The great talent of always making things more complicated von Sopha ================================================================================ Kapitel 1: American stories --------------------------- ~22. Januar~ Tai hatte es gar nicht so kalt in Erinnerung gehabt, aber jetzt, wo er hier auf seinem Fahrrad saß, erfror er fast in seiner Daunenjacke und der dünnen, schwarzen Hose der Schuluniform. Die Winterferien waren vorbei, und die zwölfte Stufe – er also auch – versuchte nun, das Beste aus ihnen herauszuholen, um ein gutes Abschlusszeugnis zu bekommen. Nur, um danach noch überhaupt nicht zu wissen, was man mit seinem Leben anfangen sollte. Zumindest Tai hatte auch in den Ferien nicht die Erleuchtung gefunden. Er wollte gerade in Richtung Fahrradständer fahren, als er er plötzlich die Kontrolle über sein Rad verlor und kurz darauf am Boden lag. „Au“, stöhnte er und fasste sich sofort das schmerzende Knie. Warum hatte die Fahrradwege auch niemand gestreut, damit man sich nicht sofort mit dem Fahrrad ablegte? „Ich hab dich gefragt, ob ich dich abholen soll, aber wie immer warst du viel zu stolz“, hörte er plötzlich eine ihm nur all zu bekannte Stimme, und als er sich umdrehte, sah er seinen besten Kumpel Matt, der ihn höhnisch angrinste, und seinen Motorradhelm vom Kopf zog. „Wenn du mit deinen 120km/h die Straßen entlangdonnerst, leg' ich mich gerne freiwillig mit dem Fahrrad ab“, murmelte Tai. Matt streckte eine Hand aus, und half seinem Kumpel hoch. „Die Straßen sind frei. Die Radwege allerdings nicht.“ „Und trotzdem bist du sehr viel schlimmer dran als ich, sobald du einmal einen Unfall baust.“ Das wollte Matt nicht weiter bestreiten, aber er hatte mittlerweile keine Lust mehr, sich von Leuten anzuhören, was er alles falsch machte. Er hatte seinen eigenen Kopf, und das wusste auch Tai, ob es nun gut für Matt war, oder nicht. „Und, bist du deinen Zukunftsaussichten schon näher?“, fragte er schließlich, um mehr oder weniger elegant vom Thema abzulenken. Tai seufzte. „Nee, keinen Plan. Was ist denn mit dir? Hast du mittlerweile eine Rückmeldung von deinem Ausbildungsplatz?“ „Ja, in ein paar Wochen hab ich mein Vorstellungsgespräch“, erwiderte Matt nickend. „Wow, Glückwunsch!“, stieß Tai aus, doch gleichzetig wurde der Druck immer größer, auch endlich zu wissen, was er nach der Schule machen wollte. Die Stelle für die Ausbildung bei einem der größten Plattenlabels Tokios war schon seit Langem Matts Traum gewesen, und natürlich freute Tai sich für ihn. Es musste sich schön anfühlen, vielleicht bald seine eigenen Träume zu verwirklichen – aber dafür müsste man wahrscheinlich erst einmal welche haben. „Vielleicht hilft mir ja heute auch der Test weiter...“ Heute stand nämlich ein Berufsfindungstest an, der einem dabei weiterhelfen sollte, was man später machen sollte. „Dafür ist er da“, antwortete Matt, und überlegte kurz. „Obwohl, all zu viel Hoffnung würde ich da vermutlich nicht reinsetzen. Der letzte Test hat mir gesagt, ich solle Lehrer werden...“ „Warum eigentlich nicht? Du bist doch schlau.“ „Ich hasse Menschen“, sagte Matt schließlich so stumpf, dass Tai belustigt schnaubte. „Und außerdem wärst du wahrscheinlich ein Lehrer, der etwas mit seinen Schülerinnen anfängt“, ergänzte Tai grinsend. Bevor Matt sich dazu noch in irgendeiner Weise äußern konnte, klingelte es bereits, und die beiden liefen zu dem Raum, in dem sie diesen Test ausfüllen würden. - „Ich sehe schrecklich aus!“, rief Mimi theatralisch, als sie einen Blick in den Rückspiegel warf. Die Schuluniform, die sie trug, bestand aus einem himmelblauen Blazer, einem dunkelblauen Rock und einer weißen Bluse mit Krawatte. Sie hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt, aber vermutlich konnte nicht jede Schuluniform so aussehen wie in den ganzen britischen Teenie-Romanzen. „Aber nein, Mimi, du siehst wundervoll aus“, erwiderte ihre Mutter sofort auf dem Fahrersitz. „Deine Meinung ist ja auch ziemlich subjektiv“, erwiderte Mimi seufzend. „Was ist denn, wenn sie mich alle längst schon vergessen haben? Wenn ich glaube, alles könnte wieder so werden wie früher, und in Wahrheit wird alles total anders -“ „Du machst dir viel zu viele Sorgen, Schatz“, kürzte ihre Mutter ab, und lächelte sie aufmunternd an. Mimi atmete tief ein und aus, und verließ dann den Wagen mit einem „Bye, Mum“. Sofort stand sie vor der Odaiba High School, einer modernen, aber riesigen Schule, in der sie sich bestimmt verlaufen würde. Ihr Weg führte sie zu dem Raum 3-12, und sie klopfte nervös an. Der Lehrer öffnete den Raum, und sofort befand Mimi sich im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit. „Das hier ist eure neue Mitschülerin“, stellte der Lehrer sie vor, und wandte sich dann an sie. „Du kannst dich doch bestimmt selbst vorstellen, oder?“ „Natürlich.“ Sie amtete tief ein und aus, um dann genug Luft zu haben für den darauf folgenden Redeschwall: „Ich bin Mimi Tachikawa, und bin vor vier Tagen aus New York wieder zurück nach Tokio gekommen. Eigentlich aber bin ich Japanerin und bin auch hier aufgewachsen, weshalb einige mich vielleicht noch kennen...“ Sie sah in die Runde, und schrie fast vor Freude auf, als sie Izzy entdeckte, den kleinen Computernerd, der schon früher immer in ihrer Stufe, und außerdem in ihrer Clique gewesen war. Er starrte sie aus weit aufgerissenen, dunklen Augen an. „Du darfst dir gerne einen Sitzplatz aussuchen, Mimi“, gab ihr Lehrer zu bemerken. Mimi ließ sich das nicht zweimal sagen, sondern marschierte schnurstracks auf den leeren Stuhl neben Izzy zu. „Hey“, begrüßte sie ihn fröhlich grinsend. „Hey“, erwiderte er mit offensichtlich immer noch anhaltender Überraschung, „Ich wusste gar nicht, dass du wiederkommst...“ „Sollte auch ne Überraschung werden.“ „Überraschung geglückt, würde ich sagen“, sagte er lächelnd. Mimi wusste gar nicht, worüber sie zuerst mit ihm reden sollte Es war so viel Zeit vergangen, aber offensichtlich erinnerte er sich noch gut an sie, und er hatte sich äußerlich auch kaum verändert: Er war noch immer klein und sein rotes Haar stand ungebändigt in alle Richtungen ab. Ob Mimi sich selbst genauso wenig verändert hatte? Wenn ja, dann hätte sie es nicht mitbekommen. „Es ist so krass, wieder hier zu sein!“, sprudelte es schließlich weiter aus Mimi heraus. „Weißt du, Amerika ist zwar cool, aber Japan ist immer noch das einzige Land, wo ich mich so richtig wohl fühle. Außerdem gibt es in Amerika so viele Klischee-Schlampen und komische Leute... ich meine, die gibt es hier auch, aber die meisten hier sind anständig!“ Selbst, wenn Izzy es gewollt hatte, wäre er nicht dazwischengekommen. Mimi schien sich in dieser Hinsicht nicht geändert zu haben, denn früher schon hatte sie reden können wie ein Wasserfall. „Miss Tachikawa“, hörte Izzy plötzlich eine Stimme, die ausnahmsweise definitiv nicht zu Mimi gehörte, und sah, dass ihr Lehrer Sensei Tamagaki zu ihnen herübersah. „Wie wäre es, wenn Sie sich mal über Stochastik, anstatt über Ihre Erlebnisse aus den Staaten unterhalten?“ Mimi lief knallrot an, und wandte sich auf einmal wieder der Tafel zu. Zumindest für den Rest der Stunde hatte man sie zum Schweigen gebracht. - „Dad?“, fragte Matt, nachdem er verwundert festgestellt hatte, dass die Wohnungstür offen gewesen war. Normalerweise arbeitete sein Vater nämlich um diese Uhrzeit, aber nur er und Matt hatten einen Schlüssel für die Wohnung. Als er allerdings keine Antwort erhielt, lief er misstrauisch weiter durch die Wohnung. Entweder, er hatte die Tür heute morgen versehentlich aufgelassen – was ihm allerdings nie passierte – oder aber, er hatte einen Einbrecher in der Wohnung. Es war keins von beidem der Fall, wie er wenig später feststellte, als er eine Frau auf dem Sofa liegen sehen sah. Offensichtlich schlief sie, aber er hatte keine Ahnung, wer sie war. Ihr langes, braunes Haar hatte sich auf einem der Sofakissen ausgebreitet und sie trug einen schwarzen Rock, der ein wenig hochgerutscht war, und eine weiße Bluse. Matt schätzte sie auf vielleicht Anfang dreißig. Für einen Moment überlegte er, ob er sie wecken sollte, doch dann öffnete sie von selbst ihre Augen. „Oh, tut mir leid“, war das Erste, was sie sagte, bevor sie sich blitzschnell aufrichtete. „Eigentlich wollte ich hier nicht einschlafen...“ „Können Sie mir vielleicht mal sagen, wer Sie sind?“, fragte Matt verwirrt, der zugegebenermaßen etwas überfordert war. Normalerweise blieb er immer ruhig, egal, was los war, aber eine fremde Frau in seiner Wohnung war ihm auch noch nicht untergekommen. Zumindest nicht, wenn er sich sicher war, dass er definitiv nicht zu viel am Vorabend getrunken hatte. Die Frau lächelte. „Ja, natürlich. Ich bin Megumi Kisaga, und ich habe deinen Vater vor drei Wochen auf einer Party kennengelernt.“ Matt konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater ihm jemals etwas von seiner neuen Freundin erzählt hatte, aber das kam wahrscheinlich daher, dass sowohl Matt, als auch sein Dad selten zu Hause gewesen waren. „Okay“, sagte Matt schließlich langsam, obwohl das alles für ihn immer noch keinen Sinn ergab. „Ich bin Matt.“ Die Frau lächelte. „Ich weiß, Hiroaki hat mir schon sehr viel von dir erzählt.“ „Von Ihnen allerdings hat er mir gar nichts erzählt.“ Sie lachte, und Matt musste zugeben, dass sie außerordentlich hübsch war für ihr Alter. Die Frauen, die sein Vater sonst gelegentlich nach Hause gebracht hatte, hatten nicht so ausgesehen – aber sie waren auch nie so jung gewesen. „Du musst mich nicht siezen. Tut mir übrigens leid, dass ich hier einfach mehr oder weniger eingebrochen bin, ohne, dass du bescheid weißt, aber Hiroaki hat mir den Schlüssel für die Wohnung gegeben, und gesagt, ich solle einfach warten, bis er wiederkäme. Ich komme nämlich aus Osaka – der Weg ist ein bisschen weiter.“ Matt kämpfte gegen den Drang an, in die Schubladen zu gucken, um zu überprüfen, ob all das angesparte Geld und die Kreditkarten noch da waren. „Das stimmt“, sagte er schließlich langsam, und beschloss, diese Frau nicht aus den Augen zu lassen, bis sein Vater wiederkäme. Er vertraute selten fremden Frauen, erst recht dann nicht, wenn sein Vater kein Wort über sie verloren hatte, und er ihr angeblich den Wohnungstürschlssel gegeben hatte. Normalerweise gab er seinen Affären nämlich niemals Schlüssel für irgendwas. „Sie – äh, du – weißt aber hoffentlich schon, dass Papa bis sieben Uhr arbeiten muss, oder?“, fragte er schließlich mit gehobener Braue. Um nicht noch zu erwähnen, dass er bei seinen Überstunden meistens bis halb neun auf der Arbeit festsaß, und dann am Abend zu so ziemlich nichts mehr fähig war. Sie lächelte, und antwortete nur: „Er hat mir gesagt, er würde früher Schluss machen.“ Matt starrte sie an. Wenn sie seinem Dad wichtiger war, als seine Arbeit, musste es ernst sein. Nicht einmal an Matts Geburtstag hatte sein Vater eher von der Arbeit gehen oder geschweige denn sich sogar freinehmen können. „Wir können uns so lange auch gerne unnterhalten“, schlug sie schließlich vor. „Du spielst doch Gitarre, oder? Hiroaki hat es mir erzählt.“ „Äh, ja“, bestätigte Matt, und musterte sie eindringlich. „Aber in einer Rockband. Keine Musik für alte Leute.“ Er hatte eigentlich gedacht, damit wäre er sie losgeworden, doch sie lachte nur. „Oh, sehe ich so alt aus?“, fragte sie gespielt beleidigt. Nein, das tat sie nicht. Sie schien sogar viel zu jung für seinen Vater zu sein. Matt musterte sie eindringlich. „Kommt drauf an, wie alt du bist.“ „Sechsunddreißig.“ Wie sechsunddreißig sah sie tatsächlich nicht aus, sondern eher wie Ende zwanzig. „Aber du hast recht, mit Rockmusik habe ich es tatsächlich nicht so“, sagte sie schließlich, und lächelte amüsiert. „Auf Rockkonzerten würde ich Angst haben, niedergetrampelt zu werden.“ Matt schnaubte. „Auf was für Konzerte gehst du denn so?“ „Jazz. Soul. Klassik. So ziemlich alles, nur kein Rock“, sagte sie schließlich. „Aber ich mache eher Musik selber, als dass ich sie höre. Ich singe ganz gerne und spiele Klavier. Hast du noch andere Fragen?“ Was zur Hölle findest du attraktiv an meinem Ende 40-jährigen, überarbeiteten Vater?, fiel Matt spontan ein, doch er verkniff sich die Frage lieber. In diesem Moment ertönte sowieso das Nachrichten-Signal seines Handys, und er zog es aus seiner Hosentasche. „Von deiner Freundin?“, fragte Megumi grinsend. „Nein“, erwiderte Matt, doch er musste zugeben, dass diese Nachricht zugegebenermaßen sehr interessant war. Izzy hatte nämlich geschrieben: „Hey Leute, Mimi ist wieder da! Treffen heute um 17:00 Uhr bei mir Zuhause. - Sie saßen zusammen in Izzys eigentlich viel zu kleinem Zimmer, und in der Mitte saß Mimi, die alle der Reihe nach angrinste, weil sie sie zu lange nicht mehr gesehen hatte. Jeden hatte sie auf seine eigene Art und Weise vermisst, aber sie wollte nicht schon ihre Geschichten erzählen, bevor nicht alle da waren. Als sie Schritte vor der Tür hörten, sprang Mimi wieder auf, und raste zur Tür, bevor Sora und Tai überhaupt den Raum betreten hatten. Stürmisch umarmte sie ihre ehemals beste Freundin. „Sora!“, rief sie, „Ich hab dich so vermisst!“ „Ich dich auch“, gab sie lachend zu, denn sie musste zugeben, dass es ohne Mimi irgendwie leise gewesen war. Sicherlich würde sich mit ihrer Ankunft noch so einiges ändern. Tai räusperte sich lautstark, um darauf aufmerksam zu machen, dass er auch noch da war. Sofort umarmte Mimi auch ihn, wenn auch nicht ganz so euphorisch wie es bei Sora der Fall gewesen war. Nachdem sie sich alle hingesetzt hatten, stellte Tai fest: „Hey, es fehlen ja noch Matt und Joe...“ „Joe hat sich bei mir abgemeldet, da er es wegen der Uni nicht schafft“, meldete Izzy sich zu Wort, und sah dann zu T.K. Herüber. „Weißt du zufällig, warum dein Bruder nicht kommt?“ „Nein, aber wahrscheinlich war ihm die Bandprobe mal wieder wichtiger“, murmelte T.K., und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern. „Das glaube ich nicht“, sagte Sora mit gerunzelter Stirn, „Nichts wäre ihm wichtiger, als seine Freunde...“ Mimi hob schließlich die Schultern. Dass Matt und Joe fehlten, war schade, aber nichts, was sie davon abhalten würde, ihre Geschichten zu erzählen. Zumal sie die beiden sowieso früher oder später sicherlich sehen würde. Sie fing also an, von Amerika zu erzählen, und davon, was sie dort erlebt hatte. Die anderen hörten ihr andächtig zu, während Mimi über ihre Beziehung mit Michael erzählte, die sie aber abgebrochen hatte, weil sie keine Fernbeziehung gewollt hatte, und generell vom Alltag an einer amerikanischen Schule. Als sie schließlich am Ende ihrer Erzählungen angelangt war, schenkte sie sich erst einmal ein Glas Wasser ein, welches sie innerhalb weniger Sekunden leer exte. Das Wasser hatte sie auch dringend nötig gehabt, um ihre Kehle zu befeuchten, denn geschlagene zwanzig Minuten hatte sie ununterbrochen geredet. „Jetzt erzählt mal, Leute! Was ist so bei euch passiert?“, fragte sie, und sah neugierig in die Runde. Die Freunde sahen sich schweigend an. Keiner von ihnen hatte so etwas wie Mimi erlebt – an ihrer Schule gab es keine Schüler-Lehrer-Affären, keine Drogenskandale und erst recht war niemand von ihnen schwanger geworden. Bevor das allerdings jemand Mimi beichten konnte, hörten sie Schritte im Flur, und kurz darauf stand ein großer, blonder Junge im schwarzen Nirvana-Pulli und zerrissener Jeans im Zimmer. „Matt!“, schrie Tai fast erleichtert auf, „Du kommst gerade richtig, denn wir reden über Skandale. Willst du uns nicht etwas von deinem letzten Wochenende erzählen?“ Matt hob verwirrt eine Braue, und erwiderte dann: „Wo soll ich denn anfangen? Dabei, dass ich dich mal wieder nach Hause bringen musste, weil du zu betrunken warst, um den Weg zurückzufinden?“ Die Freunde lachten, und Tais Wangen röteten sich leicht vor Scham. Sofort sprang Mimi auf, und umarmte auch Matt, so, wie sie es bei jedem getan hatte. „Schön, dich auch mal wiederzusehen!“, begrüßte sie ihn. „Gott, du bist so groß geworden... und so gut aussehend!“ Matt lächelte, denn sicherlich bildete er sich mittlerweile nichts mehr darauf ein, wenn ihn jemand als 'gut aussehend' bezeichnete. Es waren zu viele Menschen, die ihm das bereits mitgeteilt hatten. „Danke, Tachikawa. Wo sind eigentlich deine pinken Haare geblieben?“, fragte er, denn bei ihrem letzten Besuch in Japan hatte Mimi sich zuvor ihre Haare pink gefärbt. „Das war nur eine Phase“, erklärte Mimi ihm. „Ich trage sie wieder natürlich.“ „Aha.“ Matt setzte sich zwischen Tai und seinen Bruder auf den Boden, welche ihn beide neugierig ansahen. Er merkte, dass er erklären musste, warum er zu spät gekommen war, und wandte sich an seinen Bruder: „Wusstest du eigentlich, dass Papa ne Neue hat?“ „Woher? Ich sehe ihn noch seltener als du!“, erwiderte T.K.. „Jedenfalls lag sie heute bei uns auf der Couch, und ich bin bei ihr geblieben, bis Papa gekommen ist.“ Tai schnaubte belustigt. „Klingt eher nach einem One-Night-Stand von dir, als nach einer Freundin deines Vaters...“ „Ja, und so sieht sie auch aus“, murmelte Matt. „Im Ernst, ich hab keinen Plan, was sie von einem Typen Ende vierzig will, der vollkommen überarbeitet ist und zwei Kinder hat, aber noch nicht einmal mit einem klarkommt...“ „Freu dich doch für ihn“, schlug Sora ihm vor. Matt zögerte. „Tu ich auch. Aber ich will nicht, dass es wieder so endet wie bei Mama, obwohl er sich solche Hoffnungen gemacht hat...“ Er sah auf, und wechselte plötzlich spontan das Thema. „Aber ist ja auch egal. Was hast du so zu erzählen, Tachikawa?“ „Oh, wehe, du fängst wieder von vorne an“, murmelte Tai. Mimi grinste, und begann tatsächlich, Matt von jedem einzelnen Detail ihres Aufenthalts in den Staaten zu erzählen. Aus dem Nachmittag wurde also später Abend und schließlich Nacht, bis sie beschlossen, nach Hause zu gehen, da sie immerhin am nächsten Tag wieder Schule hatten. Kapitel 2: No Cheerleading in Japan ----------------------------------- ~30. Januar~ „Ich hab gehört, dein Bruder hat Freitag einen Gig?“ T.K. Zuckte zusammen, als er auf einmal Kari neben sich stehen sah. Seufzend schlug er seine Spindtür zu. „Sag mir bitte nicht, dass du auch zu der peinlichen Fraktion gehörst, die während seiner Konzerte pink bemalte Plakate hochhält und sich die Seele aus dem Leib kreischt?“ Kari sah ihn belustigt an. „Also wenn dann nur, um dich zu nerven.“ T.K. Seufzte schwer, während sie nebeneinander den Korridor entlangliefen. Für ihn war es mittlerweile normal, ständig auf seinen Bruder angesprochen zu werden. Meistens waren es nur irgendwelche Mädchen, die seine Nummer haben wollten, aber ab und zu hörte er auch ziemlich merkwürdige Geschichten über Matt, die entweder Drogen, Alkohol oder Sex beinhalteten. Nur die Wenigsten von ihnen glaubte T.K., aber aus ebendiesen Gründen hatte sich das Verhältnis zu Matt fortlaufend verschlechtert. Dass sie getrennt voneinander lebten, verstärkte dies nur noch. „Wirst du denn hingehen, auch, wenn seine Fans dich nerven?“, fragte Kari schließlich. „Vielleicht. Allerdings ist der Gig im Florida, und ich hab keinen Plan, wie wir da reinkommen wollen.“ „Du kannst locker Matts Ausweis nehmen! Du siehst ihm so ähnlich...“, schlug Kari vor, doch T.K. Blieb extra stehen, um sie mit gehobener Braue anzusehen. „Oh ja, kommt bestimmt super, wenn er dann auf der Bühne steht und ich mit seinem Ausweis reingehe.“ Kari schnaubte belustigt. „Okay, sorry, blöde Idee. Aber ich will da auch irgendwie rein...“ T.K. Sah aus, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. „Gib mir ein wenig Zeit, ich denke darüber nach“, sagte er, und dann klingelte es auch schon zur ersten Unterrichtsstunde. - „Ich fasse es einfach nicht, dass es an dieser Schule keinen Cheerleading-Klub gibt!“ Wütend klatschte Mimi ihr Tablett auf den Tisch, und sofort sahen Tai, Matt und Sora verwirrt zu ihr auf, während sie sich zusammen mit Izzy zu der Clique setzte. „Bitte?“, hakte Matt verwirrt nach. Mimi begann sofort, wütend mit der Gabel auf ihre Salatblätter einzustechen. „Es gibt keinen Cheerleading-Klub!“, wiederholte sie beleidigt. „Dabei dachte ich eigentlich, die Staaten wären Japan in nichts voraus...“ „Wow, fahr' mal deine Krallen wieder ein“, gab Tai belustigt zu bemerken. „Nein!“, entgegnete sie direkt. Izzy, der Mimis schlechte Laune bereits in den Japanischstunden zuvor hatte ertragen müssen, schnappte sich seufzend ein paar Reiskörner mit seinen Essstäbchen. „Wenn es so schlimm ist, kannst du notfalls selber 'nen Klub gründen“, informierte er sie. „Aber ich habe damals damit aufgegeben, weil das so viel Papierarbeit war...“ „Was für einen Klub wolltest du denn gründen?“, fragte Mimi interessiert. „Einen Computerklub.“ Mimi verzog das Gesicht. „Also in Amerika waren die Leute aus dem Computerklub immer die Nerds, die für ewig Jungfrau bleiben würden... Jetzt nichts gegen dich, Izzy.“ „Warum willst du überhaupt in einen Klub?“, fragte Matt nun. „Sei doch froh, wenn du diese Schule so selten wie möglich sehen musst.“ Mimi runzelte verwirrt die Stirn. „Also früher waren die Leute, die keinen Klub besucht haben, immer die totalen Opfer...“ „Daran hat sich auch nichts geändert“, bestätigte Tai optimistisch grinsend. Matt seufzte schwer. „Wie wär's dann mit dem Zölibatklub?“, schlug er mit einer vor Sarkasmus triefenden Stimme vor. „Du kannst natürlich auch Matts Fanclub beitreten“, setzte Sora schnell hinterher, und grinste erst Mimi, und dann Matt an. Mimi sah verunsichert zu Matt herüber. „Den gibt es nicht wirklich, oder?“ „Erschreckenderweise schon“, murmelte dieser, und goss sich noch ein neues Glas Wasser ein. Mimi seufzte. Auf ihrer alten Schule hatte sie das Cheerleading geliebt, und es war irgendwie mit der Zeit selbstverständlich geworden, dass sie dreimal die Woche an dem Training teilnahm und am Wochenende die Basketball- und Footballspiele der Jungs besucht hatte. Allerdings lag Japan nun einmal am anderen Ende der Welt, und genau das bekam sie hier zu spüren. Matt stand schließlich auf, denn er schien sich nicht weiter das ganze Gerede über seinen Fanclub anhören zu wollen. Bevor er allerdings sein Tablett wegbrachte, informierte er seine Freunde noch: „Freitagabend, um 22:00 Uhr im Gravity. Wenn ihr nicht kommt, werdet ihr es bereuen!“ „Ich werde es eher bereuen, wenn ich komme, weil ich dann nämlich Kopfschmerzen wegen den ganzen kreischenden Mädchen haben werde“, erwiderte Tai grinsend, doch da war Matt bereits verschwunden. „Du warst trotzdem immer da“, sagte Sora schließlich. „Ja, aus Mitleid.“ „Du willst einfach nur nicht zugeben, dass du neidisch auf ihn bist“, murmelte Sora grinsend, und sah dann zu Mimi und Izzy herüber. „Ihr müsst übrigens auch kommen, alles andere wird Matt nicht akzeptieren.“ Mimi musterte Sora eindringlich. „Ist seine Band denn gut, oder wird das eher peinlich?“ Das Gespräch zwischen Sora und Tai vorhin hatte sie nämlich ziemlich verunsichert, was das anbelangte. Sora lachte. „Du solltest nicht immer auf Tai hören. Sie sind nämlich wirklich unglaublich gut... na ja, zumindest, wenn man auf Rock steht.“ Auch Sora stand nun auf, und lief Matt hinterher, dicht gefolgt von Tai. - Kari warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits eine Viertelstunde vergangen, und schon wieder hatten sie nichts geschafft. Normalerweise störte sie es nicht, aber nun würden sie in wenigen Wochen einen Tanzwettbewerb haben, und wenn sie nicht mal langsam dafür übten, würde es eine Blamage werden. Zum Glück aber schien auch ihre Trainerin das so zu sehen, da sie sich nun endlich vom Boden erhob. Bevor allerdings auch alle anderen aufstehen konnten, richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf einen Jungen, der quer durch die Halle gehuscht kam. Sofort begann die Gruppe zu tuscheln, denn es war ziemlich außergewöhnlich, dass sich jemand vom anderen Geschlecht in ihre Tanzstunden verirrte. „Entschuldigung“, sagte der Junge mit einem Lächeln, „Aber ihr seid wahrscheinlich der Tanzklub, oder?“ „Ja“, bestätigte die Trainerin Saki nickend. „Stimmt, wir bekommen heute ein neues Mitglied... allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass es ein Junge sein wird. Würdest du dich vielleicht mal kurz vorstellen?“ Die Mädchen begannen zu tuscheln, denn wie Kari zugeben musste, sah der Junge nicht schlecht aus mit seinen goldblonden Locken, den grünen Augen und den vereinzelten Sommersprossen auf seinen Wangen. Sein Teint war deutlich gebräunter als der eines durchschnittlichen Japaners, und er trug ein lässiges Tanktop und eine kurze Shorts. „Ich bin Shin Hayazaki, bin fünfzehn und komme aus Los Angeles. Meine Eltern sind Japaner, aber ich bin in Amerika geboren und aufgewachsen“, versuchte er offensichtlich, jeglichen Fragen bereits vorzubeugen. Das Tuscheln wurde lauter, bis Kari schließlich nach vorne trat. „Dann herzlich Willkommen in Japan und in unserem Klub“, sagte sie lächelnd. Shin erwiderte ihr Lächeln. „Danke.“ Kapitel 3: One night in Tokyo ----------------------------- ~02. Februar~ Izzy hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, dass es viel Papierarbeit war, einen Club zu gründen. Die letzten Tage hatte Mimi damit verbracht, Zettel vorzuzeigen, zu unterschreiben und sie irgendwelchen Lehrern in die Hand zu drücken, die mehr oder weniger für die Klubaktivitäten an der Odaiba High School zuständig waren. Glücklicherweise aber war das nun vorbei, denn nun hatte sie eine Hallenzeit zugeteilt bekommen, was sie heute ausnutzen würde. Zwar vermutete sie dunkel, dass die Lehrer einfach nur genervt von ihren täglichen Belagerungen des Lehrerzimmers gewesen waren, aber immerhin hatte sie nun früher ihr Ziel erreicht, als erwartet. Sie hatte sogar schon fünf Clubmitglieder beisammen, also die Mindestanzahl, um einen Klub an dieser Schule anzumelden. Voller Vorfreude auf die erste Stunde stieß Mimi die Tür der privaten Turnhalle der Odaiba High auf. Sie wusste schon genau, was sie den Mädchen als Erstes beibringen würde und hatte in den letzten Tagen einen Trainingsplan erstellt, wegen dem sie ihre Mathehausaufgaben deutlich vernachlässigt hatte. Es sollte aber eben alles perfekt sein, wenn sie schon so weit war, überhaupt einen solchen Klub zu starten. Mimis breites Grinsen verblasste allerdings schnell, als sie in der Halle ein paar Jungs sah. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, murmelte sie, und stiefelte geradewegs auf einen der Jungs zu, der ihr verdächtig bekannt vorkam. „Kamiya!“, schrie sie lauthals, und sofort hörte jeder auf, sich zu bewegen, und starrte sie stattdessen an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen. Mimi aber interessierte das herzlich wenig, denn im Moment ging es einzig und allein darum, ihre Halle zurückzubekommen. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“ „Tachikawa“, erwiderte Tai verwirrt, und zuckte lasch mit den Schultern. „Na, was wohl? Wir spielen Fußball.“ „Das sehe ich, aber die Halle ist heute für uns reserviert“, erwiderte Mimi stur. Einige der Jungs begannen zu tuscheln, während die wenigen Mädchen des Cheerleadingklubs peinlich berührt daneben standen und Mimi dabei zusahen, wie sie mit den Fußballern diskutierte. Tai sah erst verblüfft aus, doch dann grinste er nur sein typisches breites Vollidioten-Grinsen. „Was redest du da eigentlich? Heute ist Donnerstagnachmittag. Wir sind um diese Zeit immer hier.“ „Ich hab eine Sondergenehmigung von Direktor Yukata dafür“, erwiderte Mimi schließlich. „Ach, ja? Diese 'Sondergenehmigung' würde ich zu gerne mal sehen.“ Mimi lief rot an, aber nicht vor Scham, sondern weil Tai ihr unglaublich auf die Nerven ging. „Ich – ich habe das natürlich nicht schriftlich“, sagte sie schließlich. Tais Grinsen wurde breiter. „Natürlich nicht. Weißt du, ich hab auch eine Sondergenehmigung – aber leider auch nicht schriftlich.“ Einige Jungs begannen zu lachen. Als Mimi merkte, dass sie mit diesem Argument nicht weiterkam, versuchte sie es mit einem anderen: „Warum seid ihr überhaupt hier drinnen? Fußball spielt man doch draußen!“ „Ja, aber nicht wenn es draußen schneit und Minustemperaturen herrschen.“ „Dann müsst ihr euch eben wärmer anziehen!“ Tai hob belustigt eine Braue. Ihm schien es Spaß zu machen, Mimi so wütend zu sehen, und genau das brachte sie nur noch mehr zur Weißglut. „Wir würden uns nicht nur eine Erkältung einfangen, sondern auch noch den Platz kaputt machen. Aber weißt du was? Warum geht ihr denn nicht nach draußen, wenn ihr unbedingt einen Platz zum Trainieren braucht?“ Während Mimi krampfhaft überlegte, welches Schimpfwort sie diesem Blödmann nun am besten an den Kopf schmeißen konnte, hörte sie Yolei neben sich: „Komm, lass es gut sein... wir können ja wiederkommen, wenn sie weg sind.“ „Nein, dann ist die Halle wieder besetzt“, erwiderte Mimi, ohne Yolei dabei anzusehen. „Du bist so ein Idiot, Kamiya! Ihr habt doch schon trainiert, warum könnt ihr uns dann nicht jetzt die Halle überlassen?“ „Weil sie anderthalb Stunden lang für uns vorgesehen ist. Du kannst aber natürlich gerne mitspielen, wenn du willst!“ „Du bist so ein Arsch“, knurrte Mimi, bevor sie sich schließlich endgültig umdrehte und unter dem Gelächter der Jungs in die Umkleidekabine verschwand. - Rätselnd stand Sora vor ihrem Schrank, in dem sich die T-Shirts, Jeans und Sportklamotten häuften, aber leider nicht die Klamotten, die man anziehen konnte, wenn man am Abend mit seinen Freunden feiern ging. Plötzlich klopfte jemand an ihre Zimmertür, und kurz darauf stand ihre Mutter bei ihr im Zimmer, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sag mal, willst du noch irgendwohin?“ „Nur zu Matt auf ein Konzert“, erwähnte Sora beiläufig, während sie weiterhin in ihren Klamotten wühlte. Leider aber trug sie sehr viel lieber bequeme Sachen, als welche, in denen sie die Aufmerksamkeit auf sich zog. „Ah“, machte ihre Mutter mit ihrer typischen „der-Junge-wäre-doch-auch-etwas-für-dich“-Stimme. Wenn es darum ging, ihre Tochter an Typen zu vermitteln, gab sie wirklich nahezu alles. „Nun, Yamato ist ja schon unheimlich attraktiv. Ich hoffe, du willst dich noch umziehen!“ „Stell dir vor, ich hatte nicht vor, in Jogginghose dahin zu gehen“, murmelte Sora, genervt davon, dass ihre Mutter sich ständig in ihre Angelegenheiten einmischen musste. Tachiko trat näher an ihre Tochter heran, und fischte ein schwarzes Top mit tiefem Ausschnitt aus dem Schrank. „Wie wäre es denn damit? Das hast du noch nie angezogen!“ „Ja, das hat ja auch einen Ausschnitt bis zum Bauchnabel“, erwiderte Sora genervt. Ihre Mutter schüttelte bloß den Kopf. „So ein Quatsch. In deinem Alter kann man so etwas tragen!“ „Das sieht aber aus, als müsste ich irgendjemanden beeindrucken...“ „Das kann ja bei Yamato nun wirklich nicht schaden. Er ist ein anständiger Junge und wäre vermutlich ein sehr guter Schwiegersohn.“ Einige Sekunden wartete Sora ab, ob ihre Mutter das wirklich ernst gemeint hatte, doch offensichtlich schien sie wirklich zu denken, dass Matt außerordentlich vernünftig war. Sie wusste offensichtlich nicht, dass er bereits mit fünfzehn angefangen zu rauchen hatte, und sich so ziemlich jedes Wochenende betrank, aber das zu erwähnen, wollte Sora ihrem besten Freund nun wirklich nicht antun. „Mum, ich gehe nur auf das Konzert meines besten Freundes...“, versuchte Sora es erneut, ihrer Mutter den Stand der Dinge zu erläutern, doch offensichtlich redete man da bei ihr gegen eine Wand. „Das schließt ja nicht aus, dass aus Freunden nicht noch mehr werden könnte“, erwiderte diese ungerührt, und zwinkerte ihrer Tochter zu. Sora seufzte. „Sag mal, wolltest du nicht essen gehen?“ „Richtig, und ich bin auch schon viel zu spät dran“, stellte Tachiko erschrocken beim Anblick ihrer Armbanduhr fest. „Na dann wünsche ich dir noch viel Spaß auf dem 'Konzert deines besten Freundes'.“ Sie schloss die Zimmertür, und für einen kurzen Moment atmete Sora erleichtert aus. Ihre Mutter konnte extrem anstrengend sein, wenn sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihrer Tochter Modetipps zu geben. Allerdings hatte Tachiko schon vor längerer Zeit einsehen müssen, dass Sora sich kaum für Klamotten interessierte, sich nur in Ausnahmefällen mal schminkte und die meiste Zeit mit ihren Freunden aus dem Fußballverein oder mit Jungs verbrachte. Und das alles nur auf freundschaftlicher Ebene. Sora konnte nicht all zu lange darüber nachdenken, denn kurz darauf klingelte es an der Wohnungstür der Takenouchis. Etwas verwirrt, wer denn um halb sechs bei ihnen klingelte, ging sie hin, und wurde danach fast von Mimi überrannt. „Hi, Sora!“, begrüßte diese sie, und wartete gar nicht auf Soras Antwort, sondern spazierte einfach an dieser vorbei in die Wohnung. Etwas perplex machte Sora die Tür wieder zu. „Was genau machst du eigentlich hier? Wir wollten uns erst um acht hier treffen!“ Mimi atmete tief ein und aus, was ein klares Zeichen dafür war, dass sie einen ewigen Monolog führen würde. Sora kannte sie bereits lange genug, um das feststellen zu können, und genau aus dem Grund ging sie schon einmal in ihr Zimmer, um wenigstens bequem sitzen zu können, während Mimi ihre Storys erzählte. „Also eigentlich bin ich auch hier, weil ich Tai nicht begegnen will. Weißt du, ich bin nämlich nicht so gut auf ihn zu sprechen...“ Mimi erzählte ihrer besten Freundin von der Aktion in der Sporthalle, und davon, dass Tai jetzt ihr selbsterklärter Feind wäre. Nachdem sie ihren Sprachrausch beendet hatte, rang sie japsend nach Luft. Sora hob eine Braue. „Und deswegen willst du ihn heute nicht mehr sehen?“ „Ja!“, bestätigte Mimi, und seufzte tief. „Sora, du ahnst gar nicht, wie viel mir Cheerleading bedeutet... das ist bei mir genauso wie bei deinem Tennis und Fußball!“ „Klar, das verstehe ich ja“, versuchte Sora sie zu besänftigen, obwohl das noch nicht einmal die Wahrheit war, „Aber meinst du nicht, dass das etwas übertrieben ist? Ich meine... Tai bedeutet der Fußball ja auch sehr viel.“ „Ja, schon“, stimmte Mimi zu. Sora erwartete eigentlich, dass danach etwas noch von ihrer Seite kommen würde, aber offensichtlich musste Mimi sich geschlagen geben. „Ich wette, er hat schon wieder vergessen, dass ihr euch gestritten habt“, fuhr Sora schließlich fort. Mimi sah sie mit großen Augen an. „Meinst du wirklich?“ „Klar. Ich kenne Tai seit dem Kindergarten und er ist sicherlich nicht nachtragend, was solche Dinge angeht. Mach dir da mal keinen Kopf.“ Mimi schien tatsächlich zu überlegen, ob sie ihm in diesem Leben noch eine Chance gab, und seufzte schließlich resigniert. „Na gut, dann komme ich doch heute Abend noch mit euch allen mit. Aber ich werde nicht mit ihm reden!“ Sora schnaubte belustigt, denn nicht mit Tai zu reden war die größte Strafe, die man dem extrem gesprächigen Chaoten antun konnte. Er hasste es, ignoriert zu werden. „Alles klar“, sagte Sora schließlich trotzdem. Als hätte es das Gepspräch über Tai und Mimis schlechte Laune niemals gegeben, sprang diese auf einmal von Soras Bett wieder auf, und riss ihren Kleiderschrank auf. „Sag mal, was genau wolltest du eigentlich heute Abend anziehen?“, wechselte sie das Thema, und inspizierte mit gerunzelter Stirn das Innenleben ihres Kleiderschranks. Sora seufzte. Sie wollte fast lieber wieder über Mimis Probleme mit Tai reden, als über ihre Klamottenwahl für heute Abend. - Am Abend hatten Sora, Tai, Mimi und sogar Izzy und Joe sich getroffen, um zusammen ins Gravity, einer der berühmtesten Rockklubs Tokios, zu gehen. Zwar hatten Mimi und Tai wie bereits angekündtigt kein einziges Wort miteinander gewechselt, aber Sora schwor sich, sich deswegen nicht die Laune verderben zu lassen. Sie liebte Matts Musik, aber was sie noch faszinierender fand als seinen Gesang oder sein Gitarrenspiel war es, ihn auf der Bühne zu sehen. Wo er doch sonst so introvertiert war, ging er richtig auf, sobald er seine Musik spielte und die Menge ihm zujubelte. Gerade beendete seine Band bereits den ersten Song, und erntete dafür sehr viel mehr Applaus als die beiden Bands, die vor ihnen an der Reihe gewesen waren. Das war aber auch kein Wunder, denn das, was die Jungs da oben machten, sah in Soras Augen schon sehr professionell aus. „Wow, krass, dass so viel Talent so lange in Tokio versteckt bleibt!“, schrie Mimi ihrer besten Freundin ins Ohr, um gegen das Gekreische des überwiegend weiblichen Publikums anzukommen. Tai schnaubte bloß. „Jetzt tu mal nicht so, als wäre er irgendwie das achte Weltwunder oder so...“ „Er ist zumindest talentierter als du!“ „Na, das ist ja auch nicht so schwer...“ Als Sora ahnte, dass die Diskussion wieder drohte, zu eskalieren, mischte sie sich schnell in das Gespräch ein: „Ich hab dir doch gesagt, dass sie gut sind!“ Weiter allerdings kam sie nicht, denn in diesem Moment trat Matt wieder ans Mikrofon, da der Applaus halbwegs verebbt war, und lächelte in die Menge. „Hey, wir sind die Band Knife of Day.“ Der Zwischenapplaus unterbrach ihn, und auch Mimi gab so ziemlich alles, um sich von der Lautstärke her über die anderen Menschen hinwegzusetzen. Etwas verstört sah Tai zu ihr herüber. „Das ist bereits der zweite Auftritt in diesem Klub, und diejenigen, die uns hier bereits gesehen haben, werden vielleicht wissen, dass das erste Mal nicht ganz so glatt hier gelaufen ist. Aber obwohl wir es irgendwie geschafft haben, den Verstärker kaputt zu machen, Riku zwischendurch von der Bühne gefallen ist und wir zehn Minuten lang überzogen haben, hat uns Masaru Hashiyase freundlicherweise nochmal gefragt, ob wir nicht doch noch kommen wollen. Danke dafür, dass wir heute hier sein dürfen!“ Die Menge schrie erneut, und Sora starrte ihren besten Freund fasziniert an. Es war unglaublich, dass er in der Schule eher still und abweisend war, denn sobald seine Gitarre in der Nähe war und er seine Band im Rücken hatte, entwickelte er eine ganz neue Persönlichkeit. Dieser Matt wirkte viel freier, offener und fröhlicher als der 'echte' Matt, der im Chemieunterricht die meiste Zeit schlief und sich in Kunst dieses Schuljahr bislang kein einziges Mal gemeldet hatte. Matt stimmte ein neues Lied an, und sehr bald versuchte das Publikum, die Texte mitzusingen, wenn auch falsch und unsäglich schief. Sora allerdings kannte sie alle auswendig – die meisten hatte Matt ihr privat vorgesungen, ganz einfach, weil er wusste, dass sie so etwas wie sein größter Fan war. Sieben weitere Songs folgten, doch dann war die Zeit für die Band offensichtlich auch schon wieder um. Als das Publikum noch eine Zugabe forderte, überzogen sie sogar wieder so lange, bis der Eigentümer persönlich sie erneut von der Bühne schmiss. Mimi kreischte so laut wie selten zuvor, sodass Tai sich theatralisch sein rechtes Ohr hielt. „Kannst du eigentlich mal aufhören, in mein Ohr zu schreien?“, beschwerte er sich direkt. „Was?!“, erwiderte Mimi absichtlich noch einmal lauter, und beugte sich etwas mehr zu seinem Gesicht vor, „Ich versteh' dich nicht!“ „Ich dich bald auch nicht mehr, wenn du weiterhin so herumschreist!“ Sora seufzte schwer. „Leute, bitte, reißt euch doch mal zusammen...“ Tai wandte sich erstmals wieder seiner besten Freundin zu. „Na, immerhin halten wir keine Schilder hoch mit der Aufschrift 'Matt, ich will ein Kind von dir'...“ „Wer will ein Kind von mir?“, hörten sie eine ihnen sehr bekannte Stimme, und drehten sich direkt um. Matt stand vor ihnen, und sah ziemlich verstört aus, doch er grinste eindeutig. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn und sein Haar war etwas unförmig, ein Zeichen dafür, dass er sich auf der Bühne vollkommen verausgabt hatte. „Ich“, antwortete Tai sarkastisch. „Wegen Mimi hab ich jetzt Ohrenschmerzen!“ „Das sagst du immer, und trotzdem kommst du immer wieder“, erwiderte Matt unbeeindruckt. „Ich möchte eben die Männerquote hier steigern.“ „Ihr wart auf jeden Fall richtig gut“, lenkte Sora wieder vom Thema ab, und lächelte Matt an. „Wie immer eben.“ „Plant ihr schon eine Tour durch Amerika?“, fragte Mimi, die offensichtlich sehr einverstanden mit dem Themen- und Gesprächspartnerwechsel zu sein schien. Matt hob perplex die Augenbrauen. „Äh, gerade sind wir schon begeistert, dass wir überhaupt noch einmal hier spielen durften, seitdem beim letzten Mal so ziemlich alles schief gegangen ist... hey, Izzy und Joe, ihr seid ja auch da! Wie fandet ihr es so?“, wandte er sich schließlich an die beiden, die die ganze Zeit etwas abgeschlagen in ihren gebügelten Hemden herumstanden und so aussahen, als würden sie hier nicht hingehören. „Laut und beengt“, erwiderte Izzy, der ein wenig verstört aussah. Joe allerdings machte eine abschweifende Handbewegung. „Ach, das ist doch unwichtig... die Hauptsache ist doch, dass ihr Spaß hattet!“ Tai grinste. „Da habt ihr die Bestätigung, dass ihr scheiße wart.“ Matt grinste ebenfalls, denn dass eher das Gegenteil der Fall war, hatte sich vorhin durch den immensen Applaus bestätigt. „Ja, ich merk's schon... Also, wer gibt die nächste Runde aus?“ Er sah erwartungsvoll seine Freunde der Reihe nach an. „Ich glaube, Tai ist dran“, meldete Mimi sich zu Wort, und auch, wenn sie damit nicht Unrecht hatte, sah Tai sie genervt an. „Okay, ich bin ja schon unterwegs“, murmelte dieser nur, und machte sich direkt auf den Weg zur Bar. Er drängte sich vorbei an die vielen betrunkenen, tanzenden Menschen, bis schließlich jemand in ihn hereinrannte. „Hey, pass doch auf!“, fluchte er. Er hörte ein Kichern, das ihm gar nicht mal so unbekannt vorkam. „Sorry, aber Boden is' hier irgendwie so uneben...“ Tai sah das Mädchen schockiert an. „Kari?!“ „Tai?!“, erwiderte seine Schwester in demselben Tonfall, und schien erst jetzt ebenfalls zu bemerken, in wen sie da eigentlich hineingelaufen war. „Ooh, was ne Überraschung... willst du mir zufällig was ausgeben? Wodka-O oder so?“ Tai starrte seine kleine, 15-jährige Schwester fassungslos an. Es waren so viele Fragen, die er ihr stellen wollte, und legte deshalb direkt drauflos: „Kari, wie zum Teufel bist du hier reingekommen? Der Klub ist erst ab achtzehn!“ Kari grinste. „T.K. Und ich sind durchs Klofenster geklettert. Gut, oder?“, fragte sie stolz. „Auf so ne bescheuerte Idee sind Matt und ich damals noch nicht einmal gekommen“, murmelte Tai etwas überfordert. „Dann ein Hoch auf unsere geniale Idee! Cheers!“, rief Kari, streckte ihr Glas in die Höhe und nahm einen kräftigen Schluck daraus. Tai fackelte nicht lange, sondern riss ihr das Glas danach direkt aus der Hand und nippte daran. Schließlich verzog er angewidert das Gesicht. „Ieh, was ist das?“ „Cola!“, erwiderte seine Schwester unschuldig, und kicherte. „40% Cola und 60% Wodka, oder was?!“ Kari sah ihn mit großen Augen an. „Du weißt, dass Mathe nich' meine Stärke is'...“ Darauf ging Tai nicht weiter ein, sondern stellte direkt die nächste Frage: „Wo ist T.K. Überhaupt jetzt?“ „Der ist vor einiger Zeit aufs Klo gegangen, glaub ich...“ Tai seufzte abgrundtief. „Na klar, wohin sonst?“ Er griff nach Karis Handgelenk und zog sie hinter sich her, wobei er vollkommen ignorierte, was sie ihm noch mitzuteilen hatte. „Heey! Ich werde gekidnapt!“, protestierte sie, doch da war Tai bereits wieder bei seinen Freunden angekommen. Er tippte Matt auf die Schulter, der sich bis dahin angeregt mit Mimi und Sora unterhalten hatte, und welcher sich nun überrascht umdrehte. Zwar wollte er erst fragen, wie Tai es wagen konnte, ohne Bier zurückzukehren, doch dann fiel sein Blick auf Kari und er schluckte seine Worte hinunter. „Es gibt ein kleines Problem“, sagte Tai, obwohl Matt sich das fast hätte denken können. „Kari hat gesagt, T.K. Wäre gerade schon seit längerer Zeit auf dem Klo...“ Matt und Tai brauchten nur kurze Blicke auszutauschen, als Matt sich schließlich von den anderen verabschiedete und aufs Jungsklo eilte. Die beiden Jungs wussten aus Erfahrung zu gut, was betrunkene Menschen so lange auf dem Klo machten, und dabei war Hilfe meistens gar nicht mal so unangemessen. „Boaah, irgendwie dreht sich hier alles“, meldete schließlich Kari sich wieder zu Wort, und machte einen Ausweichschritt, um nicht umzukippen. „Komm, wir gehen auch mal kurz aufs Klo“, murmelte Tai, und zog sie weiter mit sich bis zum anderen Ende des Klubs. „Hää, ich muss aber gar nich'!“, erwiderte Kari verwirrt. Tai ignorierte all ihre Einwände, bis sie die Mädchentoilette erreicht hatten. Drinnen standen gerade zwei Mädchen vor den Spiegeln und hätten sich fast bei Tais Anblick vor Schreck mit der Mascara ins Auge gestochen. „Hallo, wenn ihr schon rummachen müsst, dann bitte woanders!“, sagte eine von ihnen entrüstet, doch Tai schubste Kari einfach weiter in Richtung Kabinentür. „Er is' mein Bruder!“, rief Kari noch schockiert, bevor Tai die Tür hinter ihnen zuknallte. „Du wirst mir morgen dafür danken“, sagte Tai, und sah seine Schwester direkt an. „Ganz sicher nich'!“, erwiderte diese, und gestikulierte wild mit dem Zeigefinger vor sich herum. „Ich bin erwachs'n und ich weiß, was gut ist und was – Gott, ist mir schlecht...“ Sie beugte sich sofort über die Toilette, und erbrach sich. - "Ich gehe schonmal mit Kari nach Hause. Also wenn sie gehen könnte – wir haben ein Taxi bestellt", erschien wenig später eine Nachricht von Tai auf Soras Handy in der What's App-Gruppe ihrer Clique. "T.K. und ich auch, feiert noch schön", kam kurz darauf eine Nachricht von Matt dazu. Sora seufzte, und legte ihr Handy weg. Sie hatte sich eigentlich darauf gefreut, mal wieder mit allen zusammen feiern zu gehen und alle Sorgen zu vergessen, doch nun mussten Matt und Tai ihre betrunkenen Geschwister nach Hause bringen, Joe und Izzy schwebten in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsamkeit und Mimi unterhielt sich schon seit einigen Minuten mit Riku, dem Gitarristen von Matts Band. Das einzige, was Sora von ihrem Gespräch mitbekommen hatte, war ein schlechter Witz von Riku über Amerikaner gewesen. Mimi wäre fast vom Hocker gefallen vor Lachen. „Und, werdet ihr beim nächsten Mal wiederkommen?“, fragte sie schließlich an Joe und Izzy gewandt, um sich wenigstens mit irgendjemanden zu unterhalten. „Nur, wenn ich nicht gerade zufällig ganz viel zu tun habe“, erwiderte Izzy. „Und ich, wenn ich nicht gerade für einen Test lernen muss“, stimmte Joe zu. „Sagt mal, wann wollt ihr eigentlich so gehen?“ „Am Liebsten jetzt, aber ich wollte nicht der Spießer sein, der es zuerst anspricht“, sagte Izzy, und sprang sofort erleichtert auf. Dann sah er zu Sora herüber, die nur müde lächelte, und gedankenverloren an ihrem Glas nippte. „Willst du nicht mitkommen, Sora?“, fragte er ein wenig besorgt, denn es war kaum zu übersehen, dass Sora sich definitiv nicht in der Gesellschaft von Mimi und Riku amüsierte. Sora sah zu ihrer besten Freundin herüber, welche gerade einen Arm um Rikus Schulter gelegt hatte. „Eigentlich schon, aber ich fürchte, ich kann Mimi jetzt nicht alleine lassen“, sagte sie schließlich. „Aber kommt gut nach Hause.“ Izzy hob die Schultern. „Okay, dann mach's gut. Und schick' uns 'ne Nachricht, sobald du zu Hause angekommen bist!“ Sora sah den beiden hinterher, wie sie erleichtert diesen Klub verließen. Izzy und Joe würde sie hier so schnell nicht wiedersehen, aber sie musste zugeben, dass das auch so ziemlich der beschissenste Abend seit Langem gewesen war. Ohne Matt und Tai war es irgendwie gleich sehr viel langweiliger, vor allem, wenn Mimi die ganze Zeit nur mit einem rothaarigen Gitarristen flirtete. Sie zog ihr Handy wieder aus der Hosentasche und tippte darauf herum, ohne überhaupt zu registrieren, was sie sich da anschaute. Sie wollte einfach nur so wirken, als hätte sie irgendetwas zu tun. Nicht, dass man ihr auch noch anmerkte, dass all ihre Freunde sie verlassen hatten, und die letzte Freundin ihr absolut keine Aufmerksamkeit schenkte. „Hey, hast du Matt gesehen?“, fragte schließlich jemand hinter ihr, und als sie sich umsah, blickte sie in die dunklen, freundlichen Augen von Yoshi, dem Drummer von Matts Band. Sie kannte Yoshi gut und hatte sich bereits unzählige Male mit ihm unterhalten, weshalb sie ihm auch mehr vertraute als Riku, der offensichtlich hin und wieder nur mal für seine kurzen Affären bekannt war. Sora lächelte ihn erleichtert an. „Der ist schon nach Hause gegangen... seinem Bruder ging es nicht so gut.“ „Oh“, machte Yoshi nur mit gehobener Braue, und setzte sich zu Sora, wofür sie ihm sehr dankbar war. Gleichzeitig aber wusste auch sie, dass er das vermutlich nur machte, weil sie wirklich einsam ausgesehen haben musste. Riku und Mimi prusteten nun laut auf vor Lachen und Mimi ruderte hilflos mit ihren Armen um nicht vom Stuhl zu fallen, weshalb Yoshi sie perplex ansah. „Ich bin mir nicht so sicher, ob es den beiden gut geht“, sagte er schließlich. Sora fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, da sie jetzt erst merkte, wie müde sie eigentlich war. „Deswegen bin ich auch nur überhaupt noch hier geblieben...um auf Mimi aufzupassen.“ Yoshi sah sie verwirrt an. „Hä?“ Sora setzte gerade zur Erklärung an, als sie auf einmal jemand von hinten antippte. „Hey Sora, Riku und ich gehen schonmal nach Hause“, gab Mimi zu bemerken, und klammerte sich krampfhaft an Soras Stuhllehne fest, um nicht umzukippen. Alarmiert sah Sora sie an. „Zusammen?“ Mimi kicherte. „Ja, natürlich, du Dummerchen! Riku wollte mir seine Gitarren zeigen...“ Sora tauschte vielsagende Blicke mit Yoshi. Denn dass er ihr nicht nur seine 'Gitarren zeigen' wollte, war ja wohl so offensichtlich, dass selbst Mimi das eigentlich bemerken sollte, obwohl sie schon ziemlich betrunken war. „Mimi, ich weiß echt nicht, ob das so eine gute Idee ist“, versuchte sie erst vorsichtig, ihre beste Freundin davon abzubringen, mit einem Typen mitzugehen, den sie gerade erst kennengelernt hatte. Allerdings wusste sie auch, dass Mimi sich nur selten von irgendjemandem etwas sagen ließ, auch, wenn sie kurz davor war, schwere Fehler zu begehen. „Warum nicht?“, protestierte Mimi sofort, und unterbrach sich selbst, weil sie langsam Schluckauf bekam. „Sora, du bist nicht meine Mum!“ Sora sah hilflos zu Yoshi herüber, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. „Ich kenne Riku. Er wird sie schon nicht vergewaltigen, und außerdem ist er einer von meinen und Matts besten Freunden.“ Sora seufzte tief. „Ja, genau das beunruhigt mich ehrlich gesagt nur noch mehr...“ „Also, wir gehen dann jetzt... schönen Abend euch noch!“, verabschiedete Mimi sich, und verschwand dann mit Riku nach draußen. Sora sah ihnen hinterher, und merkte, wie sie ihr schlechtes Gewissen jetzt schon einholte. Kapitel 4: I've got a Hangover (whoaah) --------------------------------------- ~03. Februar~ Als Mimi aufwachte, starrte sie eine blaue Wand an. Das hier war nicht ihr Zimmer. Ihre Wände waren rosa. Erschrocken drehte sie sich um, und sah einen Jungen neben ihr liegen, dessen scharlachrotes Haar sich auf seinem Kissen ausgebreitet hatte, und der die komplette Decke offensichtlich an sich gerissen hatte. Schlagartig schossen ihr Bruchstücke der vergangenen Nacht durch den Kopf, die sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte. Matts Konzert. Riku. Die Cocktails. Das Hotelzimmer. Alarmiert sah sie auf ihren Körper, doch sie trug noch dieselben Klamotten wie am Vortag, was wohl bedeutete, dass sie nicht mit Riku geschlafen haben konnte. Aber auch, dass sie zu betrunken gewesen war, um sich zumindest Schlafsachen anzuziehen. Sie erhob sich vorsichtig, um Riku nicht zu wecken, schnappte sich ihre Handtasche und verließ schleunigst das Hotelzimmer. Ihre Hoffnung war, dass Riku sich nicht einmal mehr an sie erinnerte, aber so betrunken war sicherlich nicht einmal er gestern gewesen. Am Liebsten wollte sie einfach so tun, als wäre nie irgendetwas passiert, und Riku für den Rest ihres Lebens aus dem Weg gehen. Dafür durfte sie nur nicht mehr Matts Konzerte besuchen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass man in Tokio einige Leute öfter traf, war ziemlich gering. - „Guten Morgen.“ Kari fuhr wild herum, und sah auf einmal Matt mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. Moment... Matt? „Was machst du denn hier?“, fragte sie verwirrt, und als sie versuchte, sich aufzurichten, wurde sie dabei von stechenden Kopfschmerzen begleitet. Das Zimmer hier kam ihr völlig unbekannt vor, und die Tatsache, dass Matt hier war, sorgte nicht gerade dafür, ihre Panik zu lindern. Sie hatte bereits einige Dinge vom besten Freund ihres Bruders und großen Bruder ihres besten Freundes gehört, und die waren alles andere als beruhigend. Von Drogenskandalen über One-Night-Stands bis hin zur Alkoholabhängigkeit gab es kaum ein Problem, das Yamato Ishida nicht zugesprochen wurde. Jedoch war es immer noch an jedem Einzelnen, diese Dinge auch zu glauben, und Kari war da nach wie vor überaus skeptisch. Immerhin kannte sie Matt gut, und jedes Mal, wenn sie sich mit ihm unterhielt, war er sehr freundlich zu ihr. Matt lächelte belustigt. „Ich wohne hier. Das hier ist meine Wohnung, in der du ausgenüchtert bist.“ Ausgenüchtert. Für Kari klang dieses Wort so fremd, dass sie erst einmal eine Weile brauchte, um darüber nachzudenken. Sie hatte noch nie Alkohol getrunken, und deswegen machte es im Zusammenhang mit ihr irgendwie wenig Sinn. „Was?“, fragte sie deswegen reichlich spät. „Die Gedächtnislücken scheinen genetisch bedingt bei eurer Familie zu sein.“ Matt verließ seinen Posten an der Tür und schlenderte auf sie zu, die Hände tief in den Hosentaschen seiner schwarzen Jeans vergraben. „Du hattest gestern nen ziemlichen Absturz im Black Silver, und wenn Tai und ich T.K. und dich da nicht rausgeholt hätten... na ja, dann wäre das Ganze vermutlich nicht ganz so gut ausgegangen.“ Mit seinen Worten kehrten langsam Fetzen ihrer Erinnerung zurück. Shin, der einzige Junge in ihrem Tanzklub, hatte ihnen Alkohol ausgegeben und sie waren durch das Klofenster geklettert, um überhaupt reinzukommen... Karis Magen zog sich zusammen vor Übelkeit, Hunger und Scham gleichzeitig. „Oh mein Gott“, brachte sie schließlich atemlos heraus. Es kam ihr nicht einmal so vor, als hätte sie das alles gestern selber erlebt, sondern als wäre sie gefangen in einem anderen Körper gewesen. Oder wie ein Albtraum. „Alles halb so wild, ich bin einiges von deinem Bruder gewohnt.“ Matt grinste, während Kari ihn einfach nur anstarrte. Matt schien das um einiges lockerer zu nehmen als sie selbst, obwohl er gestern vermutlich ihre Betrunkenheit im vollsten Ausmaß erlebt hatte. Sie hingegen konnte sich nur an Bruchstücke erinnern, und die schockierten sie schon. „Was ist denn mit deinem Vater? Ich meine, hat er... was davon mitbekommen?“ Die Wahrscheinlichkeit, dass Hiroaki Ishida sich in näherer Zukunft überhaupt mit ihren Eltern unterhielt, war zwar eher gering, denn bekanntlich interessierte er sich für kaum etwas anderes als seine Arbeit. Aber andererseits war es immer noch der Vater ihres besten Freundes, und wer würde ihre Eltern nach so einer Nacht nicht direkt darüber informieren, was sie gestern getan hatte? Matt schüttelte langsam den Kopf. „Nein, der hat bei seiner Freundin in Osaka übernachtet. Das hier ist der beste Ort, um unbemerkt auszunüchtern, davon kann Tai mittlerweile ein Lied singen.“ „Das hab ich gehört, Ishida!“ In genau diesem Moment kam Tai hereinspaziert mit einer Brötchentüte in der Hand. Alleine bei dem Gedanken an Brötchen oder Essen im Allgemeinen hätte Kari sich fast wieder übergeben. Tai sah seine kleine Schwester an, und seine Gesichtszüge wurden wieder schlagartig ernst. „Geht es dir denn gut?“ „Na ja, 'gut' ist was anderes. Ich hab Kopfschmerzen und mir ist schlecht... Übrigens danke für alles“, sagte sie schließlich, und sah erst Matt, und dann Tai an. Sie fühlte sich, als wäre das das Einzige, womit sie sich erkenntlich zeigen konnte und schwor sich gleichzeitig, sich nie wieder über Tai lustig zu machen, wenn dieser wieder einmal etwas zu viel getruken hatte. Wohlwissend, dass er sie jederzeit wieder mit dieser Geschichte hier aufziehen konnte. „Kein Ding“, erwiderten beide gleichzeitig. „Jetzt weißt du zumindest, dass Alkohol schlecht für einen ist“, fügte Tai noch hinzu, und sah Kari streng an. „Ich glaube, wir beide sind selber nicht die besten Vorbilder, um so etwas sagen zu können“, sagte Matt schließlich nur belustigt. Plötzlich erschien auch T.K. im Zimmer. Sein Haar war ungekämmt, er hatte tiefe Schatten unter den Augen und er war kreidebleich im Gesicht. „Hast du wieder geraucht?“, fragte er direkt, anstatt so etwas wie 'Guten Morgen' zu sagen. Dass Kari im Bett lag, ignorierte er vollkommen. „Ja, und? Ist doch meine Wohnung“, erwiderte Matt ziemlich gefasst. „Nein, es ist Papas Wohnung.“ „Der ebenfalls raucht, also was bitte ist das Problem?“ Matts ebenmäßige Stirn hatte sich in Falten gezogen, während Kari und Tai sich nur anzusehen brauchten, um sicherzugehen, dass sie beide dasselbe dachten. Sie konnten von Glück reden, dass ihr Verhältnis zueinander nicht so ansgespannt war wie das von Matt und T.K., obwohl niemand so genau zu wissen schien, warum sie sich neuerdings ständig stritten. „Rauchen ist ungesund, stinkt und ist total uncool, das ist das Problem“, erklärte T.K. etwas gereizt. Matt schnaubte belustigt. „Also ich glaube, ich muss mir keine Verhaltensregeln von meinem 15-jährigen Bruder anhören, der sich gestern fast ins Koma gesoffen hätte.“ Wissend, dass Matt mit diesem Argument gewonnen hatte, zog T.K. ab, nachdem er seinen Bruder noch einmal missbilligend gemustert hatte. Nachdem T.K. außer Hörweite war, stellte Tai schließlich sarkastisch fest: „Wow... das ist echte Geschwisterliebe.“ Matt seufzte schwer. „Nicht wahr? Ich hab nicht einmal eine Ahnung, was er auf einmal gegen mich hat, denn eigentlich hab ich nichts gemacht...“ „Vielleicht sind es die Drogengerüchte?“, schlug Tai vor. Sein bester Freund schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht... er weiß, dass ich keine Drogen nehme.“ Stille breitete sich zwischen ihnen aus, bis Kari schließlich zu bemerken gab: „Also, äh... ich bedanke mich noch einmal herzlich, dass hier schlafen durfte, aber ich glaube, Mama macht sich langsam Sorgen...“ Sie hatte ihrer Mutter nämlich erzählt, dass sie bei T.K. übernachten würde, aber spätestens um elf Uhr am nächsten Tag wieder Zuhause sein würde. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie spät es war, aber sie konnte sich vorstellen, dass es bereits Mittag war. „Das kann sehr gut sein... ich hab ihr gar nicht gesagt, dass ich überhaupt weg bin“, fiel Tai plötzlich auf, und sah schon dagegen an, die ganzen unbeantworteten Anrufe und Nachrichten von seiner Mutter auf seinem Handy durchzugehen. Kari kämpfte sich aus dem Bett und ignorierte dabei gekonnt die Kopfschmerzen und die Übelkeit, mit der sie dafür quittiert wurde. Schließlich torkelte sie langsam auf Matt und Tai zu, da sie immer noch nicht wirklich viel Gefühl in den Beinen besaß. „Dankeschön nochmal für alles“, sagte sie schließlich. „Falls du irgendwann mal einen Absturz hast, kannst du auch gerne bei uns schlafen.“ Tai sah Kari kopfschüttelnd an, doch Matt grinste nur. „Nein danke, ich schlafe lieber zu Hause. Aber wie gesagt, es ist schon in Ordnung.“ Mit diesen Worten verließen Tai und Kari die Wohnung, und machten sich auf dem Weg nach Hause. Kapitel 5: Family Issues ------------------------ Tai warf einen Blick auf das Display seines Handys, während er quer durch das Schulgebäude sprintete. Es war bereits 08:05 Uhr, und das nur, weil er viel zu lange am Bahnübergang hatte warten müssen. So ein verdammter Mist. Es war für seinen Lehrer Sensei Yoshimura nichts Neues, dass er zu spät kam, und genau das gab ihm zu denken. Er hatte bereits zweimal eine Ermahnung in dem Fach bekommen, sodass er sich eigentlich vorgenommen hatte, künftig pünktlich zu kommen. Aber andererseits war es nun einmal auch nicht einfach, am Montagmorgen sein Bett überhaupt zu verlassen... Seine einzige Hoffnung war wohl, dass Sensei Yoshimura heute ebenfalls zu spät kam, aber diese löste sich wohl in Luft auf, als er die Tür seines Klassenraums aufstieß. Sofort fielen die Blicke seiner Klassenkameraden auf ihn. Matt und Sora sahen ihn eher mitleidig an, während die anderen zu tuscheln begannen. „Tut mir leid, es war leider sehr glatt draußen, und deswegen konnte ich nicht so schnell fahren“, erzählte Tai die Ausrede, die er sich schnell auf dem Weg hierhin zurechtgelegt hatte, doch natürlich sah Yoshimura nicht überzeugt aus. „Das Problem hätte man lösen können, indem du einfach ein bisschen eher losgefahren wärst, Kamiya.“ Er musterte seinen Schüler eindringlich, sodass es Tai so langsam ziemlich unangenehm wurde. „Du kannst dich setzen, denn eigentlich kommst du gerade rechtzeitig. Ich wollte nämlich gerade eure Klausuren zurückgeben.“ Tai schlenderte auf seinen Platz neben Matt, und begann, seine Sachen herauszukramen. Matts Blick flog flüchtig über die zerrissene Mappe und das Buch mit dem Wasserschaden, bis er schließlich Tai ansah. „Bist du dir sicher, dass ich dich demnächst nicht abholen soll?“ „Ich hab echt kein Bock, dass wir hinterher beide im Krankenhaus landen bei deinem Fahrstil.“ „Irgendjemand muss dir aber mal in den Arsch treten, damit du zur Abwechslung mal pünktlich kommst“, sagte Matt, und Tai musste zugeben, dass da vielleicht sogar etwas Wahres dran war. „Yoshimura meinte vorhin übrigens, dass die Klausur 'ne ziemliche Katastrophe für die meisten gewesen sein muss, falls es dich interessiert.“ Das flaue Gefühl in Tais Magen breitete sich aus, denn er hatte von Anfang an schon ein schlechtes Gefühl bei dieser Klausur gehabt. „Kein Wunder, die war ja auch viel zu schwer. Weißt du, was die niedrigste Punktzahl ist?“ „Nö, so aufmerksam hab ich dann doch wieder nicht zugehört.“ Tai schielte auf das Blatt, das vor Matt lag, und definitiv nicht so aussah, als würde es in die Japanischstunden gehören. Darauf waren Zeilen gekritzelt, von denen viele Worte und Sätze durchgestrichen waren, und insgesamt nach einem Songtext aussahen. „Offensichtlich“, murmelte Tai, doch da hatte Yoshimura ihn bereits erreicht, und klatschte ihm einen Zettel auf den Tisch. „Ich glaube, wir sollten reden, Taichi“, sagte dieser, und sah Tai eindringlich an. „Wie du siehst, war diese Klausur ein ziemlicher Reinfall für dich...“ Allerdings. Dreiunddreißig von hundert Punkten waren verdammt wenig, und das, obwohl er sonst immer ziemich passable Noten in Japanisch gehabt hatte. Er konnte es sich selbst nicht wirklich erklären, außer damit, dass die Klausur viel zu schwer gewesen war. „Ich hatte noch nie Probleme in Japanisch“, sagte Tai schließlich. „Ich weiß, denn ich habe mir deine Vorjahresnoten angeschaut. Allerdings würde ich nicht unbedingt einfach nur die nächste Klausur abwarten, immerhin wird das hier dein Abschlusszeugnis.“ „Und was schlagen Sie stattdessen vor?“ Tai hatte keine besondere Lust auf diese Diskussion, und das hörte man ihm auch an. Er konnte sich selber nicht erklären, woher die schlechte Note kam – außer vielleicht damit, dass Yoshimura irgendetwas nicht erklärt hatte. Yoshimura sah ziemlich nachdenklich aus. Oder aber, er wusste bereits eine Lösung, überlegte aber, ob er sie auch wirklich aussprechen sollte. „Du könntest Nachhilfe bei mir nehmen“, rückte er schließlich mit der Sprache heraus. Tai blinzelte perplex. „Bei Ihnen?“ Er bemerkte, dass Matt neugierig zu ihm herübersah und offensichtlich ein Lachen unterdrückte, aber schnell scheinbar geistesabwesend auf seinen Songtext sah, als Tai ihm genervte Blicke zuwarf. „Ja.“ Nun sah auch sein Sensei ihn belustigt an. „Ich meine, ich hätte mir in deinem Alter auch besseres vorstellen können, als Nachhilfe bei meinem Lehrer zu nehmen, aber das Schuljahr ist fast vorbei...“ Allerdings. Genau das beunruhigte Tai auch ziemlich, denn mit diesen Noten würde er sich für die Universität bewerben müssen. Für was auch immer – er hatte ja noch keine Ahnung, was er überhaupt studieren wollte. „Wann hätten Sie denn Zeit?“, fragte Tai vorsichtig. Vielleicht hatte er ja Glück, und sein Lehrer könnte ihn gar nicht an den Tagen unterrichten, wo er Zeit hatte. Dann brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er doch keine Nachhilfe von ihm annehmen würde. „Montags würde es mir gut passen.“ Genau wie Tai auch. So ein Mist. „Gut, dann werde ich kommen“, erwiderte Tai nur murmelnd, auch, wenn er immer noch alles andere als begeistert davon war. „Dann in der Schule also?“ „Nein, in der Schule ist immer so viel los. Ich würde vorschlagen, das bei mir Zuhause zu machen – ist von dir aus gesehen sogar näher dran“, sagte sein Sensei, und schien einfach so zu tun, als hätte er Tais alles andere als begeisterten Ton in der Stimme überhört. Tai runzelte verwirrt die Stirn. Er konnte sich deutlich Schöneres vorstellen, als seinen Lehrer zu Hause zu besuchen, aber andererseits war der Weg für ihn zur Schule tatsächlich ziemlich weit... „Okay“, sagte er schließlich, obwohl er selbst nicht so ganz wusste, warum. Yoshimura nickte schließlich. „Gut, dann treffen wir uns Montag um... fünf, würde ich sagen?“ „Joa.“ Tai versuchte einfach, Matts Blicke zu ignorieren, die es irgendwie schafften, Mitleid und Belustigung zu vereinen. „Sehr gut.“ Yoshimuras Blick wanderte herüber zu Matt. „Übrigens, Texte werden in meinem Unterricht nur geschrieben, wenn ich das sage, Ishida. Eigentlich müsste ich dich jetzt nachsitzen lassen, aber wir belassen es mal bei einer Verwarnung.“ Ihr Lehrer verschwand wieder nach vorne an die Tafel, und Matt und Tai tauschten vielsagende Blicke. „Weißt du, ich könnte dir auch Nachhilfe geben“, sagte Matt schließlich beiläufig, während er endlich den Zettel mit dem Songtext unter seiner Mappe verschwinden ließ. Tai schüttelte langsam den Kopf. „Nein, er hat schon recht, mit Freunden zu lernen bringt meistens wenig. Vor allem mit dir – so gut bist du auch nicht in Japanisch.“ „Also momentan bin ich vierzig Punkte besser als du“, erwiderte Matt lächelnd, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na ja, es ist ja deine Sache. Nur hätte ich besseres zu tun, als nach der Schule auch noch Zeit mit meinem Lehrer zu verbringen.“ „So schlimm wird es wohl nicht werden“, murmelte Tai und begann, das Geschriebene von der Tafel abzuschreiben. Nicht, dass er wirklich realisierte, was dort stand, sondern er wollte sich einfach nur nicht mehr weiter mit Matt unterhalten und seine blöden Fragen beantworten. - „Weißt du, wie das am Wochenende passiert sein konnte?“, fragte Kari, als sie zusammen mit T.K. In der Mittagspause einen Platz mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu ihren Klassenkameraden oder irgendwelchen anderen Leuten, die sie kannte, eingenommen hatte. Sie wollte mit ihm über ihren Alkoholabsturz reden und es dabei möglichst vermeiden, dass es irgendwelche Leute mitbekamen und womöglich weitererzählten. Matt war das beste Beispiel, dass Gerüchte sich an Schulen in Tokio wie Lauffeuer verbreiteten. „Ich schätze, wir haben zu viel Alkohol getrunken“, erwiderte T.K. stumpf, und stocherte weiter in seinem Reis herum. Kari sah auf ihr eigenes Essen, doch irgendwie verging ihr der Appetit, wenn sie wieder an den vergangenen Freitag dachte. Es war ihr immer noch so peinlich, dass sie Matt nicht mehr unter die Augen treten konnte. „Ja, das weiß ich auch, du Scherzkeks. Ich meine nur, dass ich es mir irgendwie von mir selbst nicht vorstellen kann...“ T.K. widmete nun nicht mehr seinem Essen, sondern ausnahmsweise mal seiner besten Freundin die Aufmerksamkeit, als er erwiderte: „Vielleicht hat Matt auch einfach total übertrieben.“ Kari runzelte die Stirn. „Was hast du eigentlich auf einmal gegen deinen Bruder?“ „Das habe ich dir doch schon einmal gesagt. Er raucht, vögelt sich durch ganz Tokio und nimmt angeblich sogar Drogen...“ „Glaubst du wirklich, dass er Drogen nimmt?“, fragte Kari mit unüberhörbaren Zweifeln in der Stimme. So langsam glaubte sie, sie würde Matt besser kennen als T.K., obwohl dieser sein Bruder war. „Ich meine, er ist immer noch dein Bruder...“ T.K. Sah sie aus klaren, blauen Augen an. Es war merkwürdig, dass er seinem Bruder so ähnlich sah, und ihn trotzdem derzeit so sehr verabscheute für Dinge, die er wahrscheinlich niemals getan hatte. „Gerüchte kommen nicht von ungefähr. Und außerdem könnte ich mir das ganz gut bei ihm vorstellen... ich meine, er ist ein Möchtegern-Rockstar und denkt, er wäre cool.“ Kari sah T.K. aufmerksam an, doch sie bemerkte, dass sich ihnen ein Mädchen mit langen, blonden Haaren näherte und einer Haut so rein wie Porzellan. Ihre türkisblauen Augen waren von schwarzen Wimpern umrahmt und ihre Augenbrauen waren perfekt gezupft und nachgeschminkt, sodass sie aussah wie eines dieser Instagram-Models. Sie war Honoka Ichiyase, das schönste Mädchen der Schule, oder wie Kari sie nannte: die Schulschlampe. Sofort verfinsterte sich ihr Blick, als sie sie bemerkte. „Hey“, begrüßte Honoka sie mit einem Lächeln, das ihre Augen allerdings nicht erreichte. Erst, als T.K. sich überrascht umdrehte, schien ihr Lächeln ernst gemeint zu sein. „Hey“, erwiderte dieser, und lächelte ebenfallls. „Ich dachte, wir könnten vielleicht mal reden... wegen Freitag.“ Honokas Lächeln verblasste nicht, sondern es schien eher so, als hätte jemand ihre Mundwinkel nach oben gemeißelt. T.K. hob verwundert eine Braue und tauschte einen verwirrten Blick mit Kari, als er schließlich aufstand und mit einem „Bin gleich wieder da“ Honoka in die gegenüberliegende Ecke der Cafeteria folgte. Kari starrte den beiden hinterher und war dabei nicht weniger verblüfft als T.K.. Sie wusste, dass T.K. aus irgendwelchen (ihr unerklärlichen) Gründen etwas von Honoka wollte, aber dass sie überhaupt realisierte, dass er existierte, war Kari vollkommen neu. Und was meinte sie überhaupt mit 'wir müssen über Freitag reden'? „Wen stalkst du denn da?“ Kari zuckte vor Schreck zusammen und kippte dabei uneleganterweise auch noch das Wasserglas aus, dessen Flüssigkeit sich daraufhin über den ganzen Tisch ausbreitete. „Verdammt Shin, kannst du mich nicht irgendwie vorwarnen, anstatt dich hier wie ein Ninja anzuschleichen und mich zu Tode zu erschrecken?“, fragte sie gespielt wütend, während sie versuchte, das Wasser mit ihrer Serviette aufzuwischen. Shin grinste schief, und setzte sich schließlich zu ihr. „Du saßt hier so alleine, weshalb ich mir dachte, ich setze mich mal zu dir.“ „Sehr solidarisch von dir.“ „Tut mir übrigens leid wegen Freitag... ich war immerhin derjenige, der euch den Alkohol verschafft hat.“ Er lächelte entschuldigend, und bekam dabei winzige Grübchen in den Wangen. Sofort vergaß Kari, dass sie vielleicht sauer auf ihn hätte sein müssen, denn sie starrte nur auf die niedlichen Fältchen und dachte darüber nach, wie süß das bei ihm aussah. Sie machte eine abschweifende Handbewegung. „Du kannst ja nichts dafür, dass T.K. und ich unsere Limits nicht kennen.“ „Apropos T.K. … das mit ihm und Honoka ist wohl ernst, was?“ Kari sah ihn verwirrt an, doch er deutete nur mit dem Zeigefinger auf die beiden, die gerade damit beschäftigt waren, sich leidenschaftlich zu küssen. Fast hätte Kari aus Fassungslosigkeit wieder das Glas umgeworfen. „Shin, sag mal... ist Freitag zwischen den beiden irgendetwas gelaufen?“, fragte sie vorsichtig, während sie immer noch völlig traumatisiert dabei zusah, wie Honokas Zunge in T.K.'s Mund verschwand. Shin hob eine Braue. „Meinst du das ernst? Die haben im Florida doch schon die ganze Zeit rumgemacht.“ „Bitte?“ Kari glaubte, sich verhört zu haben, und sie wandte beschämt den Blick von dem eng umschlungenen Paar ab, denn allmählich wurde es sehr unangenehm, ihnen zuzusehen. „Jedenfalls, bis T.K. aufs Klo verschwunden ist“, fügte Shin noch hinzu, und tat so, als würde er Karis Entsetzen gar nicht bemerken. „Scheint aber so, als hätte Honoka nichts von seinem Absturz mitbekommen...“ „Das ist ja schön für ihn“, murmelte Kari, obwohl sie sich wünschte, T.K. hätte Honoka am Freitag direkt auf die Füße gekotzt. Shin strich sich eine blonde Locke aus der Stirn, und lächelte schief. „Na ja, man muss es wohl akzeptieren... übrigens, hast du schon den Tanz für nächste Woche geübt?“ Der Themenwechsel kam Kari mehr als gelegen. Wenn auch nur für einen kurzen Moment wollte sie verdrängen, dass ihr bester Freund gerade mit der größten Schlampe der Schule mitten in der Cafeteria rummachte und sie nicht einmal mitbekommen hatte, dass zwischen denen irgendetwas gelaufen war. - „Irgendwas stimmt bei der Bridge noch nicht ganz.“ Matt ließ seinen Blick nachdenklich über jedes der Bandmitglieder gleiten, bis er schließlich an Riku hängenblieb. „Kann es sein, dass du dich die ganze Zeit verspielst? Du weißt, dass es E-Dur und nicht E-Moll ist, oder?“ „Sorry“, murmelte Riku nur. „Apropos, wie läuft es eigentlich mit der Amerikanerin?“, fragte Akira plötzlich. Matt seufzte, denn eigentlich hatte er die Pause gar nicht so lang ziehen wollen. Aber andererseits interessierte es ihn brennend, wen Riku schon wieder abgeschleppt hatte, sodass er nur verwirrt nachhakte: „Warte. Welche Amerikanerin?“ „Na Mimi, oder wie deine Freundin auch immer heißt“, erwiderte Riku und machte eine abschweifende Handbewegung. Danach schüttelte er den Kopf. „Man, die hat völlig einen an der Klatsche. Die ist einfach so Samstagmorgen abgehauen, während ich noch geschlafen hab, und hat nicht einmal etwas gesagt.“ Akira prustete drauflos, während Yoshi nur tief seufzte. Matt wiederum hob eine Braue. „Du und Mimi? Im Ernst?“ Riku zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich war eben betrunken! Und außerdem ist da nichs gelaufen... ich bin eingeschlafen, bevor es so weit kommen konnte, soweit ich weiß.“ „Gut, dann können wir ja weitermachen.“ Gerade, als Matt wieder den ersten Akkord greifen wollte, ertönte allerdings Nirvanas Smells like Teen Spirit im Raum. Leicht genervt zog Matt sein Handy aus der Hosentasche und entfernte sich von der Band. „Hey, ich dachte, du willst unbedingt heute noch fertig werden?“, schrie Akira ihm hinterher, doch Matt ignorierte ihn. Stattdessen runzelte er nur verwirrt die Stirn, als er sah, dass Dad auf seinem Display geschrieben stand. Das letzte Telefonat mit seinem Vater war bestimmt schon über ein Jahr her. „Hey“, begrüßte Matt ihn, als er den Anruf annahm. „Was gibt’s? Soll ich dir was aus der Stadt mitbringen, oder hast du deinen Haustürschlüssel vergessen?“ „Vielleicht wollte ich auch einfach nur mit dir reden“, schlug Hiroaki am anderen Ende der Leitung vor. „Wenn du mit mir reden wollen würdest, könntest du das auch Zuhause tun. Also, was willst du?“ „Ich... ich wollte dich zum Essen einladen.“ Stille. „Wer kommt denn noch mit?“, fragte Matt verwirrt, denn normalerweise ging er nie mit seinem Dad essen. „Megumi und T.K.. Ich habe einen Tisch beim Inder für uns reserviert.“ Automatisch dachte Matt wieder an die letzten Gespräche zwischen ihm und seinen Bruder und daran, wie abweisend T.K. in letzter Zeit ihm gegenüber war. Er hatte keine Ahnung, warum das Verhältnis zu seinem kleinen Bruder so distanziert war, aber er wusste, dass T.K. Es nicht lange in seiner Gegenwart aushalten würde. Nicht gerade die beste Voraussetzung für einen entspannten Familienabend. „Sorry, aber ich muss noch lernen“, nannte er die erstbeste Ausrede, die ihm einfiel. Zugegebenermaßen war es auch nicht die glaubwürdigste. „Ich habe dich noch nie lernen gesehen“, erwiderte nun auch sein Vater mit deutlichen Zweifeln in der Stimme. „Du bist ja auch nie Zuhause.“ Dieses Gespräch ging eindeutig in die falsche Richtung, denn eigentlich wollte Matt nicht so tun, als hätte es ihn jemals gestört, dass er schon früh auf sich alleine gestellt gewesen war. Meistens war es ganz praktisch gewesen, wenn sein Dad nicht wusste, wo er sich gerade herumtrieb. Andererseits aber wäre es vermutlich auch ganz gut gewesen, wenn er ihn vor einigen blöden Fehlern bewahrt hätte. Matt seufzte. „Vergiss es, ich komme, wenn ich hier fertig bin“, sagte er schließlich nur, um die ganze Sache abzukürzen. „Wirklich?“, fragte Hiroaki, als hätte er selbst nicht mit einer Zusage gerechnet. „Äh, wunderbar. Wann bist du denn fertig?“ „In einer halben Stunde ungefähr.“ „Gut, dann treffen wir uns direkt da!“ Sein Vater legte auf, vermutlich, bevor Matt es sich wieder anders überlegen konnte. Matt starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display. Wie bitte sollte er einen Abend mit T.K. An demselben Tisch überleben? - Wenig später war Matt bei dem indischen Restaurant angekommen, das sein Vater gemeint hatte. Er wartete auf dem Parkplatz und rauchte geduldig seine Zigarette auf, bis seine 'Familie' erschien. Er staunte nicht schlecht, als er bemerkte, dass Megumi ein hautenges, knallrotes Kleid mit Lippenstift und sein Vater einen Anzug trug. Sogar T.K. trug ein Hemd. Eine kurze Zeit überlegte er, ob er sich underdressed fühlen sollte in seiner zerrissenen Jeans, den alten Chucks und dem Metallica-Shirt, entschloss sich dann aber, dass es ihm eigentlich gänzlich egal war. Das hier war immerhin eine spontane Einladung gewesen, und es war nur ein Restaurant, und kein verdammter Abschlussball. Als sein Vater allerdings bemerkte, was Matt trug, seufzte er leise. „Du hättest dir wenigstens eine Hose ohne Löcher und ein Hemd anziehen können“, murmelte er resigniert, weil er schon längst gemerkt hatte, dass Matt sich nicht vorschreiben ließ, was er zu tragen hatte. „Tut mir leid, dass ich mich nicht vorher noch auf dem Klo umgezogen habe“, erwiderte dieser trocken. Megumi allerdings lächelte bloß versöhnlich. „Wir haben doch keinen Dressode für heute Abend abgemacht“, sagte sie, und sah fragend in die Runde. „Also, wollen wir reingehen?“ Von 'wollen' konnte nicht die Rede sein, aber Matt folgte ihnen trotzdem kommentarlos in das schicke Restaurant. Er nahm sich heute wirklich vor, sich zusammenzureißen, und hoffte dabei, dass T.K. dasselbe tun würde. Zumindest seinem Vater zuliebe. Drinnen fühlte er sich tatsächlich nach Indien versetzt in ein absolutes Reichen- und Kulturviertel, und eigentlich schämte er sich, dass er nur die billigsten Restaurants Tokios kannte. Aber er hatte nie wirklich Zeit und irgendwie auch keinen guten Anlass, um mal teuer essen zu gehen. Skeptisch sah er zu seinem Vater und Megumi herüber. Was für einen Anlass hatten sie heute eigentlich? Ein Kellner am Empfang brachte sie zu dem vermutlich vorbestellten Platz, und Matt nahm neben T.K. und gegenüber von seinem Vater Platz, weil dies der einzige Stuhl gewesen war, der noch frei gewesen war. Vielleicht war es nur Einbildung, aber er glaubte, dass T.K. sofort von ihm abrückte, um einen gewissen Abstand zwischen sich und Matt zu bringen. Matt hatte sich schon vorher überlegt, wie das Essen laufen würde, und er hatte sich nicht entscheiden können, ob es eine totale Eskalation oder ein peinlich schweigsamer Abend werden würde. Nun wurde ihm klar, dass Letzteres deutlich eher der Fall war. Niemand schien sich etwas zu erzählen haben, bis die Kellnerin kam und ihre Getränkebestellung entgegennahm. Danach dehnte sich erneut das Schweigen aus. T.K. Tippte auf seinem Handy herum, Hiroaki sah scheinbar gedankenverloren in die Karte und Megumi sah sich gelangweilt um, obwohl Matt sich ziemlich sicher war, dass sie die Umgebung bereits lange genug inspiziert hatte. „Wie war eure Bandprobe?“, ergriff Megumi schließlich das Wort, und wählte dabei anscheinend das erstbeste Thema, das ihr in den Sinn gekommen war. „Wir sind nicht so weit gekommen, wie wir gehofft hatten“, sagte Matt schließlich, und erwähnte bewusst nicht, dass auch sein Vater die Schuld daran trug. „Deswegen müssen wir uns morgen nochmal treffen. Wir haben nämlich am Wochenende wieder einen Gig.“ „Wo denn diesmal?“, fragte Megumi. Matt war sich ziemlich sicher, dass sie es eher aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse fragte, aber immerhin war das ein Versuch, überhaupt Konversation zu betreiben und nicht wieder in das übliche, unangenehme Schweigen zu verfallen. „Im 69.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete er T.K., der scheinbar desinteressiert versuchte, seine Gabel auf seinem Zeigefinger zu balancieren, um so zu wirken, als würde er dem Gespräch gar nicht erst zuhören. Matt kämpfte gegen den Drang an, seinen Bruder diesbezüglich lautstark zurechtzuweisen, aber da dieser sowieso nicht auf ihn hören würde, ließ er es lieber. „Das klingt nach einer Bar, in der Menschen Ü30 schief angeguckt werden würden“, erkannte Megumi lächelnd. „Das klingt eher nach einer Sexstellung“, kommentierte T.K., ohne seine Gabel hinzulegen oder irgendjemanden dabei anzusehen. Matt hätte gerne gewusst, woher sein Bruder sich bitte mit Sexstellungen auskannte, aber das Mantra, das in Dauerschleife in seinem Kopf lief, hielt ihn gerade noch davon ab. Lass sie nicht wissen, dass er dich momentan hasst. Das hier ist ein friedlicher Familienabend. Hiroaki kratzte den Rest seiner verbleibenden Autorität zusammen und räusperte sich lautstark, vermutlich, weil er wollte, dass das Gesprächsthema weiterhin jugendfrei blieb. „Also, wisst ihr alle schon, was ihr bestellen wollt?“ Als hätte er irgendein Codewort gesagt, erschien sofort die Kellnerin und nahm die Bestellungen auf. Für einen kurzen Moment wirkten sie wie eine ganz normale Familie, die einen gemütlichen Abend in einem Restaurant verbringen wollte, so, wie es normale Familien vermutlich ab und zu taten. Schließlich aber sagte T.K. Nur mit spöttischem Ton: „Wow, das sind ja mittlerweile ganze fünfundvierzig Minuten für dich ohne eine Zigarette.“ Matt starrte T.K. an, welcher ihn nur fordernd aus azurblauen Augen ansah. Sie hatten sehr ähnliche Augen, beide tiefblau und mit schwarzen Wimpern, aber T.K.'s waren eine Nuance dunkler. Und irgendwie düsterer. „Takeru!“, rief Hiroaki entrüstet, doch das interessierte T.K. sowieso nicht. Matt konnte sich nur zu gut an die Zeit erinnern, in der er fünfzehn gewesen war, und musste feststellen, dass er damals auch nie auf seinen Vater gehört hätte. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, jemals so frech gewesen zu sein. Das Mantra in Matts Kopf zerplatzte ebenso wie seine guten Vorsätze wie eine Seifenblase. Wenn man ihn provozierte, provozierte er zurück. Eins der wenigen kommunikativen Dinge, in denen er gut war. „Wenn ich du wäre, würde ich aufhören, so frech zu sein, sonst lass ich dich bei deinem nächsten Absturz auf der Straße schlafen.“ Vom peinlichen Schweigen zur Eskalation. T.K. sah aus, als würde er jeden Moment auf Matt losgehen, begnügte sich dann aber doch damit, weiter zu provozieren: „Ich hätte auch noch alleine zurück gefunden.“ Matt schnaubte belustigt. „Ja, natürlich hättest du das.“ „Zumindest nehme ich keine Drogen!“ „Ich auch nicht“, erwiderte Matt, und beobachtete seinen Bruder, der unterdessen seine Faust vor Wut geballt hatte. „Und warum erzählt die ganze Schule das dann?“, erwiderte T.K.. Rote Flecken hatten sich mittlerweile auf seinem Gesicht verteilt, die aussahen wie irgendein ansteckender Ausschlag. „Immer erzählen alle, dass du schon Kinder in die Welt gesetzt hättest und drogenabhängig bist... hast du nur einmal daran gedacht, wie ich mich als dein Bruder dabei fühle?“ Matt versuchte seine Gedanken vor einer Antwort zu ordnen, doch irgendwie schwirrten die Wörter in seinem Kopf so zusammenhangslos durch die Gegend, dass er nicht ganz wusste, womit er anfangen sollte. „Takeru, es reicht!“, hörte er seinen Vater sagen, doch er registrierte es nicht. „Das alles hört sich im Moment eher nach dir an“, erwiderte Matt schließlich, und merkte jetzt erst, dass er sich anscheinend unbewusst für die Eskalation anstatt Entschärfung entschieden hatte. Aber zurücknehmen konnte er seine Worte erst recht nicht mehr, also fuhr er fort: „Ich hab mich nicht mit fünfzehn an einem einzigen Abend in die Disko geschlichen, um da einen Alkoholabsturz zu haben.“ T.K.'s Blicke hätten töten können, doch stattdessen stand er nur wortlos auf, und stampfte aus dem Restaurant. Hiroakis Versuche, ihn wieder zurückzuholen, blieben vergeblich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)