The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 15: Klappe, die Fünfzehnte ---------------------------------- Miya hätte nie geglaubt, dass er sich so schnell daran gewöhnen würde, neben einem anderen Menschen aufzuwachen. Doch als er sich nun im Bett herumdrehte und sich wieder einmal nicht an einen warmen Körper schmiegen konnte, fand er diesen Umstand derart irritierend, dass er nicht mehr weiterschlafen konnte. Murrend setzte er sich auf, rieb sich über die vom Schlaf verkrusteten Augen und blinzelte gegen das Licht an, das sich trotz der zugezogenen Vorhänge einen Weg in den Raum suchte. Heute schien ein weiterer, sonniger Herbsttag zu werden und offensichtlich war es ein weiterer dieser Morgen, an denen sein Freund nicht hatte ausschlafen können. Wie seit Wochen schon. Die Sorge um seinen Bruder hielt Satochi in den meisten Nächten wach und trieb ihn jeden Tag viel zu früh aus dem Bett. Nicht allein aus diesem Grund betete Miya inständig dafür, Tatsuro würde endlich aufwachen. Es war Wochen her, dass er entführt und von Nobu misshandelt worden war. Obwohl ihnen die Ärzte anfänglich versichert hatten, dass sie ihn nur so lange im künstlichen Koma halten würden, bis er sich ausreichend von seinen vielen Verletzungen erholt hatte, war er trotz all ihrer Versuche noch immer nicht aufgewacht. Die Mediziner vermuteten ein psychologisches Problem, eine Art temporärer Schutzmechanismus, der den Schauspieler daran hinderte, in die Realität zurückzufinden. Miya hoffte inständig, dass sie damit rechtbehalten würden – nicht nur um Tatsuros Willen.   Er seufzte und ließ sich mit dem Gesicht voran auf Satochis Kissen fallen, das seinen angestammten Platz neben seinem eigenen gefunden hatte. Tief atmete er ein und wünschte sich nicht zum ersten Mal in letzter Zeit, der andere wäre nun hier. Selbst sein nicht zu ignorierendes Schnarchen vermisste er, obwohl es auch den einen oder anderen Moment gegeben hatte, in dem es ihn schier in den Wahnsinn getrieben hatte. Aber alles war besser, als in einem leeren Bett und umgeben von dröhnender Stille aufzuwachen.   Hätte man ihm vor dem Dreh von Ame no orchestra gesagt, dass es einmal eine Zeit geben würde, in der er sich so fühlen würde, hätte er nur herzhaft gelacht. Er war schon immer durch und durch Realist gewesen. Trotz seiner Arbeit als Produzent und zeitweise Regisseur von Boys Love Dramen, die mittlerweile fast ein Jahrzehnt umspannte, war er unfassbar ungeschickt, was zwischenmenschliche Beziehungen anging. Zu ernst, zu fordernd, zu wenig einfühlsam, zu einschüchternd. Das waren alles Eigenschaften, die ihm regelmäßig unterstellt wurden. Aber Satochi hatte das ganz anders gesehen. Von Anfang an hatte er es ihm unfassbar leicht gemacht. Er hatte keine utopischen Erwartungen an ihn gestellt, die er ohnehin nie hätte erfüllen können. Er hatte nichts von ihm erwartet und dafür alles angenommen, was Miya ihm geben konnte … geben wollte. Von ihm beinahe unbemerkt hatte Satochi Wurzeln in seinem Herz geschlagen wie ein Löwenzahn, der selbst an den unwirtlichsten Orten gedeihen konnte. Er schnaubte und hob den Kopf vom Kissen. Es war erstaunlich, welch schnulzige Überlegungen am frühen Morgen schon durch seine Hirnwindungen irrten. Nur widerwillig ließ er den Geruch nach Shampoo, Rasierwasser und etwas, das für ihn einfach nach Satochi duftete, zurück, bevor ihm noch mehr solche Gedanken in den Sinn kommen würden. Die Leuchtziffern des Weckers auf dem Nachttisch zeigten 08:17 an – eine gute Zeit, um aufzustehen, wollte er noch etwas von seinem freien Tag haben.   Miya war kein typischer Morgenmuffel, aber vor seiner ersten Tasse Kaffee zu eher wenig zu gebrauchen. Daher musste eine Katzenwäsche genügen, bevor er in die Küche schlurfte. Vielleicht ließ sich Satochi später zu einer gemeinsamen Dusche überreden? Diese Überlegung zauberte ein kleines Lächeln auf seine Lippen und war so präsent in seinen Gedanken, dass ihm erst verspätet der Duft nach Gebäck in die Nase stieg. Seine Augen weiteten sich, während er sich in den Rahmen der Küchentür lehnte und Satochi bei seinem Tun beobachtete. Das erste, was ihm auffiel, war das weiße Kopftuch, mit dem sein Freund seine nackenlangen, hellbraunen Haare aus dem Gesicht hielt. Aber ein weitaus auffälligeres Detail seines Aufzugs war die blassgrüne Kittelschürze, die er sich umgebunden hatte. Konnte er darauf sogar gelbe Blümchen erkennen? Sein Lächeln weitete sich zu einem ausgewachsenen Grinsen und er musste sich zusammenreißen, keinen Laut von sich zu geben. Himmel, das war ein Bild für Götter und eines, dass er bitte nie in seinem Leben vergessen wollte.   Satochi stand über die Arbeitsplatte gebeugt, die Zungenspitze zwischen den Lippen aufblitzend und platzierte golfballgroße, schokobraune Teigkugeln auf ein mit Backpapier ausgelegtes Blech. Kaum war er damit fertig, neun der Kugeln in gleichmäßigem Abstand zu verteilen, drückte er sie ein wenig platt und spickte die Fladen mit Schokoladenstücken, die neben ihm in einer kleinen Schüssel lagen. Neben der Herdplatte befanden sich bereits gebackene Kekse auf einem Gitter, wohl um auszukühlen, und im Backofen wartete eine weitere Ladung darauf, fertig zu werden.   Genau wie Miya nie geglaubt hätte, einmal die Präsenz eines anderen in seinem Bett zu vermissen, hätte er nie gedacht, dass Satochi so perfekt in sein Heim passte. So eine Aussage mochte sich im ersten Moment seltsam anhören, aber bedachte man, dass er bislang sehr eigen gewesen war, wenn es darum ging, sein Domizil mit jemandem zu teilen, ergab es wohl Sinn. Sein Zuhause war schon immer sein Zufluchtsort gewesen, der Platz in seinem Leben, an dem alles seine Ordnung hatte. An dem sich nie etwas veränderte, außer er selbst ließ Veränderung zu. Eine Konstante so zu sagen, die ihm unglaublich wertvoll erschienen war. Satochi hingegen brachte Aufruhr in seine geliebte Stille, Chaos in seine penible Ordnung und Hektik, wo bislang nahezu meditative Ausgeglichenheit herrschte – und er liebte es. Entspannt verschränkte er die Arme vor der Brust, lehnte den Kopf leicht gegen den hölzernen Rahmen und beobachtete einfach nur. So quirlig Satochi sonst auch sein konnte, ihn nun zu betrachten, war wie der Blick in das Auge eines Hurrikans, in dem vollkommene Stille herrschte.   Noch war er nicht bemerkt worden und innerlich debattierte Miya mit sich, ob er seinen Freund weiter bei seinem Tun beobachten wollte oder lieber dem Wunsch seines Körpers nach Kaffee folgen. Die Kaffeemaschine stand unweit der Stelle, an der sich Satochis Backzutaten stapelten, doch selbst, wenn er es bis dorthin ungesehen schaffen würde, spätestens das Tohuwabohu, welches sein altersschwacher Kaffeezubereiter machte, würde seine Anwesenheit verraten. So abgelenkt und in Gedanken versunken konnte nicht einmal sein Freund sein. Mh, das nannte man wohl eine ausgewachsene Zwickmühle, was?   Miyas Hand wanderte zu seinem Mund und so, als würde er sich das Grinsen vom Gesicht wischen wollen, rieb er sich über die Unterlippe. Denn gerade in diesem Moment hatte Sato auch noch angefangen, die herzschmerzverursachende Ballade mitzusingen, mit der das Miniradio auf dem Fensterbrett die kleine Küche beschallte, und machte es ihm damit unmöglich, ihn aus seiner Gedankenwelt zu reißen. Wäre Miya ein Mensch, der Worte wie niedlich oder süß benutzte, wären das nun genau die Attribute, die er dem anderen zuschreiben würde. So jedoch konnte er mit Fug und Recht behaupten, dass er seit einer sehr langen Zeit schon nichts derart Schönes mehr gesehen hatte.   Obwohl sich unter Satochis Augen bläuliche Schatten abzeichneten, die Falten um seinen Mund dunkel und tief wirkten und von seiner sommerlichen Bräune nicht mehr viel übrig war, waren es genau diese Makel, diese Unvollkommenheiten, die diesen Augenblick für Miya zu etwas unfassbar Kostbarem machten. Wer nicht genau hinsah, hätte vor sich nur einen zufriedenen, ausgeglichenen Mann gesehen, der Spaß an dem hatte, was er gerade tat. Er hingegen sah auch die Verletzungen, die sein Freund davongetragen hatte. Die Körperlichen; offensichtlich in der Art, wie abgehakt manche seiner Bewegungen waren oder an den irreführenden Schatten, die die Narbe in seinem Gesicht warf, wenn er den Kopf in einem bestimmten Winkel zum Licht drehte. Aber auch die Unsichtbaren; Sorgen und Ängste, die Satochi seit Wochen durchlebte, die kein Ende zu nehmen schienen, und von denen er sich dennoch nicht besiegen ließ. Der andere war ein Kämpfer durch und durch und in gleichem Maß, wie ihm diese Tatsache gerade bewusst wurde, füllte sich sein Herz mit einer bislang ungekannten Wärme.   „Miya?“ So Angesprochener blinzelte und ließ die Hand sinken, die in den letzten Augenblicken unentwegt an seiner Unterlippe herumgezupft hatte. „Ich hab dich gar nicht bemerkt. Wie lange stehst du denn schon hier?“   „Ach, nicht lange“, log er grinsend und ging auf sein Gegenüber zu. „Guten Morgen, Sängerknabe.“   „Von wegen, noch nicht lange. Du schwindelst mich doch an.“   „Das würde mir im Traum nicht einfallen.“   „Na, klar.“ Sein Freund spitzte skeptisch die Lippen und wer wäre Miya denn, würde er diese offenkundige Einladung nicht annehmen? Seine Hände fanden ihren Weg in Satochis Nacken und fast zeitgleich spürte er warme Arme, die sich um seine Mitte legten.   „Pass mit dem Teig an deinen Händen auf, ich will den nicht überall kleben haben“, nuschelte er halb scherzend, halb warnend gegen Satochis Mund.   „Auch wenn ich eine ganz interessante Technik kenne, wie du diesen Teig wieder loswirst?“   „Auch dann; wobei wir über diese interessante Technik später noch mal genauer reden könnten.“ Ein weiteres Lächeln huschte über Miyas Lippen, bevor er selbige für etwas weitaus Spannenderes verwendete. Wie immer, wenn er Satochi küsste, schien es, als würde der nicht enden wollende Strom an Gedanken in seinem Kopf plötzlich zum Stillstand kommen. Ruhe floss über ihn wie eine heiße Dusche an einem kalten Wintermorgen und brachte eine wohlige Gänsehaut mit sich.   „Ist dir kalt?“   „Nein“   „“Du zitterst.“   „Ja, aber kalt ist mir nicht.“ Er zeigte Satochi sein bestes Raubtierlächeln und erfreute sich an dem stummen O, das die Lippen seines Freundes daraufhin zeichneten. „Aber wie schon gesagt, das können wir später auch noch besprechen. Fürs Erste brauche ich einen Kaffee und dann würde ich gern wissen, wer meinen Freund gegen eine Back-Fee ausgetauscht hat.“   Er drückte Satochi noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er sich an ihm vorbeischob, um endlich die Kaffeemaschine mit allem Notwendigen zu bestücken. Während er darauf wartete, dass sich seine Tasse füllte, hörte er das Rauschen des Wasserhahns und spürte kurz darauf erneut Arme, die sich von hinten um seine Mitte legten. Ein warmer Körper schmiegte sich gegen seinen Rücken und lächelnd verschränkte er seine Finger mit den nun Sauberen seines Freundes.   „Guten Morgen“, wurde ihm ins Ohr geflüstert und reflexartig sanken Miyas Lider ein Stück herab, um die Nähe so noch besser in sich aufnehmen zu können.   „Mmmh, verrätst du mir jetzt, was dich dazu getrieben hat, so früh schon die Küche unsicher zu machen?“ Er lehnte sich etwas mehr gegen Satochi und stibitzte sich ein Stückchen Schokolade aus der Schüssel, die so praktisch in der Nähe stand.   „Tatsue ist aufgewacht.“   „Was?“ Dieses kleine Wort war ihm lauter als geplant über die Lippen gekommen, während er sich in ihrer Umarmung herumdrehte, um seinem Freund ins lächelnde Gesicht sehen zu können.   „Ich sagte …“   „Ich weiß, was du gesagt hast. Das …“ Er schüttelte sacht den Kopf, um seine Gedanken zu sortieren, die gerade wild durcheinanderstoben, bevor er Satochi anlächelte. „Das sind großartige Neuigkeiten. Ich freu mich so für dich“, setzte er nach und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Seit wann weißt du es schon?“   „Yukke hat mich um kurz vor sieben angerufen. So, wie es sich angehört hat, hat er mal wieder die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht.“   Für einen Moment schwiegen sie beide, als sich die Sorge um ihren Freund über sie legte. Yukke war in den letzten Wochen so selten von Tatsuros Seite gewichen, dass selbst die Schwestern und Pfleger es irgendwann aufgegeben hatten, ihn noch nach Hause schicken zu wollen. Miya war froh, dass er wenigstens Sato immer davon hatte überzeugen können, dass es weder ihm noch seinem Bruder half, wenn er die Nacht an Tatsuros Krankenbett verbrachte. Mit Yukke hingegen hatte er sich mehrmals beinahe gestritten, nur um ihn überhaupt einmal dazu zu bringen, sich frisch zu machen oder etwas zu essen. Die längsten Zeitspannen, die er nicht in der Klinik verbracht hatte, waren wohl die wenigen Male gewesen, an denen er zu seinem Freund, Seek, in ein anderes Krankenhaus gefahren war, nachdem dieser das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Yukke hatte in den letzten Wochen an Gewicht verloren, sah jeden Tag blasser und kränklicher aus … Miya seufzte unhörbar – das würde nun hoffentlich ein Ende haben.   „Sorry, dass ich so dumm nachfrage, aber warum bist du nicht schon längst in der Klinik, wenn du schon seit über einer Stunde weißt, dass Tatsuro wieder wach ist?“   „Ich fahr nachmittags zu ihm. Yukke konnte vorhin schon mit Doktor Yoshida sprechen und er meinte, dass es für Tatsue besser ist, wenn er nicht gleich von Besuchern überrannt wird. Ich hab auch schon unsere Eltern angerufen. Sie werden morgen kommen und sich wieder in Tatsues Apartment einquartieren, dann können sie ihn übers Wochenende ganz in Ruhe besuchen. Außerdem hab ich jetzt so lange drauf gewartet, dass der verschlafene Kerl endlich seine Augen wieder aufmacht, dass ich Yukke auch noch ein paar Stunden mit ihm allein gönnen kann.“   „Überaus großzügig, muss ich schon sagen“, neckte er und erwiderte Satochis betont unbeschwertes Grinsen, auch wenn er in seinem Blick die Furcht und Sorge nur allzu deutlich erkennen konnte. Sein Freund wusste ebenso gut wie er, dass noch lange nicht alles überstanden war, nur weil Tatsuro das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Aber Sato wollte gerade wohl ebenso wenig an Folgeschäden oder andere Konsequenzen denken wie er selbst, also tat er ihnen beiden den Gefallen und steuerte ihre Unterhaltung in etwas ruhigeres Fahrwasser. „Ich versteh schon. Dann sind die Kekse ausschließlich für deinen Bruder, was?“ Miya zog ein leidendes Gesicht und schaute sehnsüchtig auf das Gebäck, das unweit von ihm auf dem Gitter zum Auskühlen lag. „Er kann doch bestimmt noch gar nicht so viel davon essen.“   „Och, sag das doch nicht so enttäuscht, als würde ich es zulassen können, dass du nichts abbekommst.“   Ein noch warmer, unglaublich lecker duftender Schokoladenkeks schwebte plötzlich vor seiner Nase und selbst, wenn Miya gewollt hätte, hätte er das vorfreudige Strahlen nicht unterdrücken können, das nun sein Gesicht erhellte. Nur zu gerne nahm er die Süßigkeit entgegen, holte aus dem Küchenschrank neben ihnen einen kleinen Teller und legte den Keks darauf ab. Seine nächste Amtshandlung war es, sich ausführlich dafür zu bedanken, dass er nicht leer ausgegangen war. Immerhin sprachen sie hier von einem Schokoladenkeks! Da sein Freund wusste, wie sehr er, der eigentlich nichts von Süßigkeiten hielt, Schokolade liebte, musste man sich für so eine Großzügigkeit auch angemessen erkenntlich zeigen. Und Sato, dem die Augen schon bei der ersten Berührung ihrer Lippen zugefallen waren, schien damit recht zufrieden zu sein.   „Dankeschön. Du bist der Beste“, murmelte Miya eine ganze Weile später nah an Satochis Mund und erfreute sich an dem kleinen Schauer, der den anderen daraufhin durchfuhr.   „Weiß ich.“   Sie lächelten sich an, bevor Miya sich erneut herumdrehte und seine nun volle Kaffeetasse vom Abtropfgitter der Maschine nahm.   „Willst du auch noch einen?“, erkundigte er sich mit Blick auf die benutzte Tasse auf der Arbeitsplatte und gab einen Schluck Sojamilch in seinen Kaffee.   „Nein, ich bin schon die ganze Zeit über so nervös, dass ich wohl zum Duracell-Hasen mutieren würde, würde ich noch einen trinken.“   „Duracell-Hase, hu?“ Einen Augenblick betrachtete er den anderen, bevor er das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte, das mit Nachdruck in seiner Kehle kitzelte. „Nette Vorstellung.“   Satochis halblauter Protest ging im Piepen des Backofens unter, als die voreingestellte Zeit abgelaufen war. Miya ging aus dem Weg, während sich sein Freund um die nun fertigen Kekse kümmerte und gleich das nächste Blech in den Ofen schob. Einen großen Schluck seines Kaffees trinkend stellte er die Tasse auf die Arbeitsplatte und drehte sich Sato zu, der, während er sich aus seiner über den Ofen gebeugten Haltung wieder aufgerichtet hatte, einen leisen Schmerzenslaut nicht hatte unterdrücken können. Miya musste nicht fragen, was los war, hätte es selbst dann gewusst, würde der andere sich nicht gerade über den Oberschenkel reiben. Von Satochi unbemerkt rollte er mit den Augen, trug jedoch weiterhin ein sanftes Lächeln auf den Zügen, als er an ihn herantrat und ihn mit Nachdruck zu einem der Küchenstühle dirigierte. Es bedurfte nur eines langen Blicks seinerseits, um den Widerstand seines Freundes zu brechen und ihn dazu zu bringen, sich für einen Moment hinzusetzen.   „Miya, du musst mich nicht bemuttern“, seufzte Sato, streckte aber sein Bein aus, um den verkrampften Muskeln die Möglichkeit zu geben, sich wieder zu entspannen.   „Das tu ich auch nicht.“ Miya drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und grinste frech. „Ich bin nur selbstsüchtig und hinterlistig genug, um dafür zu sorgen, dass mein Freund später fit ist, um die guten Neuigkeiten ausführlich mit ihm feiern zu können.“   „So, so. Und du denkst, dein Freund wird da mitmachen?“, Satochis Augenbraue war nach oben geschnellt und als sich Miya wieder der Arbeitsplatte zudrehte, landete eine Hand mit Schwung auf seinem Hinterteil. Er kniff die Augen zusammen, hielt jedoch den automatischen Schmerzensruf zurück, indem er sich grinsend auf die Unterlippe biss. Ja, genau so liebte er seinen Dickkopf doch.   „Ich denke schon.“ Einen langen Blick über die Schulter warf er seinem Freund noch zu, bevor er in die Hände klatschte und sie aneinander rieb. „Dann sehen wir mal, ob ich dich vorhin ausreichend lange beobachtet hab, um das hinzukriegen, was?“ Er schob die Ärmel seines Sweatshirts nach oben, legte ein neues Blatt Backpapier auf das noch warme Blech und begann, wie Satochi eben, Teigkugeln darauf zu verteilen. „Schrei, wenn ich was Falschmache, okay?“   „Ich wusste doch, dass du schon länger in der Tür gestanden hast.“   „Hab ich je was anderes behauptet?“   „Ja.“   „Da musst du mich falsch verstanden haben.“ Miya lachte leise in sich hinein, als er Satochi zur Antwort lediglich schnauben hörte. Er fühlte sich, als wäre ihm plötzlich ein zentnerschweres Gewicht von den Schultern genommen worden und wenn er das schon so empfand, wie musste es dann erst Satochi gehen? Kein Wunder, dass sein Freund irgendetwas gebraucht hatte, was er tun konnte, um nicht die Wände hochzugehen.   „Hat Yukke am Telefon noch mehr erzählt?“, erkundigte er sich, als er begann, die Teigfladen, wie Satochi vorhin, mit gehackter Schokolade zu verzieren.   „Tatsue ist noch sehr müde und schwach, was aber nach so langer Zeit ganz normal ist. Das hat zumindest Doktor Yoshida so gesagt. Und er kann sich wohl auch noch nicht an alles erinnern, was geschehen ist.“   „Mh“, brummte er und wusch sich die Hände, nachdem er auch mit dem letzten Keks fertig und die Teigschüssel leer war. „Das könnte noch zum Problem werden.“   „Abwarten, vielleicht kommen die Erinnerungen auch nach und nach wieder.“   „Du hast recht.“ Er nahm seinen Kaffee in beide Hände, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, bevor er es sich anders überlegte und sich Satochi gegenüber an den Tisch setzte. Dort wartete sein Keks noch immer wie eine süße Versuchung auf ihn und wer wäre er denn, würde er ihn noch länger hinhalten? Genüsslich biss er hinein und wurde nicht enttäuscht, als das schokoladige Aroma regelrecht in seinem Mund explodierte. Das Gebäck war weder zu süß, noch zu bitter und hatte genau die richtige Konsistenz. Außen knusprig und innen herrlich weich, exakt so, wie er es mochte. „Wow, der schmeckt richtig gut“, lobte er und verputzte den Keks in Rekordgeschwindigkeit. „Ist der Marke Eigenbau oder hattest du ein Rezept.“   „Meine Ma hat mir vor einigen Tagen schon das Rezept geschickt. Als Tatsuro und ich noch klein waren, durften wir uns für unsere Geburtstagsfeiern aussuchen, ob es Kuchen oder Kekse geben soll. Dreimal darfst du raten, was sich Tatsue immer gewünscht hat.“   „Verstehe.“ Miya sammelte mit dem Zeigefinger die wenigen Krümel auf, die im Teller gelandet waren, und schob sie sich in den Mund. Man durfte schließlich nichts verkommen lassen. „Und? Hattest du auch immer einen ganz bestimmten Wunsch?“   „Nein, ich war deutlich flexibler als Tatsue.“ Satochi lachte. „Mir war es relativ egal, ob es Kuchen oder Kekse gab, Hauptsache es waren Erdbeeren mit im Spiel.“   „Gut zu wissen.“ Miya leckte sich über die Unterlippe und jagte den letzten Schokoladenspuren nach. „Ich muss ehrlich zugeben, dass ich einerseits zwar neidisch bin, dass die Kekse nicht für mich sind, es andererseits aber auch ganz gut so ist.“   „Sag nicht, du hast Angst um deine Figur.“   „Möglich?“ Miya freute sich über das Augenrollen, das er Sato mit seiner Aussage entlocken konnte, und zwinkerte ihm zu. „Nein, das ist nicht wirklich der Grund.“   „Und warum dann?“   „Weil die so verdammt gut schmecken, dass ich nicht zu essen aufhören könnte, bis mein Magen mir das so was von übel nehmen würde.“   „Das sehe ich jetzt mal als Kompliment an.“   „So war es auch gedacht.“ Er lachte, wurde aber schnell wieder ernst, als sich sein Blick mit dem Satochis kreuzte. „Du überrascht mich wirklich immer wieder“, gab er zu und schob seine Hand über den Tisch, bis er die Finger mit denen seines Freundes verschränken konnte.   „Wieso das denn? Weil ich backen kann?“ Satos Daumen begann, über seinen Handrücken zu kosen.   „Ja und nein“, meinte Miya kryptisch und lächelte, als sich auf der Stirn seines Gegenübers eine steile Falte bildete.   „Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“   „Nein“, er lachte, „das musst du wirklich nicht. Wenn ich irgendwann einmal die passenden Worte finde, um dir zu sagen, wie es gerade in mir aussieht, bist du der Erste, der sie zu hören bekommt, versprochen.“   „Und bis dahin muss ich mit meiner Neugierde leben, oder was? Das ist nicht nett, Miya.“   Den nicht ganz ernst gemeinten Tadel ließ er großmütig über sich ergehen und erhob sich, als der Ofen erneut piepte. Bevor er jedoch die Kekse aus ihrem heißen Gefängnis befreite, stellte er sich noch einmal direkt vor Satochi, drückte sein Kinn mit dem Zeigefinger nach oben und hauchte einen sanften Kuss auf die lächelnden Lippen.   „Bis dahin wirst du dich wohl mit dem Wissen zufriedengeben müssen, dass du mich sehr, sehr glücklich machst.“ Einen langen Moment passierte nichts, während sie sich einfach nur ansahen, bis ein so herzliches Lächeln Satochis Gesicht zum Strahlen brachte, dass er um Jahre jünger wirkte. ‚Wie der Lausebengel, der er als Junge wohl gewesen sein musste‘, dachte Miya.   „In Ordnung“, riss Sato ihn aus seinen Überlegungen, „ich glaube, damit kann ich leben.“   Nun war Miya es, der sich in einem wundervollen Kuss wiederfand. Die Zeit schien für eine kleine Ewigkeit stehen zu bleiben, während er die Nähe zu Satochi regelrecht in sich aufsaugte. Doch der plötzlich sehr aromatische – um es nicht verbrannt zu nennen – Duft der Kekse, machte mehr als deutlich, dass die Zeit im selben Tempo wie sonst auch weitergelaufen war.   „Shit“, entfloh es ihm und er hechtete schon fast zum Ofen hinüber, um das Gebäck zu retten. Sein Freund hingegen lachte nur herzhaft und gab sich damit zufrieden, ihm Anweisungen zu geben. Anweisungen, die zwar unnötig waren, aber die sie beide zum Lachen brachten.   „Kommst du nachher mit ins Krankenhaus?“, fragte Satochi eine Weile später, nachdem sie es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten. Er war mit einem Mal unerwartet ernst geworden und Miya richtete seine Aufmerksamkeit weg von den Nachrichten, die soeben über den Bildschirm des Fernsehers flimmerten, hin zu seinem Freund, um ihm ins Gesicht sehen zu können.   „Natürlich komm ich mit, wenn du das möchtest.“   „Danke.“   „Nicht dafür“, murmelte er, zog Satochi in seine Arme, als er sich gegen ihn lehnte, und küsste den wirren Schopf.   „Ich bin froh, dass du für mich da bist.“ Er erschauerte wohlig, als Satochi das Gesicht an seiner Halsbeuge vergrub und er seinen warmen Atem fühlen konnte, der über seine Haut wisperte.   „Immer.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)