The show must go on von yamimaru ================================================================================ Epilog: Der letzte Akt ---------------------- Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, in dem kleinen, nur spärlich eingerichteten Zimmer, das sie seit einigen Monaten bewohnte. Nachdenklich strich sie mit dem Zeigefinger über den Briefumschlag in ihrem Schoß, den ihr eine Kollegin vor wenigen Minuten in die Hand gedrückt hatte. Sie fühlte sich wie erstarrt, konnte sich nicht dazu bringen, ihn zu öffnen. Der Name, der als Absender auf das braune Papier geschrieben war, schien sie zu verhöhnen, ebenso wie die Handschrift, die ihr so unendlich vertraut war. Mit zusammengekniffenen Augen gab sie sich schlussendlich einen Ruck, riss den Umschlag auf, wie ein Pflaster, das schnell und ohne Zögern von einer Wunde entfernt werden musste. Und wie eine Wunde fühlte es sich an, als sich der Inhalt des Umschlags vor ihr auf dem Bett verteilte. Drei Dinge, so unscheinbar, und doch rann ihr bei ihrem Anblick ein kalter Schauer über den Rücken. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach der CD ausstreckte, die ihr unbeschriftet und ohne Schutzhülle geschickt worden war. Bereits jetzt zogen sich feine Kratzer über die ansonsten glänzende Oberfläche und ließen sie für einen schwachen Moment hoffen, dass das, was darauf auf sie warten würde, unwiderruflich zerstört war.   Mit schweren Gliedern erhob sie sich, ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch hinüber und setzte sich, die CD in das Laufwerk ihres Laptops schiebend. Der Datenträger begann sofort melodisch zu surren und zeigte keinerlei Spuren von Beschädigung. Sie seufzte, rief ihren Player auf und startete das Video, von dem sie wusste, dass es dort sein würde, ohne sich den Inhalt der CD vorher angesehen zu haben. Einige Sekunden blieb der Bildschirm schwarz, bis ein Tisch, vor dem ein leerer Stuhl stand, in den Fokus rückte. Das Bild wackelte, als würde jemand die Kamera justieren, leise Schritte waren zu hören, bevor sie schlussendlich in das Gesicht des Mannes sah, das sie so schmerzlich vermisste und gleichzeitig nur vergessen wollte.   „Hallo, Liebes …“   Ihr Finger hatte so schnell auf die kleine, portable Mouse gedrückt, die mit ihrem Laptop verbunden war, und damit das Video pausiert, dass die Bewegung einem spastischen Zucken gleichgekommen war. Ihr Atem beschleunigte sich, wurde immer flacher, bis schwarze Punkte begannen, vor ihren Augen zu tanzen.   „Ich kann das nicht. Ich kann das nicht“, jammerte sie, vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und beugte sich vor, bis ihre Handrücken die Oberschenkel berührten.   Sie wusste nicht, wie lange sie derart zusammengekauert dagesessen hatte, aber als sich ihre Atemzüge schlussendlich wieder beruhigten und sie sich langsam in ihrem Stuhl aufrichtete, stand die Nachmittagssonne bereits tief am Himmel und kündigte den frühen Abend an. Der Bildschirm war längst schwarz geworden, doch als sie zögerlich die Mouse bewegte, sah sie sich erneut mit seinem Gesicht konfrontiert. Er sah müde aus, stellte sie fest, müde und umgeben von einer Aura der Resignation, als hätte er bereits während der Aufnahme gewusst, wie die Sache enden würde. Ihre Augen brannten, als sie das Video erneut startete und die Anstrengung, ihre Tränen zurückzuhalten, war schlicht und einfach zu groß. So rannen sie stumm über ihre Wangen, während seine sanfte Stimme das kleine Zimmer erfüllte.   „Wenn dich dieses Video erreicht, ist irgendetwas schief gelaufen. Ich hoffe, du hast dich an unsere Vereinbarung gehalten und die Stadt verlassen, bevor sie dich mit mir in Verbindung bringen konnten. Ich könnte es nicht ertragen, dich in Gefahr zu wissen. Wie dem auch sei, du weißt, was zu tun ist. Wir sind den Ablauf so oft durchgegangen, dass ich zuversichtlich bin, dass du alles in unserem Sinne geregelt bekommst.“   Sie schloss die Augen, spürte die Tränen, die auf ihre in ihrem Schoß ruhenden und zu Fäusten geballten Hände tropften. Im Hintergrund hatte ein Lied zu spielen begonnen, das sie nur zu gut kannte. Es war ihr Lied, mit dem sie all die schönen, gemeinsamen Momente verband. Das erste Mal, als sie mit ihm tanzte. Ihr erster Kuss. Ein Meer aus Rosenblättern und der Ring, der wie brennender Stahl noch immer um ihren Finger lag.   „Ich bitte dich, lass dich nicht von ihm täuschen, hörst du? Ich habe dir gesagt, er wird dir alles nehmen, wenn du ihm dein Vertrauen, deine Zuneigung schenkst. Und siehst du jetzt, was ich damit gemeint habe? Er hat dir deine Karriere genommen, wie er es auch bei mir getan hat, alles, was dir etwas bedeutet hat … deine Liebe. Er ist wie ein Krebsgeschwür, das sich hinter einer Fassade der Normalität verbirgt, bis es aufbricht und mit seiner vollkommenen Hässlichkeit alles um sich herum vergiftet. Lass ihn nicht gewinnen, hörst du? Ich hatte gehofft, das nie von dir verlangen zu müssen, aber du bist die Einzige, die für Gerechtigkeit sorgen kann. Du hast es mir geschworen und ich kenne dich, mein Herz, du würdest nie ein Versprechen brechen. Nicht zuletzt deswegen liebe ich dich so sehr.“   Sie zitterte, während die letzten Noten des Liedes verklangen und der Bildschirm erneut schwarz wurde. Mit mechanischen Bewegungen klappte sie den Laptop zu, verstaute ihn samt Zubehör in der obersten Schublade ihres Schreibtisches und erhob sich. In einer Sache hatte er recht – allein der Gedanke daran, ihn nun im Stich zu lassen, ihn auf diese Weise zu verraten, fraß sie innerlich auf. Selbst, wenn sie ihm ihre Loyalität in Unwissenheit versprochen hatte. Sie konnte ihren Schwur nicht vergessen, so sehr sie es in den letzten Monaten auch versucht hatte. Sie hatte alles hinter sich lassen und neu anfangen wollen, aber tief in ihrem Herzen hatte sie immer gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Der Tag, an dem sie ihr Versprechen einlösen musste. Die Vorstellung schmerzte mehr, als sie sich eingestehen wollte, weil ihr bewusst war, dass sie sich letzten Endes doch von ihm hatte einwickeln lassen. Sie war seinem Charme verfallen, der Fassade des schönen Scheins, genau wie er es vorhergesehen hatte. Grob wischte sie sich über die Augen, bevor ihr Blick auf eine CD fiel, die noch verpackt gegen die Ecke des Fensterbretts lehnte. Sie hatte es nicht über sich gebracht, sie zu öffnen, geschweige denn, sich die Lieder darauf anzuhören. Jetzt griff sie danach, betrachtete für einen langen Moment das Cover. Grauer Asphalt, auf dem sich der Regen in schmutzigen Pfützen sammelte, ein roter Regenschirm, vergessen in einer Gasse liegend, und eine gescheckte Katze, die darunter Schutz suchte. Ame no orchestra hätte ihr bislang größter, beruflicher Erfolg werden können, stattdessen wünschte sie sich nun, sie hätte nie mit ihm zusammengearbeitet. Er hatte sie davor gewarnt, wie er es auch jetzt im Video getan hatte, aber sie war naiv gewesen, hatte ihm bei der Vergeltung seines Unrechts zur Seite stehen wollen. Letzten Endes hatte sie nichts erreicht, nichts von Bedeutung, und so, wie die Dinge nun standen, würde nicht einmal ihr finales Opfer daran noch etwas ändern.   Sie legte die CD ebenfalls in die Schublade, bevor sie sie zuschob und die restlichen Dinge von ihrem Bett nahm. Der Schlüssel gehörte zu einem Schließfach, das Logo des Bahnhofs war auf einer Seite eingraviert, die Zahl siebenundsiebzig auf der anderen. Sieben. Sie lächelte gequält und verfluchte ihn für seine Detailverliebtheit. Sie hatten sich an einem siebten Juli kennengelernt. Nur ein Jahr später, ebenfalls am siebten Juli, hatte er ihr einen Antrag gemacht. Sie hatte immer geglaubt, die Sieben wäre ihre Glückszahl – eine weitere Fehleinschätzung. Auf dem Zettel stand nur eine kurze Notiz, eine zusammengefasste Wiederholung dessen, was ihr das Video bereits offenbart hatte. An der Liebesbekundung am Ende blieb sie hängen, strich mit dem Zeigefinger über das Zeichen, das seinen Namen bildete. Sie hatte ihn immer Kenichi genannt, weil er sie darum gebeten hatte, aber vielleicht war es nun an der Zeit, ihn bei seinem wahren Namen zu nennen.   „Nobu.“ Die beiden Silben brannten wie heiße Asche auf ihrer Zunge und ihr Herz schmerzte, als würde es jeden Moment versagen wollen. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, nach dem Glück, dass sie nur für eine so kurze Zeitspanne ihr eigen nennen konnten. Das Papier in ihren Händen zerknitterte, als sie die Rechte zur Faust ballte. Ihr brennender Blick fixierte sich auf die Schublade ihres Schreibtisches, als könnte sie die CD durch das Holz hindurchsehen. „Du bist schuld. Du hast ihn mir genommen.“   ~*~   Die kleinkalibrige Waffe lag schwer in der Tasche ihres Mantels, schien sie mit jedem Schritt mehr nach unten ziehen zu wollen. Es war erstaunlich leicht gewesen, die Anschrift, die er so nachlässig auf den Brief an sie geschrieben hatte, zu verifizieren. Sie hatte geglaubt, nach allem, was passiert war, wäre er vorsichtiger geworden, was seine persönlichen Daten anging, aber er schien sich in Sicherheit zu wähnen. Und warum auch nicht? Schließlich war selbst sie in den letzten Monaten dem Irrglauben verfallen, vergessen zu können. Für einen Moment schoben sich Erinnerungen an schönere Zeiten in ihre Gedanken, versuchten, die Melancholie zu vertreiben, die von ihr besitzergriffen hatte.   Ein warmer Sommertag, der Geruch von Schießpulver in der Luft, während sie die Zielscheibe anvisierte. Sie hatte seine stärkende Präsenz in ihrem Rücken gespürt, seine große Hand, die das aufgeregte Zittern ihrer Finger unterbunden hatte. „Ausatmen, zielen und schießen. Ganz einfach.“   Er hatte ihr wirklich alles gezeigt, was sie brauchte, um zu beenden, was ihm nun nicht mehr möglich war. Hätte sie damals schon gewusst, wie es enden würde, wäre sie dann bei ihm geblieben? Es war müßig, darüber nachzudenken, und dennoch versetzte ihr die Vorstellung, sie hätte all dem hier entfliehen können, einen schmerzhaften Stich.   Sie vergrub ihr Gesicht tiefer in ihrem Schal und stemmte sich gegen den eisigen Wind, der ihr ihre Haare vor die Augen wehte. Als sie heute Morgen ins Flugzeug gestiegen war, war ihr der leichte Wollmantel zu warm gewesen, doch jetzt beglückwünschte sie sich nicht nur der tiefen Taschen wegen, sich für dieses Kleidungsstück entschieden zu haben. Schwere, nasse Schneeflocken fielen auf sie herab und ließen ihre Haare binnen Minuten unangenehm feucht auf ihrer Kopfhaut kleben. Die Stadt wirkte schmutzig und noch grauer als sonst, während sie über die Straße eilte. Eine junge Mutter, ihr quengelndes Kleinkind auf dem Arm, hielt ihr die Tür des Wohnblocks auf.   „Danke“, murmelte sie, deutete eine höfliche Verbeugung an, und dann war sie hier, am Ziel ihrer Reise. Am Ende ihres Weges, ihr Schicksal vor Augen. Sie schüttelte über ihre wirren Gedanken, die so sehr nach den seinen klangen, den Kopf und begann, die vielen Stufen nach oben zu steigen. Sie hätte es nicht ertragen, im Aufzug zum Stillstehen verdammt zu sein. Ihre Oberschenkel brannten, als sie endlich im richtigen Stockwerk angekommen war und ihr Atem kam ihr nur stoßweise über die Lippen. Letzteres, so vermutete sie, lag jedoch nicht nur an der Anstrengung ihrer kurzen, sportlichen Betätigung. Genau so wenig, wie das drückende Gefühl, das ihren Brustkorb beschwerte und ihren viel zu schnellen Herzschlag in ihren Ohren dröhnen ließ.   Noch konnte sie umkehren. Noch hatte sie die Chance, alles hinter sich zu lassen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie war schon so weit gekommen, hatte sich beinahe wieder eine richtige Existenz aufgebaut …   Ihr Finger drückte auf den Knopf der Klingel, der sich neben der unscheinbaren Wohnungstür befand. Das melodische Läuten ließ sie zusammenfahren, die Schritte, die sich ihr langsam und gedämpft näherten, erzittern.   Die Tür öffnete sich …   „Ami? Das ist ja eine Überraschung. Was machst du denn hier?“   „Hallo, Tatsuro, darf ich reinkommen?“         ~ ENDE ~ Hosted by Animexx e.V. 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