Von Momenten von Valenfield ================================================================================ Kapitel 1: Endlose Erinnerungen ------------------------------- Ein halber Meter weiter, und alles wäre gut gewesen. Dessen war Prompto sich absolut sicher. Aus irgendeinem Grund wollte keiner seiner Gefährten davon etwas hören — wenn er ehrlich war, hätte er damit aber auch rechnen sollen. “Es war abzusehen, dass dich deine Leichtsinnigkeit irgendwann in Schwierigkeiten bringen würde, Prompto.” “Jaja, Ignis. “Gib’s auf, Iggy. Die sind doch beide völlig rücksichtslos.” “Ach, komm schon, Gladio— au.” Mitten in der Bewegung, beleidigt aufzuspringen, musste Prompto sich wieder rücklings in den klapprigen Plastikstuhl fallen lassen. Sicher, vielleicht hatten beide irgendwo Recht — er hatte es wieder einmal übertrieben, und in einer dummen Situation; aber keiner von ihnen verstand ansatzweise, warum! “Er hat nicht ganz Unrecht, Prompto. Eventuell solltest du dir deine artistischen Künste für nach den gefährlichen Kämpfen aufsparen.” “Ja-au! Ja…” Während Ignis die Wunde an seinem Bein flickte, begutachtete Prompto die Fotos, die er zuvor im Angesicht des Todes gemacht hatte — nahezu im wahrsten Sinne, denn ihr Feind hatte ihn durchaus an einen Sensenmann erinnert, zumindest von allen Zeichnungen her, auf denen er je welche gesehen hatte. Wirklich gruselig. “Woah, hey, aber das ist der Hammer! Hey, Noct, das musst du dir ansehen!” Ohne auf die Reaktion zu warten, drehte Prompto die Kamera begeistert zu seinem besten Freund, der seinerseits im Stuhl neben ihm saß, vielleicht eher lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, leicht wippend und von ihnen allen weggedreht, als gäbe es nichts Langweiligeres als sie. “Hm, nee. Keine Lust.” Augenblicklich wich Promptos breites Grinsen einem ebenso breiten Schmollen, er zog die Augenbrauen zusammen und wandte sich beleidigt ab, um das Foto selbst genauer zu studieren. Es war eine gut gelungene, kaum verwackelte Momentaufnahme davon, wie Gladiolus die Klauen des Sensenmanns abgewehrt hatte, und gerade deswegen ärgerte Prompto sich besonders darüber, dass ihm alle seine Freunde böse zu sein schienen. Es war eine seiner besten Aufnahmen diese Woche, und seine Fähigkeit, ihre Reise für immer festzuhalten, war das Einzige, worauf er sich ansatzweise etwas einbildete. Ihm fehlten das jahrelange Training und die körperliche Stärke, die Gladiolus besaß. Er hatte absolut keinen Schimmer von all den Dingen, die Ignis für sie erledigte, wie Kochen, Einkäufe oder — wie momentan — die Sorge um ihre Verletzungen. Und am allerwenigsten hatte Prompto irgendetwas von all dem, was Noctis hatte — eine royale Blutlinie, die Kraft des Kristalls, supercoole Warpfähigkeiten, oder gar irgendeine Verantwortung; irgendjemanden, der ihn brauchte. Ohne seine Kamera war Prompto, und er musste beim Gedanken daran Schlucken, um den üblen Beigeschmack loszuwerden; nichts. Absolut gar nichts. “Hah, dann eben nicht!”, rief er schließlich, gab sich besonders viel Mühe, kindisch zu wirken, und gestikulierte ein wenig wild herum, als sei ihm das alles völlig egal, sah dann durch den Rest der Fotos, konnte aber ehrlich gesagt nichts an ihnen finden, was ihn ansatzweise kümmerte. Sicher, sie waren gut, aber was brachte ihm das, wenn niemand sie sehen wollte? Nun hatte er nicht nur eine ziemlich schmerzhafte Verletzung am Bein, die ihn morgen zweifelsohne zu einer Last machen würde, sondern das auch noch völlig ohne Grund oder Zweck. Die Nacht war schon sehr lang angebrochen, als sie endlich alle soweit waren, schlafen zu gehen, aber es hielt Prompto nicht lange davon ab, sich wieder heraus zu stehlen und der Natur zu lauschen. “Maan, das ist mal so uncool”, seufzte er genervt, unweit ihres Zeltes an einer Klippe sitzend, während er ein paar Bomber-Dämonen unweit von sich dabei beobachtete, wie sie einander beschossen. Irgendwie erschien es ihm immer noch aberwitzig, derart unweit solch gefährlicher Bestien zu nächtigen, aber er wusste auch, dass ihre Zeltplätze alle so sicher waren wie eben möglich. “Immer noch wach, hm?” Vor Schreck fiel er beinahe vornüber von der Klippe, denn er hatte die herannahenden Schritte absolut nicht wahrgenommen. “Woah! Willst du mich umbringen, man?” “Tut mir leid.” Die Worte klangen ehrlich, aber die Hand an seinem Rücken lag schwer, wie die vielen unausgesprochenen Worte über das, was zuvor geschehen war. Irgendetwas war passiert, was er nicht gesehen hatte. Irgendetwas, was dieses Mal anders gemacht hatte — es war schließlich nicht das erste Foto, was er mitten im Kampf gemacht hatte, und er war sich ziemlich sicher, es würde nicht das Letzte bleiben. “Ziemlich wagemutig von dir, meinst du nicht?” Noctis’ Stimme klang weniger maßregelnd als die von Gladiolus und Ignis, dafür aber aus irgendeinem Grund vielfach enttäuschter. Als hätte man seinen Geburtstag vergessen oder sich sein Abendessen einverleibt — als hätte jemand ihn persönlich angegriffen. “Ach, na ja. Nicht mehr als sonst, oder?” Er gab es ungern zu, aber irgendetwas an der Stimmung, die zwischen ihnen lag, bescherte Prompto eine gewaltige Gänsehaut. Zum ersten Mal, seit sie alle zusammen von Insomnia aufgebrochen waren, um nach Altissia zu reisen, hatte er das Gefühl, dass sie eventuell in einen ernsthaften Streit ausbrechen könnten. Er hasste Streits prinzipiell, weil es immer mindestens einen gab, der ihn sich zu Herzen nehmen würde; und es lag ihm ohnehin fern, das Vertrauen seiner Freunde zu verlieren, auch wenn er von ihnen nur Noctis schon recht lang kannte. Sie alle verdienten, sich aufeinander verlassen zu können. “Würde ich so nicht sagen. Sah echt ziemlich gefährlich aus, Prompto.” Es war keine Feststellung. Es war ein Vorwurf. “Ach, komm schon, Noct!” Wenn er irgendwelche Vorwürfe brauchte, könnte er sich die selbst machen. Vielleicht ließ dieser Gedanke ihn so schnell in die Defensive gehen. “Du klingst ja fast, als hättest du den ganzen Unsinn vergessen, den wir in den letzten Jahren abgezogen haben! Hey, aufs Schuldach zu kommen war für mich auch nicht so einfach, im Gegensatz zu dir.” “Als sei das das Gleiche.” “Maan, natürlich nicht! Aber sonst gehen wir durch so was doch gemeinsam, oder etwa nicht?!” Ein Schulterzucken — Noctis schien den Gedankengang in Erwägung zu ziehen, aber nicht ansatzweise überzeugt zu sein. Er wirkte immer noch gelangweilt und defensiv; irgendetwas stimmte absolute nicht, und Prompto konnte es nicht ausstehen. Ignis und Gladiolus würden ihm schon irgendwie verzeihen, vielleicht nach der einen oder anderen Standpauke, aber wenn Noctis erst einmal beleidigt war, blieb er es auch problemlos für eine Weile, und das war etwas, was sie sich insbesondere mit dem Imperium auf ihrer Spur nicht leisten konnten. Instinktiv rieb Prompto über die Stelle an seinem Handgelenk, unter der er seine angsteinflößende Seriennummer versteckte. Das Imperium. Prompto hasste jeden einzelnen Gedanken daran, auch wenn ihm bis heute ohnehin nur wenige davon blieben. Der Platz im Leben, den er hier gefunden hatte, war der Einzige, an dem jemand wie er willkommen wäre. Er konnte nicht riskieren, das zu verlieren. „Prompto?“ Er zuckte zusammen, nickte aber. „Hm?“ „Wofür die ganzen Fotos?“ Natürlich war es eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich diesbezüglich erklären müssen würde. Er hatte es oftmals abgetan als Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, als Verewigung, aber natürlich war das nicht alles. Jeder seiner Gefährten hatte irgendein höheres Ziel, also hatte Prompto es sich ganz einfach zur Aufgabe gemacht, ebenfalls eins zu haben. Aber konnte er das so leichtfertig sagen, nachdem er sich deswegen in derartige Gefahr gebracht hatte? „Ach, na ja, du weißt schon! Das Ganze ist ein Wahnsinnsabenteuer – das glaubt uns doch keiner ohne Beweise!“ Sein breites Grinsen wurde mit einer hochgezogenen Augenbraue gestraft, was ihn dazu brachte, zu seufzen und sich auf den kalten Stein zurückfallen zu lassen. Wäre Ignis jetzt mit ihnen hier, würde er sicher beiden eine ausartende Lektion über Sternbilder geben, aber so konnte Prompto lediglich den hell erleuchteten Himmel beobachten – das ließ die Dämonen schon viel weniger angsteinflößend wirken. „Beweise, hm? Hey, erinnerst du dich an die Sache mit der Schultafel?“ Er lachte, bevor der Satz bei ihm angekommen war – es hatte von vornherein nur auf diese Geschichte hinauslaufen können – und ja, er erinnert sich an sie, mehr als genau, da sie ihnen beiden satte drei Wochen Nachsitzen und zwei Besuche beim Rektor eingefahren hatte; beides jedoch zweifelsohne wert gewesen war. „Klar, war ziemlich witzig. Die Farbflecken sind sicher immer noch drauf zu sehen.“ „Die geh‘n nie wieder raus, darauf wett ich!“ Aber egal wie lustig die Erinnerung war, sie änderte nichts daran, dass irgendetwas unglaublich falsch lief, auch als Noctis krampfhaft über eine weitere Episode in ihrem Schulleben nachzudenken schien. Worauf genau wollte er damit hinaus? „Der ganze Ärger mit meinem Vater war nicht wirklich witzig, aber eigentlich war‘s das wert.“ „Noct?“ „Meinst du nicht?“ „Doch, klar, aber…irgendwie, also, ich kapier nicht-“ „Ist ein Foto wirklich dein Leben wert, Prompto?“ Die Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht, eine eisige Welle, ein unerwarteter, heftiger Windstoß; so plötzlich, dass er die Augen aufriss. So vorwurfsvoll, dass Übelkeit in ihm aufstieg. Aber er wäre nicht er selbst, würde er nicht versuchen, die Situation irgendwie zu verharmlosen, ihr irgendwie die Ernsthaftigkeit zu nehmen. „Ach, also…so knapp war‘s dann doch nicht!“ Schließlich war es seine Aufgabe, der Spaßvogel zu sein. Egal, was es kostete. „Sah aber schon so aus.“ „J-ja, vielleicht.“ Er setzte sich wieder auf, legte die Hände zusammen und versuchte, seine zappelnden Beine unter Kontrolle zu halten. Sein Knie schmerzte immer noch, auch wenn es nicht ganz so schlimm war, solange er sich nicht bewegte. Es war nicht so, als hätte er geplant gehabt, von einem sich heranschleichenden Gegner attackiert zu werden, aber der Moment hatte danach gerufen, festgehalten zu werden, und Prompto hatte schlicht und ergreifend nachgegeben. Nun aber den Vorwurf zu hören, es habe ausgesehen, als habe er sein Leben aufs Spiel setzen wollen… Hatte er das vielleicht? Sicher nicht wissentlich, daran würde er sich erinnern können, aber wer wusste schon, was genau in seinem Unterbewusstsein vorgegangen war, welche epischen Geschichten er sich zusammen gesponnen hatte. „Dachte nie, dass du dich hier so unwillkommen fühlst.“ „Wa-! Tu ich nicht!“ Vielleicht ein bisschen. „Mhm, gut. Dann sorg‘ besser dafür, dass du uns erhalten bleibst.“ Er kannte Noctis sowohl lange als auch gut genug, um zu verstehen, dass diese Worte nur gut gemeint waren, auch wenn er schon immer Schwierigkeiten damit gezeigt hatte, mit anderen nett oder respektvoll zu reden; für gewöhnlich gab es zwischen ihnen keine Gespräche, die sonderlich viel Takt erforderten, deswegen war das Ganze wohl für sie beide ungewohnt, neu, ein wenig beunruhigend. „Ja, ich…ja.“ Es blieb gerade so genug Zeit für sie, die Fäuste aneinander zu schlagen, als schlössen sie damit eine Art Pakt, bevor das Rascheln des Zeltes sie beide aufschrecken ließ. „Natürlich. Warum sollte auch nur einer nicht schlafen.“ „Sagt der Richtige!“ „Erklärst du uns jetzt als Strafe die Bedeutung dahinter, wie aktuell die Sterne stehen? Das wär‘ doch witzig!“ „Bloß nicht! Du hast keine Ahnung, wie oft ich so was schon von ihm hören musste, Prompto!“ Wahrscheinlich war gerade das der Grund, warum Ignis offenbar beschloss, der Aufforderung nachzugehen, erklärte, wie man – falls nötig – anhand der Helligkeit die Tageszeit und den Mondzyklus definieren konnte, und warum all das für sie trotz der Verfügbarkeit von fortschrittlicher Technik absolut relevant war. Keiner von ihnen erwähnte mit auch nur einem weiteren Wort irgendetwas davon, was zuvor geschehen war, aber Prompto nutzte dennoch die Gelegenheit, ein verwackeltes, absolut verschlafen aussehendes Bild von ihnen allen zu machen, für das Noctis ihm auf die Schulter klopfte, Ignis sich ein Lächeln abringen konnte und Gladiolus, als er es am nächsten Morgen vor die Augen gehalten kam, sich beinahe bemühte, geschockt darüber zu sein, dass er dieses großartige Beisammensein verpasst hatte. Vielleicht, so dachte Prompto als ihm der Fahrtwind die Haare verwüstete, Noctis bei einer Vollbremse seitens Ignis beinahe aus seinem selbsternannten Thron fiel und Gladiolus in sein Buch vertieft nur kurz genervt grummelte… Vielleicht brauchte es nicht mehr als das für einen waschechten Beweis, was sie so alles erlebt hatten. Kapitel 2: In die Zukunft ------------------------- Manche Dinge änderten sich wohl wirklich nie. Mit einem leidenschaftlichen Seufzen und zusammengezogenen Augenbrauen beäugte Chikara skeptisch die fragwürdigen Examen vor sich, die ihm seine Freunde beinahe stolz vorgelegt hatten. Woher genau ihr Enthusiasmus darüber rührte, war ihm aber ein absolutes Rätsel. „75 Punkte sind nicht wirklich der,“ und er gab sich die allergrößte Mühe, es so gelangweilt wie möglich zu sagen. „Wahnsinn.“ „Hah! Hab ich auch gesagt. Oh man, Noya, ganz schön hoffnungslos!“ „Tanaka. Du hast nur 73.“ Bevor er den Satz beendet hatte, schrien beide schon wie wild umher und diskutierten in stetig steigender Lautstärke darüber, wer von ihnen schlechter war, und wer die offensichtlicheren Fragen falsch beantwortet hatte. Im Endeffekt schienen sie zu keiner Lösung zu kommen, aber Chikara hatte zweifelsohne eine für sie beide anzubieten. „Ihr könntet euch darauf einigen, dass ihr beide bessere Noten schreiben solltet.“ „Langweilig!“ „Wow, Chikara, sonst bist du doch nicht so!“ War er eigentlich schon, insbesondere weil die beiden nicht nur ihre eigene Zeit verschwendeten, sondern darüber hinaus auch noch seine. Jedes Mal, wenn sie zusammen saßen – egal, ob es um Hausaufgaben oder ums Lernen ging – verschwendeten sie dreimal so viel Zeit wie nötig damit, unsinnige Zweikämpfe mit ganz klar undefinierbarem Sieger – Verlierer? Chikara wusste es selbst nicht mehr – zu führen, aber dieses Mal war es noch ein ganzes Stück schlimmer, denn für gewöhnlich hatten die beiden wenigstens noch so etwas wie Scham übrig. Aus irgendeinem Grund war ihnen beiden diesmal sogar dieses bisschen Respekt für die Aufopferung seiner Zeit abhanden gegangen. „Vielleicht sollte ich öfter so sein – was immer das bedeutet – damit ihr beiden euch ein bisschen mehr anstrengt.“ „Was! Reicht doch völlig aus.“ „Für vier verbrauchte Nachmittage erwarte ich etwas mehr als drei Viertel, Tanaka!“ Oh, und zu allem Übermaß ließ Chikara sich dieses Mal auch noch auf die Zankereien ein, was ihm für gewöhnlich viel zu lästig gewesen wäre. Seinen beiden Teamkameraden schien das aber nicht aufzufallen. Sie diskutierten fröhlich weiter, scheinbar wenig daran interessiert, ihren Hausaufgaben auch nur einen Moment lang Beachtung zu schenken, sodass Chikara sich im Endeffekt mit einem ziemlich energiegeladenen, breit grinsenden Nishinoya auf den Heimweg machte, immer noch mehr als unzufrieden was die Lernerfolge seiner beiden Freunde anging. Sicher, sie waren immer noch im zweiten Jahrgang, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht bald Gedanken über die Zukunft machen sollten. Aber Nishinoya hatte die Ruhe weg, spielte auf dem Weg irgendein ziemlich überfüllt-buntes, offen gesagt recht langweilig aussehendes Spiel auf seinem Handy, das breite Grinsen nicht mal von seinem Gesicht weg zu denken. Irgendwann, als es ihm schlussendlich zu viel wurde, blieb Chikara dann doch stehen, in der Hoffnung, trotz deiner Müdigkeit noch ein strenges Gesicht aufsetzen zu können. „Nishinoya.“ „Hm?“ „Warte.“ Er hielt tatsächlich an, drehte sich sogar um und legte den Kopf schief, offenbar wirklich absolut ahnungslos darüber, was vor sich ging. „Sorglos wie immer, hm? Ich verstehe nicht, wieso ihr eure Volleyball-Energie nicht auch mal auf etwas Anderes konzentrieren könnt. Wir sind bald Drittklässler, weißt du?“ Eigentlich hatte Chikara nicht derart vorwurfsvoll klingen wollen, aber es war mit jedem Mal, jeder Deadline, jedem Monat den sie ihrem Abschluss näher kamen schwerer mit anzusehen, wie seine Freunde potentiell ihre Zukunft wegwarfen. Wenn er eines wusste, dann, wie sich Reue anfühlte. Und wenn er irgendwie vermeiden konnte, dass die beiden je das Gleiche durchmachen müssen würden – die Scham, den Willen, zurückzugehen, es besser zu machen, die verzweifelte Erkenntnis, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen ließ… „Aaach, mehr geht in meinen Kopf einfach nicht rein, Chikara! Du bist eben einfach zu gut, weißt du?“ Er bezweifelte stark, dass es daran lag, seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich bin kaum besser als der Durchschnitt. Ich gebe mir nur mehr Mühe. Vielleicht solltest du das in Erwägung ziehen.“ „Ja, ja, klar! Können wir nicht einfach die…du weißt schon! Energie aufteilen?!“ „Aufteilen?“ „Ja!“ Nahezu begeistert stürmte Nishinoya wieder auf ihn zu, blieb kurz vor ihm stehen und grinste breiter als je zuvor. „Darum bin ich doch Libero geworden, Chikara. Also echt.“ Oh. Tatsächlich reichten die Worte, damit es ihm dämmerte. Nishinoya erzählte viel und oft davon, dass seine Spezialität die Dinge waren, die andere nicht tun konnten – er aber dafür viele der Dinge, die anderen taten, ebenfalls nur mäßig beherrschte. Oftmals klang es wie eine Ausrede, gerade wenn es um Schularbeiten ging, aber ganz Unrecht hatte er damit auch nicht. Seine schier endlose Energie trug dazu bei, das Team zusammenzuhalten, sie alle zu motivieren, weiterzumachen, egal wie sehr es schmerzte. Chikara war sehr gut bewusst, dass das beispielsweise zu den Dingen gehörte, zu denen er selbst niemals in der Lage wäre. „Klar, verstehe“, lenkte er dann ein und lächelte schwach. „Aber deinen Teil der Schularbeiten kann ich deswegen nicht übernehmen, Nishinoya.“ „Ja, ja, weiß ich doch. Denkst du, ich hätte 75 Punkte, wenn ich mich nicht besonders anstrengen würde? Haha!“ Haha. Er klang wirklich maßlos belustigt, aber Chikara fand das eher ein bisschen traurig, und gleichzeitig irgendwie befriedigend. Vielleicht waren ihre gemeinsam verbrachten Nachmittage doch nicht unbedingt Verschwendung, auch wenn es ihm oftmals wirklich so vorkam. „Das ist nur halb so lustig, wie du es klingen lässt, aber…na gut. Vielleicht ertrage ich euer Verlierer-Rennen ja noch eine Weile länger.“ „Eine Weile? Hey, du meinst wohl für immer. Warte mal, Verlierer?! Chikara!!“ Er schmunzelte, als sie ihren Weg fortsetzten, und lauschte der ausschweifenden Erklärung Nishinoyas darüber, wie viel Mühe er sich in der letzten Zeit gegeben hatte, dass er auf jeden Fall ein Gewinner war und sowieso niemals gegen Tanaka verlieren könnte, selbst wenn er wollte. Es war anstrengend, ermüdend und dennoch konnte Chikara sich nichts Beruhigenderes vorstellen. Sicher, er sorgte sich immer sehr um die Zukunft, manchmal vielleicht zu viel, aber Nishinoya war eben genau die geballte Euphorie, die Ladung Einfühlsamkeit und Motivation, die er brauchte, um all diese Sorgen nicht an sich heranzulassen. Egal, wie viele niederschmetternd erfolglose Nachmittage und Abende ihnen bevorstanden – all das hatte keinerlei Substanz im Angesicht auch nur einer einzigen selbst mäßig verbesserten Note. „Für immer klingt gut, Nishinoya.“ Kapitel 3: Bleib für immer, geh mit mir --------------------------------------- Es war viel zu kalt, um stillzustehen. Massive Schneeflocken fielen unaufhörlich vom Himmel, legten sich auf die dichte weiße Decke, die den Boden bereits eingehüllt hatte. Für gewöhnlich sollte der eigene Überlebenswille Grund genug für Ace sein, nicht stillzustehen, sich selbst voranzutreiben und weiterzukämpfen. “Unerwartet still”, hörte er sich selbst murmeln, atmete tief ein und aus, schloss die Augen und lauschte dem Wasser. Teile der Küste zu seinen Füßen waren bereits gefroren, und wenn er lange genug wartete, würde sicher auch das sanfte Rauschen des Meeres verstummen, die flachen Wellen sich in Eiskristalle verwandeln und einen schwach-weißen Weg über den endlosen Ozean bahnen. Ace hatte sich selbst schon immer als jemanden empfunden, der einen solchen Weg ohne zu zögern gehen würde, böte sich dafür ein guter Grund. Das war es, was es ihm möglich machte, Missionen hinzunehmen, Aufgaben zu erfüllen und ungehindert weiterzugehen, selbst wenn das Innerste seiner Seele alles versuchte, um ihn davon abzuhalten. Es war alles gewesen, was ihm die Kraft gegeben hatte, nicht nach seinen verloren Erinnerungen zu suchen, die Verluste zu akzeptieren und weiter zu kämpfen — nicht für sich selbst, aber für den Rest seiner Klasse, für seine Mutter, und vielleicht auch, um seine Vergangenheit bestmöglich zu ehren. Das Knirschen des Schnees hinter ihm ließ ihn den Kopf drehen. Der Rhythmus, die Lautstärke, die Intensität der Schritte war eindeutig; Ace würde all dies immer wiedererkennen. Ein Chocobo. Zum ersten Mal seit langem stahl sich ein ungezwungenes Lächeln auf sein Gesicht, als der Kopf des gefiederten Reittiers sich sanft gegen seinen Rücken presste, ihn ein wenig anstupste, ihn vielleicht anhalten wollte, aufzustehen und weiterzumachen. Wofür, fragte er sich, wenn ich hier Frieden gefunden habe? Wie in Trance malte Ace inkohärente Muster in den Schnee — sie hatten keine Bedeutung, keine Geschichte, waren lediglich das, was sein Kopf daher sponn. Früher hätte er befürchtet, sie stammten aus seinen Erinnerungen, hingen zusammen mit jemandem, den er verloren und vergessen hatte, aber jetzt wusste er, dass dem nicht so sein konnte. Er konnte niemanden schmerzhaft vergessen haben, weil es niemanden mehr zu vergessen gab, der es wert gewesen wäre, die Erinnerungen an ihn behalten zu wollen. “Wohin als Nächstes?”, murmelte er leise, schloss die Augen und richtete den Kopf gen Himmel. Was wartete auf ihn, weit hinter dem dichten Dunst, den weißen Wolken, den nebligen Schwaden, die sanft über das Wasser glitten? Wohin sollten seine Füße ihn bringen, wenn er ihnen erlaubte, ihn wieder zu tragen? Die vielen langen, endlosen Kämpfe schlichen sich zurück in sein Gedächtnis. Verschwommene Gesichter derer, die neben ihm gefallen waren, flehende Stimmen, beinahe zu schwach, um nach Hilfe zu rufen. Die Verzweiflung derer, die von vornherein nicht hatten überleben sollen. Es war schlichtweg ironisch. Doch sein Gefährte ließ nicht zu, dass Ace diese einsamen Ängste seinen Geist schwächen ließ. Er war bereit für die Reise gewesen, lange bevor seine Schuhe im Schnee versunken, lange bevor seine Kameraden ohne ihn vorangegangen waren. Hier zu sitzen war nichts als ein längst fälliger Rückblick, eine Entschuldigung für all das, was ihm genommen worden war, und er wusste das. Die Wärme des Chocobos, der sich an ihn schmiegte, der kräftige Herzschlag, der ihn in Mark und Knochen erfüllte; all das ließ ihm zum ersten Mal zurückdenken an eine längst verlorene Zeit — eine, die ihn zerrissen hätte, wäre sie bei ihm gewesen. Sie hätte seine Gedanken besudelt, seinen Willen geschwächt, seine Fähigkeiten limitiert. Nichtsdestotrotz kam er nicht drum herum, jede einzelne Sekunde ohne sie zu vermissen. Zögerlich kämpfte er sich aus dem tiefen Schnee heraus näher ans Wasser. Dort, wo die Wellen an den kalten Stein schlugen, war es glatt und gefährlich, aber Ace wusste, dass er weder stolpern noch fallen würde. Der Kampf war längst vorbei. Egal, wohin er gehen würde, und egal, wohin seine Füße ihn je noch tragen könnten — all das war irrelevant im Angesicht dessen, was ihm nach so unglaublich langer Zeit, nach Jahrhunderten, Jahrtausenden die er es immerzu vergessen hatte, wiedergegeben worden war, und was er nie, nie wieder loslassen würde. Der Schritt über die Grenze fiel ihm nicht ansatzweise so schwer, wie er immer befürchtet hatte, denn wenn er die Augen schloss, fühlte er ein leichtes Drücken an seiner Schulter, wie eine Hand, wie jemand, der ihn unterstützte, ihm die Angst nahm. Die Welt in Frieden zu wissen, auch wenn es eine war, in der er nie mehr leben können würde, war vielleicht alles, was er brauchte, um dieses Schicksal zu akzeptieren. Er lachte leise auf, schüttelte den Kopf. Aber eigentlich wusste er doch, was der wirkliche Grund war. Ein einziger Gedanke, eine einzige Erinnerung war es, die ihm die Kraft gab, mit einem Lächeln weiterzugehen, wissend, dass sie sich niemals wiedersehen würden, aber mit seinem Lächeln nun für immer in Ace’ wiederkehrendem Gedächtnis verewigt. Alleine das war mehr als genug. „Meinst du nicht auch, Izana?” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)