Until We Meet Again von Morwen (Thor & Loki) ================================================================================ Part I: Moonlight ----------------- Von dem Moment an, in dem Thor an Bord des Raumschiffes von Peter Quill und seinen Gefährten erwachte, fühlte er sich, als hätte die Realität einen Schritt zur Seite gemacht und vergessen, ihn mitzunehmen. Er sah, dass sich ihre Lippen bewegten, als sie ihm Fragen stellten, und er spürte, dass er selbst Antworten gab. Doch jede einzelne Sekunde fühlte sich surreal an, als wäre er nicht ganz da, als wäre er nicht länger er selbst. Als wäre ein Teil von ihm mit Loki auf dem Frachter gestorben. Doch Thor machte weiter, weil es alles war, was er konnte. Wie mechanisch setzt er Fuß vor Fuß, als er seine Sachen zusammensuchte, und sein Gehirn schaltete auf Autopilot, als er überlegte, was zu tun war und wie er Thanos den größtmöglichen Schaden zufügen konnte, um seinen Bruder zu rächen. Um sie alle zu rächen. Quill verstand ihn nicht, als er sagte, er würde nach Nidavellir gehen – und wie konnte er auch? Es war gefährlich und selbstmörderisch, und niemand, der bei klarem Verstand war, würde versuchen, einen erloschenen Stern wieder zum Leben zu erwecken. Zum Glück war Thor nicht bei klarem Verstand. Es war das einzige, was ihn am Leben erhalten sollte, nachdem Sturmbrecher sein Ziel beim ersten Versuch verfehlte. Was ihn gleichgültig gegenüber den Gefahren machte, die ihn und die verbliebenen Avengers erwartete, als sie auf den zweiten Versuch hinarbeiteten. Was ihn weder Freude noch Erleichterung, sondern nur Leere spüren ließ, als sie Thanos schließlich besiegten. Denn Loki war tot und sein Volk war ausgelöscht. Was war Thor noch geblieben...? „Nein“, sagte Tony, nachdem sie sich um den Handschuh versammelt hatten, in dem die sechs Steine in einem unirdischen Licht leuchteten. Seine Haare waren versengt und sein Gesicht war eine aschfarbene Maske. „Bitte“, sagte Thor. „Er ist mein Bruder.“ „Ich weiß“, entgegnete Steve sanft. „Aber wir müssen irgendwo eine Grenze ziehen, Thor. Jene Hälfte des Universums zurückzubringen, die Thanos ausgelöscht hat: das ist unsere Priorität. Über dieses Ziel hinauszuschießen, würde dazu einladen, die Macht des Steines zu missbrauchen und weiter zurückzugehen, als geplant. Und wer leben darf und wer nicht, ist eine Entscheidung, die keiner von uns treffen sollen dürfte.“ „Bitte“, wiederholte Thor mit rauer Stimme. „Ich will nicht alle zurückbringen. Ich will nur Loki zurück.“ Tonys leerer Blick richtete sich auf ihn und für einen Moment glomm etwas wie Verständnis darin auf. „Ich habe noch nie einen Infinity-Stein verwendet“, sagte er. „Ich kann nicht garantieren, dass alles so klappt, wie geplant.“ Und bevor ihn irgendjemand daran hindern konnte, hatte er seine Finger in den Handschuh geschoben. Sie hatten keine Zeit, die Rückkehr ihrer gefallenen Mitstreiter zu feiern, denn Thanos war wieder noch immer dort draußen und die Gefahr war noch nicht gebannt. Doch dieses Mal wussten sie, was zu tun war, und als sie ihn zum zweiten Mal – und dieses Mal endgültig – besiegten, kam selbst Thors gebrochenes Herz für einen Moment zur Ruhe. Die darauffolgenden Feierlichkeiten sollten mehrere Tage lang andauern. Nur Quill und seine Leute verabschiedeten sich schon früh – niemand musste fragen, warum – und sie nahmen Nebula mit sich, um mit der Zeit gemeinsam die Wunden zu heilen, die Thanos ihnen zugefügt hatte. Thor überlegte kurz, sich ihnen anzuschließen, doch er entschied sich dagegen. Die Avengers waren die einzige Heimat, die ihm geblieben war, und er wollte noch für eine Weile ihre Nähe genießen, bevor es ihn wieder unwiderruflich in die Ferne und zu anderen Welten ziehen würde. Und so feierte er mit ihnen, lachte mit ihnen und trank mit ihnen, und niemandem fiel auf, dass sein Lachen nie seine Augen erreichte. Es war eine Woche nach ihrer Rückkehr zum Avengers-Hauptquartier, als Thor zum ersten Mal von ihm träumte. Er hatte lange auf seinem Bett gelegen und sich unruhig hin und her gewälzt, wie er es jeden Abend seit der Zerstörung von Asgard tat, bevor ihm endlich vor Erschöpfung die Augen zugefallen waren. Als er sie mitten in der Nacht wieder öffnete, sah er im Halbdunkel des Zimmers in ein Paar vertrauter, grüner Augen. „Hallo Bruder“, sagte Loki leise und lächelte. Sein blasses Gesicht war umrahmt von langen, schwarzen Locken. Er sah genauso aus, wie damals auf dem Raumschiff, bevor der Angriff begonnen hatte – stolz und entschlossen. Unantastbar. Thor spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Seit dem Verlust seines Bruders hatte er auf einen solchen Traum gehofft, hatte gebetet, Loki wenigstens noch ein letztes Mal auf diese Weise zu sehen. „Loki“, entgegnete er mit rauer Stimme und musterte eingehend das Gesicht des anderen, fest entschlossen, sich jedes Detail einzuprägen, in der Hoffnung, sich auch dann noch daran zu erinnern, wenn er wieder erwacht war. „Tränen?“, fragte Loki mit sanftem Spott. „Meinetwegen? Ich fühle mich geehrt.“ „Du hast mir gefehlt“, erwiderte Thor. Der Schmerz über deinen Verlust hat mich fast umgebracht. „Aber jetzt bin ich hier“, sagte Loki. „Und dieses Mal wirst du mich nicht wieder so schnell los.“ Thor hätte fast gelacht. „Für einen Traum bist du sehr überzeugend, Bruder.“ Loki warf ihm einen Blick zu, der fast schon beleidigt wirkte. „Für einen Traum?“ fragte er. „Ich bitte dich, willst du etwa-“ Doch bevor er den Satz beenden konnte, war er wieder verschwunden – hatte sich von einem Moment zum anderen urplötzlich in Luft aufgelöst. Thor starrte auf die Stelle auf dem Bett, an der sein Bruder eben noch gelegen hatte. Zögernd streckte er die Hand aus und ließ sie über das Laken gleiten. Es war warm. Sein Herz begann plötzlich schneller zu klopfen. Nur ein Traum, dachte er und schloss wieder die Augen. Nur ein Traum. Er sollte für den Rest der Nacht kein weiteres Mal träumen. „Ich sehe, du hast dein Augenlicht wiederlangt, Bruder.“ Seit dem ersten Traum waren ein paar Tage vergangen und Thor hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, ihn ein weiteres Mal auf diese Weise wiederzusehen. Dieses Mal saß Loki auf der Fensterbank, die Arme um ein Knie geschlungen, während das Mondlicht hinter ihm durch die Scheiben fiel und sein dunkles Haar mit einem silbernen Kranz schmückte. Thor blinzelte verschlafen, bevor er die Decke zurückschob und sich aufrichtete. „Es ist nur eine Prothese“, entgegnete er. „Es steht dir.“ Loki lächelte, dann stand er auf und setzte sich neben seinem Bruder aufs Bett. Thor musterte ihn lange, ohne ein Wort zu sagen. „Warum erst jetzt?“, fragte er schließlich leise. „Warum hast du so lange damit gewartet, mich in meinen Träumen zu besuchen?“ „Ist es tatsächlich das, was du denkst?“, erwiderte Loki. „Dass ich nur ein Traum bin?“ „Was solltest du sonst sein, Bruder? Ich habe dich sterben sehen.“ Loki warf ihm einen Blick zu, als wüsste er etwas, was Thor nicht wusste. „Und wie oft bin ich danach wieder zurückgekehrt? Komm schon, Thor, du kennst mich. Und ich habe dir ein Versprechen gegeben.“ Thor streckte die Hand aus, doch im letzten Moment zögerte er. Er wollte den anderen berühren, doch er wagte es nicht, aus Angst, sein Bruder würde sich sofort wieder in Luft auflösen. „Wenn du kein Traum bist, warum bleibst du dann nicht bis zum Sonnenaufgang?“ Loki machte ein nachdenkliches Gesicht. „Weil ich nicht kann“, erwiderte er. Mit diesen Worten war er erneut verschwunden. „Wie hast du überlebt?“ Thor stellte die Frage, die ihn schon seit Tagen beschäftigte, kaum, dass sein Bruder ihm in dieser Nacht erneut im Traum erschien. Lokis Gesicht war regungslos. „Gar nicht“, sagte er. „Thanos hat mich getötet. Du warst dabei, du hast es selbst gesehen.“ Thor schloss die Augen. Nach ihrer letzten Begegnung hatte ihn die unsinnige Hoffnung erfüllt, dass sein Bruder es irgendwie geschafft hatte, dem Tod erneut von der Schippe zu springen. Doch mit seinen Worten hatte Loki diese Hoffnung nun zerstört. „Hat es wehgetan?“, fragte Thor leise. „Nur für einen Moment.“ Loki streckte die Hand aus und verschränkte seine Finger mit denen seines Bruders. Thor sah auf ihre verschlungenen Finger herab. Lokis Hand in der seinen war trocken und warm und so furchtbar vertraut. Es fühlte sich fast schon zu real für einen Traum an. „Ich wollte nicht gehen.“ Loki hob den Blick und für einen kurzen Moment war Thor überwältigt von der Traurigkeit und der Zuneigung und der Sehnsucht, die er in den Augen seines Bruders sah. „Ich war endlich am richtigen Ort, und ich wollte nicht gehen.“ „Ich weiß“, sagte Thor sanft. Dann war er wieder allein. „Verliere ich den Verstand?“, wisperte Thor in der nächsten Nacht, ohne der Gestalt, die mit untergeschlagenen Beinen neben ihm auf dem Bett saß, Beachtung zu schenken. „Glaub mir, Bruder, diese Frage habe ich mir in den letzten Tagen schon unzählige Male gestellt“, seufzte Loki. „Wenn du kein Traum bist, was bist du dann?“ Thor zögerte. „Wo bist du dann?“ Loki sah aus dem Fenster. „Weder hier noch dort“, sagte er leise, „sondern irgendwo dazwischen.“ „Wo ist ‚dort‘?“, fragte Thor behutsam. Sein Bruder machte ein Gesicht, als versuchte er angestrengt, sich an etwas zu erinnern. „Der Ort, wo ich bin, wenn ich nicht hier bin“, sagte er schließlich. „Ich weiß nicht, wo er ist. Ich weiß nicht mal, was er ist.“ Ein harter Ausdruck trat in seine Augen. „Aber es gefällt mir dort nicht. Dieser Ort...“ Er zögerte. „Er hat nicht dich.“ „Dann bleib bei mir“, sagte Thor. Loki schenkte ihm ein wehmütiges Lächeln. „Ich weiß nicht, wie“, entgegnete er. Und wieder war er fort. „... Thor?“ Natashas besorgte Stimme ließ ihn von den Flammen des Kamins aufblicken, vor dem er sich an diesem Abend niedergelassen hatte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie, bevor sie sich neben ihn auf den Teppich setzte. „Du siehst blass aus. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“ Wann hatte er das letzte Mal geschlafen? Thor war sich selbst nicht ganz sicher. Ebenso, wie er sich nicht mehr länger sicher war, ob er bei seinen Begegnungen mit Loki überhaupt geschlafen hatte. Er zögerte für einen Moment, sich ihr anzuvertrauen. Doch wenn er nicht bald mit jemandem sprach, würde er noch wahnsinnig werden. „Es ist Loki“, entgegnete er schließlich. „Er besucht mich jede Nacht.“ „Thor...“ Natasha schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. „Ich verstehe, dass sein Verlust nur schwer zu verkraften ist. Ihr seid immerhin zusammen aufgewachsen...“ Doch Thor schüttelte nur den Kopf. „Du missverstehst mich“, sagte er. „Es ist mein Bruder. Anfangs hielt ich ihn auch für einen Traum, eine Vision, aber mittlerweile... glaube ich nicht länger daran.“ Natasha sah ihn aufmerksam an. „Du meinst es ernst“, stellte sie fest. Er drehte den Kopf zur Seite und erwiderte ihren Blick. Was auch immer sie in seinen Augen entdeckte, es schien die Bestätigung zu sein, die sie gesucht hatte. „In Ordnung“, sagte sie schließlich und nickte. „Dann zeig es mir.“ „Er kommt nur, wenn ich mich hinlege und die Augen schließe“, sagte Thor, als sie in sein Zimmer traten und sich auf das Bett legten. „Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, ob ich vorher geschlafen habe oder nicht.“ „Ich schwöre, das ist definitiv das Seltsamste, was ich je getan habe“, murmelte Natasha, doch sie tat es ihm gleich und schloss ebenfalls die Augen. Thor wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – vielleicht eine Stunde, vielleicht auch mehr – als er die vertraute Aura seines Bruders spürte. „Ich sehe, du hast Besuch“, sagte Loki mit leichtem Spott. „Soll ich später wiederkommen?“ Thor schüttelte den Kopf. „Bitte bleib, Bruder“, erwiderte er, während er vorsichtig an Natashas Oberarm rüttelte, um sie zu wecken. Loki hob eine Augenbraue, doch dann zuckte er nur mit den Schultern. „Ich werde es versuchen.“ Endlich schlug Natasha die Augen auf und setzte sich auf. Für eine Weile tat sie nichts anderes, als Loki anzustarren, der mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand lehnte. „... mein Gott“, raunte sie schließlich. „Du hattest Recht.“ Thors Herz schlug schneller. „Du kannst ihn sehen?“ „Die Begeisterung ist ganz meinerseits“, entgegnete Loki trocken. Natasha ignorierte ihn jedoch nur und stand auf. „Wir müssen Tony und den anderen davon erzählen“, sagte sie. „Vielleicht haben sie eine Idee, was hier los ist.“ „Hey!“, rief Loki ihr nach, als sie den Raum verließ. „Keine warme Begrüßung für mich?“ Thor musste lächeln. Bei den Nornen, wie er seinen Bruder doch vermisst hatte! „Sie hat dich gesehen, Bruder“, erwiderte er. „Was bedeutet, dass dich auch andere sehen können. Was wiederum bedeutet, dass ich nicht von Sinnen bin und deine Geschichte tatsächlich wahr ist.“ Er stand auf und trat auf den anderen zu. „Wo auch immer du bist, Loki“, sagte er leise und legte eine Hand an die Wange seines Bruders, „wir werden dich finden.“ Loki sah ihn an und Thor sah Hoffnung in seinen grünen Augen aufleuchten. „Versprichst du es mir?“, fragte er. Thor nickte. „Du hast mein Wort, Bruder.“ Als Natasha fünf Minuten später mit einem skeptischen Steve und einem noch völlig verschlafenen Tony im Schlepptau zurückkehrte, war Loki schon längst wieder fort. Part II: Sunshine ----------------- „Okay“, sagte Tony, der mittlerweile seine sechste Tasse Kaffee in der Hand hielt. Es war schon weit nach Mitternacht und sie waren alle müde. „Okay. Noch mal zum Mitmeißeln: was genau hat Loki gesagt?“ „Er sagte, er wäre ‚weder hier noch dort, sondern irgendwo dazwischen‘“, erklärte Thor. „Es klang, als meinte er damit zwei verschiedene Orte.“ Tony und Bruce warfen sich einen kurzen Blick zu. Dann fuhr sich Bruce nervös mit der Hand durch die Haare. „Entweder das – oder zwei verschiedene Realitäten“, entgegnete er. „Stimmt es, dass du laut Loki in einer davon nicht existierst?“ „In der, wo er momentan gefangen ist, ja“, bestätigte Thor. „Er muss auf der anderen Seite einen Ort gefunden haben, an dem die Grenze zwischen den Realitäten besonders dünn ist“, murmelte Tony in seinen Kaffee. „Die Frage ist, wie er es schafft, jede Nacht in unsere Realität hinüberzuwechseln“, sagte Natasha. „Und warum.“ „Er ist ein erfahrener Magier“, wandte Thor ein. „Und er scheint genau zu wissen, dass der Ort, an dem er sich befindet, nicht seine Realität ist“, meinte Bruce. „Dass er eigentlich hierher gehört. Weil Thor hier ist, und dort nicht.“ „Also ist Thor die Verbindung, die Loki zu unserer Welt hat“, stellte Steve fest. Dann sah er zu Tony hinüber. „Ich kann sehen, dass du eine Ahnung hast, was hier vor sich geht, Tony. Spuck es aus.“ Tony stellte seinen Kaffee zur Seite. „Es ist meine Schuld“, sagte er. Alle starrten ihn an. „Ich sagte ja, ich habe keine Ahnung, was ich tue, als ich den Handschuh verwendet habe“, fuhr Tony schulterzuckend fort. „Scheint, als hätte ich das Ziel knapp verfehlt. Und jetzt muss Loki den Preis dafür bezahlen. Er lebt... aber in der falschen Version unserer Welt.“ Steve seufzte nur und rieb sich das Gesicht. „Wer Schuld hat und wer nicht, spielt im Moment keine Rolle“, sagte er. „Wichtiger ist, was wir jetzt tun können, um ihm zu helfen.“ „Entschuldigt bitte, aber sollten wir Loki helfen?“, fragte Sam, der sich bisher aus der Unterhaltung rausgehalten hatte. „Ich meine... hat nicht jeder von euch hier genügend Gründe, es nicht zu tun?“ „Oh, ich hätte nie gedacht, dass ich mal froh darüber sein würde, dass Clint nicht da ist“, murmelte Natasha. Sam sah sie fragend an. Natasha räusperte sich. „Er... ist nicht besonders gut auf Loki zu sprechen.“ „Mein Bruder hat viele Fehler“, sagte Thor, der von der ganzen Diskussion genug hatte, und erhob sich. „Niemand weiß das besser als ich. Doch die Ereignisse der vergangenen Jahre sind auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Er wird immer Loki sein... doch er versucht jeden Tag erneut, ein besserer Mann zu sein.“ Für einen Moment herrschte Stille. Dann erhob Bruce zu ihrer aller Überraschung – und Thors großer Erleichterung – die Stimme. „Ich muss verrückt sein, das zu sagen, aber... ich kann seine Worte bestätigen.“ Er warf einen kurzen Blick in die Runde. „Der Loki, den ich auf Sakaar und Asgard erlebt habe, ist zweifellos noch immer ein durchtriebener und hinterhältiger Mistkerl, aber wie Thor schon sagte – er gibt sein Bestes. Ich denke, wir sollten ihm wenigstens die Chance geben, seine Fehler wiedergutzumachen.“ Wieder wurde es still. Schließlich gab Tony ein leises Seufzen von sich und alle Blicke richteten sich auf ihn. „Ihr habt den Mann gehört“, meinte er und sah in die Runde. „Wer setzt neuen Kaffee auf?“ Sie hatten die Infinity-Steine nach dem Ende der Schlacht wieder in alle Winde zerstreut. Einer war in Wakanda, einer wieder im Besitz von Strange, einer bei Vision, zwei im Hauptquartier, und einen hatten sie Nebula anvertraut, als sie mit Quill die Erde verlassen hatte, da sie weder Interesse an der Macht des Steins, noch an dem Geld hatte, das sein Verkauf ihr bringen würde. Die Option, den Handschuh erneut zu benutzen, um Loki zurück in diese Realität zu holen, schied damit also aus. Zum Glück kannten sie jemanden, der ebenfalls die Macht hatte, die Realität zu verbiegen... „Ich soll was machen?“, fragte Wanda, nachdem sie eine Woche später wieder im Hauptquartier eingetroffen war. Nach dem Krieg hatten sie und Vision sich erneut eine Auszeit genommen – die ihnen nach den Dingen, die vorgefallen waren, jedoch niemand hatte verübeln können. „Den Übergang zwischen den Dimensionen bei Lokis nächstem Besuch lange genug stabilisieren, damit er endgültig in diese Realität wechseln kann“, erklärte Bruce. „Loki.“ Sie hob eine Augenbraue. „Warum schrillen bei diesem Namen alle Alarmglocken bei mir?“ „Weil er derjenige war, der damals New York in Schutt und Asche gelegt hat“, rief Sam vom Sofa aus zu ihnen hinüber. „Nicht hilfreich, Sam!“, rief Bruce zurück. „Immer wieder gern geschehen, Banner“, erwiderte Sam unbeeindruckt. Doch Thor schenkte ihnen keine Beachtung. „Bitte“, sagte er leise und nahm Wandas Hände in die seinen. „Bitte...! Loki ist mein Bruder. Und er ist alles, was ich noch habe.“ Ein schmerzvoller Ausdruck huschte über ihr Gesicht, doch dann nickte sie. „In Ordnung“, erwiderte sie mitfühlend. „Ich werde es versuchen.“ „Bist du dir sicher, dass sie weiß, was sie tut?“ Lokis Skepsis war nicht zu überhören. „Sei still“, erwiderte Thor nur, ohne ihn auch nur anzusehen. Stattdessen war sein Blick auf Wanda gerichtet, die begonnen hatte, ihre Magie zu wirken, kaum dass Loki sich im Raum materialisiert hatte. Die Luft um seinen Bruder herum hatte begonnen zu flimmern und zu flackern, und hinter ihm konnte Thor nun deutlich die andere Zeitlinie erkennen. Und was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Die Spannung im Raum nahm immer mehr zu, bis sie fast körperlich spürbar war, und auch die Luft verdichtete sich immer weiter. Mit rot glühenden Augen wandte Wanda sich schließlich an Loki. „Wenn ich jetzt sage, suche dir einen Punkt im Raum, der dir als Anker dient, und lass ihn nicht los, bevor ich fertig bin!“, wies sie ihn an. Loki richtete seinen Blick auf Thor und nickte. „Jetzt!“, rief Wanda und entfesselte die ganze Macht ihrer Magie, um Loki aus der einen Realität zu lösen und ihn in die andere hinüberzuziehen. Thor machte im selben Moment einen Schritt auf seinen Bruder zu und zog ihn ohne Zögern in seine Arme. Er spürte, wie Loki sich seinerseits an ihm festhielt, und hoffte, dass er stark genug sein würde, um seinen Bruder vor der Rückkehr in die andere Realität zu bewahren – dass er der Fixpunkt zwischen den Dimensionen sein konnte, den Loki brauchte, um zu bleiben. Ein Wirbelsturm von Farben und Geräuschen tobte um sie herum und riss an ihren Haaren, ihrer Kleidung und ihrer gesamten Existenz, doch die Brüder ließen einander nicht los, während Wanda die verschiedenen Realitäten zurück in ihre jeweilige Dimension verbannte. Eine Dissonanz war zu hören, ein schrecklicher Klang, der immer lauter wurde, bis sein Dröhnen den ganzen Raum ausfüllte und Thor das Gefühl hatte, sein Kopf müsste gleich platzen. Und dann, als Thor schließlich glaubte, die Mächte, die zwischen den Dimensionen lauerten, würden ihn schlichtweg zerreißen... ... lag der schlimmste Teil mit einem Mal hinter ihnen. Der Sturm legte sich allmählich wieder und die Dissonanz ging in eine leise, wohlklingende Harmonie über. Thor seufzte erleichtert auf, als endlich wieder Stille herrschte, und öffnete dann zögernd die Augen. Loki erwiderte offen seinen Blick. „Ich glaube, du kannst mich jetzt wieder loslassen“, bemerkte er ruhig, doch Thor entging sein schwaches Lächeln dabei nicht. Langsam löste er die Arme von Loki und lehnte dann mit einem leisen Lachen seine Stirn an die des anderen. „Willkommen zurück, Bruder.“ Es überraschte Thor nicht besonders, dass die restlichen Avengers mit wenig Begeisterung auf Lokis Anwesenheit reagierten. Lediglich Steve sah den Brüdern unbeeindruckt entgegen, als sie in den Gemeinschaftsraum traten. „Loki“, sagte er ruhig. Loki hob eine Augenbraue. „Captain“, kam die kühle Antwort. Thor musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, seinem Bruder den Ellenbogen in die Seite zu stoßen und ihn daran zu erinnern, mit wem er sprach. Doch er beschloss, stattdessen Vertrauen in Loki zu haben und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er abwartete, was als nächstes geschehen würde. Zur Überraschung aller trat Loki einen Schritt vor und verneigte sich kurz vor dem Anführer der Avengers. „Ich danke euch“, sagte er leise und richtete sich dann wieder auf. „Ihr hattet keinen Grund, mir zu helfen, und ihr habt es dennoch getan. Dafür habt ihr meine Dankbarkeit.“ Für einen Moment war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Huh“, meinte Natasha dann, die auf der Couch lag und ihre Nägel feilte. „Vielleicht wäre es doch ganz interessant gewesen, Clint hier zu haben...“ „Wir haben es für Thor getan“, sagte Steve an Loki gewandt. „Er hat darauf bestanden, dass mehr in dir steckt, als Loki, der Gott der Lügen. Ich kann es im Moment noch nicht glauben...“ Steve zögerte kurz. „... aber ich will es versuchen. Und solange du den Willen hast, es zu beweisen, darfst du bleiben.“ Thor konnte förmlich spüren, dass seinem Bruder eine scharfe Erwiderung auf der Zunge lag, doch Loki überraschte ihn einmal mehr, als er sich erneut kurz verneigte. „Ich akzeptiere eure Bedingungen“, sagte er würdevoll. „... warum werde ich das Gefühl nicht los, dass wir alle sterben werden?“, murmelte Sam. Und damit war es beschlossen. „Kann ich dir eine Frage stellen?“, fragte Thor, als sie am nächsten Tag gemeinsam auf einer Bank im weitläufigen Außengelände des Hauptquartiers saßen, während die Sonne warm auf sie herabschien. „Hm...?“, machte Loki abwesend. „Warum bist du nur nachts zu mir gekommen?“ Loki überlegte einen Moment. Schließlich erwiderte er: „Weil dein Bewusstsein zu diesem Zeitpunkt weit genug zur Ruhe gekommen war, dass es für meine Versuche, dich zu erreichen, empfänglich war.“ Er wandte Thor das Gesicht zu. „Es hat mich viel Kraft gekostet, in diese Realität durchzudringen. Dein Bedürfnis nach Schlaf war für mich nicht vorrangig, Bruder, ich hoffe, das kannst du verstehen.“ „Ich verstehe es.“ Und das tat er tatsächlich. Er hatte nur einen winzigen Ausschnitt der anderen Zeitlinie gesehen, doch es hatte gereicht, ihm klarzumachen, dass Loki sehr verzweifelt gewesen sein musste. „Und es wundert mich nicht länger, dass ich dich für einen Traum hielt.“ Dann verstummte er und für eine Weile saßen sie erneut in familiärem Schweigen beieinander. Schließlich ertönten Schritte auf dem Kiesweg hinter ihnen. „Wow, es hört nicht auf, seltsam zu sein, euch beide so zu sehen“, sagte Tony, die Hände in den Taschen seines Pullovers vergraben. „So in... trauter Zweisamkeit, und ohne dass einer versucht, den anderen umzubringen.“ Loki verdrehte die Augen. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es, Stark“, entgegnete er. „Okay, weißt du, das verletzt mich gerade ein bisschen“, sagte Tony und hob eine Augenbraue. „Warum füttere ich dich noch mal durch?“ Thor warf Loki einen warnenden Blick zu. „Verzeih sein Verhalten, Stark“, sagte er. „Mein Bruder ist noch nicht wieder ganz bei Sinnen.“ „Ich bin sehr wohl bei Sin-!“ „Nein, bist du nicht“, erwiderte Thor und hielt Loki kurzerhand den Mund zu. Während sein Bruder sich vehement gegen seinen Griff wehrte, schenkte Thor Tony ein strahlendes Lächeln. „Was gibt es, Stark?“ Tony hielt ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier hin. „Ein, uh, Rabe ist vorhin eingetroffen“, sagte er. „Mit einer Nachricht, die an dich adressiert war. Wer auch immer ihn geschickt hat – ich mag seinen Humor.“ „Ich verstehe.“ Thor nickte ihm dankbar zu, während er mit seiner freien Hand den Brief entgegennahm und öffnete. Thor Odinson, wir hatten eine Abmachung. Doctor Stephen Strange Tony starrte derweil Loki an, der sich mit der Widerspenstigkeit einer Straßenkatze in Thors Griff wand. „Weißt du, wenn du Hilfe mit ihm brauchst, ich habe erst vor zwei Monaten eine neue Kollektion äußerst wirksamer Handfesseln entwickelt...“, bot Tony an. „Danke“, entgegnete Thor, „aber wir kommen schon klar. Nicht wahr, Bruder?“ Er sah kurz zu Loki hinüber, der Tony einen mörderischen Blick zuwarf. „... wir kommen klar“, wiederholte Thor und schenkte Tony ein Lächeln. Und obwohl es im Moment noch nicht so aussah, obwohl er noch mit Strange um Lokis Recht, auf diesem Planeten zu bleiben, verhandeln musste, und obwohl er seinen Bruder in den nächsten Jahren vermutlich für keine einzige Sekunde aus den Augen lassen konnte... wusste Thor plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass sich seine Worte eines Tages bewahrheiten würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)