The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 16: Klappe, die Sechzehnte ---------------------------------- Sein Körper fühlte sich eigenartig schwer an, als er die Augen öffnete, die selbst im vorherrschenden Dämmerlicht zu brennen begannen. Allein diese kleine Regung kostete ihm unglaublich viel Kraft und die Mühe, die es ihm bereitete, die Lider geöffnet zu lassen, war so groß, dass er am liebsten aufgegeben hätte. Aber nach einer Weile wurde es besser und er begann, seine Umgebung wahrzunehmen. Das Erste, das ihm auffiel, war sein Auge oder vielmehr die Tatsache, dass er nur links etwas sehen konnte. Als er die Nase kräuselte und leicht die Lippen verzog, spürte er einen seltsamen Zug auf der rechten Seite. Wieder brauchte sein Hirn ewig, bis es diese neuerliche Empfindung einem Gefühl zuordnen konnte, das er in der Vergangenheit schon einmal gespürt hatte. Ein Pflaster oder ein Verband; irgendetwas, womit sein rechtes Auge abgedeckt worden war. Nun gut, dann wäre also wenigstens dieses Rätsel schon gelöst, auch wenn er den Grund dafür noch nicht kannte. Aber eins nach dem anderen.   Die Decke über ihm war weiß, wie auch die Wände und so gut wie jeder Gegenstand in seiner näheren Umgebung, den er, ohne den Kopf zu bewegen, erkennen konnte. Ein dreieckiger Haltegriff mit grauem Gummi überzogen war an einer Metallstange über seinem Bett angebracht und hätte ihn das sterile Weiß nicht schon auf einen guten Weg gebracht, seinen Aufenthaltsort zu identifizieren, spätestens diese Konstruktion war eindeutig. Er lag also in einem Krankenbett, vermutlich in einer Klinik, und diese Erkenntnis deckte sich mit der Trägheit seines Geists und der Schwäche seines Körpers. Tatsuro machte ein weiteres Häkchen auf seiner mentalen Checkliste, während ihm gleichzeitig in den Sinn kam, dass es seltsam war, wie ruhig er sich fühlte. Sollte es ihn nicht erschrecken, dass er im Krankenhaus lag? Sollte es ihn nicht brennend interessieren, was mit ihm geschehen war? Nein, so schnell diese Fragen aufgekommen waren, so eilends verschwanden sie hinter einem dichten, schwarzen Vorhang des Vergessens, wo sie fürs Erste gut aufgehoben waren.   ‚Nun denn, weiter im Text‘, dachte er. Schmerzen spürte er keine, was komisch war, bedachte man seine Lage. Nur Durst hatte er, so schrecklichen Durst. Langsam öffnete er den Mund, um sich über die Lippen zu lecken. Erstaunlich. Seine Kehle fühlte sich roh und ausgetrocknet an und er hatte damit gerechnet, dass auch seine Lippen spröde und trocken sein mussten, aber dem war nicht so. Ein schwacher Geschmack nach Kirsche breitete sich auf seiner Zunge aus und zwang eine Handvoll Erinnerungen, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins an die Oberfläche zu steigen.   Wellenrauschen. Der Wind, der die weiße Plane über seinem Kopf leicht flattern ließ. Ein nicht unangenehmer Zug an seinen Haaren, während eine Bürste durch sie glitt. Seine Finger, die die Tube seines Lieblingslippenbalsams öffneten. Sein Spiegelbild und das lächelnde Gesicht einer jungen Frau über seiner rechten Schulter schwebend.   Tatsuros Augen schlossen sich länger als ein Blinzeln, bevor er erneut an die Zimmerdecke starrte. Seine Erinnerungen schwappten wie zäher Honig in seinem Kopf umher und schienen davonzutreiben, immer wenn er eine von ihnen greifen wollte.   Die Frau … Yumiko … Seine Stylistin. Ob sie hier gewesen war und den Balsam vorbeigebracht hatte? Der Gedanke war sowohl tröstlich als auch furchteinflößend. Allein die Vorstellung, dass er schutzlos in diesem Bett gelegen hatte, schlafend – bewusstlos? – und die Tatsache, dass er sich an ihre Anwesenheit nicht erinnern konnte, schickte ein ängstliches Flattern durch seinen Magen.   ‚Du kannst dich an vieles nicht erinnern‘, wisperte eine kleine Stimme in seinem Kopf, aber statt ihr Gehör zu schenken, leckte er sich nur noch einmal über die Lippen und dankte dem Schleier des Vergessens, der die Furcht mit sich nahm.   Eine Weile starrte er vor sich hin, versuchte, vorerst alle weiteren Gedanken zu vertreiben. Er konzentrierte sich auf seinen Atem – ein, aus, ein, aus – bis ein neues Geräusch seinen beinahe meditativen Zustand durchbrach. Zunächst konnte er das rhythmische Klopfen nicht zuordnen, bis ihm mit einem Mal eine Melodie in den Sinn kam. Er begann zu summen, seine Stimme kratzig, rau und unsicher. Regen, es war Regen, der gegen ein Fenster trommelte.   Regen … Die Melodie … Ame no orchestra. Der Film, den sie die letzten Monate über gedreht hatten. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als plötzlich Szenen des Drehs und die Gesichter seiner Kollegen wie in einem Daumenkino vor seinem geistigen Auge vorbeizogen.   Eine Glückskatze, ihr Fell ganz nass vom Regen. Sein Bruder hinter der Kamera. Eine Frau mit braunen Locken, Ami, mit einer Gitarre auf dem Schoß. Sein Manager, Gara, der Yumiko im Arm hielt und über irgendwas lachte, das seine Freundin gerade gesagt hatte. Der kleine, viel zu ernste Regisseur, der ihm lobend auf die Schulter klopfte.   Tatsuro zog die linke Braue nach unten, als er nachdachte. Wie war der Name des Regisseurs noch gleich? Irgendetwas mit M … Mi… Miya, das war es. Das Prasseln des Regens wurde lauter und Tatsuro drehte den Kopf etwas zur Seite, bis das Fenster in sein Gesichtsfeld rückte. Für einen langen Moment lenkten ihn die Tropfen und Wasserspuren darauf ab, folgte er ihnen mit Blicken, bis eine weitere Erinnerung nach seiner Aufmerksamkeit verlangte.   Ein roter Regenschirm, ein lächelndes Gesicht darunter, warme Augen, die ihm einen Stich ins Herz jagten. War es Furcht oder Sehnsucht, was er gerade empfand? Und wessen Gesicht war das gewesen? Tatsuro versuchte, die Erinnerung noch einmal zu sehen, aber sie flatterte wie ein Vogel davon und hinterließ nichts als knochentiefe Müdigkeit. Er schloss sein Auge, sank tiefer ins Kissen zurück, doch lauschte weiterhin dem Regen, der ihn wie ein Wiegenlied in den Schlaf zu singen begann.   Später hätte er nicht sagen können, wie lange er zwischen Schlaf und Wachsein getrieben war. Der Regen war lauter geworden, dann zu einem bloßen Wispern und schließlich gänzlich verstummt. Er wünschte sich, er hätte im Freien sein, die Wassertropfen auf seiner Haut spüren können oder wenigstens das Fenster öffnen, um die frische Luft hereinzulassen. Wenn er sich anstrengte, konnte er das würzige Aroma beinahe riechen, das die Stadt nach jedem Regenschauer einhüllte. Er erinnerte sich an seine Kindheit auf dem Land zurück, wie anders es dort geduftet hatte, wenn der Regen auf die Felder und Wälder herniederging. Kein Geruch von abkühlendem Asphalt, dafür der belebende Duft nach nassem Laub und Holz. Ein feines Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er spürte, wie die langen Finger eines Traums nach seinem Bewusstsein greifen, ihn mit weiteren Bildern aus seiner Kindheit locken wollten. Doch bevor sie ihn erreichen konnten, holten ihn das leise Klicken einer Tür und gedämpfte Schritte, die sich seinem Bett näherten, zurück in die Realität. Er hörte, wie ein Stuhl nähergezogen wurde, das Rascheln von Kleidung, als ein Körper sich setzte. Erschreckend reale Finger legten sich plötzlich auf seinen Handrücken, begannen, ihn zu streicheln – ein so schönes, echtes Gefühl, von dem er bis zu diesem Augenblick nicht gewusst hatte, dass er es vermisste.   „Hey, Schlafmütze“, erklang eine leise, müde wirkende Stimme und für einen Moment verstand Tatsuro nicht, dass er es war, der soeben angesprochen wurde. „Ich war gerade im Café einige Straßen von hier. Das mit den vielen Grünpflanzen im Inneren des Gastraums, von dem ich dir schon einmal erzählt habe. Erinnerst du dich? Das, wo man sich wie im Dschungel fühlt.“ Der Mann – Tatsuro war sich sicher, dass ein Mann mit ihm sprach – lachte, ein fast erstickter Laut, der sein Herz schmerzen ließ. „Ich musste mir ein wenig die Beine vertreten und mal ganz unter uns, diese Plürre, die sie hier als Kaffee verkaufen, kann man auf Dauer wirklich nicht trinken. Ich hätte dir auch etwas mitgebracht, aber du hast ja nicht geantwortet, als ich dich gefragt habe. Wie immer.“ Für eine ganze Weile trat Stille ein, in der Tatsuros Ohren nach kurzer Zeit schon zu dröhnen begannen, so angestrengt versuchte er, irgendetwas zu hören. „Tut mir leid.“ Beinahe wäre er zusammengezuckt, als die Stimme wieder erklang und obwohl er äußerlich keine Regung zeigte, schlug sein Herz wie wild gegen seinen Brustkorb. „Ich sollte dir keine Vorwürfe machen, es ist nur so …“ Ein seufzen folgte, dann etwas Weiches auf seinem Handrücken, das er als Lippen erkannte, die einen Kuss auf seine Haut drückten. Wärme durchflutete ihn und ein Kribbeln jagte durch seinen Körper, das er bislang nur mit eingeschlafenen Gliedmaßen in Verbindung gebracht hatte. „Wach auf, bitte, wach endlich auf.“   ‚Ich bin wach‘, wollte er sagen, wollte irgendetwas tun, um die Trauer zu vertreiben, die er aus der Stimme des Mannes heraushören konnte. Ein Gefühl der Vertrautheit wusch über ihn hinweg, die unumstößliche Gewissheit, den anderen zu kennen. Der rote Regenschirm kam ihm erneut in den Sinn, die warmen Augen … ‚Yukke.‘ Seine Lippen formten einen Namen, aber kein Laut kam über sie. Warum nur war es so anstrengend, sein Auge zu öffnen? Verdammt, er hatte das doch schon einmal hinbekommen. Seine Finger zuckten vor Anstrengung und diese kleine Bewegung musste den Mann auf ihn aufmerksam gemacht haben. Plötzlich spürte er eine zaghafte Berührung an der linken Wange, hatte das Gefühl, als stünde der andere nun direkt über ihm. Für einen Herzschlag zuckte so etwas wie Panik durch ihn, aber noch bevor er sich dieser Empfindung überhaupt wirklich bewusst werden konnte, verschwand auch sie hinter dem Vorhang aus undurchdringlichem Schwarz.   „Tatsue?“ Sein Name, so leise gewispert, dass er ihn selbst in der Stille des Krankenzimmers kaum verstanden hatte. Ein Finger streichelte über seinen Unterkiefer und selbst in dieser hauchzarten Berührung konnte er das Zittern spüren, das auch in der leisen Stimme mitschwang. „Bitte sag mir, dass ich mir das nicht eingebildet habe.“   Sagen konnte Tatsuro nichts, das war definitiv zu viel verlangt, aber sein Auge tat endlich das, was er wollte und öffnete sich. Seine Sicht war verschwommen, wie eben auch schon, begann sich jedoch langsam zu klären und den Blick auf ein mageres, besorgtes Gesicht preiszugeben.   „Du bist wach.“   Er sah Tränen in den schönen Augen schimmern und konnte nicht anders, als schwach zu lächeln. Viel lieber hätte er nun die Hand gehoben, um die Nässe fortzuwischen, die haltlos über eingefallene Wangen rann, stattdessen blinzelte er nur träge, als ein salziger Tropfen wie Regen auf sein Gesicht fiel.   „Ich bin gleich wieder da, in Ordnung?“, wisperte der Mann – Yukke, mittlerweile war er sich sicher, dass es Yukke war – mit gebrochener Stimme und hauchte ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Schlaf bitte nicht wieder ein, okay? Ich hol Doktor Yoshida.“   Nur zu gerne hätte er gesagt, dass er keinen Arzt brauchte, dass Yukke einfach nur bei ihm bleiben sollte, damit er weiterhin die Nähe zu ihm in sich aufsaugen konnte. Doch die Finger verschwanden, ebenso wie sein Gesicht, bis Tatsuro erneut von Stille und Weiß umgeben war. Er hörte ein leises Wimmern und als ihm bewusst wurde, dass er es war, der diesen Laut von sich gab, wurde ihm eiskalt. Die eigenartige Ruhe und Gelassenheit, die bislang seine Gedanken dominiert hatte, bekam erste Risse und das, was dahinter auf ihn lauerte, machte ihm schreckliche Angst.   Die Tür öffnete sich erneut, schnelle Schritte kamen auf ihn zu und wieder war Yukkes Gesicht das Erste, was er sah. Hinter ihm tauchten weitere Personen auf, vermutlich der Arzt, von dem der andere gesprochen hatte, und zwei Pfleger. Plötzlich schien grelles Licht in sein Auge, etwas Glattes legte sich um seinen Oberarm und wurde zischend immer enger, bis sich etwas Kühles gegen seine Ellenbeuge presste.   „Hundertfünf zu sechzig“, merkte einer der Neuankömmlinge an, dann fühlte er eine weitere Berührung, diesmal an seiner Stirn. „Siebenunddreißig-Vier.“   Die Fremden verunsicherten ihn – zu viele Bewegungen, zu viele Stimmen, zu viel Lärm. Seine innere Barriere, der schwarze Vorhang des Vergessens, öffnete sich weiter und der gähnende Abgrund ungewollter Erinnerungen schien ihn wie ein schwarzes Loch verschlingen zu wollen.   „Herr Iwakami, hören Sie mich?“ Eine melodische Stimme holte ihn ins Hier und Jetzt zurück und er blinzelte träge. Es war wieder ruhiger im Zimmer geworden. Er hörte das Kratzen eines Kugelschreibers, als einer der Pfleger etwas auf einem Klemmbrett notierte, sah Yukke an seiner Seite stehen, die Finger ineinander verknotend, als würde er ihn erneut berühren wollen.   ‚Bitte‘, dachte Tatsuro, wünschte sich in diesem Moment nichts Sehnlicheres, als Yukkes vertraute Berührungen, die ihm Halt geben würden. Stattdessen hörte er erneut diese fremde Stimme und versuchte, seinen Blick auf den Mann zu richten, der ihn angesprochen hatte – der Arzt, wie er eben schon vermutet hatte.   „Verstehen Sie mich?“   Tatsuro nickte langsam – Himmel, warum war selbst diese kleine Bewegung nur so unendlich anstrengend?   „Sehr gut. Es ist normal, dass Sie sich müde und schwach fühlen. Sie haben sehr lange geschlafen, Herr Iwakami.“   Sehr lange? Was meinte er damit? Tatsuros linke Augenbraue senkte sich ein Stück, als er überlegte.   „Sie sind am 21. Juli eingeliefert worden – heute ist der 05. September.“   Sein erster Gedanke war: ‚Ich hab Satochis Geburtstag verschlafen‘ und diese Erkenntnis war in diesem Augenblick so unwichtig, dass er gelacht hätte, wäre sein ausgelaugter Körper dazu imstande gewesen. Sechs Wochen. Er war seit über sechs Wochen hier? Das konnte nicht wahr sein. Das war doch nur ein schlechter Scherz, oder? Tatsuros Atem beschleunigte sich, während sein Blick unverwandt auf dem Gesicht des Arztes ruhte. Kühle Finger legten sich um sein Handgelenk, fühlten den Puls, während Doktor Yoshida ruhig auf ihn einzureden begann. Durch das Rauschen in seinen Ohren verstand er nicht, was gesagt wurde, aber allein die Melodie seiner Stimme hielt die Panik zurück, die mit langen Klauen an den Innenwänden seines Schädels kratzte. Er versuchte, sich zu beruhigen, konzentrierte sich mehr und mehr auf sein Gegenüber. Die durchdringenden, intelligenten Augen des Arztes betrachteten ihn kritisch. Es lag eine Intensität in ihnen, die Tatsuro geängstigt hätte, würden runde Wangen und die Lachfältchen um Mund und Augen das Gesicht vor ihm nicht beinahe jungenhaft wirken lassen. Er bemerkte, dass sein Atem sich wieder gemäßigt hatte, er im gleichen Rhythmus wie der Arzt die Luft in seine Lungen sog. Ein kleiner Teil in ihm, den er einmal als seinen Stolz bezeichnet hatte, protestierte, so manipuliert worden zu sein. Der Rest war jedoch erleichtert, dass sich die Panik fürs Erste zurückgezogen hatte. Er ahnte, wusste, dass sie wiederkommen würde, dass er sich ihr irgendwann würde stellen müssen, aber nicht jetzt.   „In Ordnung?“ Doktor Yoshida lächelte ihn an, als hätten sie in den letzten Augenblicken eine sehr erhellende Unterredung geführt. Er nickte, ein schwaches, abgehaktes Zucken, und drehte den Kopf, um Yukke zu fixieren. Er versuchte, die Hand zu heben, sie nach dem anderen auszustrecken, aber viel mehr als ein jämmerlich schwaches Wackeln seiner Finger bekam er nicht hin. Doktor Yoshida entließ sein Handgelenk, richtete sich aus seiner vorgebeugten Haltung auf und tauschte einen Blick und ein Nicken mit Yukke, die ihn dazu veranlassten, näherzukommen und endlich, endlich wieder die Finger um die seinen zu legen. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und er ließ es zu, das plötzliche Gefühl der Erleichterung so überwältigend, dass er am liebsten sein Auge geschlossen und der Erschöpfung nachgegeben hätte, die nachdrücklich an ihm zerrte.   „Sie können sich gleich wieder ausruhen, Herr Iwakami“, sprach ihn der Arzt erneut an, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Ich muss ihnen nur noch einige, wenige Fragen stellen. Versuchen sie zu nicken oder den Kopf zu schütteln, in Ordnung?“   Er nickte.   „Gut. Ihr Name ist Iwakami, Tatsuro?“   Wieder ein Nicken.   „Sie sind am 21. August 1979 in Mito geboren?“   Nicken.   „Sie sind von Beruf Sänger?“   Tatsuros Stirn legte sich in Falten, bevor er zaghaft den Kopf schüttelte. Ein Lächeln legte sich auf Doktor Yoshidas Lippen und er glaubte, ein fast hinterlistiges Funkeln in seinen Augen erkennen zu können.   „Bitte entschuldigen Sie, mein Fehler. Ich meinte natürlich Schauspieler.“   Tatsuro schnaubte, bewegte seinen Kopf jedoch in einer zustimmenden Geste.   „Wissen sie, was geschehen ist?“   Diesmal dauerte es länger, bis Tatsuro sich zu einer Antwort hinreißen lassen konnte. Er wusste, was geschehen war. Die Antworten waren da, hinter dem Vorhang aus Schwarz, er würde nur nachsehen müssen. Aber wollte er das? Wollte er sich dem stellen, was dort auf ihn lauerte? Er schüttelte den Kopf, ein schwaches Drehen von der einen auf die andere Seite.   „Das ist nicht schlimm. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Iwakami. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Patienten so kurz nach dem sie das Bewusstsein wiedererlangt haben nicht sofort an alles erinnern können. Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert einwandfrei und den Rest bekommen wir auch noch hin.“ Der Arzt schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, das Tatsuro unter anderen Umständen als eine nette Geste empfunden hätte, welches ihm nun jedoch nur ein mulmiges Gefühl bescherte. Er wollte sich nicht erinnern, verdammt. Da gab es nichts wieder hinzukriegen.   „Yukke?“   „Mh?“   Tatsuros Aufmerksamkeit glitt weg von Doktor Yoshida hin zu Yukke, den soeben einer der Pfleger angesprochen hatte.   „Wenn er nachher Durst hat, gib ihm ein paar von den Eis-Chips hier, okay? Ich bring später eine Suppe, aber vorerst soll er langsam machen.“   „Eis-Chips?“ Yukke nahm den weißen Plastikbecher entgegen, den ihm der Pfleger hingehalten hatte.   „Ja. Er darf noch nicht viel auf einmal trinken und das Risiko, sich zu verschlucken, ist damit geringer.“ Die Männer lächelten sich an und die Hand des schwarzhaarigen Pflegers drückte für einen Moment Yukkes Schulter, bevor er sich wieder zurückzog.    Tatsuro gefiel die Vertrautheit nicht, die zwischen den beiden herrschte, und gleichzeitig fühlte er sich schäbig, so zu denken. Was wusste er denn schon? Er hatte sechs Wochen lang nichts Besseres zu tun gehabt, als zu schlafen, während Yukke … ja, was genau? Hatte er ihn ab und an besucht? Einmal die Woche? Täglich? War er nicht von seiner Seite gewichen? Tatsuro blinzelte und es fiel ihm unendlich schwer, sein Augenlid erneut zu öffnen. Es war unwichtig, wie oft Yukke ihn besucht hatte oder wie leger er mit diesem Pfleger umging. Er sah die Erschöpfung im Blick des anderen, die Müdigkeit in jeder Bewegung … und es war ganz offensichtlich seine Schuld.   Sich räuspernd richtete Doktor Yoshida das Wort erneut an ihn: „Ich werde heute noch die Polizei darüber informieren müssen, dass Sie aufgewacht sind, Herr Iwakami. Ich denke, die Beamten werden frühestens am Montag vorbeikommen, um Sie zu befragen. Ich tue mein Bestes, dass sie Sie heute und am Wochenende noch in Ruhe lassen.“ Das verschwörerische Augenzwinkern, welches auf diese Aussage hin folgte, irritierte Tatsuro nur für einen kurzen Moment, bevor sich auf seine Lippen ein schwaches Lächeln legte. Er mochte den Arzt schon jetzt, auch wenn die Aussicht darauf, irgendwann mit jemandem darüber reden zu müssen, was geschehen war, seinen Magen in Aufruhr versetzte. „Nun gut, ruhen Sie sich etwas aus, ich sehe in ein paar Stunden noch einmal nach Ihnen.“ Doktor Yoshida nickte ihm lächelnd zu, bevor er mit seinen Helfern aus dem Zimmer verschwand.   „Willst du was trinken?“ Yukkes leise Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen und als er den Kopf sacht zur Seite drehte, badete er regelrecht in der Fürsorglichkeit, die der andere mit jeder Faser seines Körpers auszustrahlen schien. Eine Hand legte sich an seine Wange und er schmiegte sich so gut es ging gegen sie, während etwas herrlich Kühles und Nasses gegen seine Lippen drückte. Er öffnete den Mund gerade so weit, dass das Eis auf seine Zunge gleiten konnte und spätestens, als das schmelzende Wasser seine wunde Kehle beruhigte, schloss er beinahe überwältigt sein Auge. Hätte er sich entscheiden müssen, was sich besser anfühlte, die Nähe zu Yukke oder das Eis auf seiner Zunge, er hätte es nicht sagen können. „Noch eines?“, fragte Yukke und er brummte zustimmend, ein feines Lächeln auf den Lippen. Die Finger des anderen hatten begonnen, über sein Haar zu streicheln und irgendetwas an dieser Berührung fühlte sich eigenartig an. Doch er konnte nicht sagen, was genau ihn störte und eigentlich war das auch gar nicht so wichtig. Er schluckte und sogleich reagierte Yukke, legte ihm ein neues Eisstückchen auf die Lippen. Gott, wie gut das tat. Wie viel Eis am Ende in seinem Mund geschmolzen war, hätte er nicht sagen können, aber sogar so eine selbstverständliche Tätigkeit wie schlucken schien ihm auch noch die restlichen Kräfte zu rauben. Er seufzte leise und schüttelte kaum erkennbar den Kopf, als seine Lippen erneut kalt wurden. Er war zu müde, um weiterzumachen, obwohl sein Körper noch lange nicht genug zu haben schien.   „Ist okay“, murmelte Yukke und er hörte das leise Geräusch, mit dem der Becher beiseitegestellt wurde. „Ich kann dir später noch mehr holen, wenn du magst. Schlaf ein bisschen.“ Er spürte Yukkes Lippen auf seiner Stirn, dann für einen Herzschlag lang nur seinen Atem auf den Lippen, bevor er ihm mit kaum spürbarem Druck einen Kuss schenkte. Am liebsten hätte er seinen Arm gehoben, den anderen nähergezogen und sich an ihn gekuschelt. Aber noch bevor er überhaupt Anstalten machen konnte, sich irgendwie zu bewegen, glitt er in die Dunkelheit der Erschöpfung ab. Er fragte sich noch, wie es sein konnte, dass er so unendlich müde war, wenn er doch so lange geschlafen hatte, aber eine Antwort darauf fand er nicht mehr.   ~*~   Der Nachmittag war ein unscharfes Wirrwarr aus Eindrücken, die Tatsuro nur am Rande seines Bewusstseins miterlebte. Da war die vertraute Stimme seines Bruders, kräftige Arme, die ihn ungeschickt umarmten. Der Duft nach Schokoladenkeksen, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, obwohl er zu schwach war, um auch nur einen von ihnen zu probieren. Miyas ruhige Stimme, die ihm von Ame erzählte, davon, dass der Film mittlerweile fertig geschnitten war und am ersten November Premiere in den Kinos feiern würde. Yukkes Abwesenheit und das nagende Gefühl, ihn zu vermissen.   Tatsuro war erleichtert, Satochi wohlauf zu sehen, freute sich darüber, dass sein Bruder ihn besuchte, aber gleichzeitig war ihm unangenehm bewusst, wie wenige seiner Gefühlsregungen er zeigen konnte. Ein zögerliches Lächeln hier, ein schwaches Drücken einer Hand dort. Er fühlte sich wie eine Marionette, deren Fäden ausgeleiert waren, die Bewegungen abgehakt oder unmöglich. Von daher war er nun nicht einmal enttäuscht, als die beiden Pfleger von heute Morgen ins Zimmer kamen.   „Guten Abend“, wurden sein Besuch und er höflich begrüßt, bevor der eigentliche Grund der Störung preisgegeben wurde. „Ich muss die Herren leider bitten, jetzt zu gehen. Herr Iwakami muss sich ausruhen.“   Satochi seufzte, erhob sich aber ohne Proteste und lehnte sich über ihn, um ihn erneut in eine ungelenke Umarmung zu ziehen.   „Ich komm morgen mit unseren Eltern wieder. Brav bleiben und ärger die Pfleger nicht zu sehr.“ Er zwinkerte ihm zu und Tatsuro zog so gut es ging eine Grimasse, welche seinen Bruder zum Lachen brachte. „Genau so meine ich das.“   Kaum hatte sich auch Miya von ihm verabschiedet und war die Tür wieder ins Schloss gefallen, sah er sich im Fokus der beiden Krankenhausangestellten wieder. Schicksalsergeben beantwortete er die Fragen nach seinem Wohlbefinden durch nicken oder Kopfschütteln, während sie ihn wuschen und sich um weitere, nicht ganz so angenehme Aspekte seines Körpers kümmerten. Zum ersten Mal, seit er aufgewacht war, war er froh darüber, dass sich sein Geist noch immer wie in Watte gepackt anfühlte und sich sein Schamgefühl somit auf ein Minimum beschränkte.   „Sie können jederzeit klingeln“, sprach ihn einer der Pfleger an – der, mit dem Yukke Freundschaft geschlossen zu haben schien. Tatsuro musterte sein Gegenüber genauer; beinahe feminine Gesichtszüge, volle Lippen, mandelförmige Augen und die Haare, die er am Morgen noch für Schwarz gehalten hatte, fielen in dunkelbraunen Wellen bis auf seine breiten Schultern. Michiya stand auf dem Namenschild, das er an das Oberteil seiner hellblau-weißen Krankenhausuniform gepinnt trug und auf dem Kugelschreiber, der in seiner Brusttasche klemmte, stand Tokyo Heart Centre geschrieben. Tatsuro zog die linke Braue nach unten, als er überlegte, warum er ausgerechnet in eine Spezialklinik für Herzerkrankungen gebracht worden war. Aber nachzufragen kostete zu viel Energie, genau wie nachdenken, also verwarf er seine Neugierde sogleich wieder.   „Bitte versuchen Sie nicht, ohne Hilfe aufzustehen, in Ordnung? Auch nicht, wenn Sie auf die Toilette müssen. Die Station ist rund um die Uhr besetzt, Sie müssen sich nur bemerkbar machen.“   Er nickte, auch wenn ihm diese Abhängigkeit von Fremden unglaublich unangenehm war, und atmete erleichtert durch, als er wieder alleingelassen wurde. Lange Minuten blickte er vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen, und ließ seine Gedanken ziehen. Irgendwann begann er, mit den Füßen zu wackeln, die Hände folgten und erst jetzt spürte er, dass seine Gliedmaßen zu kribbeln begonnen hatten. Der andere Pfleger, der, den er nicht so genau gemustert hatte, hatte seinen Rücken, die Beine und Arme mit einer nach Menthol duftenden Lotion eingerieben, die nicht nur einen angenehm kühlenden, sondern auch belebenden Effekt zu haben schien. Das Rückenteil seines Bettes war etwas nach oben gestellt und er tastete nach der Fernbedienung. Satochi hatte ihm die Funktionsweise des Kästchens eben noch voller Eifer erklärt, sodass er nun wusste, auf welchen Knopf er drücken musste, um noch etwas gerader im Bett sitzen zu können. Allein dieser geringe Positionswechsel ließ ihn schwindeln und für einen langen Moment hielt er die Augen geschlossen. Erst, als sich sein Kreislauf wieder beruhigt hatte und sein Atem gleichmäßig und ruhig ging, öffnete er sie wieder. Die Pfleger hatten das Licht in seinem Zimmer nicht eingeschaltet, bevor sie gegangen waren, und nun warf die untergehende Sonne lange Schatten durch den Raum, immer wenn sie sich durch die dicken Regenwolken mogeln konnte, die den Himmel den ganzen Tag über nicht verlassen hatten. Wie spät es wohl sein mochte? Auf dem Nachttisch neben seinem Bett stand ein Tablett mit mehreren, abgedeckten Schüsseln – sein Abendessen, wenn er sich nicht täuschte. Er war nicht hungrig und hatte den Nachmittag über immer wieder ein wenig getrunken, sodass sich auch sein Durst in Grenzen hielt. Sein Blick war sehnsüchtig auf die Welt vor seinem kleinen Fenster gerichtet, als es leise klopfte, bevor sich ein nur allzu vertrauter, brünetter Schopf durch den Türspalt schob.   „Hey, du bist ja wach.“ Yukke lächelte ihn an und sah tatsächlich ausgeruhter als heute Morgen aus. Ob er nach Hause gefahren war, um eine Mütze Schlaf abzubekommen? Gegönnt hätte er es ihm.   „Hey“, versuchte er zu sagen, aber seine Stimme wollte ihm noch immer nicht gehorchen. Noch einer der Nebeneffekte seines ungewollten Dornröschenschlafs, wie Doktor Yoshida es so schön ausgedrückt hatte. Da es also mit einer verbalen Begrüßung nicht klappen wollte, streckte er lächelnd eine zitternde Hand nach seinem Gast aus. Yukke durchquerte den kleinen Raum mit nur drei großen Schritten und umschloss sie mit kalten Fingern. Tatsuro erschauderte, was ein entschuldigendes Lächeln auf die vollen Lippen zauberte.   „Sorry, draußen geht ein ekelhaft kalter Wind und ich hab vergessen, mir eine Jacke überzuziehen.“   Tatsuro schüttelte lächelnd den Kopf und klopfte auffordernd auf seine Matratze, doch statt sich neben ihn zu setzen, zog Yukke einen der Besucherstühle näher und machte es sich darauf bequem. Die missmutige Schnute, die er daraufhin zog, erheiterte sein Gegenüber hörbar.   „Die Pfleger sehen es gar nicht gern, wenn der Besuch auf dem Krankenbett sitzt. Ich will lieber nicht riskieren, es mir mit ihnen zu verscherzen.“ Yukke richtete sich auf, lehnte sich zu ihm herüber und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen.   Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tat, und mit der Tatsuro diese Geste annahm, war eigenartig, bedachte man, was zwischen ihnen alles passiert und wie ungeklärt ihr gemeinsamer Status war. Als hätten sie den zaghaften Neubeginn, den sie am letzten Tag des Drehs geknüpft hatten, einfach übersprungen und wären zu einer Routine übergegangen, die unerwartet und ungewohnt, aber nicht unangenehm war. Gott, es gab so vieles, worüber er mit Yukke reden wollte, was er ihn fragen, ihm erklären wollte, aber solange seine Stimme nicht zurückgekehrt war, war das ein Ding der Unmöglichkeit.   „Ich glaub, dir geht es ein bisschen besser, was? Du wirkst wacher auf mich.“   Tatsuro nickte etwas geistesabwesend, während er überlegte, wie er die Fragen, die in seinem Kopf umhergeisterten, formulieren konnte, ohne sie verbal aussprechen zu müssen. Er fixierte Yukke, legte die Hand über sein eigenes Herz und machte dann eine kleine Bewegung mit dem Zeigefinger, die sein Krankenzimmer und das ganze Klinikum mit einschloss.   „Mh?“, brummte Yukke und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Tut mir leid, ich versteh nicht, was du von mir willst.“   Frustriert schnaubte er und schaute sich um, bis sein Blick auf das Klemmbrett auf seinem Nachttisch fiel, auf dem ein Papier mit dem Logo der Klinik lag. Er deutete darauf, wartete, bis der andere ihm den Zettel gegeben hatte, und betrachtete ihn nachdenklich. Mit den Werten, die darauf geschrieben standen, konnte er nichts anfangen, aber unter dem Logo stand Tokyo Heart Centre – die gleiche Aufschrift, wie auf dem Kugelschreiber des Pflegers. ER tippte auf den Namen, insbesondere auf das Wörtchen Heart und schaute Yukke erneut fragend ins Gesicht. Die Miene des anderen hatte sich verfinstert, wirkte gequält und beinahe schuldbewusst.   „Als wir dich fanden, hast du nicht mehr geatmet. Sato hat versucht, dich wiederzubeleben, aber als die Sanitäter eingetroffen sind …“ Er verstummte, schloss für einen Moment die Augen und atmete angestrengt durch. „Dein Herz hat nicht mehr geschlagen. So wie ich es mitbekommen habe, gab es die Möglichkeit, dich entweder in eine Spezialklinik für Kopfverletzungen zu bringen, oder eben hierher …“   So war das also. Tatsuro senkte den Blick auf seine Hand, die Yukke in den letzten Momenten ihrer einseitigen Unterredung immer fester gehalten hatte. Er legte seine andere über sie, begann über den leicht zitternden Handrücken zu streicheln, bis der Druck wieder etwas nachließ.   „Wären wir nur etwas später gekommen oder hätte Sato nicht so souverän reagiert …“   Yukke musste nicht weitersprechen, er verstand auch so. Plötzlich verschwand die Hand und kehrte mit Armen zurück, die sich vorsichtig, aber mit Nachdruck um ihn legten, ihn gegen einen warmen Körper zogen. Er ließ es geschehen, vergrub sein Gesicht an Yukkes Halsbeuge und schloss sein Auge. Es war anstrengend, diese Informationen zu verarbeiten und gleichzeitig alles andere, was sie auszulösen versuchten, beiseitezuschieben. Er wollte sich nicht erinnern, wollte das Wie oder Warum gar nicht wissen.  Für eine kleine Ewigkeit verharrten sie so, bis es erneut Yukke war, der die Stille im Raum durchbrach.   „Weißt du …“, fing er an und strich ihm sacht über den Kopf. „Als du hier lagst und nicht aufwachen wolltest, hab ich dir versprochen, dich nicht allein zu lassen und für dich da zu sein. Mir fällt jetzt erst auf, dass das doch ziemlich anmaßend von mir war, wo ich doch gar nicht wirklich weiß, ob du das auch willst.“   Es fiel ihm nicht leicht, den Kopf anzuheben, aber es musste einfach sein und wenn auch nur, damit Yukke den indignierten Blick sehen konnte, mit dem er ihn nun bedachte. Nicht, dass er nicht vor wenigen Minuten ähnliche Gedanken gehabt hätte, aber als er sie nun ausgesprochen hörte, fand er sie schlichtweg absurd. Ja, Yukke und er hatten nicht den besten Start gehabt und ja, er war ein königliches Arschloch gewesen, als er ihm wochenlang aus dem Weg gegangen war, statt ihm einmal richtig zuzuhören. Aber verdammt, er wollte diesen Mann, wollte ihn, wie er noch nichts in seinem Leben haben wollte, und obwohl ihrem Kuss das Feuer fehlte, das in so einer Situation angemessen gewesen wäre, hoffte er, dass Yukke die Geste als das verstand, was sie ausdrücken sollte.   „Das heißt wohl …“, murmelte Yukke eine ganze Weile später gegen seine kribbelnden Lippen, „… Ich hab mir umsonst Sorgen gemacht?“   Tatsuros Mund formte ein empörtes „Idiot“, das sicherlich beeindruckender gewirkt hätte, wäre seinen Stimmbändern mehr als ein unverständliches Krächzen entkommen. Aber der Wille zählte, und dem Grinsen nach zu urteilen, das nun Yukkes Züge zierte, hatte der ihn schon ganz richtig verstanden. Eine Hand fuhr ihm durchs Haar und mit einer Klarheit, die ihm schon den ganzen Tag über gefehlt hatte, begriff er, was sich an dieser Berührung so eigenartig anfühlte. Da war kein Zug unvermeidlicher Knoten, kein Wispern langer Strähnen über seinen Nacken. Wieder fand sich Yukke im Fokus seines fragenden Auges wieder, doch diesmal schien der Unwille, ihm Antwort zu geben, beinahe noch größer zu sein. Er sah, wie sein Freund die Zähne fest aufeinanderbiss, sich für etwas wappnete, was unvermeidbar schien.   „Sie mussten dir deine Haare abschneiden, um die Kopfverletzungen behandeln zu können.“   Sein Ärger, mit dem Yukke wohl gerechnet hatte, blieb aus und Tatsuro konnte nicht einmal sagen, dass er sonderlich geschockt war. Vielmehr war es Trauer, die sein Herz schwer in seiner Brust schlagen ließ, als ihm bewusst wurde, dass ihm wieder einmal etwas genommen worden war. Er hob die Hand und als ihm die Kraft ausging, half Yukke ihm, bis er seine kurzen Haare unter den Fingerspitzen fühlen konnte. An einigen Stellen waren es lediglich Stoppeln, die sich über Narben zogen, an anderen waren seine Strähnen vielleicht drei Zentimeter lang. Ein wahrlicher Flickenteppich und Tatsuro war froh, sich im Moment nicht sehen zu können.   „Sie wachsen wieder nach“, flüsterte sein Freund und er hätte nicht sagen können, ob diese Worte Yukke selbst oder ihm Trost spenden sollten.   Er ließ die Hand sinken, strich auf ihrem Weg nach unten über Yukkes Gesicht, das so mager und eingefallen wirkte. Er fühlte die Erschöpfung lauern, spürte das sachte Beben, das in den letzten Minuten von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Aber, wenn er nun schon dabei war, den anderen mit Fragen zu löchern, war es vermutlich an der Zeit, auch endlich den Elefanten im Raum anzusprechen.   Fieberhaft überlegte er, wie er ihm begreiflich machen konnte, dass er wissen wollte, was mit seinem Auge nicht stimmte. Als Doktor Yoshida am Nachmittag noch einmal hier gewesen war, hatte er nicht den Mut gehabt, sich danach zu erkundigen, aber jetzt musste er es wissen. Er suchte den Blick seines Gegenübers, hob langsam die Hand und tippte leicht gegen den Pflasterverband, der die Hälfte seiner rechten Gesichtsseite verdeckte. Fragend hob er die linke Braue und erwiderte Yukkes etwas hilflosen Blick.   „Ehm …“, machte der andere nachdenklich und seine Stirn legte sich in Falten. „Tut dir dein Auge weh? Ich kann schnell einen der Pfleger holen, wenn du magst?“ Tatsuro schüttelte langsam den Kopf und zeichnete ein Fragezeichen über den Verband. „Oh“, machte Yukke und biss sich unsicher auf die Unterlippe. „Tatsue, ich weiß nicht. Ich bin nicht der Richtige, um dir das zu erklären. Vielleicht fragst du morgen lieber einen der Ärzte?“ Wieder schüttelte er den Kopf, energischer diesmal, wobei auch diese Bewegung nur einem trägen Wackeln glich. Yukke haderte sichtlich mit sich, doch Tatsuros rar gesäte Geduld zahlte sich aus, als sich seine Schultern straften und er ihm wieder ins Gesicht sah. „Deine Hornhaut und die Linse darunter sind verletzt, Doktor Yoshida befürchtet, dass du auf dem Auge nichts mehr sehen wirst, bis du gesund genug bist, um operiert zu werden. Du brauchst vermutlich eine Transplantation, aber sicher ist das noch nicht. Sie vermuten, Nobu muss dich …“   Nobu. Der Name war wie ein Wirbelsturm, der den Vorhang des Vergessens beiseite riss und den Blick auf all die grausamen Erinnerungen freilegte, die dahinter verborgen lagen. Tatsuro wimmerte, presste beide Hände über seine Ohren und versuchte, dem Ansturm zu entgehen, indem er sich so klein machte, wie es ihm nur möglich war. Aber die Erinnerungen an die wütende Stimme, die Beschimpfungen und die Demütigungen, an die Schläge und den nicht enden wollenden Schmerz hallten am einzigen Ort wider, an dem er ihnen nicht entfliehen konnte – seinem eigenen Geist.   „Scheiße, Tatsuro!“ Arme legten sich zögerlich um seinen zitternden Leib und obwohl seine erste Reaktion war, sich gegen diesen Übergriff zu wehren, spürte ein Teil in ihm, dass sie Halt und Sicherheit versprachen. Seiner Kehle entkam ein Laut, der sich wie das Jaulen eines verletzten Tiers anhörte, bevor er sich hilfesuchend gegen den Körper presste, der in seiner sich auflösenden Welt gerade die einzige Stabilität darstellte.   „Tatsue, es tut mir leid, es tut mir so leid.“ Immer und immer wieder hörte er Yukke diese Worte wiederholen, aber beruhigen konnte er sich nicht. Er glaubte, wieder den rauen Beton unter seinen Fingern zu spüren, sah sein eigenes Blut darin versickern. Schmerz explodierte in seinem Kopf, jagte wie ein Lauffeuer durch seinen Körper und setzte sämtliche Nervenenden in Brand. Er zitterte unkontrolliert, krampfte, bekam keine Luft mehr …   Ein Stich in seine Armbeuge, so fein und zwischen all der Agonie ein beinahe reiner Schmerz, war das Letzte, was er noch mitbekam, bevor seine Welt in samtener Dunkelheit versank.   ~*~   Yukke starrte mit ausdrucksloser Miene auf die nun wieder friedlich daliegende Gestalt seines Freundes. Tatsuros Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, die langen Arme lagen ausgestreckt auf der weißen, glatt gestrichenen Bettdecke und sah man von dem hektisch flatternden Augenlid ab, wirkte er beinahe friedlich. Stumme Tränen rannen Yukke über die Wangen, während sich Schuldgefühle durch seine Eingeweide fraßen.   „Du solltest nach Hause fahren, die Beruhigungsmittel werden ihn die ganze Nacht über schlafen lassen.“ Eine warme Hand drückte seine Schulter, aber er konnte sich nicht dazu bringen, den anderen anzusehen. Michiya war über die langen Wochen, die er an Tatsuros Bett verbracht hatte, so etwas wie ein Freund geworden und so dankbar er ihm gerade für seine Fürsorge war, annehmen konnte er sie nicht. Wie auch? Er war schuld daran, dass es Tatsuro nun wieder schlecht ging, da hatte er weder Fürsorge noch Mitgefühl verdient.   „Ein Anfall wie dieser war unvermeidlich, Yukke, und es wird auch nicht der Letzte gewesen sein. Das, was dein Freund alles erdulden musste, wird noch lange brauchen, bis es verarbeitet ist.“   „Das weiß ich… Verdammt, ich hätte nicht versuchen sollen, ihm irgendwas zu erzählen.“   „Worüber genau habt ihr gesprochen, als es angefangen hat, ihm schlecht zu gehen?“   „Er wollte wissen, was mit seinem Auge nicht in Ordnung ist.“   „Verstehe.“ Die Wärme der Hand auf seiner Schulter verschwand, als der Pfleger Tatsuros Puls überprüfte und die Laufgeschwindigkeit der Infusion verringerte, die den ausgelaugten Körper seines Freundes mit notwendiger Flüssigkeit versorgte.   „Versuch, dir keine Vorwürfe zu machen. Das musste früher oder später passieren und da ist es gleichgültig, ob er die schlechten Neuigkeiten von dir oder einem Arzt erhält.“   Yukke ließ den Kopf hängen, nickte aber. Die Schuldgefühle nagten an ihm, doch der Teil seines Verstandes, der in den letzten Wochen wenigstens eine Spur Rationalität beibehalten hatte, wusste, dass Michiya recht mit dem hatte, was er sagte.   „Kann ich noch etwas bleiben?“ Er wusste, dass die dunklen Augen ihn kritisch musterten und auch, dass er dem Pfleger viel abverlangte. Seit Wochen beugte Michiya die Regeln des Krankenhauses für ihn und brachte sich damit selbst in Schwierigkeiten.   „Ich rede nachher mit Nora, sie hat heute Nachtschicht, aber ich behaupte jetzt einfach mal, dass das schon in Ordnung geht.“   „Danke.“   „Dafür schuldest du mir einen Energydrink.“   Yukke lachte ein kurzes, schnaubendes Lachen, bevor er sich vom Anblick seines schlafenden Freundes losreißen und den anderen ansehen konnte.   „Wenn es weiter nichts ist, den sollst du kriegen.“   „Sehr schön.“ Sein Gegenüber schenkte ihm ein triumphierendes Grinsen und notierte noch kurz etwas auf dem Krankenblatt auf seinem Klemmbrett. „Versprich mir aber, dass du nicht wieder die ganze Nacht hierbleibst.“   „Versprochen.“ Yukke fuhr sich durch die Haare und versuchte sich an einem ehrlichen Lächeln. „Nur noch ein paar Minuten, dann geh ich auch.“   „In Ordnung, gute Nacht, Yukke.“   „Nacht“, murmelte er, lauschte Michiyas leisen Schritten und lehnte sich nach vorn, als die Tür ins Schloss gezogen wurde. „Ach, Tatsuro.“ Er senkte die Stirn auf die Hand seines Freundes und legte den Arm sacht um seine Mitte. Die Tränen, die über die letzten Minuten vertrocknet waren, rannen nun von Neuem über sein Gesicht und hinterließen nasse Spuren auf der weißen Decke. „Es tut mir leid.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)