Dreams of Gold von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 8: Tamamono ------------------- 08. Tamamono   Der angenehm würzige Geruch der Räucherstäbchen, angezündet gegen die im Sommer allgegenwärtigen Mücken, lag schwer in der schwülen Abendluft und vermischte sich träge mit dem Rauch der Zigarette, an der ihr Großvater hin und wieder zog. Wie er saß Ataru an die geschlossene Verandatür, die zum Wohnzimmer führte, gelehnt da und sah still aufs Meer hinaus. Auch wenn der Tag nach dem Taifun sonnig begonnen hatte, türmten sich jetzt wieder hohe Wolken am immer dunkler werdenden Abendhimmel und der Wind wurde allmählich kälter. Wenn sie Glück hatten, würde es nachts gewittern und die Luft morgen ein wenig erträglicher machen. Selbst nach dem Sturm war die Atmosphäre drückend und zum Schneiden dick. Ataru atmete den vertrauten Duft von Tabak und Räucherwerk tief ein und schloss für ein paar lange Sekunden die Augen. Sie versuchte, sich bewusst zu entspannen, bevor sie schließlich nach der kühlen Bierdose griff, die neben ihr stand. Schweigend trank sie einen großen Schluck, konnte von drinnen die Stimme ihrer Großmutter hören, die mit einer Freundin telefonierte. Sie wollte gerade dazu ansetzen, ihren Großvater noch einmal nach dem Gespräch zu fragen, das sie am Morgen geführt hatten, als er sich räusperte. Ataru sah auf, wandte sich ihm halb zu, ließ ihren Blick dann aber dem blaugrauen Zigarettenrauch folgen, der sich aus seinem Mund hinaus gen Himmel kräuselte.   „Du hast uns heute wirklich einen ziemlichen Schrecken eingejagt, Ataru. Ich wollte deiner Großmutter erst gar nicht glauben, weil es so absurd klang. Vor allem aus ihrem Mund. Ich denke, sie stand ein bisschen unter Schock, wenn ich ehrlich bin.“ Sie konnte keinen Vorwurf in seiner Stimme hören, die Worte verließen ruhig und besonnen seinen Mund, als wären sie ihm heute schon länger durch den Kopf gegangen. Und doch hatte sie das Gefühl, etwas wieder gut machen zu müssen.   „Tut mir leid.“   Das war gefühlt alles, was sie dazu sagen konnte, aber trotzdem erschien es ihr als zu wenig, um auszudrücken, wie sehr sie sich die Situation anders gewünscht hätte. Ihr Großvater gab nur ein unbestimmtes Geräusch von sich, griff mit seiner freien Hand nach einer der leuchtend roten Kirschen in der kleinen Schüssel, die zwischen ihnen stand.   „Es war ja offensichtlich nicht beabsichtigt.“ Hätte sie ihn weniger gut gekannt, wäre ihr im Halbdunkeln vielleicht das winzige Lächeln entgangen, das an seinen Mundwinkeln zupfte.   „Definitiv nicht.“ Ataru stieß ein halb frustriertes, halb amüsiertes Schnaufen aus, während sie eine Welle der Erleichterung durchflutete. „Als ich darüber nachgedacht habe, sie euch vorzustellen, hatte ich mir das definitiv anders vorgestellt.“ Sie hatte gar keine Worte dafür, wie anders.   „Vielleicht war es ja gar nicht mal so schlecht, dass es so passiert ist.“   „Wie meinst du das?“ Erstaunt sah sie den Älteren an, setzte sich automatisch etwas aufrechter hin, aber ihr Großvater lächelte nur.   „Ich weiß nicht, ob wir dir sonst einfach so geglaubt hätten“, erklärte er dann, betrachtete seine Enkelin nachdenklich. „Hättest du uns einfach so versucht uns deine Situation zu erklären … Es wäre vielleicht zu fremd gewesen, als dass wir es geglaubt oder wirklich ernst genommen hätten.“   „Ich weiß nicht, ob es das besser oder schlimmer gemacht hätte, wenn ich ehrlich bin.“   „Na ja, so gab es zumindest nichts, was man hätte wegdiskutieren können?“   „Schon.“ Ataru verzog ihr Gesicht zu einer leidenden Grimasse. „Aber es war auch einfach nur unfassbar peinlich für alle Beteiligten.“ Sie stellte ihre Bierdose beiseite, um sich mit beiden Händen übers Gesicht zu fahren. „Ganz abgesehen davon, dass Die und Toshiya sich garantiert Sorgen machen, weil ich heute Morgen total neben mir stand.“   „Du kannst sie sicher beruhigen, wenn ihr euch das nächste Mal seht – und ich gehe mal davon aus, dass das recht bald sein wird?“   „Morgen, eigentlich. Wenn ihr nichts dagegen habt“, gab sie kleinlaut zu. Immer in der Hoffnung, dass nicht doch noch eine Katastrophe passierte, die ein Wiedersehen verhinderte.   „Na siehst du.“ Ihr Großvater streckte eine Hand nach ihr aus. Wie schon am Morgen ergriff er ihre und drückte sie leicht, während er sie weiter ansah. Doch je länger sie so verharrten, desto mehr schien der Humor aus seinen Augen zu verschwinden, bis sie glaubte, immer deutlicher auch Sorge in seinem Gesicht lesen zu können. „Und du bist dir wirklich sicher, dass das das Richtige für dich ist?“   Auf diese Frage hin war es jetzt Ataru, die nicht anders konnte, als zu lächeln und ihre Antwort mit einem Nicken zu bekräftigen.   „Glaub mir, ich hab in den vergangenen Wochen quasi über nichts anderes nachgedacht. Und ich verstehe es zwar selbst noch nicht so ganz, weil ich noch nie so gefühlt habe. Aber–“ Sie hielt kurz inne, sah sich suchend auf der Veranda um, bevor sie leise fortfuhr. „Wenn ich auch nur daran denke, mich zwischen ihnen entscheiden zu müssen, zerreißt es mir das Herz. Und ja, ich weiß, wie kitschig das klingt. Ich weiß auch, dass es nicht das ist, was ihr euch für mich vorgestellt habt. Wenn ich ehrlich bin, es ist nicht das, was ich mir selbst für mich vorgestellt habe … Aber ich bin mit den beiden glücklich. Ich kann es schlecht in Worte fassen …“ Sie sah ihren Großvater an, musste mit sich kämpfen, um nicht einmal mehr an diesem Tag ihre Emotionen Überhand gewinnen zu lassen. „Wenn ich mit Toshiya und Die zusammen bin, fühlt es sich einfach richtig an. Als wäre ‚bei ihnen‘ einfach der Ort, an den ich gehöre. Auch wenn das vielleicht absurd ist.“   „Wenn ich dich so ansehe, klingt es nicht absurd.“ Der Gesichtsausdruck ihres Großvaters war voller Wärme und Zuneigung. So wie sie ihn schon immer kannte, wie er ihr schon immer mehr Vater gewesen war als ihr tatsächlicher Erzeuger. „Und du hast es heute Morgen ja selbst gesagt: Wir müssen es nicht unbedingt verstehen, akzeptieren können wir es trotzdem. Sollten wir es trotzdem. Wir wissen ja, dass du alt genug bist, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen, Ataru.“   „Danke.“   „Aber sollten die beiden irgendetwas tun, dass dir schadet, können sie etwas erleben.“   Ataru konnte nicht anders, als erleichtert zu lachen, während sie nun selbst nach den Kirschen griff.   „Das werde ich ihnen gern ausrichten, aber du weißt doch, dass ich auf mich selbst aufpassen kann“, konterte sie dann, schob sich eine der süßen Früchte zwischen die Lippen, bevor sie fortfuhr. „Auch, wenn es sehr lieb von dir ist, dass du mich so verteidigen willst.“   „Ach, um verteidigen geht es doch gar nicht. Du bist meine einzige Enkelin, da darf ich ja wohl ein bisschen besorgt sein.“ Seine nur halb gespielte Entrüstung ließ sie grinsen.   „Darfst du. Weil du es bist. Ausnahmsweise.“   Mit einem bekräftigenden Nicken hob ihr Großvater seine Bierdose, um mit ihr anzustoßen und noch einen großzügigen Schluck zu trinken.   „Ich sollte später auch noch mal mit Oma reden, oder?“, fragte Ataru schließlich, nachdem einige Minuten lang einvernehmliche Stille zwischen ihnen geherrscht hatte.   „Schaden kann es nicht. Aber vielleicht nicht mehr heute. Lass sie erst mal drüber schlafen. Für sie ist das alles noch schwerer zu verdauen, hab ich den Eindruck – und das will etwas heißen.“   „Mh …“ Sie griff erneut nach einer Kirsche, aß sie bedächtig, während sie versuchte, den richtigen Sinn aus den Worten ihres Großvaters zu ziehen. „Weil sie damit so unverhofft konfrontiert worden ist?“, stellte sie dann eine Vermutung an. Allerdings schüttelte der Ältere zunächst nur den Kopf, drückte nebenbei seine Zigarette im Aschenbecher aus.   „Zum Teil, auch wenn sich das sicher legen wird. Aber weißt du, was das Erste war, was sie zu mir gesagt hat, nach unserem Gespräch heute Morgen?“   „Was?“   „Jetzt wird sie ja nie heiraten können.“   „Bitte?“ Für einen Moment fühlte sich Ataru wie versteinert und konnte ihren Großvater nur mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen ansehen.   „Ja.“   „Aber–“   „Sie wollte immer, dass du jemanden findest, mit dem du glücklich sein kannst. Im Idealfall einen Mann, damit du bei einer Hochzeit auf nichts verzichten musst. Und hättest du eine Frau oder jemanden eines anderen Geschlechts geheiratet, hätte sie vermutlich persönlich nach Tempeln gesucht, die Zeremonien für nicht heterosexuelle Paare durchführen.“   „Aber warum?“   „Weil sie will, dass du glücklich bist, natürlich.“   „Aber dafür ist doch eine Hochzeit keine Bedingung?“   „Heute vielleicht nicht mehr unbedingt“, erklärte ihr Großvater mit einem kleinen, nachsichtigen Seufzen. „Zu unserer Zeit war das noch etwas anderes und eine Eheschließung auch etwas, das mit Sicherheit zu tun hatte, nicht nur mit Gefühlen. Damit abgesichert zu sein …“ Er hielt inne, sah aus den Augenwinkeln zu der geschlossenen Schiebetür, die sie vom Wohnzimmer trennte, als könnte er seine Frau durch das Holz hindurch ausmachen. „Abgesehen davon hätte sie dich definitiv sehr gern in einem Brautkleid oder Hochzeitskimono gesehen.“   „Vielleicht, weil ich früher immer davon geredet habe.“ Ataru ließ sich mit einem Lächeln, das voller Wärme war, gegen die Tür in ihrem Rücken sinken, sah versonnen nach oben in den wolkenverhangenen Himmel. „Damals, nachdem ich gerade erst zu euch gekommen war und die Behandlungen und all das begonnen haben … Ich habe ihr oft erzählt, dass ich später, wenn ich erwachsen bin, ganz groß heiraten will, damit alle sehen können, was für eine tolle Braut ich bin.“ Sie hielt einen Moment inne, hatte ihre Lippen zu einem warmen Lächeln verzogen, konnte ihr kindliches Selbst noch genau vor sich sehen. „Aber ich glaube … wenn ich mit Die und Toshiya zusammen sein kann, werde ich das nicht vermissen. Auch wenn mir bewusst ist, dass das schon ein ganzes Stück zu weit gedacht ist.“   Ihr Großvater, der gerade zu einem Kommentar angesetzt hatte, hob in einer abwehrenden Geste seine freie Hand.   „Ich habe nichts gesagt.“   „Aber du wolltest, versuch gar nicht erst, es zu leugnen.“   Statt gleich etwas zu erwidern, drückte der Ältere bedächtig seine Zigarette im Aschenbecher aus, bevor er sich ihr wieder zuwandte.   „Auch wenn ich hoffe, dass du vorsichtig bist; auf emotionaler Ebene und mit allem anderen, was noch so passieren könnte–“   „Opa!“   „Ich meine ja nur. Du bist erwachsen und kannst selbst entscheiden. Ich will nur, dass du auf dich aufpasst. Aber vor allem wünsche ich mir, dass du es genießen kannst. Und auch wenn die Umstände andere sind, als wir vermutet hatten – es war schön, dich in den letzten Wochen so aufblühen zu sehen, Ataru.“   „Ach du …“   Obwohl sie noch immer die Röte auf ihren Wangen brennen spürte, stellte sie ihre Bierdose rasch beiseite, um sich aufzurichten und etwas näher zu ihrem Großvater zu rücken. Ohne auf seine genuschelten Beschwerden darüber, dass es ja viel zu schwül für so viel Nähe sei, zu hören, schlang sie beide Arme um ihn und zog ihn in eine feste Umarmung.   „Danke, wirklich“, sagte sie leise, als er ebenfalls und seinem Protest zum Trotz einen Arm um sie legte. „Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, euch zu haben.“   „Und wir sind froh, dass wir dich so gut ins Erwachsenenalter bekommen haben.“ Ihr Großvater rückte wieder etwas von ihr an, damit er sie ansehen konnte. „Wir sind wirklich stolz auf dich und darauf, wie du das alles gemeistert hast.“   „Wenn du so weiter machst, fang ich gleich wieder an zu weinen, ganz ehrlich.“   ~*~   Einige Zeit später saß Ataru noch immer auf der Veranda, wenn nun auch alleine und vor der halb geöffneten Tür, hinter der sich ihr Zimmer verbarg. Ihre Großeltern waren mittlerweile zu Bett gegangen, aber sie fühlte sich trotz ihrer körperlichen Erschöpfung zu emotional aufgekratzt, um auch nur an Schlaf denken zu können. Also verharrte sie hier im Dunkeln, hatte sich gegen den mittlerweile erstaunlich kalten Wind eine weiche Decke um die Schultern gelegt und sah still hinaus in die Nacht. Der Mond stand als schmale, hell leuchtende Sichel hoch am Himmel, wurde immer wieder von den vorbeijagenden Wolken verdeckt. Noch war die Nacht hier ruhig, während in der Ferne, weit draußen über dem Meer, bereits die ersten Donnerschläge zu hören waren, die der Wind in Richtung Land trug.   Das Gespräch mit ihrem Großvater hatte sie aber zumindest ein Stück weit zu ihrem inneren Gleichgewicht zurückfinden lassen. Immerhin konnte sie nun sicher sein, dass sie ihr Zuhause nicht verlieren würde, weil sie den Konventionen der japanischen Gesellschaft offensichtlich noch weniger entsprach, als es bisher schon der Fall gewesen war. Ihre Dankbarkeit für so viel bedingungslose Liebe konnte sie nicht in Worte fassen und allein deswegen würde sie noch einmal mit ihrer Großmutter sprechen. Nicht weil sie sich dazu verpflichtet fühlte, sondern weil sie nicht riskieren wollte, dass es irgendetwas gab, was zwischen ihnen stand. Und dann, wenn sie Wogen sich hoffentlich endgültig geglättet hatten, könnte sie Die und Toshiya ihrer Familie so vorstellen, wie sie es sich vorgenommen hatte, ganz und gar ohne böse Überraschungen. Vielleicht würde doch irgendwie alles gut werden. Ein Gedanke, der ihr vor wenigen Jahren noch vollkommen utopisch erschienen wäre. Mit einem lautlosen Seufzen sank sie gegen die Hauswand, genoss für den Moment das Gefühl der Windböen, die an ihrem offenen Haar rissen. Sie ließ ihre Blicke träge über die Strandlandschaft vor sich wandern: Wenn sie hier einfach noch ein bisschen saß, würden ihre Gedanken vielleicht genauso müde werden, wie ihre Augen es bereits waren. Dann konnte sie sich endlich ins Bett fallen lassen und im besten Fall erst irgendwann am frühen Montagmittag wieder aufwachen.   Sie war so in die Gedanken an ihr aktuelles Schlafdefizit und den Verlauf des Tages versunken, dass es einen langen Moment dauerte, bis sie verstand, dass sie nicht mehr vollkommen allein war. In der nächtlichen Brandung war eine Gestalt aufgetaucht, die langsam, aber zielstrebig in ihre Richtung zu laufen schien. Fast schon reflexartig begann Atarus Herz voller Vorfreude schneller zu schlagen. Denn wer sollte hier im Dunkeln einfach aus dem Meer auftauchen, noch dazu nur einen Tag nach einem Taifun, wenn nicht einer ihrer Freunde? Schließlich waren sie ja erst in der Nacht zuvor ebenso plötzlich aufgetaucht – auch wenn dieses ungeplante Treffen schon wieder viel länger her zu sein schien. Vielleicht hatten sie sich größere Sorgen um sie gemacht, als nötig? Doch je länger Ataru die Silhouette im Dunkeln betrachtete, desto klarer wurde ihr, dass diese erste Ahnung eher eine falsche Hoffnung gewesen war. Zwar hatte der nächtliche Spaziergänger sicher ebenso langes Haar wie Die, aber es schien anders als seines, das wenige Mondlicht beinahe zu verschlucken. Der Körperbau und die Bewegungen passten ebenfalls nicht zu ihren Nixen. Wer auch immer da auf sie zu kam, konnte kaum größer sein, als sie selbst. Sie spürte die scheinbar unvermeidliche Unsicherheit, die sie in ihrem Leben so oft begleitete, in sich aufsteigen, aber gleichzeitig konnte sie ihre Augen nicht von der unbekannten Figur abwenden. Das Bild, das sich ihr bot, hatte etwas beinahe Hypnotisches an sich. Die langsam näher kommende Gewitterwand und der Sand, der das Mondlicht silbrig reflektierte, bildeten eine fast mystisch anmutende Kulisse, die den Körper davor dramatisch in Szene setzte. Jeder Schritt, jede Bewegung wirkte so zielsicher und bewusst, als wären sie Teil eines Tanzes. Als würde das, was hier geschah, einer vorherbestimmten Choreografie folgen, die sie vollkommen gefangen nahm. Ataru setzte sich automatisch auf, als die Person immer näher kam, verharrte aufgerichtet auf ihren Knien, unsicher, ob sie diesem unbekannten Besuch entgegenlaufen oder lieber die Flucht ergreifen wollte. Einige wenige Meter von ihr entfernt blieb dieser schließlich stehen. In einer eleganten, gleichzeitig aber beinahe selbstvergessen wirkenden Geste hob sich eine feingliedrige Hand, strich nachlässig einige lange, dunkle Haarsträhnen aus einem Gesicht, in dem sich volle Lippen zu einem Lächeln formten.   „Hallo Ataru.“   Auf die sanft gesprochenen Worte folgte ein Laut, der die sonst so ruhige Nachtluft abrupt zerschnitt und es dauerte einen Herzschlag, bis Ataru begriff, dass sie selbst ihn ausgestoßen hatte. Es war ein fast schon verzweifeltes Geräusch, das irgendwo zwischen Schock, Erschrecken und einem erleichterten Schluchzen lag und damit all das in sich trug, was sie gerade nicht in Worte fassen konnte. Sie konnte nur starren, fühlte, wie sich Gänsehaut auf ihrem gesamten Körper ausbreitete. Sie kannte diese Stimme. Natürlich kannte sie sie. Und selbst wenn sie sich nicht gewusst hätte, woher, wäre ihre Reaktion vermutlich nicht anders ausgefallen.   „Shiori?“ Die drei Silben verließen atemlos und zittrig ihren Mund, fanden ihren Weg hinaus in die Welt und ließen das Lächeln auf dem Gesicht der anderen noch ein wenig mehr erblühen.   „Du erinnerst dich.“ Es war weniger eine Frage als vielmehr eine erleichterte Feststellung, mit der die Nixe noch etwas näher kam. Ataru konnte nicht anders, musste sie genauer betrachten, mit dem Bild vergleichen, das sie in ihren Erinnerungen wiedergefunden hatte.   Tatsächlich sah Shiori fast genauso aus wie damals. Ihr Haar, das nass in dunklen, glatten Bahnen bis weit über ihre Schultern fiel, war noch länger als bei ihrem letzten Treffen, geleitete Atarus Blick über ihren nackten Körper, der jetzt gerade vollkommen menschlich wirkte. Genau wie bei Die und Toshiya. Statt goldener Fischschuppen glänzten nur eine Kette mit einem kleinen Anhänger und ihre noch vom Meerwasser nasse Haut schwach im Mondlicht, als sie näher kam und mit langsamen Schritten die Treppe zur Veranda erklomm. Im Gegensatz zu der Eleganz und Sicherheit, die Shiori ausstrahle, fühlte Ataru sich gerade furchtbar unkoordiniert, musste beinahe um ihr Gleichgewicht kämpfen, nachdem sie zu hektisch versuchte, auf die Beine zu kommen. Doch schließlich standen sie einander gegenüber. Und während sie noch immer dabei war, die richtigen Worte zu finden, selbst wenn sie nicht wusste, was sie eigentlich sagen wollte, kam Shiori ohne weiteres Zögern zwei Schritte näher und zog sie in eine wortlose Umarmung. Für ein, zwei Herzschläge war Ataru unfähig zu reagieren, bis ihr Hirn zu verstehen schien, dass das hier tatsächlich passierte und sie ihre Arme um die andere Frau schlang. Gleichzeitig spürte sie Shioris Finger sanft über ihren Rücken streichen. Was hatten Nixen nur an sich, dass sie sich in ihrer Gegenwart so sicher fühlte? Selbst hier und jetzt mit Shiori, der sie nur einmal in ihrem Leben begegnet war.   „Ich hatte es wirklich vergessen“, flüsterte sie erstickt, spürte, wie sie andere nickte.   „Das macht doch nichts.“   „Ich dachte, ich hätte es nur geträumt oder mir eingebildet …“   Shiori richtete sich etwas auf, brachte zumindest so viel Abstand zwischen sie, dass sie sich ansehen konnten und erst jetzt fiel Ataru auf, dass sie tatsächlich etwas größer war, als sie selbst.   „Wer könnte dir das verübeln?“, wollte sie leise wissen, hob eine Hand, um sie geradezu liebevoll an Atarus Wange zu legen. „Aber ich bin froh, dass ich recht hatte, damals.“   „Was meinst du?“   „Damit, dass alles besser wird.“ Ihr Lächeln wurde noch etwas wärmer, hatte etwas fast schon Mütterliches an sich. „Sieh dich an, du bist wunderschön.“   Ataru konnte nicht anders, als ein wenig peinlich berührt zu lachen und den Blick abzuwenden. Nicht, wenn sie hier gerade einer der schönsten Frauen gegenüberstand, die sie je gesehen hatte. Und allein deswegen dauerte es ein wenig, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie die Frage stellen konnte, die ihr in diesem Moment am wichtigsten erschien.   „Was machst du hier?“ Und dann: „Brauchst du ein Handtuch?“   Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie einen Schritt zurück und griff nach der Decke, die sie bisher selbst benutzt hatte, um sie Shiori zu reichen, die sie mit einem leisen, anscheinend äußerst amüsierten Lachen annahm.   „Mir ist zwar nicht unbedingt kalt, aber gemütlicher ist es so sicher“, sagte sie mit einem dankbaren Nicken. Sie bedeutete Ataru bedeutete zu setzen, nur um sich gleich darauf, die weiche Decke um ihre Hüften geschlungen, neben ihr auf dem Holzboden niederzulassen.   Wieder konnte Ataru sie lediglich stumm beobachten, ihre Bewegungen und ihre Haltung mit denen einer Tänzerin vergleichen, die sich jeder Faser in ihrem Körper bewusst war. Sie wirkte geradezu königlich, wie sie aufrecht hier saß, ihre Beine zur Seite abgewinkelt, wie es mit einem Fischschwanz vielleicht bequemer gewesen wäre. Sie erschien ihr weniger spitzbübisch als bei ihrer letzten Begegnung. Aber vielleicht war das auch nur, weil Ataru heute kein Kind mehr und die Situation eine andere war.   „Sagst du mir, warum du hier bist?“, fragte sie noch einmal vorsichtig nach, nachdem wieder eine kurze Zeit, in der sie sich gegenseitig gemustert hatten, schweigend vergangen war.   „Ich hab dir damals doch erzählt, dass es meine Gabe ist, Dinge zu wissen, oder?“ Sie sah Ataru fragend an, war mit einem zögerlichen Nicken als Antwort anscheinend zufrieden. „Ich wusste, dass ich heute hier sein sollte. Oder zumindest ungefähr heute.“ Shiori zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, legte abschätzend den Kopf schief. „Auf jeden Fall nach dem Taifun.“   „Klingt nicht sehr genau.“ Ataru konnte ein kleines Grinsen nicht zurückhalten, das von ihrem Gegenüber erwidert wurde.   „Ist es leider auch in den seltensten Fällen. Aber ich wusste damals schon, dass wir uns wiedersehen würden. Ich musste nur auf den richtigen Zeitpunkt warten und hoffen, dass du dich nicht für eine andere Zukunft entscheidest.“ Sie streckte eine Hand aus, griff damit nach Atarus und verschränkte ihre Finger. „Ich bin wirklich froh, dich zu sehen.“   „Ich auch. Dich zu sehen, meine ich.“ Sie sah auf ihre verbundenen Finger und seufzte leise. „Als ich mich wieder an unser Treffen damals erinnert habe, hat mich das ziemlich aus der Bahn geworfen … Aber mittlerweile macht es Sinn, glaube ich.“   „So?“ Die Augenbrauen der Nixe wanderten jetzt ein ganzes Stück nach oben und irgendwie kam Ataru der Gedanke, dass diese offene Neugier ihrer Art vielleicht grundsätzlich innewohnte.   „Ja. Ich habe … andere Nixen kennengelernt.“   Während sie sprach, betrachtete sie Shioris Gesicht, aber so, wie sie fast schon erwartet hatte, konnte sie in den ebenmäßigen Zügen keine wirkliche Überraschung feststellen. „Wusstest du das damals auch schon?“, hakte sie deswegen nach, war sich in diesem Moment nicht sicher, was sie von dieser seltsamen Gabe halten sollte, die Shiori anscheinend besaß. Und wie viele Details sie tatsächlich wissen wollte.   „Nicht direkt. Ich wusste, dass du etwas mit dem Meer und mit uns zu tun haben würdest. Dass es Berührungspunkte in unseren Leben geben würde. Wirklich klar wurde es mir erst, als ich dich vor einiger Zeit wieder gesehen habe.“ Sie hob ihre beiden noch immer miteinander verschränkten Hände etwas an. „Ich kann dir nicht genau sagen, warum, aber wir sind auf eine gewisse Art und Weise miteinander verbunden.“   „Du meinst Schicksal?“   Mit einem leisen Lachen zuckte Shiori mit den Schultern, ließ dann langsam von Atarus Hand ab, um sich ihr Haar aus dem Gesicht zu streichen.   „Wenn du es so nennen willst, vielleicht Schicksal.“ Ihre Miene wurde ein wenig nachdenklicher und für eine Sekunde kniff sie ihre Lippen zusammen, so als wollte sie ein Seufzen dahinter gefangenhalten. „Als ich dich damals am Strand gesehen habe – eigentlich hätte ich mich dir nicht nähern dürfen. Du kannst dir vermutlich vorstellen, dass unser Überleben auch davon abhängt, dass die Menschen nichts von uns wissen. Aber du sahst so verloren und traurig aus, dass ich dich nicht einfach ignorieren konnte. Ich hatte diesen unglaublichen Drang dich beschützen, egal welche Konsequenzen das vielleicht haben könnte. Und als wir miteinander gesprochen haben, konnte ich so deutlich die Verbindung spüren, die du zum Meer hattest und noch haben würdest–“   „Aber ich bin doch nicht mal wirklich hier aufgewachsen?“, flüsterte Ataru fassungslos, versuchte zu verstehen, was Shiori gerade zu sagen schien.   „Mag sein, aber du hast das Meer geliebt, oder? Schon damals.“   „… stimmt.“ Jetzt konnte sie nicht anders, als zu lächeln, dachte unweigerlich daran zurück, wie gern sie schon als Kind Zeit an der Küste verbracht hatte und wie schwer ihr der Abschied jedes Mal gefallen war, wenn sich ein Besuch bei ihren Großeltern dem Ende zuneigte. Dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das Shiori ihr damals gegeben hatte. „Als du gesagt hast, dass irgendwann alles so sein wird, wie ich es mir wünsche … hast du … mich da so gesehen wie ich jetzt bin?“, wollte sie zögerlich wissen, wand sich innerlich, als die Ältere nicht sofort antwortete, sondern abzuwägen schien, was sie sagen wollte.   „Fast“, war dann allerdings nicht die Antwort, mit der sie gerechnet hatte. Bevor sie noch einmal nachfragen konnte, hob Shiori einen Zeigefinger an ihre Lippen und zwinkerte ihr kurz zu. „Ich kann dir nicht einfach alles verraten, Ataru, aber ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis du verstehst, was ich meine.“ Sie hielt kurz inne, richtete sich wieder etwas gerader auf. „Erzähl mir von deinen Nixen-Freunden.“   „Ich hätte vermutet, dass du darüber auch schon Bescheid weißt“, konterte Ataru, halb ernst, halb aus tatsächlicher Verwunderung. „Aber Die und Toshiya haben gesagt, dass ihr Schwarm der einzige hier ist, also schätze ich, dass du sie kennst?“   Shioris Lippen öffneten sich erstaunt, formten ein kleines, stummes ‚Oh‘, während ihre Hände sich in einer unbewusst wirkenden Geste an ihre Schläfen legten.   „Aber natürlich“, sagte sie leise, aber die Frustration der Nixe mit sich selbst, die den Worten innewohnte, war deutlich zu hören. „Deswegen hat immer irgendetwas gefehlt.“   „Was meinst du?“   Shiori schüttelte langsam den Kopf, als wollte sie so ihre Gedanken – oder vielleicht ihre Sicht auf die Dinge – etwas zurechtrücken.   „Immer, wenn ich die beiden zusammen gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass etwas fehlt, nicht ganz richtig ist, aber ich wusste nie, was es war. Oder warum es mir so vorkam, weil sie so glücklich miteinander waren.“ Ihr Blick hob sich und Shiori wirkte, als hätte sie tatsächlich gerade eine kleine Offenbarung gehabt. Eine ihrer kühlen Hände wanderte von ihrer Schläfe zu Atarus Wange. „Aber natürlich ergibt es Sinn, wenn sie dich noch nicht gefunden hatten, noch nicht mal von dir wussten … Deswegen hat es sich in letzter Zeit anders angefühlt.“   Die Worte hingen in der Luft zwischen ihnen, während sie die Gedanken in Shioris Kopf förmlich rasen sehen konnte. Als hätte sie eben ein Puzzlestück gefunden, durch das sich ihr bisheriges Wissen zu einem Gesamtbild zusammenfügte, das sie vorher vermisst hatte. Ataru hingegen überkam immer mehr das Gefühl, dass hier etwas auf sie zukam, dessen Ausmaße sie nicht einmal ansatzweise zu verstehen vermochte.   „Also kennst du sie wirklich?“, hakte sie schließlich nach. Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe und fühlte sich gerade einmal mehr in den letzten achtundvierzig Stunden von dem überwältigt, was passierte. Ganz abgesehen davon, dass es ein sehr, sehr seltsames Gefühl war, hier mit jemandem zu sitzen, der ihre Partner offensichtlich viel länger und damit besser kannte, als sie selbst.   „Wie du schon gesagt hast, es gibt hier in der Gegend nur einen Schwarm von Nixen.“ Shioris Fingerspitzen geisterten sacht über Atarus Schläfe, aber sie wirkte aber noch immer ein wenig abwesend. „Toshiya ist so etwas wie mein Schüler und Die ist nie weiter von ihm entfernt, als er es irgendwie rechtfertigen kann. Aber das weißt du vermutlich.“   „Dein Schüler? Wa–“ Ataru unterbrach sich selbst, als ihr klar wurde, dass es zumindest von dem, was sie im Moment sicher wusste, ausgehend, tatsächlich nur eine Sache gab, von der Shiori sprechen konnte. „Er … ist wie du? Er weiß Dinge?“   „Ja.“ Die Ältere löste den Kontakt zwischen ihnen, begann stattdessen gedankenverloren mit der dünnen Kette zu spielen, die sie trug. „Es ist eine Gabe, die nicht oft vorkommt, meist nur wenige Male in einer Generation, manchmal gar nicht. Aber sie hat das Potenzial, das Überleben eines Schwarmes zu sichern, deswegen ist es wichtig, dass diejenigen, die sie haben, mit ihr umzugehen wissen. Aber damit will ich dich nicht langweilen, Ataru.“   „Nichts an alledem ist auch nur ansatzweise langweilig für mich.“ Sie meinte es ernst, aber auf Shioris Blick hin konnte sie sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. „Wirklich! Noch vor ein paar Wochen habe ich meinen Großvater belächelt, weil er daran glaubt, dass es hier irgendwann mal Nixen gegeben hat und jetzt?“ Sie vollführte mit beiden Händen eine vage Geste, von der sie nicht sicher war, was sie aussagen sollte. „Es ist, als wäre ich Alice und in einer seltsamen anderen Welt gelandet.“   „Ich kann dir versichern, dass es bei uns keine blutrünstigen Königinnen gibt“, neckte Shiori sie sanft. Dann befreite sie sich mit wenigen geschickten Handgriffen von ihrem Schmuckstück und hielt es Ataru entgegen. „Und auch wenn ich nicht mit magischen Tränken dienen kann – das hier ist für dich.“   „Aber das …“ Der stockend angefangene Satz verlief im Sande, sie wusste nicht, wie sie ihn hätte fortführen sollen. An der filigranen goldenen Kette baumelte eine ebenso goldene, etwa haselnussgroße Perle, die samtig-matt im Mondlicht schimmerte. Ohne wirklich darüber nachzudenken, hob sie eine Hand, berührte die helle Oberfläche des kleinen Schatzes zögerlich mit den Fingerspitzen. Die Perle war so glatt, dass sie sich beinahe weich anfühlte; sie ruhte kühl an ihrer Haut, schickte aber gleichzeitig ein fast elektrisierendes Kribbeln durch ihre Hand.   „Danke“, brachte sie schließlich leise hervor. Sie fühlte sich noch immer zu sprachlos, um diese unerwartete Gabe mit den richtigen Worten loben zu können. Gleichzeitig wusste sie nicht, wie sie dieses vollkommen ungerechtfertigte Geschenk hätte ablehnen können.   „Nicht dafür. Sie gehört zu dir, du wirst sehen.“ Wieder eine kryptische Erklärung, die eigentlich keine war, aber Ataru konnte nur nicken. „Lass sie mich dir anlegen, ja?“   Ohne wirklich eine Antwort abzuwarten, rückte Shiori etwas näher, lehnte sich ein Stück weiter nach vorn, um die dünne Kette in Atarus Nacken verschließen zu können, während sie selbst nur stocksteif und mit zusammengekniffenen Augen dasaß. Nicht, dass sie Probleme mit Nähe im Allgemeinen oder die Nähe der Nixe im Besonderen hatte, aber Shiori war bis auf die Decke in ihrem Schoß immer noch nackt und das war dann doch ein bisschen mehr Vertrautheit, als ihr lieb war. Zumal sie sich so schon beherrschen musste, ihr schönes Gegenüber nicht ständig anzustarren. Nach wenigen Augenblicken, die ihr wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, hatte die andere die Kette verschlossen, begann vorsichtig damit, Atarus Haar unter dem dünnen Metallband hervorzuziehen, und sie konnte schließlich die leichte Kühle in ihrem Nacken fühlen, als es auf ihrer erhitzten Haut zu liegen kam. Sie sah hinunter auf die Perle, die nun über ihrem dunklen T-Shirt baumelte, gegen diesen Hintergrund fast schon zu glimmen schien, wie es sonst nur die Schuppen der Nixen taten.   „Bist du sicher, dass du sie mir einfach so geben möchtest?“, wollte sie schließlich wissen, hob den Kopf, um die Ältere wieder ansehen zu können.   „Natürlich. Glaub mir, sie will zu dir.“ Das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, kam ihr ein wenig schelmisch vor, ließ mehr von der unbeschwerten Version Shioris erahnen, die sie als Kind kennengelernt hatte. „Frag einfach deine beiden Geliebten danach.“   Am liebsten hätte Ataru bei dieser Wortwahl das Gesicht verzogen, aber so sehr sie diese auch peinlich berührte, am Ende war sie nicht falsch. Schließlich hatte sie Gefühle für ihre Partner, die sich selbst bei ihrem relativen Mangel an Vergleichsmöglichkeiten irgendwie wie Liebe anfühlten. Allerdings war das wiederum ein Thema, über das sie zumindest jetzt nicht nachdenken wollte.   „Werde ich.“, antwortete sie deswegen nur verspätet und ob dieser gerade gefundenen Erkenntnis ein wenig atemlos, bevor sie Shiori mit großen Augen dabei zusah, wie sie sich langsam erhob. Mit beinahe bedächtigen Bewegungen legte sie die Decke locker zusammen und reichte sie Ataru.   „Ich bin sicher, wir haben uns heute nicht das letzte Mal gesehen, Ataru. Und das kann ich sagen, ohne dafür irgendeine Gabe zu haben.“ Mit diesen Worten strich ihr die Nixe noch einmal liebevoll über den Kopf, wandte sich dann um, um die Verandatreppen zum Strand hinunterzusteigen und Richtung Meer zu gehen. Auf ihrem Weg dorthin sah sie nicht zu ihr zurück, aber Ataru konnte nicht anders, als sie wie hypnotisiert dabei zu beobachten, wie sie sich dem Wasser näherte und es ihre Beine immer höher umspielte, bis Shiori sich einfach grazil in die nächste Welle fallen ließ. Sekundenbruchteile später konnte sie ein Funkeln unter der Oberfläche ausmachen, das mehr als nur gebrochenes Mondlicht war.   ~*~   Als sie am nächsten Morgen erwacht war, war Ataru sich im ersten Moment nicht sicher gewesen, ob sie nicht doch wieder nur geträumt hatte – ob diese weitere nächtliche Begegnung mit Shiori nicht schlicht ihrer Fantasie entsprungen war, weil sie die Nixe wiedersehen wollte. Erst als sie sich dazu überwinden konnte, die Augen zu öffnen, hatte sie aufatmen können. Auf ihrem Nachttisch ruhte, sanft in der Morgensonne glänzend, die goldene Perle.   Auch nun, wo sie am Strand in der Sonne lag, wanderte ihre Hand immer wieder automatisch zu dem Schmuckstück, das sie an seiner ebenso goldenen Kette um den Hals trug. Sie drehte es langsam zwischen ihren Fingern hin und her, war jetzt nicht weniger verwundert darüber als noch am Morgen, wie kühl es sich anfühlte. Fast als hätte man die Perle gerade erst aus den Tiefen des Meeres hervorgeholt. Egal wie lange sie sie zwischen ihren Fingern hielt oder sie ihre Haut berührte, während sie die Kette trug, sie schien stur an ihrer eigenen Temperatur festzuhalten. Mit einem leisen Seufzen ließ Ataru von dem kleinen Anhänger ab und ihre Hand stattdessen auf ihrem Bauch ruhen. Sie hoffte wirklich, dass Toshiya oder Die ihr würden sagen können, was es mit Shioris Geschenk auf sich hatte, denn allmählich hatte sie das Gefühl, dass hinter jedem Geheimnis, das sich ihr offenbarte, nur wieder das nächste Rätsel wartete. Und im Gegensatz zu Shiori schien sie selbst nie in der Lage zu sein, das Gesamtbild zu sehen, das sich vor ihr ausbreiten wollte. Oder zu erkennen, was es für sie eigentlich bedeutete. Aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor, weil quasi alles, was ihre Freunde ihr erzählten,   Mit einem kleinen Ruck setzte Ataru sich auf, wischte sich einige Haare, die ihrem geflochtenen Zopf entkommen waren, aus der Stirn und griff nach ihrer Wasserflasche. Obwohl sich das Wetter wieder beruhigt hatte und die Sonne am Himmel stand, als wäre es nie anders gewesen, war es so schwül, dass man selbst am Strand fast das Gefühl hatte, als wäre man in einem Gewächshaus und sich nach wenigen Minuten verschwitzt und klebrig fühlte. Sie setzte ihre Sonnenbrille ab, um sie sicher zu verstauen, und wollte schon aufstehen, als die goldene Perle durch den Schwung ihrer Bewegung über die erhitzte Haut in ihrem Dekolleté rollte, ihr so ein sachtes Schaudern entlockte. Vielleicht sollte sie Kette lieber hierlassen – ein Fußkettchen im Wasser zu verlieren war schließlich das eine, aber bei einem so wertvollen Geschenk war das etwas anderes. Vorsichtig öffnete sie den filigranen Verschluss und verstaute das Schmuckstück sicher in einem kleinen Seitenfach ihres Rucksacks. Dann erhob sie sich endlich, stellte sich auf ihre Fußballen und streckte sich ausgiebig, genoss die Dehnung in ihren sonnenwarmen Muskeln.   Sie sah sich kurz um, aber bis auf eine Familie mit einem Kleinkind, die in einiger Entfernung ihr Lager aufgeschlagen hatte, war dieser Teil des Strandes wie so oft frei von Besuchern. Sie musste ein wenig grinsen, als das Kind sich lautstark dagegen wehren wollte, seinen Sonnenhut wieder aufzusetzen, während seine Mutter versuchte, so gut es ging, Sonnencreme auf seinem Gesicht zu verteilen. Abwesend zupfte Ataru ihr Bikini-Oberteil ein wenig zurecht und setzte sich in Richtung Wasser in Bewegung. Da sie sich nicht sicher war, wann Die und Toshiya auftauchen würden, würde sie sich einfach allein schon etwas abkühlen. Selbst wenn sie später noch mehr Zeit im Meer verbringen würden, an Tagen wie heute war es dort definitiv besser auszuhalten, als an Land.   Sie genoss es, wie die ersten verspielten Wellen ihr erst über die Füße, dann über die Waden schwappten, genoss die leichte Gänsehaut, die ihren Körper überzog, als das Meerwasser ihre Oberschenkel erreichte. Mit geschlossenen Augen blieb sie stehen, lauschte dem lockenden Rauschen des Meeres und den kreischenden Rufen der Möwen. Wenn sie daran zurückdachte, wie sie vor nicht allzu langer Zeit hier gestanden hatte, zitternd und voller Angst davor, was passieren könnte, wenn sie jemand sah, konnte sie nicht anders als erleichtert durchzuatmen. Auch wenn es ihren Nixen vielleicht nicht einmal bewusst war – eines der größten Geschenke, die sie ihr gemacht hatten, war ihr die Angst vor dem Meer genommen zu haben. Sie hatten ihr geholfen, das Wasser wieder so genießen zu können, wie sie es früher getan hatte.   Mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie noch ein paar Schritte weiter, stieß sich schließlich mit den Füßen vom Meeresboden ab, um der nächsten Welle entgegenzuschwimmen. Sie wollte nicht wirklich weit hinaus, allein schon, weil sie sich der Strömungen unter der Oberfläche nicht sicher sein konnte, stattdessen schwamm sie parallel zum Strand, ließ sich hin und wieder etwas näher ans Ufer tragen. Sie genoss dieses unbeschwerte Dahintreiben auf den Wellen, auch wenn es noch ungewohnt war. Oder vielleicht genau deswegen und weil es viel zu lange her war, dass sie es so hatte genießen können, nachdem es in ihrer Kindheit selbstverständlich gewesen war.   Als sie nach einiger Zeit wieder aufsah und erst einen, dann zwei Schwimmer weiter draußen in der Bucht ausmachen konnte, überraschte es sie beinahe selbst, wie ruhig sie bleiben konnte. Auch wenn sie nichts gegen die unwohle Nervosität tun konnte, die sich in ihrem Magen ausbreitete, diese Reaktion war Meilen von der klammernden Panik entfernt, die sie noch vor wenigen Wochen ergriffen hatte. Natürlich war sie sich diesmal beinahe sicher, wer da aus dem Nichts gen Küste schwamm, aber dennoch konnte sie nicht anders, als diese relative Ruhe in ihrem Inneren als einen Erfolg zu werten. Sie ließ sich weiter auf der Stelle treiben, folgte den näherkommenden Figuren mit ihren Blicken. Immer wieder legten sie größere Teile ihres Weges unter Wasser zurück, sodass Ataru nur erahnen konnte, wo sie genau waren, aber es dauerte nicht lange, bis Toshiya und Die schließlich einige Meter entfernt von ihr auftauchten. Ohne darüber nachzudenken, setzte Ataru sich in Bewegung, schwamm so rasch, wie es ihr möglich war, auf die beiden zu und ließ sich von ihrem letzten Schwimmzug in Dies Arme treiben, die sie sicher an seinen Körper zogen.   „Du, hier?“, fragte er mit einem schiefen Grinsen, nur um sie gleich darauf zu küssen, ohne dass sie eine Gelegenheit zum Antworten gehabt hätte. Sie schlang einen Arm um seinen Nacken, genoss es, so an ihn geschmiegt im Wasser zu treiben, auch wenn sie durch die körperliche Anstrengung ihren Kuss eher lösen musste, als ihr lieb war.   „Es war zu warm und ihr habt auf euch warten lassen“, erwiderte sie nur in einem gespielt tadelnden Tonfall, zupfte nebenbei ein Stückchen Seegras aus dem langen Haar des Älteren. „Und ich wollte nicht riskieren zu schmelzen, bevor ihr da seid.“   Sie wandte sich halb um, streckte ihren freien Arm nach Toshiya aus, der sie nun seinerseits an sich zog, ohne auf Dies halbherzigen Protest zu achten. Ob er sich über den Verlust ihrer Nähe oder ihren Kommentar beschwerte, bekam sie nicht mehr wirklich mit, schließlich wollte sie Toshiya genauso ausführlich begrüßen, wie ihren anderen Partner. Und verdammt, sie konnten einfach beide wahnsinnig gut küssen, da passierte es schon einmal, dass ihre Aufmerksamkeitsspanne ein bisschen nachließ.   „Ich schätze deine Großeltern haben sich wieder ein bisschen beruhigt?“, wollte der Schwarzhaarige schließlich wissen, was sie nur mit einem Nicken bekräftigte.   „Es ist sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen, weil es für sie unbekanntes Terrain ist, aber … sie wissen, dass sie mir vertrauen können. Auch wenn ich euch ausrichten soll, dass sie euch die Hölle heißmachen, wenn ihr mich nicht gut behandelt.“   „Na das wollen wir nicht riskieren.“   „Definitiv nicht.“   Mit diesen Worten befreite Ataru sich aus der liebevollen Umarmung, in der sie noch immer gehalten wurde und begann in Richtung Ufer zu schwimmen. Ihr war klar, dass die beiden Nixen die Distanz wesentlich schneller hätten zurücklegen können, aber zumindest für den Moment schienen sie damit zufrieden zu sein, sich ihrem Tempo anzupassen. Wieder eine dieser Kleinigkeiten, die sie so unfassbar glücklich machten, obwohl sie eigentlich nichts Besonderes sein sollten.   Als sie schließlich wieder Sand unter den Füßen hatte und in Richtung ihres Handtuchs ging, glaubte Ataru, die Blicke der beiden Männer auf sich spüren zu können. Und auch dieser Gedanke löste heute etwas anderes in ihr aus, als wenn sie dieses Gefühl sonst verspürte. Hier und jetzt, in diesem Moment kam sie sich nicht bewertet oder verunsichert vor, ganz im Gegenteil – so seltsam es für sie war, es fühlte sich gut an, geradezu wie eine Bestätigung dessen, was sie gestern gesagt hatten. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen griff sie nach ihrem Badetuch, um zumindest ihr Gesicht und ihre Haare ein wenig abzutrocknen, wandte sich dann aber wieder an Toshiya.   „Du hättest mir übrigens gern sagen können, dass du hellsehen kannst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)