrank ... Ach Gottchen ... « »Ich glaube, ich geh mich kurz übergeben ... «, erwiderte ihre Tochter nur und schlang die Arme um den Bauch, der auch endlich festgestellt hatte, welch Gräueltat das Mädchen ihm angetan hatte. Er knurrte nämlich lautstarke Widerworte. »Und du hast das nicht mal geschmeckt?!«, fragte ihre Mutter eine Spur entsetzter. »Schon, aber ich dachte, der Bäcker wäre eine Niete gewesen oder so ... « »Herrje, Kind! Dass du mir nie zuhörst, weiß ich schon lange! Aber, dass jetzt auch noch deine anderen Sinne versagen ... Wie kann man nur Butter mit Buttercreme verwechseln ... ?« In Charlottes Augen sammelten sich schon die Tränen vor lauter Magengegrummel. »Ich hatte Hunger und es war cremig ... « »Vielleicht solltest du mal wieder zum HNO-Arzt gehen – oder zum Augenarzt. Wer weiß, am Ende brauchst du eine Brille!«, zog Jolinde in Erwägung. Was Charlotte in blanke Panik versetzte: »Nein! Alles, nur das nicht!« Gedanklich ergänzte sie: »Mit einer Brille werde ich bestimmt keine Chance mehr bei Tassilo haben ... « Jolinde wunderte sich zwar über diese starke Abwehrreaktion, hatte aber allmählich die Faxen dicke. Darum entgegnete sie nur zerknirscht: »Wenn so was nochmal passiert, gehst du auf jeden Fall zum Arzt, basta!«   -o-o-   »Ich bin mir sicher, dass Tassilo mich mit einer Brille noch weniger wollen würde als sowieso schon.« Am nächsten Schultag brannte die Frühlingssonne vom Himmel herunter, als wäre es Juni – dabei hatten sie erst Mitte April. Die ersten Blumen waren erblüht und das Grün der Sträucher um die Schule herum strahlte satt und frisch. Es schrie nach Frühlingsgefühlen. Die hatte Charlotte definitiv, doch Tassilo noch nicht. Zumindest nicht für sie. Aber wie könnte sie den Schulschwarm dazu bringen, sich für sie zu interessieren? Mit einer Brille schon mal nicht. Tassilo war zwar zu jedem freundlich und nett – aber mal ehrlich: An der Seite des Prinzens der Schule wurde eine ebenso schöne Prinzessin erwartet. Das war nun mal so. Gleich und gleich gesellte sich gern. Und deshalb wollte Charlotte auf keinen Fall ein Glasauge werden. Über mehr konnte sie nicht nachdenken, denn auf den Stufen der kleinen Pausenplattform des Schulhofes erkannte sie ihre beiden besten Freundinnen wieder. Milou war endlich wieder gesund – das stimmte Charlotte froh. Winkend lief sie auf sie zu. »Guten Morgen Eileen, Morgen Milou! Hast du eine neue Frisur?« Eigentlich trug Milou einen schwarzen, schrägen Bob, der ihr bis kurz unter das Kinn ging. Mit einem leichten Pony, das sie meistens zur Wange hinkämmte. Doch heute waren ihre Haare um einiges kürzer, fast streichholzkurz geschoren. Charlotte fand, es stand dem Mädchen gut.   -o-o-     Das sahen die beiden Schüler, die das Mädchen angesprochen hatte, etwas anders. »Wer ist das?«, flüsterte der Junge dem Mädchen zu, das Charlotte für Milou gehalten hatte. »Keinen Schimmer!«, wisperte es zurück.   -o-o-   Abseits des Geschehens standen die echte Eileen und die echte Milou. Kopfschüttelnd. »Sie ignoriert uns ... Was will sie denn von denen?«, quengelte Milou enttäuscht. »Mag Charlotte uns nicht mehr?« Eileen verschränkte die Arme. »Das glaube ich weniger ... « Noch ein paar Augenblicke lang beobachteten die Zwei, wie ihre Freundin die beiden Fremden zulaberte. Während Charlotte ihren »Mädels« nun also von der verhauenen Themaverfehlung erzählte, tuschelten diese: »Glaubst du, sie will uns Stoff verkaufen?« »Ich tippe eher auf Psycho ... !« Die Möchtegern-Milou ließ den Zeigefinger kreisen, deutete die Flugbahn eines kleinen Vögleins an. All das bemerkte Charlotte nicht. »Ich geh schon mal vor, wir sehen uns dann im Unterricht. Bis gleich!«, verabschiedete sie sich endlich und marschierte ins Schulgebäude. Hinterließ die fremden Schüler mit großen Fragezeichen in den Köpfen. Die hatten auch Eileen und Milou. »Das ist doch irgendwas faul. Lass uns hintergehen!«, meinte Eileen, die heute ein Sportdress mit jeweils zwei Streifen an den Säumen trug, das Charlotte offensichtlich mit dem Shirt des Basketballmannschaftskapitän verwechselt haben musste. Milou nickte nur. Als die Mädchen ihre Freundin mit dem Kupferdutt einholten, klatschte Eileen erstmal fassungslos ihre Hand gegen die Stirn. »Oh Charlotte!«, seufzte sie. Die Sechzehnjährige war allen Ernstes in die Jungentoilette gelaufen. Es dauerte auch nicht lange, bis Charlotte wieder herausrannte und sich keuchend gegen die Außentür stemmte, an die von innen ein wütendes Teenagerexemplar klopfte. Schließlich gewann der Schüler das Türdrücken und riss diese auf. Mit erhobener Faust brüllte er: »Schwänze kannst du dir auch im Internet angucken!« In diesem Moment konnte nicht nur Charlotte in Grund und Boden versinken – auch Eileen entdeckte erstmals das Fremdschämen für sich. »Milou, ich fürchte, Charlotte ist allgemein komisch heute«, stellte sie fest.   -o-o-   Wie komisch, durfte Eileen in den folgenden Unterrichtsstunden live miterleben. In Mathe zum Beispiel. »Was steht da?«, wollte Charlotte von ihr wissen und verrenkte sich halb den Hals, um zu erkennen, was sie gerade abschreiben sollten. Hinter ihnen nervte das natürlich Klaus, der das Mädchen am liebsten zum Friseur geschickt hätte, damit ihm ihr Haarknödel endlich nicht mehr ins Sichtfeld ragte. Charlotte kniff angestrengt die Augen zusammen, da reichte es Eileen. Sie konnte es sich nicht länger mit ansehen. »Setz dich vor!«, zischte sie ihrer Maulwurf-Freundin leise, aber bestimmt, zu. Das tat Charlotte zwar nicht, dafür traute sie sich nicht mehr, bei Eileen abzuschreiben. In der darauffolgenden Unterrichtsstunde stellte sich das Mädchen nicht besser an. Die Schüler hatten die Aufgabe, wunderschöne Wasserfarbengemälde auf A3-Papier zu zaubern. Gerade wollte Charlotte aus dem Schmutzbecher trinken, als Eileen sie ermahnend fragte: »Was willst du mit dem Farbwasser?« Von Chemie wollte die Schülerin im Sportdress gar nicht erst anfangen. Da nahm sie Charlotte nämlich den Erlenmeyerkolben weg, bevor noch etwas Schlimmeres passieren konnte. Nachdem der Schlussgong für den heutigen Unterricht ertönt war, machte sich Eileen gravierende Sorgen um ihre Freundin: »Kann ich dich wirklich ganz alleine nach Hause gehen lassen?« »Ja, Mama«, erwiderte Charlotte mit einem leicht sarkastischen Unterton. Eileen verzog die Backe. »Gut, schreib mir aber nachher eine SMS, damit ich weiß, dass du noch lebst!« »Dir auch viel Spaß beim Training!«, winkte Charlotte nur ab und stopfte ihre Bücher in die June-Tasche. Stirnrunzelnd verließ Eileen das Klassenzimmer. Sie hoffte, dass ihre neue Blindschleichenfreundin keinen Unsinn anstellte, während sie sich zum Volleyballtraining in der örtlichen Turnhalle begab.   -o-o-   Unterdessen legte Charlotte ihre June-Tasche nochmal auf dem Boden ab, um sich ihre leichte Frühlingsjacke auszuziehen. Es war wärmer als gedacht geworden. Dann griff sie wieder hinter sich, stellte die gestreifte Tasche auf den Tisch und verstaute die Fleecejacke darin. Hinter ihr saßen Streber Klaus und sein Schlitzaugenfreund Theo. Sie knobelten immer noch an der Redox-Reaktions-Gleichung herum, die sie in der Chemiestunde aufgebrummt bekommen hatten. Verächtlich sah Charlotte sie an, bevor sie hinaus in die Freiheit der Freizeit schritt. »Sag mal ... hat die Knödeltussi gerade deine Tasche mitgenommen?«, stellte Theo nach fünf Minuten fest, als er die June-Tasche einsam und verlassen vor ihrem Tisch entdeckte. Vor lauter Schreck ließ Klaus seinen Stift fallen. »Was?! Dieser Maulwurf ... !« Er ging vor und hielt die übrig gebliebene Kuriertasche hoch, die eindeutig Charlottes war. Zugegebenermaßen ähnelten sich ihre Schultaschen – aber Klaus war davon überzeugt, dass seine viel männlicher aussah. »Viel Spaß noch, Kumpel«, wünschte Theo ihm und klappte das Chemiebuch zu. Den würde Klaus garantiert haben. Er überließ dem Chinesen seine restlichen Sachen und stürmte raus aus der Schule, Charlotte hinterher. »Und ab die Post!«, kommentierte Theo, der Klaus nur amüsiert nachsah.   -o-o-   »Jetzt renn ich der auch noch hinterher ... Wo ist sie nur hin?« Das Erste, was Klaus einfiel, war den gewohnten Heimweg abzusuchen, den sie sich stückweise teilten. Das war keine schlechte Idee, er fand Charlotte tatsächlich in einer der Straßen der Innenstadt, die sie beide immer durchqueren mussten. »Charlotte! Halt!«, rief er aus der Ferne, doch sie hörte ihn nicht. Oder wollte ihn nicht hören. Er konnte sie da nie richtig einschätzen. Er spurtete schneller, erkannte, worauf der Maulwurf gerade zulief. »Pass auf, vor dir!«, versuchte er sie zu warnen. Noch zehn Meter, dann hätte Klaus sie erreicht. Dann hätte er sie aufhalten können. Hätte, hätte, Fahrradkette. Er kam zu spät. »Hä?« Charlotte drehte sich genau in dem Moment um, in dem sie den verheerenden Schritt tat, der beide Teenager gleich eine Menge Nerven kosten würde. »VOR DIR IST EIN LOCH!«, schrie Klaus augenblicklich. »Eh?« Noch während Charlotte realisierte, dass sie das geöffnete Gulliloch einer Baustelle getreten war, fiel sie. Tief. »AAAAAAAAH!« Platsch! Samt Klamotten, Schulsachen, Haut und Haar plumpste Charlotte in den Abwasserkanal. Dunkelheit empfing sie, einzig Kälte und Nässe verrieten, dass sie in der Kanalisation gelandet war. »Alles ok da unten?«, rief Klaus von oben und lugte mit dem Kopf durch das Loch. » ... «, schwieg Charlotte, entfernte sich eine Art Alge aus dem Haar. Sie wollte gar nicht so genau wissen, was das war. »Mehr oder weniger!«, brüllte sie mies gelaunt zurück. »Schaffst du es wieder rauf?« Sie sah sich um, entdeckte eine Leiter neben sich, die nach oben führte. »Ja!« Vorsichtig umklammerte Charlotte die Sprossen, kletterte langsam hoch. Klonk für Klonk rückte sie näher an die Oberfläche. Der letzte Schritt erforderte mehr Klimmzugfähigkeiten, als sie besaß, deshalb streckte Klaus ihr den Arm aus und half ihr heraus. Völlig fertig standen sie nun vor der Baustelle, die übrigens mit hellorange leuchtenden Verkehrshüttchen und Warnschildern abgesteckt worden war. Das ärgerte Klaus umso mehr. »So und jetzt erklär mir mal, was du mit MEINER Tasche wolltest«, stellte er sie nun zur Rede. Verwundert stierte Charlotte auf den nassen Klumpensack, den Klaus als sein Eigen betrachtete. »Deine? Oh ... Tatsache ... « Klaus biss sich auf die Lippen. »Willst du mir nicht etwas sagen ... ?« Sie sah auf, direkt in seine Augen. »Du hast einen echt schwulen Modegeschmack.« Dong! Jetzt reichte es ihm. »Ach, vergiss es ... ! Wie kann man nur so einen unausstehlichen Charakter haben ... ?!« Der Satz machte Charlotte nun genauso wütend: »Hey, Moment mal! Ich kann nichts dafür, dass ich unsere Sachen verwechselt habe! Die sehen sich eben sehr ähnlich!« »Natürlich kannst du was dafür! Wenn du dir bereits eine Brille geholt hättest, wäre das gar nicht erst passiert! Du denkst dir vielleicht, dass es dir selbst nichts ausmacht, wie ein Maulwurf herumzulaufen, aber hast du schon mal an andere gedacht?« Bei dem Satz musste Charlotte tief schlucken. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Klaus fort: »Vermutlich nicht. Deine Freundinnen waren heute auch schon ziemlich angepisst deswegen.« Damit brachte er sie allerdings noch mehr in Rage. »Was mit Eileen und mir ist, hast du überhaupt nicht zu beurteilen! Und belausch uns gefälligst nicht! So was macht man nicht!«, konterte sie. »Tss«, machte Klaus. »Belauschen? Ich sitze direkt hinter euch. Selbst wenn ich mir die Ohren zuhalte, kriege ich euer Geschrei mit. Jedenfalls verspreche ich dir, dass du bald sehr einsam sein wirst, wenn du so weitermachst. Zumindest, wenn dich vorher nicht ein Auto überfährt, da liegen die Chancen hoch.« Eiskalt rückte er sich die Brille zurecht, schob sie zurück auf ihren angemessen Platz. Charlottes Stimmung kippte, ihr Tonfall wurde leiser und bedachter, als sie antwortete: »Wow. Dir macht's wohl Spaß, auf mir rumzuhacken. Fühlst dich jetzt wie was Besseres, mmh?« »Ich hacke nicht auf dir rum, sondern offenbare dir, wie dein Verhalten auf andere wirkt. Immerhin hast du nicht nur meine Tasche, sondern auch meine ganzen Bücher und Aufzeichnungen ruiniert und entschuldigst dich nicht mal dafür ... Huh?« Klaus hatte den Kopf angehoben, weil seine Mitschülerin seltsame Laute von sich gab. Sie wimmerte. Grübchen hatten sich auf ihrem Kinn gebildet und ihre Augen schimmerten feucht. »Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin. Und ich wollte dich garantiert nicht in meine Pannen mitreinziehen. Aber dein besserwisserisches Getue kannst du dir sonstwohin stecken! Ich erlaube dir nicht, über meinen Charakter zu urteilen! Du kennst mich überhaupt nicht!« Eine einzelne Träne kullerte über ihre linke Wange. Obwohl Klaus sah, dass Charlotte sichtlich mitgenommen war, konnte er sich sein Gegenargument nicht verkneifen, dafür hatte sie ihn zu sehr aufgeregt: »Okay. Du hast Recht, ich kenne dich nicht. Alles, was ich weiß ist, dass ich mir dank dir jetzt neue Bücher kaufen kann. Herzlichen Dank dafür. Mehr muss ich über dich auch nicht wissen.« Mit diesen Schlussworten wollte er an ihr vorbeiziehen, aber sie ließ ihn nicht. Charlottes Finger krallten sich an seinem Oberarm fest. »Ich werde die Sachen ersetzen«, sagte sie plötzlich. Vergrub die Finger tiefer in dem Ärmel seiner schwarzweißen Collegejacke. Sie zitterte dabei. »Sag mir nur, wieviel.« Dieses Mädchen verblüffte Klaus. »Schon gut. Lass stecken«, meinte er schließlich und tat einen Schritt vorwärts, sodass sie ihn loslassen musste. »Kauf dir von dem Geld lieber eine gute Brille.« Und das war sein letztes Wort.   -o-o-     So kam es, dass Charlotte ein paar Tage später zu einem Termin beim örtlichen Augenarzt eingeladen war. Sie bibberte, und das nicht, weil sie nur eine Weste mit Fellkragen über einem T-Shirt trug, nein. Vor der Praxis bekam sie die weichen Knie ganz allein aus Furcht heraus. Sie musste sich regelrecht dazu durchringen, das Gebäude zu betreten. »Bitte, bitte, lieber Gott! Mach, dass ich keine Brille brauche!« Ob das Stoßgebet etwas nutzen würde? Charlotte würde es bald erfahren. »Guten Tag, haben Sie einen Termin?«, begrüßte die Empfangsdame sie freundlich. »Ja! Fetzer, um 15 Uhr ... « »Ah ... ja, da haben wir es! Bitte nehmen Sie im Warteraum Platz.« Die folgenden fünfzehn Minuten vergingen zäh und quälten Charlotte zutiefst. Noch mindestens fünfmal betete sie zum Herrn, er möge ihren Wunsch erhören, ihr keine Brille zu bescheren. Dann endlich riss eine Assistenzärztin sie aus ihren Gedanken: »Frau Fetzer? Sie können mit mir mitkommen. Der Doktor kommt dann gleich.« Die junge Frau in weißer Bluse begleitete sie zum Patientenstuhl im Arztzimmer. Dort standen neben einem Glas Gummibärchen allerlei lustige Geräte herum. Wackelbilder, eine Sehtafel und ein Augenmodell, das wenn man es anstieß, lustig auf und ab wippte. Es hörte gar nicht mehr auf sich zu bewegen. Gruselig starrte der Augapfel Charlotte an. Verlieh ihr ein ungutes Gefühl. »Unheimliches Ding. Was der Doktor wohl für einer ist?« Da wanderte die Türklinke nach unten, ein großer Mann im weißen Kittel betrat den Raum. Das, was Charlotte sofort an dem Arzt bemerkte, war seine rechteckige, dünn gerahmte Brille. Sie zog nervös die Luft ein. »Oh nein! Er trägt eine Brille – das ist ja schon mal ein schlechtes Omen!« »Guten Tag, ich bin Dr. Guggenmoos. Wie kann ich dir helfen?« Der Brillenträger mit den kurzgeschorenen, blonden Haaren streckte ihr höflich die Hand aus. Charlotte nahm an und schüttelte sie. Stammelnd brachte sie hervor: »Äh ... also ... ich ... Ich will einen Sehtest machen ... « Dr. Guggenmoos zückte seinem Zeigestab und deutete auf die Sehtafel auf der gegenüberliegenden Wand. »Alles klar. Dann lies mal vor!« Wie im Matheunterricht kniff Charlotte die Augen zusammen, um einigermaßen klar sehen zu können. »S ... A ... 8 ... B1 ...6 ...4?«, antwortete sie. »Du bist also hier, weil du eine Sehschwäche hast«, stellte der Doktor aufgrund ihrer Antwort fest. In der ersten Zeile stand nämlich in Wirklichkeit »ABC1D3E«. »Dann schauen wir mal, welche Stärke du brauchst.« Charlotte klappte die Kinnlade herunter. »Warten Sie! Heißt das, ich brauche eine Brille?!« Aus einer Schublade holte der Doktor ein Brillengestell mit auswechselbaren Gläsern hervor. »Das fragst du noch?« Das Mädchen schniefte. Bevor sie ein Theater veranstalten konnte, kam der Augenarzt auch schon mit dem Gestell auf sie zu, setzte es ihr vorsichtig auf die Nase. »So, gib Bescheid, wenn du scharf siehst«, brabbelte er und wechselte die Probegläser aus, noch während die Brille auf Charlottes Nase lag. Beim dritten Versuch verschärfte sich ihre Sicht. »Wow! Ich sehe alles in HD!«, staunte sie. »Sieht aus, als hättest du Minus 3,25 ... «, meinte Dr. Guggenmoos nur. » ... «, äußerte Charlotte ihre Begeisterung darüber. Da schob sich der Augenarzt seine Rechteckbrille zurecht. Irgendwie kam ihr die Geste bekannt vor. »Hast du überhaupt noch die Hand vor Augen gesehen?«, ermahnte er sie schließlich. »Übrigens: Das kommt davon, wenn man in jungen Jahren zu viel und zu lang vor dem Bildschirm hockt.« Unwillkürlich musste Charlotte an die letzte Woche denken – vor lauter Liebeskummer hatte sie sich wohl mit ihrem Serienmarathon die Augen ruiniert. »Oweia. Und jetzt werde ich deswegen niemals eine Chance bei Tassilo haben!« Gleichzeitig panisch, wütend, traurig und enttäuscht zu sein, war gar nicht so einfach, aber Charlotte kriegte das locker hin. Der Doktor bemerkte ihr zermürbtes Gesicht zwar nicht, aber lieferte dafür einen schier unbezahlbaren Tipp, der der Schülerin neue Hoffnung schenkte: »Jedenfalls brauchst du eine Brille. Oder Kontaktlinsen.«   -o-o-     Glücklich summend lief Charlotte aus der Praxis heraus. Ihr Plan stand fest: Mit dem Wisch vom Doktor holte sie sich Kontaktlinsen! Damit wäre sie ihre Sehschwäche ein für alle Mal los, und das, ohne sich optisch verunstalten zu müssen. Gerade wollte sie sich auf den Weg zum Optiker machen, als ihr ein bekannter Lockenkopf entgegen kam. Offensichtlich mit dem Willen, ebenfalls die Augenarztpraxis zu betreten. »W-was machst DU denn hier?!«, riefen sie beinahe synchron aus. Klaus fasste sich als Erster wieder und grinste überlegen. »Aha, verstehe! Du hast zur Abwechslung mal auf mich gehört und holst dir eine Brille! Brave Charlotte!« Der Kommentar brachte sie zum Grummeln. »Nur zu deiner Info: Ich hole mir Kontaktlinsen. Und deine Sachen kriegst du trotzdem ersetzt! Was machst du eigentlich beim Augenarzt, Glasauge?« »Ich wohne hier.« »Hä? Hier?« Verblüfft sah sie nach links und rechts, doch überall um sie herum befanden sich nur andere Geschäfte. Ein Juwelier, ein Dönerstand und ein Buchladen. Da zeigte er hoch in den Himmel. »Da oben!« Sie folgte seinem Blick, er deutete direkt auf die Augenarztpraxis. »Huh? In der Praxis?!« »Schwachsinn. Darüber!«, klärte Klaus sie endlich auf. Und Charlotte verstand. »Warte, über der ... Halt! DU bist der Sohn von meinem Augenarzt?!«, erschrak sie. »Du hast es wohl nicht so mit Namen, was? Und warum schockiert dich das so? Was macht dein Vater denn von Beruf?«, konterte der Sechzehnjährige. Einen Moment lang schwieg Charlotte. Einen flüchtigen Moment nur. Dann begann sie zu strahlen, als gäbe es kein Morgen. Sie lächelte, und ihr Lächeln haute Klaus um. »Hach weißt du ... mein Vater ist von Beruf Arschloch.« Ihre Worte passten überhaupt nicht zu ihrem fröhlichen Gesichtsausdruck. Einfach überhaupt nicht. Er begann, sich Sorgen zu machen. Hatte Charlotte womöglich einen Vaterkomplex? »Also ich muss dann los, bevor der Optiker zumacht. Ciao!« »Ciao.« Immer noch baff von ihrer Reaktion stand er da und sah ihr nach, wie sie im Getümmel der Innenstadt verschwand.   -o-o-   Hoffnungsvoll hastete Charlotte durch die Straßen. »Ich hole mir Kontaktlinsen, ich hole mir Kontaktlinsen!« Sie hatte wirklich gute Laune. Die solange hielt, bis sie das Schild über dem größten Optikerladen in Mettlingen las: »Ja zur Brille«. Augenblicklich schwang ihre Stimmung um. »Bitte, lieber Gott, lass das kein schlechtes Omen sein!« Charlotte schluckte kurz, nahm sich zusammen und stapfte mutig zum Tresen. Immerhin wusste sie genau, was sie wollte! »Willkommen, was kann ich für Sie tun?«, begrüßte sie eine bebrillte Frau mit langen, dunklen Haaren und geradem Ponyhaarschnitt. Der gelbe Rollkragenpullover in Kombination mit dunkelblauer Cordhose schrie nach modischer Vergewaltigung, weshalb Charlotte versuchte, nicht genau hinzusehen, um sich vor Augenkrebs zu schützen. »Ich, ich hätte gerne Kontaktlinsen!« Aufgeregt überreichte sie der Optikerin ihr Rezept. »Alles klar ... « Die Brillenträgerin tippte gab etwas in den Kassencomputer ein und teilte ihr anschließend mit: »Bei dieser Stärke wären das ... 120 Euro für eine Halbjahrespackung.« Game over. Die ganze Zeit über war die Angst des Mädchens begründet gewesen – denn die Kontaktlinsen konnte sie sich definitiv abschminken. Jetzt, wo sie den Preis dafür kannte. Mit einem schiefen, gespielten Lächeln rang Charlotte sich trotz aller guten Vorsätze zu folgenden Worten durch: »Hach wissen Sie, vielleicht schaue ich mir vorher doch noch mal ein paar Brillen an ... « »Eine gute Entscheidung!«, fand die gelbe Rollkragenpullover-Trägerin. »Auf dieser Seite hier sehen Sie unsere Trendmodelle!« Mit einer schwungvollen Armbewegung präsentierte sie das angesprochene Regal. Eigentlich hasste sie sich nun selbst, dafür, dass sie sich tatsächlich zum Kauf einer Brille herabließ, so wie Klaus es vorgeschlagen hatte. Aber dann fand Charlotte ihre große Ausnahme unter den Brillen. »Oh, die ist aber schön!«, sagte sie und nahm ein Modell mit dickem, schwarzem Rahmen in die Hand. »Das ist eine aus der Serie von Ralf Lorenzo, die gerade sehr in Mode ist«, erläuterte die Optikerin und kratzte sich am bedächtig am Kinn. »Wollen Sie sie anprobieren?« Da musste die Jugendliche nicht lang fackeln. Gemeinsam steuerten sie den Spiegel an, sodass sie ihr neues Brillen-Ich betrachten konnte. Es sah umwerfend aus. Die Form der schwarzen Rahmen verlieh Charlotte in Kombination mit ihrem Dutt einen schicken Sekretärinnen-Look, der mehr Hot als Not wirkte. »Die nehme ich!«, sprudelte es aus ihr heraus. »Das macht 350 Euro!«, sagte die Optikerin strahlend. Sie schien froh darum, eine so teure Brille vermittelt zu haben. Leider machte das Charlotte überhaupt nicht froh. Sie schniefte. Der Traum von der Ralf-Lorenzo-Brille zerplatzte augenblicklich. »Ach, wissen Sie was ... ich glaube, ich habe meine Entscheidung zu schnell gefällt – was wäre denn ihr günstigstes Modell?«, fragte das Mädchen piepsig. Da leckte sich die Rollkragenpulloverfrau über die Lippen und führte Charlotte zu einem Regal ums Eck. Dort zeigte sie auf eine kreisrunde Brille mit einem dünnen, goldenen Rahmen. »Dieses hier. Sie müssen nur die Gläser zahlen, das Gestell gibt es sogar umsonst!« Es tat Charlotte in der Seele weh, aber sie musste es sagen: »Die nehme ich ... aber diesmal wirklich.«   -o-o-   Missmutig guckte Charlotte ein paar Tage später an dem Schulgebäude hoch, das sie gleich betreten würde. Auf der Nase saß ihre neue Brille mit den kreisrunden Gläsern. Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass ihre Klasse sie auslachen würde – und zwar weitaus heftiger als Streber-Klaus, als dieser neulich vom Stuhl gefallen war. Ein Unfall. Genau das war Charlottes Gesicht nun. »Ich werde da jetzt reingehen ... « Im Klassenzimmer angelangt provozierte sie genau die Reaktion, die sie die ganze Zeit über gefürchtet hatte. Ihre Mitschüler brachen in schallendes Gelächter aus. »HAHAHAHA!« »Wie sieht die denn aus?!« Deprimiert und gedemütigt schlenderte Charlotte an ihren Platz. »Ich geh sterben ... « Da erkannte sie auf halbem Wege, dass es eine Person gab, die sie nicht auslachte. Sondern ihr ermutigend ein Daumenhoch zeigte und lächelte. Klaus. Ein leises Lächeln huschte über ihre Lippen bei seinem Anblick. Dann richtete sie ihre Körperhaltung auf, schritt sicherer als zuvor den Weg zu ihrem Tisch entlang und ließ sich auf den dazugehörigen Stuhl plumpsen. Danach kruschtelte sie aus ihrer gestreiften June-Tasche einen weißen Umschlag heraus. Ohne, dass es jemand außer ihm bemerkte, schob sie diesen auf Klaus Tisch unter seinen Ordner. Der Lockenkopf wunderte sich zwar, doch bevor er Charlotte auf das Kuvert ansprechen konnte, kamen ihre Freundinnen herein. Von hinten fasste Eileen ihr an die Schulter, was Charlotte erstmal erschreckte. »Waah! Eileen!« »Du hast gar nicht erzählt, dass du eine Brille bekommst!«, meinte Milou, die sich neben sie stellte. Eileen grinste feixend. »Hattest du etwa Angst, wir könnten es rumerzählen? Tassilo zum Beispiel?«, stichelte sie. »N-nein! Quatsch! Ich war erst letzte Woche beim Arzt!«, verteidigte sich Charlotte. »Und Moment – was heißt hier ‚wir'?!« Prompt lief Milou rot an. »Also ... äh ... Eileen hat es mir erzählt. Aber sei ihr nicht böse, Charlotte!« Sie hatte es gewusst. Eileen konnte einfach niemals nie ihre Klappe halten.   -o-o-   Während die Mädchen redeten, öffnete Klaus sanft den Briefumschlag. Darin lagen Geldscheine – hundert Euro um genau zu sein. Dabei eine kurze Nachricht: »Ich hoffe das reicht. – Charlotte«. Klaus schmunzelte. »Charmant wie immer.« Dann sah er wieder zu der frisch gebackenen Brillenschlange, die aufgeweckt mit Eileen diskutierte.   -o-o-   »Reg dich wieder ab. Ich hab es nicht so vielen Leuten erzählt, dass du in Tassilo verliebt bist, und Milou ist ja wohl mehr als okay«, argumentierte diese. »WIE VIELEN LEUTEN HAST DU DAS DENN ERZÄHLT?« Charlotte tickte dezent aus. »Mmmh ... ich zähle nicht so gerne Menschen ... « Unbeeindruckt vom Tonfall ihrer Freundin steckte Eileen sich den kleinen Finger ins Ohr. »Oh Mann Eileen! Das war geheim und geht niemanden etwas an!«, maulte Charlotte. »Ups.« »Nnnghh ... « Die Brillenschlange mit dem Kupferdutt blies Trübsal. »Bestimmt weiß es jetzt die ganze Klasse.« »Vielleicht muntert dich ja auf, was Milou in Erfahrung gebracht hat.« »Und was ... ?«, fragte Charlotte gereizt. Eileen zwinkerte ihr zu. »Angeblich ist jetzt raus, wer das Mädchen war, das Tassilo gekorbt hat.« Augenblicklich besserte sich Charlottes Stimmung. »Waaas, wirklich?! Und wer ist es ... ?« Geheimnisvoll winkte Milou die Freundinnen an sich heran und wisperte: »Eine gewisse Anna Marbach ... «   Hosted by Animexx e.V. 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