The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 11: Klappe, die Elfte ----------------------------- Die Streicher schwollen zum finalen Akt an und erfüllten den eigentlich viel zu kleinen Raum mit derart überwältigender Intensität, dass Tatsuro glaubte, die Musik bis in seine Knochen spüren zu können. Er rieb sich über seine nackten Unterarme, auf denen sich eine dicke Gänsehaut ausgebreitet hatte und lauschte seinem eigenen, viel zu leisen Gesang, der als Playback über die in der Decke montierten Lautsprecher zu hören war.   „Ich sag’s ja nur ungern, aber das hört sich echt verdammt gut an.“ Sato neben ihm drehte den Kopf und schenkte ihm genau dieses eine überbreite Grinsen, welches ihn in Tatsuros Augen immer wieder aufs Neue in den zehnjährigen Jungen verwandelte, den er vor so vielen Jahren kennengelernt hatte.   „Tja, was soll ich sagen? Ich bin eben gut.“ Sein eigenes Lächeln war gänzlich überheblich, was Satochi mit einem brüderlichen und daher nicht wirklich sanften Ellenbogenstoß in seine Rippen quittierte. Zischend rieb er sich über die schmerzende Stelle, bevor er sich blitzschnell zu dem kleineren Mann herumdrehte, dessen Kopf in den Schwitzkasten nahm und seiner Kreativität bezüglich Satochis Haaren freien Lauf ließ. Das ziemlich unmännliche Quietschen würde sein Bruder später sicherlich leugnen und leider wurde auch die eigentliche Verschönerungsaktion kurzgehalten, weil sich der Tontechniker mit finsterer Miene und einem Finger vor dem Mund zu ihnen umdrehte. Stimmte ja, die Mikrofone für die Aufnahme standen zwar genau auf das Orchester ausgerichtet, aber dennoch würden sich Hintergrundgeräusche auf der späteren Tonspur vielleicht nicht so gut machen. Tatsuro versuchte gleichzeitig einen reuevollen Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern und Satochi loszulassen, ohne gleich wieder die Rache seines Bruders zu spüren zu bekommen. Ersteres gelang ihm nicht wirklich, denn Satos zerstörte Frisur hätte ihn beinahe laut auflachen lassen, dafür war er diesmal schnell genug, um dem erneuten Rippenstoß auszuweichen.   „Das büßt du mir, Iwakami.“   „Träum weiter, Takayasu.“ Noch immer grinsend machte er Satochi eine lange Nase, bevor ihm ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr ein leises Seufzen entlockte. „Wir müssen gehen.“   „Wie?“ Satochi hielt im Versuch seine Haare wieder in Ordnung zu bringen inne, schaute selbst auf seine Uhr und dann ihn mit großen Augen an. „Mist, es ist ja schon kurz vor elf, ich hätte vor zehn Minuten am Set sein sollen.“ Aufgeregt flüsternd packte ihn Sato am Ärmel und zog ihn mehr oder weniger freiwillig aus dem Raum. „Und du solltest längst in der Maske sein.“ Tatsuro lachte leise in sich hinein, als die Tür des Aufnahmeraums hinter ihnen ins Schloss fiel und die kühle Stille des schmucklosen Flures sie um fing.   „Miya färbt wirklich viel zu sehr auf dich ab, Sato, du wirst zu einem richtig braven Streber.“   „Anders als du hab ich nicht wirklich Lust darauf, Miyas dünnes Nervenkostüm noch mehr zu strapazieren, gerade, wo heute doch der letzte Drehtag ist. Man muss ja nicht immer auf Konfrontationskurs gehen.“ Sato rempelte ihn spielerisch von der Seite her an und Tatsuros Lachen wurde lauter.   „Du hast doch nur Schiss vor ihm.“   „Ach … und du nicht?“ Die Augenbraue seines Bruders wanderte ein ganzes Stück nach oben und verschwand beinahe unter den Ponyfransen, die ihm noch immer wirr ins Gesicht hingen.   „Nope, nicht die Spur. Wäre ja noch schöner, wenn mir der kleine Wadenbeißer Angst machen würde.“   „der kleine Wadenbeißer macht seinem Namen gleich alle Ehre, wenn du nicht sofort die Beine in die Hand nimmst und in die Maske gehst, Tatsuro.“ Miyas unterkühlte, jedoch gänzlich ruhige Stimme war zu hören, bevor die Gestalt des zu kurz geratenen Regisseurs vor ihnen im Flur auftauchte. Beinahe wie eine Erscheinung, ging es Tatsuro durch den Kopf und nein, er war gerade nicht schuldbewusst zusammengezuckt. Nie nicht.   „Hey Miya.“, gab er daher auch vollkommen nonchalant von sich und ignorierte Satochi, der neben ihm gerade im Kreis grinste und sich ein zweites Loch in den Allerwertesten freute. Pharisäer, der. „Wie du siehst, bin ich ja schon längst auf dem Weg.“ Miya musterte ihn nur abschätzig, ohne etwas zu sagen, bevor sein Blick deutlich wärmer wurde, als er ihn auf Satochi richtete. Tatsuro hörte seine Zähne knirschen, so fest presste er sie aufeinander, um auch ja keinen weiteren Kommentar von sich zu geben. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein?   „Wir sind spät dran, Sato, kommst du?“ Deutlich wärmer war auch Miyas Stimme, sobald er das Wort an seinen Bruder richtete, was Tatsuro wirklich kein Stück weit gefiel. Noch immer hatte er nicht herausfinden können, ob und was genau zwischen Satochi und dem Produzenten lief. Sein herzallerliebster Bruder schwieg sich hartnäckig aus und bevor er Miya fragen würde, würde die Hölle zufrieren. Diese Unwissenheit fuchste ihn maßlos, aber was an der ganzen Sache noch viel schlimmer war – er konnte sehen, dass Miya seinem Bruder guttat. Das Lächeln, das Satochi dem kleineren Mann schenkte, war entspannt und erfreut und strahlte eine selbstverständliche Intimität aus, die ihn beinahe dazu brachte verschämt den Blick abzuwenden.   „Tut mir leid, wir haben dem Orchester zugehört und darüber die Zeit vergessen.“ Satochi trat an die Seite des Produzenten, legte ihm für einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter und er hätte schwören können, dass Miya leicht erschauderte, als Satos Finger flüchtig die bloße Haut seines Nackens berührten. Tatsuros Unterarme zitterten leicht, so fest hatte er die Hände zu Fäusten geballt und als ihm dieser Umstand bewusst wurde, kostete es ihm ziemliche Mühe sich nichts weiter anmerken zu lassen.   „Und, was denkst du? Ist das Lied brauchbar?“, erkundigte sich der Produzent in diesem Moment, ohne auch nur einmal den Blick von Satochis Gesicht genommen zu haben.     „Brauchbar?“ Sato lachte und schüttelte den Kopf. “Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Song ist fantastisch, ehrlich mal, der hört sich einfach nur toll an.“   „Sehr gut.“ Miya lächelte, ein fast schon erleichterter Ausdruck auf dem zuvor noch so verkniffenen Gesicht. „Trotzdem sollten wir jetzt los.“   „Oh Mann, ja, das sollten wir wirklich, sorry.“ Sein Bruder nickte eifrig und richtete seine Aufmerksamkeit dann noch einmal auf ihn. „Bis nachher, Tatsue.“ Satochis lebhaftes Winken erwiderte er nur mechanisch und blieb regungslos im Flur stehen, den Blick auf die beiden Männer gerichtet, die zügig in Richtung des Sets verschwanden. Waren die Zeichen nicht eigentlich eindeutig? Vermutlich waren sie das wirklich, wenn er selbst nicht alles daran setzen würde, sie einfach nicht wahrhaben zu wollen. Doch selbst Satochis humpelnde Schritte wirkten leichter, weniger schmerzhaft, wenn er neben dem kleineren Mann herging. Tatsuro wollte es sich nicht eingestehen müssen, aber ein Teil in ihm war froh darüber, wie sehr sein Bruder in Miyas Gegenwart aufzublühen schien. Ein jedoch viel größerer Teil hatte schlicht und einfach Angst davor ihn zu verlieren. Sato war doch alles, was er hatte … seine Familie.   „Blödmann“, knurrte er leise, nicht wissend, ob er damit Miya, Satochi oder vielleicht doch einfach nur sich selbst meinte. Im nächsten Augenblick hätte er beinahe einen Herzinfarkt erlitten, als sich eine tiefe Stimme hinter ihm räusperte.   „Sie sollten nun wirklich in die Maske, Iwakami-san.“ Tatsuros erster Impuls war es, sich zu dem anderen herumzudrehen und ihn anzukeifen. Was musste dieser Idiot sich auch immer wie ein Ninja aufführen und sich trotz seines massiven Körperbaus wie ein Geist bewegen. Der Typ würde ihn irgendwann noch ins Grab bringen und ihn nicht davor beschützen frühzeitig ins Gras zu beißen. Eindeutige Jobverfehlung, wenn man ihn fragte, aber wer tat das schon? Gara jedenfalls nicht, sonst hätte er ihm nicht diesen Schrank von Kerl als Bodyguard an die Backe geklebt.   Kenta, sein Schatten seit nunmehr fast einer geschlagenen Woche, war zwar kleiner als er selbst, dafür mindestens doppelt so breit gebaut und konnte sich, wie eben schon erwähnt, bewegen, ohne auch nur das kleinste Geräusch zu machen. Tatsuro verschränkte die Arme vor der Brust, während er sich wortlos in Bewegung setzte und das kribbelnde Gefühl des Beobachtetwerdens in seinem Nacken zu ignorieren versuchte. Er hasste diesen Kerl. Nicht, weil Kenta ein schlechter Mensch war – dafür wusste er viel zu wenig über ihn und hatte auch keinerlei Verlangen diesen Umstand zu ändern. Aber er hasste es einfach, sein Leben nicht selbst unter Kontrolle zu haben, überwacht zu werden, sich an Verhaltensregeln halten zu müssen und nicht einfach tun und lassen zu können, wonach ihm gerade der Sinn stand. Und genau das verlangte Kenta von ihm, verlangten Gara und Sato, Yumiko und sogar Yukke von ihm und all das nur, weil dieser verfluchte Stalker ihn nicht endlich in Ruhe lassen konnte.   Sato. Der Stalker. Yukke. Ganz toll.   Tatsuros Kiefer schmerzte mittlerweile, so verkrampft presste er die Lippen aufeinander, als er mit einem Mal wieder von dem Potpourri aus Sorgen und Ängsten umfangen wurde, das ihn nun schon seit Wochen begleitete. Für einige wertvolle Momente hatte er sich in der Gegenwart seines Bruders entspannen können, hatte an nichts denken müssen und nur die berauschende Musik genießen können … und nun war wieder alles für die Katz. Die verdrängten Gedanken stürmten auf ihn ein und ließen ihn binnen Sekunden wieder genauso aufgewühlt zurück, wie gefühlt schon seit einer halben Ewigkeit. Er würde heute Abend wirklich drei Kreuze machen, wenn der Film endlich im Kasten war und er erst einmal ausspannen konnte. Wunschdenken? Vielleicht. Aber gerade das Einzige, was ihn davon abhielt nicht doch noch einfach alles hinzuschmeißen und sich irgendwohin abzusetzen, wo man ihn weder kannte, noch ihm an den Kragen wollte.   Kenta schob sich an ihm vorbei, kurz bevor die Tür seiner Garderobe in Sichtweite kam, öffnete diese und ließ seinen geschulten Blick durch den dahinterliegenden Raum schweifen. Erst dann trat er beiseite und ließ ihm mit höflicher Geste den Vortritt. Für einen langen Moment blieb Tatsuro stehen und musterte sein Gegenüber. Kenta war jünger als er, vielleicht in den späten Zwanzigern und hatte seine schwarzen Haare zu einem stylischen Chaos gegelt, welches den Blick auf seine hohe Stirn und die kantigen Gesichtszüge freiließ. Der ordentlich getrimmte Oberlippenbart und die dunklen Bartstoppeln, die das markante Kinn noch mehr in Szene setzten, hätten ihn zu einem durchaus attraktiven Mann gemacht, läge in den fast schwarzen Augen nicht derart viel geschäftsmäßige Distanz, dass sie den Bodyguard beinahe leblos erscheinen ließen. Tatsuro schnaubte überheblich und schob sich an Kenta vorbei.   „Als würde sich der Stalker in meiner Garderobe verstecken, um mich hinterrücks zu erstechen“, brummte er halblaut und rollte mit den Augen. Nein, er hatte sich definitiv noch nicht daran gewöhnt einen Leibwächter um sich zu haben und wenn es nach ihm ging, würde das auch nie geschehen. Insgeheim hoffte er noch immer, dass der Spuk ein Ende haben würde, sobald der Trubel um „Ame no orchestra“  vorbei war, auch wenn dies ebenso irrational war, wie die Hoffnung, dass der Stalker einfach irgendwann das Interesse an ihm verlieren würde.   „Guten Morgen, Yumiko“, begrüßte er seine Stylistin, die Kenta wie immer anbot sich zu setzen, was der Personenschützer jedoch wie schon von Anfang an höflich ausschlug und sich stattdessen neben der Tür postierte. Yumiko indes lächelte ihn an, verkniff sich nach einem kurzen blick in sein Gesicht jedoch wohl die Bemerkung, dass er ja zu spät sei und begann stattdessen zu erzählen, was sie heute so alles mit ihm vorhatte. Tatsuro hörte nicht wirklich zu, ließ sich stattdessen in seinen Stuhl fallen und griff nach seinem Handy, im Versuch alles einfach wieder auszublenden. Er hatte wirklich keinen Bock mehr auf diese Scheiße, ehrlich nicht.   Ein einziger Blick auf das Display genügte jedoch, um seinen Magen erneut in Aufruhr zu versetzen. Er wusste nicht, ob er lachen oder das Mobiltelefon einfach gegen die große spiegelfront werfen sollte, denn nichts anderes, als eine Nachricht von Yukke blinkte ihm munter entgegen. Und das war noch etwas, woran er sich einfach noch nicht gewöhnt hatte – dieser seltsame Umgang, den sein Drehpartner und er nun seit der Sache mit dem Zeitungsartikel pflegten. Beinahe war es so, als hätten sie die Zeit zurückgedreht. Yukke suchte seine Nähe, während er selbst alles daran setzte ihm aus dem Weg zu gehen. Fast wie zu Beginn der Dreharbeiten, nur mit dem Unterschied, dass mit jedem verstreichenden Tag die Sehnsucht mehr in ihm wuchs. Trotz seines besseren Wissens öffnete er daher auch die Nachricht und musste tatsächlich schmunzeln, als er sie las.   » Ab morgen sind wir keine Kollegen mehr. «   Die wenigen Worte wurden von einem kleinen Gif zweier Katzen begleitet, die zufrieden schnurrend ihre Köpfe aneinander rieben. Tatsuro ließ das Handy sinken und schloss für einen Moment die Augen. Anmaßend. Diese Nachricht war schlicht und einfach anmaßend. Was bildete sich Yukke überhaupt ein? Er sollte sie schließen, am besten noch löschen, aber sich davon nicht so seltsam geschmeichelt fühlen. Er spürte sogar eine leichte Hitze auf seinen Wangen, was der ganzen Sache noch die Krone aufsetzte.   » Yukke, Yukke. Subtil ist was anderes … «   Statt also das Richtige zu tun und den anderen zu ignorieren, ertappte er sich dabei, wie er zurückschrieb und währenddessen noch immer ein feines Lächeln auf seinen Lippen lag. Schlimmer noch … gingen diese wenigen Worte jetzt schon als Flirten durch? Tatsuro rollte mit den Augen, aber noch bevor er das Geschriebene wieder hätte löschen können, hatte sein verräterischer Daumen schon auf senden gedrückt. Verdammt. Wo blieb bitte die Empörung, wenn man mal wirklich Grund dafür hatte? Immerhin war er Yukke nicht umsonst die letzten Tage über aus dem Weg gegangen und hatte immer abgelehnt, wenn der andere mit ihm hatte reden wollen. Aber er fühlte, dass seine Ablehnung nur noch von seinem Stolz aufrechterhalten wurde und selbst dieser schien keinen Bock mehr auf seine Sturheit zu haben. Er wollte diesen dämlichen Zeitungsartikel nur noch vergessen, wollte Yukke glauben und einfach da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Vielleicht auch nur, um wenigstens diesen Teil seines Lebens unter Kontrolle zu haben.   Er seufzte und legte das Telefon beiseite, um Yumiko über den Spiegel hinweg dabei zu beobachten, wie sie seinen Haaren zu Leibe rückte. Kenta stand wie eine dunkle Statue noch immer neben der Tür, still und unbeweglich, eine stumme Erinnerung daran, dass er in seinem Leben ganz offensichtlich eben rein gar nichts unter Kontrolle hatte.   Und, wie um diese deprimierende Erkenntnis zu unterstreichen, klopfte es in diesem Moment an die Tür seiner Garderobe, die eine Sekunde später zwei uniformierte Polizisten ausspuckte.   „Iwakami-san?“, richtete der kleinere der beiden das Wort an ihn und Tatsuro konnte spüren, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er fühlte sich, als steckte er in zähflüssiger Gelatine fest, als er sich nichts Gutes ahnend langsam erhob und bestätigend nickte. „Bitte entschuldigen Sie die Störung, wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.“   „Ich hole Gara“, flüsterte Yumiko, richtete ihre besorgten Augen für einen Moment auf ihn, bevor sie eilends den Raum verließ.    ~*~    Regen … was auch sonst. Innerlich seufzend ging Tatsuro die Straßen der Kulisse entlang, die eine typische Fußgängerzone in der Tokioter Innenstadt nachstellte, und versuchte seinen schwarzen Regenschirm so zu halten, dass er ausnahmsweise einmal nicht beim Dreh nass werden würde. Sein Gesicht jedoch zeigte nichts von seinem Unmut, vielmehr spiegelte sich darin Akihikos so typische Milde,  vielleicht mit ein wenig Sehnsucht durchsetzt, die er nicht einmal schauspielern musste. Yukke, nein Junji, würde gleich seinen kurzen Auftritt haben, dann wäre die Szene fürs Erste im Kasten. Und wenn er ehrlich war, wollte er gar nicht darüber nachdenken, was danach kommen würde. Der große Showdown, die Aussprache … der Kuss. Himmel, der Kuss. Tatsuro fühlte sich dafür jetzt noch weniger bereit als vor so vielen Monaten, als er das Drehbuch und das unvermeidliche Ende zum ersten Mal gelesen hatte.   //Der Kuss? Ernsthaft? Als hättest du keine schwerwiegenderen Probleme//, stellte eine leise Stimme in seinem Inneren gehässig fest und begann ob seiner so unwichtigen Gedanken hysterisch zu kichern. Tatsuro hatte alle Mühe in seiner Rolle zu bleiben und nicht dem Drang nachzugeben, sich zitternd in einer Ecke zu verkriechen. Was tat er hier eigentlich? Er hätte auf Gara hören und den Dreh für heute absagen sollen. Scheiß drauf, ob Miya dann einen Nervenzusammenbruch erlitten und ihm die Pest an den Hals gewünscht hätte – der Regisseur wäre mit seinen Mordgelüsten dann ja wenigstens nicht allein gewesen.     Noch immer hallten die Worte des Beamten in seinem Kopf nach und auch, wenn er jetzt verstand, was der Polizist ihm hatte sagen wollen, konnte er das ganze Ausmaß dessen noch immer nicht fassen   „Uns liegen nun die Ergebnisse der Laboruntersuchungen vor und alle Tests waren eindeutig. Die Pralinen enthalten eine hohe Konzentration eines cyanwasserstoffhaltigen Biozids …“ Die Stille, die auf diese erschütternde Nachricht gefolgt war, war beinahe erstickend gewesen und dennoch hatte man ihm wohl angesehen, dass er das chemische Kauderwelsch nicht wirklich verstanden hatte, denn nach einem etwas unbehaglich klingenden Räuspern war die folgende Erklärung des Polizeibeamten um einiges deutlicher ausgefallen. „Bereits wenige Pralinen enthalten so viel Blausäure, dass ihr Verzehr ohne sofortige medizinische Versorgung schwerste Schädigungen nach sich ziehen würde, die bis zum Tod führen können.“   Blausäure … Zum Tod führen …   Er hatte nichts darauf sagen können und jegliche Reaktion war ausgeblieben. Nur ein hohes Summen in seinen Ohren hatte es ihm fast unmöglich gemacht dem Beamten weiter zuzuhören. Er war froh gewesen, dass Gara das Reden für ihn übernommen und auch generell die Zügel in die Hand genommen hatte, denn er selbst wäre dazu einfach nicht in der Lage gewesen. Er hatte sich wieder in seinen Stuhl gesetzt, das blasse, verängstigte Gesicht seines Spiegelbildes so gut wie möglich ignoriert und gebetet, dass dieser Albtraum endlich ein Ende haben würde.   Aber die Pralinen waren vergiftet geblieben und er war auch nicht aufgewacht, sondern hatte den letzten Rest seines Nervenkostüms zusammengekratzt, es wie einen Kokon um sich gelegt, um irgendwie diesen Dreh zu überstehen. Und um nicht denken zu müssen, denn würde er die Gedanken endgültig zulassen, würde er zerbrechen wie ein fragiles Gebilde aus Glas.   Beinahe hätte er sein Gesicht hinter einer Hand verborgen, als ein unbestimmtes Gefühl der Panik in ihm hochstieg, hielt sich im letzten Moment jedoch davon ab und richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die kleine Katze, die gerade aus einer Seitengasse auf ihn zu tapste.   „Tetochi“, bemerkte er erfreut mit Akihikos sanfter Stimme und ging vor der Glückskatze in die Hocke, um seinen Schirm schützend über sie zu halten. „Was machst du denn hier, bei dem Wetter?“ Seine Hand zitterte kaum merklich, als er ihr lächelnd übers regennasse Köpfchen streichelte und ihr dabei zusah, wie sie sich mit den Vorderpfoten an ihm abstützte, um ihm ziemlich nachdrücklich ins Gesicht zu maunzen. „Schon gut, ich hab dich ja verstanden.“ In einer fließenden Bewegung, die so aussah, als würde Akihiko das heute nicht zum ersten Mal tun, hob er die Mieze hoch und hielt sie so, dass sie es sich gegen seine Schulter gelehnt bequem machen konnte. Sogleich fing die Kleine an zu schnurren und er erschauerte leicht, als ihr kühles Fell die haut an seinem Nacken berührte. „Dann lass uns mal nach Hause ge…“   Ruckartig hob Akihiko den Kopf und starrte angestrengt durch den Regenschleier auf die gegenüberliegende Straßenseite. Tatsuro wusste, dass man an dieser Stelle später erneut Ame no orchestra hören würde, während sich ein roter Regenschirm deutlich aus dem umliegenden Grau der Stadt herausschälte. „Junji“, wisperte Akihiko und streckte seine freie Hand in einer unbewussten Geste nach der Erscheinung aus. Aber der rote Schirm verschwand, genauso wie die aufgeflammte Hoffnung aus den Augen des Straßenkünstlers. Akihiko biss sich auf die Unterlippe, einen wimmernden Laut unterdrückend, welcher sich in Form eines traurigen Lachens schlussendlich doch den Weg aus seiner Kehle bahnte. „Jämmerlich“, spuckte er mit deutlicher Verachtung in der Stimme und drehte sich bewusst in die andere Richtung, um mit schnellen Schritten den Nachhauseweg anzutreten. „Ein Jahr, Tetochi, ein ganzes Jahr und noch immer hoffe ich, dass er wiederkommen wird.“ Tetochi maunzte erneut und leckte mit ihrer kleinen, rauen Zunge über Akihikos Wange, die mit einem Mal verdächtig feucht glänzte.   „Cut!“   Zeitgleich mit Miyas Ausruf stoppte der künstliche Regen und ehrlich erleichtert klappte Tatsuro seinen Schirm zusammen, während Tetochi mittlerweile so halb um seinen Nacken herum gerobbt war, dass sie es sich auf seinen Schultern bequem machen konnte. Das kleine Gewicht war wie ein Anker und das tiefe durchdringende Vibrieren ihres Schnurrens, als er begann sie wieder hinter den Ohren zu kraulen, vertrieb ein wenig der bleiernen Angst, die sich wie ein Schraubstock um sein Herz gelegt hatte.   „Na du, versuchst du einem Schal Konkurrenz zu machen? Wenn du nicht so nass wärst, wär das ja richtig gemütlich.“ Er versuchte sich an einem kleinen, ehrlichen Lächeln, was ihm zu seiner eigenen Verwunderung sogar gelang und wischte sich über die Wangen. Manchmal war er selbst über seine schauspielerischen Fähigkeiten erstaunt, aber heute war es ihm leicht gefallen auf Knopfdruck zu weinen. Verdammt, seine Situation war doch auch einfach nur noch zum Heulen, oder? Dennoch brauchte ja nicht gleich die ganze Crew wissen, wie aufgewühlt und hilflos er sich tatsächlich fühlte. Vorsichtig und zugegeben auch eher unwillig nahm er Tetochi von seinen Schultern, was diese mit einem unzufriedenen Murren quittierte, als ihre Trainerin mit einem flauschigen Handtuch auf sie zukam. Kaum hatte er sie schweren Herzens in die Arme der ältlichen Frau gelegt, wurde Tetochi auch schon eingewickelt und vorsichtig wieder trockengelegt.   „Sie hat Sie in ihr Herz geschlossen, Tatsuro-kun.“   „Glauben Sie mir, das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich werde die Kleine wirklich vermissen, wenn die Dreharbeiten heute vorbei sind.“   „Tatsuro?“ Miya war an sie herangetreten und er spürte eine leichte Berührung an seinem Ellenbogen, als der Produzent nachdrücklich nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Kurz nickte er der Tiertrainerin noch freundlich zu, bevor er sich zu dem kleineren Mann herumdrehte.   „Mh?“, summte er kraftlos und wenig begeistert davon gleich zu erfahren, was der andere nun schon wieder von ihm Wollte. Miyas Aufmerksamkeit bedeutete meist entweder mehr Arbeit oder eine saftige Standpauke und er fühlte sich mental einfach zu erschöpft, um sich nun auch noch damit auseinanderzusetzen.     „Gut gemacht“, sagte sein Gegenüber stattdessen schlicht und er hätte sich am liebsten ungläubig über die Augen gerieben – war das tatsächlich ein schmales Lächeln auf den sonst immer so ausdruckslosen Zügen? Vermutlich würde gleich die Welt untergehen, weil sie so eine Abweichung von der Norm nicht ertragen konnte.   „Da… danke“, stotterte er, vollkommen aus dem Konzept gebracht und wusste für einmal nicht, was er erwidern sollte.   „Der Dreh geht um siebzehnhundert weiter und ich möchte, dass du mindestens schon eine halbe Stunde vorher an der Lokation bist. Wir haben den Strandabschnitt für genau zwei Stunden für uns allein, das heißt keine zweite Chance, das Ding muss aufs erste Mal sitzen, okay.“ Tatsuro nickte stumm, immerhin erzählte ihm Miya gerade nichts Neues, nur das fast schon freundschaftliche Schulterklopfen hätte ihn beinahe erneut die Fassung verlieren lassen. Hatten Aliens den Produzenten entführt und ihn durch einen zugänglicheren Klon ausgetauscht? „Sehr gut, dann sind wir uns ja einig. Ich sagte doch, du wirst die BLP aus ihrem Indie-Dasein führen.“   Er blinzelte, als sich Miya ohne weitere Umschweife herumdrehte und Kommandos bellend zurück zu seinem Regiestuhl ging. Erst als ihm Sato zuwinkte, fand er aus seiner Trance und ging Kopf schüttelnd auf seinen Bruder zu.   „Hey, alles okay?“ Satochis besorgter Blick riss ihn schmerzhaft zurück in die Realität und führte ihm deutlich vor Augen, dass er nicht der Einzige war, den die Hiobsbotschaft der Polizei wie ein Hammerschlag getroffen hatte. Für eine Sekunde erwiderte er den Blick nur stumm, dann gönnte er sich einen Moment der Schwäche, als er den Kopf senkte und gegen die Schulter seines Bruders lehnte.   „Hey, kleiner Bruder.“ Satos Hand war warm und stark auf seiner Schulter … und beinahe zu viel für seine überstrapazierte Selbstbeherrschung.   „Schon gut“, flüsterte er mit rauer Stimme und löste sich. „Alles gut. Lass uns einfach nicht drüber reden.“   „Aber, Tatsue …“   „Bitte.“ Für eine Sekunde dachte er, Satochi würde ihm widersprechen, aber er nickte nur und zauberte von irgendwoher ein breites Lächeln, das nur ein kleinwenig zu angestrengt wirkte.   „Dann erzähl mal, was wollte Miya von dir?“   Tatsuro schluckte und erwiderte schließlich das Lächeln, als er seinem Bruder von seiner Theorie berichtete, dass Miya mit größter Wahrscheinlichkeit endlich von Außerirdischen entführt und durch einen deutlich netteren Klon ersetzt worden war.   „Und überhaupt …“, setzte er nach, während sie langsam das Set verließen. „Seit wann hat Miya eigentlich diesen Militär-Slang drauf? Siebzehnhundert … Ich weiß ja, dass er Befehle bellen kann wie ein General, aber das ist doch etwas viel des Guten. Sind wir jetzt bei der Armee oder was?“   „Was fragst du mich das?“ Satochis Gesichtsausdruck blieb bemüht unbeschwert, während er ihn nachdrücklich aus der Lagerhalle bugsierte. „Ich hab aufgehört ihn immer verstehen zu wollen, ist entspannter so.“   „Ach ja?“ Tatsuros Augenbraue wanderte fragend nach oben wenn jetzt nicht die richtige Gelegenheit war, mal mit seinem Brüderlein Tacheles zu reden, wann dann? „Sag mal, Sato, was läuft da eigentlich zwischen euch?“   „Weiß nicht. Was läuft zwischen Yukke und dir?“   „Ich hab zuerst gefragt.“ Satochi schaute ihn lediglich für einen Moment frech von der Seite her an und begann dann munter das Lied zu summen, welches Tatsuro für den Abspann des Films eingesungen hatte.   „Sato~!“   „Kommst du eigentlich mit? Ein paar Jungs von der Crew schwärmen schon die ganze Zeit von dem neuen Fischrestaurant, das am Hafen eröffnet hat. Dann wären wir auch gleich in der Nähe der Lokation. Würde sich doch anbieten, oder?“   „Lenk nicht vom Thema ab.“   „Ich hätte total Bock auf gegrillten Tintenfisch oder vielleicht,  mh, Hummer? So zur Feier des Tages? Was meinst du?“   „Sat…“ Gerade wollte er sich erneut lauthals beschweren, dass sein Bruder gefälligst mal auf seine Frage antworten und nicht immer vom Thema ablenken sollte, da fiel sein Blick auf Yukke, nachdem sie die BLP verlassen hatten. Der andere schien gerade zu telefonieren und sah alles in allem ziemlich zerknirscht aus. Er wollte sich schon abwenden – schließlich ging es ihn nichts an, was Yukke mit wem auch immer zu besprechen hatte – da aber steckte sein Drehpartner auch schon das Handy weg und machte Anstalten über den Parkplatz zu verschwinden.   „Du Sato, wart mal kurz auf mich, ja?“ Bevor er wirklich darüber nachdenken konnte, war er Yukke nachgeeilt und hatte ihn eingeholt, als er gerade die Tür seines Wagens aufschließen wollte. „Yukke, hey …“, platzte es regelrecht aus ihm heraus und er hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, dass er sich gerade atemlos wie ein verschossener Teenager angehört hatte. Aber ein Blick in das Gesicht seines Gegenübers genügte, um Sorge alle anderen Gefühle überschatten zu lassen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“   „Wie? Oh Tatsuro, hallo.“ Fahrig schloss Yukke die Fahrertür auf und wirkte, als wäre er gar nicht wirklich bei der Sache. „Ja, ja, alles okay, ich muss nur schnell weg …“   Einem spontanen und vermutlich vollkommen irrationalen Impuls folgend trat Tatsuro einen weiteren Schritt nach vorn, streckte seine Hand aus und legte sie auf die eiskalten Finger seines Drehpartners. Er konnte hören, wie Yukke leise zischend die Luft zwischen den Zähnen einzog, als er ihn berührte und ein unbestimmter Schmerz zog für einen Sekundenbruchteil unerträglich stark in seinem Herzen.   „Warte doch mal, du bist total durch den Wind. Wenn du jetzt wegfährst, passiert womöglich noch was. Sag mir lieber, was los ist, mh?“ Vielleicht ging es ihn wirklich nichts an und vielleicht hätte er Yukke nicht so bedrängen sollen, aber verdammt, der andere sah aus, als würde er bei nächster Gelegenheit gegen eine Leitplanke fahren und das konnte er doch nicht zulassen. Stumm erwiderte er den forschenden Blick, versuchte in den schönen Augen zu lesen, aber viel zu schnell wandte sein Gegenüber das Gesicht ab und schaute fragend über Tatsuros Schulter nach hinten.   „Kenta.“ Er seufzte leise. „Könntest du uns wenigstens ein bisschen Privatsphäre geben?“   „Aber natürlich, Iwakami-san.“   Genervt rollte Tatsuro mit den Augen, als er sich nach seinem Leibwächter umdrehte und sah, dass Kenta unter Privatsphäre verstand, sich ungefähr einen halben Meter von ihnen entfernt zu postieren und gerade mal so nett zu sein, ihnen den Rücken zuzudrehen.   „Versuch ihn zu ignorieren, tut mir leid“, bat er zerknirscht, nachdem er sich wieder umgedreht hatte.   „Schon gut.“ Kurz flackerte ein kleines Lächeln über Yukkes angespannte Züge, dann seufzte er leise und schüttelte den Kopf, wie als könnte er so seine Gedanken besser ordnen. „Sie haben Seek gefunden.“ Tatsuro blinzelte überrumpelt. Er verstand zwar die Worte, aber nicht wirklich, was genau der andere ihm damit sagen wollte.   „Wie, sie haben Seek gefunden? Wer? Und wo war er überhaupt?“ Tatsuro war in den letzten Tagen ja felsenfest davon ausgegangen, dass der Reporter sich abgesetzt hatte, nachdem er das mit viel Fantasie gespickte Interview bei der Redaktion abgegeben hatte. Vermutlich mit einem dicken Bonus und einer Schippe Sonderurlaub in der Tasche. „Na, wo ist er? Hawaii? Da wär ich jetzt auch lieber, muss ich zugeben.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, das aber ziemlich verunglückte, als ihn Yukkes tadelnder Blick streifte.   „Seek hat sich nicht abgesetzt, Tatsuro, ich hab dir gesagt, dass ich ihm das alles nicht zutraue und ich hatte recht. Die Redaktionsleiterin  der Stars im Focus hat zugegeben, dass sie das Interview, wie sie sagte, aufgepeppt hat, weil es ihr zu wenig Aussagekraft hatte … Miyas Anwälte kümmern sich darum.“   „Miya? Na ganz Klasse, der mischt sich aber auch überall ein“, brummte er, wenig begeistert von der Vorstellung, dass der Produktionsleiter nun auch noch in dieser Sache seine Finger im Spiel hatte.   „Ja, Miya. Er hat immerhin ein Interesse daran, dass sein Star nicht durch den Kakao gezogen wird.“ Yukke funkelte ihn an. „Das war es auch, worüber ich mit dir reden wollte, aber du bist mir ja meisterhaft aus dem Weg gegangen.“ Tatsuro schluckte schwer, als er das Feuer im Blick seines Gegenübers bemerkte, das ziemlich seltsame und eindeutig unpassende Dinge mit seinem Magen anstellte. Gleichzeitig fühlte er sich jedoch wie ein riesengroßes Arschloch. Jetzt war es amtlich, Yukke hatte mit der ganzen Misere absolut gar nichts zu tun und er hatte sich aufgeführt wie, wie …   „Yukke … ich. Mensch, es tut mir leid, ich war so ein Idiot und …“   „Schon gut.“ Sein Drehpartner schüttelte den Kopf und wirkte mit einem Mal unendlich müde. Das Feuer war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war und hinterließ lediglich einen Schimmer der Angst in den dunklen Augen. „Ich muss los, Tatsuro, sonst schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig zurück zum Dreh.“   „Warte!“ Sein Griff um Yukkes Hand wurde fester. „Bitte. Du hast mir noch nicht gesagt, was jetzt eigentlich genau passiert ist. Was ist mit deinem Freund?“   „Seek liegt im  Keiyu Hospital“, seufzte der andere und fuhr sich durchs Haar, das ihm bereits in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstand.   „In Yokohama?“, fragte er dümmlich und sich ziemlich überrumpelt fühlend. Damit hätte er nun wirklich nicht gerechnet. Sein Gegenüber nickte matt.   „Er hat Freunde dort, ich schätze mal, er wollte sie besuchen, aber ist nie angekommen.“ In diesem Moment hätte er Yukke am liebsten in seine Arme geschlossen, stattdessen umfasste er die Hand des kleineren Mannes nun richtig und drückte sie leicht. Für einen langen Moment trafen sich ihre Blicke, dann strafften sich Yukkes Schultern deutlich sichtbar, bevor er weitersprach. „Nachdem nicht einmal seine Eltern wussten, wo er abgeblieben ist, haben wir ihn als vermisst gemeldet … und gerade eben hat mich seine Mutter angerufen.“ Ein sichtbares Zittern ging durch den kleineren Körper und ließ die Autoschlüssel in Yukkes Hand leise klirren. „In den letzten Tagen hat die Polizei die Krankenhäuser in der Umgebung abgeklappert … Gott Tatsue, er wurde zusammengeschlagen und liegt auf Intensiv. Er war noch nicht ansprechbar und konnte erst jetzt identifiziert werden, weil die Schweine ihm alles geklaut haben.“   Tatsuro fühlte sich, als wäre er in vollem Lauf gegen eine Betonwand geknallt. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit.   „Fuck …“, entkam es ihm und das schlechte Gewissen Seek und auch Yukke gegenüber wuchs ins Unermessliche. „Ich komm mit, okay?“   „Was? Aber …“   „Kein aber, ich hätte keine ruhige Minute, wenn ich dich jetzt alleine fahren lassen würde.“ Tatsuro schüttelte vehement den Kopf und zupfte die Wagenschlüssel aus Yukkes Griff. „Ich sag nur noch schnell Sato Bescheid, bin gleich wieder zurück.“   „Ja, aber …“   ~*~   Kaum waren sie auf die Schnellstraße gefahren, die sie nach Yokohama bringen würde, hatte es angefangen wie aus Eimern zu gießen. Lautes Grollen war sogar trotz der Fahrgeräusche zu hören und gelegentliche Blitze zogen sich über die stahlgrauen, tief hängenden Wolken. Aus dem Radio in Yukkes kleinem Auto tönte ein Popsong, den Tatsuro leise mitsummte und damit so ein wenig seine Schadenfreude untermalen konnte, denn Kenta hatte sich auf die Rückbank quetschen müssen und saß nun mit den Knien fast unterm Kinn da, während er standhaft versuchte weiterhin professionell zu wirken. Tatsuro grinste und drehte den Kopf etwas zur Seite, um Yukke ansehen zu können. Dieser jedoch zuckte genau in diesem Moment zusammen, als ein weiteres Donnern zu hören war.   „Ernsthaft, du hast Angst vor Gewittern?“, fragte er direkt und unsensibel, wie es leider meist seine Art war und fluchte unterdrückt, als ein Transporter vor ihm einscherte und er dank der aufstiebenden Gischt für ein paar Sekunden rein gar nichts mehr sehen konnte.   „Ich hab gesunden Respekt vor Gewittern, das ist was ganz anderes.“   „Na klar“, feigste er, noch immer belustigt, legte aber, wie um seinen vorangegangenen Worten die Schärfe zu nehmen, seine Hand auf Yukkes Oberschenkel. Er konnte spüren, wie die Muskeln sich kurz verspannten und bereute, mal wieder erst gehandelt und nicht gedacht zu haben, dann aber berührten  kühle Finger seinen Handrücken und begannen zögerlich mit seinen Fingern zu spielen. Vermutlich war ihm in diesem Moment seine Erleichterung mehr als deutlich anzusehen, denn Yukke gab einen leisen, unbestimmten Laut von sich, der sich in Tatsuros Ohren beinahe ein wenig belustigt anhörte. „Seek wird wieder, da bin ich mir sicher“, durchbrach er das vermutlich nur für ihn selbst so unangenehme Schweigen, das sich daraufhin über sie gelegt hatte, auch wenn er nur zu genau wusste, wie banal diese Worte waren.     „Das kannst du nicht wissen“, war dementsprechend auch genau die Reaktion, mit der er schon gerechnet hatte und für die er sich die perfekte Antwort parat gelegt hatte.     „Und ob ich das kann. Ich bin Tatsuro, der Allwissende.“   „Wohl eher Tatsuro, der Spinner.“ Yukke schnaubte, aber seine Mundwinkel zuckten verräterisch, ganz so, als würde er sich ein Lächeln verkneifen müssen.   „Ansichtssache, würde ich sagen.“ Tatsuro zuckte mit den Schultern, setzte den Blinker und überholte den weißen Kastenwagen, bevor dieser ihm noch den letzten Nerv kosten würde. „Hoffentlich zieht das Gewitter nicht weiter, sonst bekommt Miya noch ein Aneurysma, wenn es ihm das große Finale verhagelt.“   „Eigentlich wäre es doch auch passend, wenn Ame im Regen enden würde, oder?“   „Stimmt. Und vor allem wäre es so deutlich weniger kitschig. Aber ich hab keinen Bock darauf, schon wieder nass zu werden.“   Yukke lachte und strich mit dem Daumen über seinen Handrücken, was ihm eine doch eher unpassende Gänsehaut bescherte. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er ihn vermisst hatte und das war in der derzeitigen Situation noch beängstigender als ohnehin schon. Was, wenn er Yukke durch seine Zuneigung in Gefahr brachte? Für einige Minuten hingen sie ihren Gedanken nach, bis sein Drehpartner sich schließlich leise räusperte.   „Die Polizei wollte eine Handschriftenprobe von mir“, begann er und Tatsuro verzog unwillig den Mund – ihr Gespräch ging nun eindeutig in eine Richtung, die er lieber vermieden hätte.   „Wegen der Notiz, die bei den Pralinen lag?“   „Ja, sie dachten wohl, sie hätte von mir sein können … Du hast das auch gedacht, oder?“   „Ja“, gab er knapp zu und ihm wurde schlagartig übel. Ja verdammt, er hatte für einen schwachen Moment geglaubt, dass der andere etwas mit den Pralinen zu tun gehabt hatte. Na und? Mit all der Scheiße, die ihm in den letzten Wochen und Monaten widerfahren war, war es doch kein Wunder, wenn er paranoid wurde. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und biss sich auf die Unterlippe. Die Knöchel seiner Hand, die das Lenkrad umfasst hielt, traten weiß hervor, so sehr hatte er sich in den letzten Sekunden verkrampft und es kostete ihm große Mühe das Zittern zu unterdrücken, das nachdrücklich von ihm besitzergreifen wollte.   „Tatsue …“ Yukkes Blick war sanft, als er ihn beschämt erwiderte und in den dunklen Augen konnte er keine Spur von Enttäuschung oder Wut erkennen. Nur Verständnis und etwas, das er nicht zuordnen konnte. Tatsuro atmete betont ruhig ein und wieder aus, konzentrierte sich für einige Momente nur auf die Fahrbahn, bis er sich wieder im Griff hatte. Seine Linke lag noch immer auf Yukkes Oberschenkel, obwohl er sie am liebsten zurückgezogen hätte, aber raue Fingerkuppen malten unsichtbare Muster auf seine Haut, was so verdammt angenehm war, dass er einfach nur stillhielt. „Ich wollte nur sagen, dass ich das verstehe. Vermutlich wäre ich in so einer Situation auch misstrauisch gewesen.“   „Du bist echt zu gut für diese Welt“, murmelte er, auch wenn er bezweifelte, dass Yukke wirklich genauso wie er reagiert hätte. Der andere war doch ein viel zu guter Mensch, um mit derart unbegründeten Verdächtigungen um sich zu werfen. Gott, er fühlte sich miserabel und alles wurde nur noch immer schlimmer … „Es war Blausäure in den Pralinen“, sprudelte es plötzlich aus ihm heraus, ohne, dass er etwas dagegen hätte unternehmen können. „Eine so hohe Dosis, dass selbst ein paar wenige von ihnen tödlich hätten sein können.“ Er hatte nicht darüber reden wollen – worüber man nicht sprach, war schließlich nicht wahr, oder etwa nicht? – aber wie so oft schaffte es allein Yukkes Gegenwart seine Barrieren niederzureißen.     „Ich weiß.“   „Natürlich weißt du das schon.“ Tatsuro seufzte. Sein erster Impulswäre ja gewesen zu fragen, woher Yukke das nun schon wieder wusste, aber mittlerweile hatte auch er begriffen, dass in einer so kleinen Firma, wie die BLP eine war, Neuigkeiten Mittel und Wege hatten, sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Vermutlich war es Gara oder auch Sato gewesen, die seinen Drehpartner informiert hatten. Diskretion war wirklich ein Fremdwort.   „Ich lass nicht zu, dass er dir nochmal wehtut.“   Tatsuro wusste nicht, ob die leise gewisperten Worte überhaupt für seine Ohren bestimmt gewesen waren, aber er spürte den sanften Kuss, den Yukke auf seine Fingerknöchel presste und das warme Kribbeln, welches sich von dieser Stelle ausgehend durch seinen ganzen Körper zog. Er drehte den Kopf etwas zur Seite, um ihm ins Gesicht sehen zu können, aber die dunklen Augen blickten starr aus dem Seitenfenster und beobachteten wohl den Regen, der in dünnen Rinnsalen die Scheibe herabrann.   War nun alles zwischen ihnen geklärt? Nein, nicht wirklich und Tatsuro bezweifelte, dass das passieren würde, solange der Stalker noch immer da draußen war und ihm nach dem Leben trachtete. Aber er fühlte sich jetzt und hier in Yukkes Gegenwart deutlich wohler, als es die letzten Tage über der Fall gewesen war. Wäre er nicht so ein Egoist, hätte er den anderen weiterhin auf Abstand gehalten, um ihn nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Aber verdammt nochmal, er wollte endlich wieder das Gefühl der Geborgenheit spüren, das Yukke in ihm auszulösen vermochte und wenn ihn das zu einem schlechten Menschen machte, dann war es eben so. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem schmalen Lächeln, das sich nicht entscheiden konnte, ob es selbstironisch oder lieber grimmig sein wollte. Sollte der Stalker doch versuchen, nur noch einmal jemanden zu verletzen, der ihm etwas bedeutete, dann würde er schon sehen, wohin ihn das führen würde.   Wieder hatte sich Stille über sie gelegt, aber diesmal hatte er nicht mehr das Gefühl, als würde sie ihn erdrücken. Yukkes Finger waren mit seinen verschränkt und erwärmten sich langsam, während sich vor ihnen das Keiyu Hospital aus den Regenschleiern schälte.     -_-_-_-_- Der April war schreibtechnisch ja nicht wirklich mein Monat und ich hatte schon befürchtet, euch auch im Mai kein neues Kapitel liefern zu können. Aber hey, hier ist es und ich hoffe doch sehr, dass es euch gefallen wird. Hinterlasst mir doch ein Review, wenn dem so war, das hilft mir immer weiter und freut mich ungemein. Außerdem könntet ihr dann gleich noch folgende Frage beantworten: Welcher JRocker war Vorbild für Tatsuros Leibwächter? ;D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)