Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 24: großer Fehler ------------------------- Loriel pumpte unablässig weiter Heilmagie in Victors Körper hinein. Irgendwann musste der doch mal wieder aufwachen. Plötzlich, aus dem sprichwörtlichen Nichts, fuhr der Russe mit einer kraftvollen Körperdrehung direkt aus der stabilen Seitenlage herum und trat Loriel mit einem seiner derben Schuhe vor den Kopf. Der Tritt saß. Loriel prallte getroffen zurück und schlang mit einem Aufschrei die Arme um den Schädel. Ehe er den Schmerz verdaut hatte, oder gar erfassen konnte, was passiert war, war Victor schon aufgesprungen. Aber der Engel reagierte erstaunlich schnell, warf sich nach vorn, umschlang Victors Unterschenkel mit beiden Armen und brachte ihn damit wieder zu Fall, bevor er auf und davon war. Victor drehte sich strampelnd auf den Rücken herum, sah noch wie Loriel nach dem Buschmesser langte, das Chippy vorhin hatte liegen lassen, und damit weit ausholte. Victors Augen weiteten sich erschrocken. Das Messer sauste mit Wucht auf ihn herunter. Und dann ... blieb Loriel auf einmal wie ein Standbild unbewegt mitten in der Bewegung hängen, der Mund noch zum Schrei geöffnet, aber es kam kein Laut heraus, die Augen weit aufgerissen, starr und ohne zu blinzeln. Victor glotzte ihn perplex an. „Victor, tu irgendwas! Ich geb dir 15 Sekunden!“, rief eine etwas angestrengt klingende Stimme von der Seite. Victor schaute zu den Käfigen entlang der Wand. Waleri hatte eine Hand in seine Richtung ausgestreckt, als wolle er nach ihm greifen. Seine Augen waren so milchig eingetrübt, daß sie wie blind und beinahe weiß wirkten. Der setzte irgendeine Magie ein. Victor schaute erneut in Loriels Gesicht, der immer noch mitten in der Bewegung eingefroren über ihm hing, rappelte sich endlich eiligst auf und rannte. Victor sprintete den erstbesten Gang hinunter, um zwei, drei Ecken, bis er wenigstens außer Sicht war, dann musste er sich erstmal gegen eine Wand lehnen, Luft holen und gegen das neu explodierende Schwindelgefühl ankämpfen. Der Flur drehte sich einen Moment lang vor seinen Augen wie ein Glücksrad, und ein Schmerzimpuls zuckte durch seinen Magen, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Er versuchte, sich nicht gleich hier zu übergeben. Trotz all dieser wohltuenden Effekte, die Loriels Heilermagie ihm beschert hatte, hatte er sich lange Zeit weiter tot gestellt, damit Loriel nicht aufhörte. Vielleicht war er mit seinem Befreiungsschlag doch zu voreilig gewesen. Aber er hatte nicht länger warten können, sonst hätte der Engel am Ende noch selber gemerkt, daß hier irgendwas faul war. Er konnte sich gut vorstellen, daß Loriel nur versucht hatte, ihn wieder wach zu bekommen. Der Shogu Tenshi hätte seinen Gefangenen wohl kaum freiwillig komplett fit gemacht und damit riskiert, daß der wieder stark genug wurde, sich zu befreien. Als sich sein Kreislauf nach einem Moment etwas beruhigt hatte, hetzte Victor weiter und sah zu, daß er Land gewann. Auch wenn er kraftlos und zittrig war und sich nur schwer auf den Beinen halten konnte, konnte er hier nicht bleiben. Seine Verfolger würden ihm keinen Vorsprung schenken. Loriel stach ins Leere. Ein Wimpernschlag und Victor war plötzlich weg. Irritiert blinzelte er nochmal und schaute sich suchend um. Es war ihm, als hätte er den schwarzhaarigen Russen wie einen Blitz davonschießen sehen, aber er war sich nicht mehr sicher, ob er das wirklich gesehen hatte. Ohne Eile rappelte sich der Shogu Tenshi wieder hoch. Pflichtgemäß gab er ein leises Fluchen von sich, machte aber keine Anstalten, Victor zu folgen. Einerseits würde er den vermutlich eh nicht einholen und zum anderen gönnte er dem Russen die Chance tatsächlich. Denn was Chippy hier tat, war einfach falsch und moralisch unhaltbar. Loriel hatte echte Gewissensprobleme mit diesem ganzen Vorhaben, von der Erfolgswahrscheinlichkeit mal ganz abgesehen. Er hoffte fast, daß Chippy diesen Victor nicht wieder eingefangen bekam. Waleri in seinem Käfig atmete so schwer, als wäre er gerade eine ziemliche Strecke gerannt, aber er grinste Loriel dabei selbstgefällig an. Der Schutzengel kam in Ruhe näher. „waleri-san wa sore o shimashita ka?“ [Bist du das gewesen?], wollte er wissen. Er wusste nicht, ob dieser Waleri Englisch verstand. Er hatte aber sehr wohl mitbekommen, daß der Japanisch sprach. „Ja, war ich.“, gab der überaus zufrieden zurück und lachte auch noch schadenfroh dazu. Das hatte er super hinbekommen, wie er fand. „Deine Chippy hat nicht nur die Fessel-Illusionen gelöst, sie hat SÄMTLICHE Illusionen aufgehoben. Auch die, die uns daran gehindert haben, Magie einzusetzen. Wir sind wieder im Spiel, Kumpel!“ Loriel atmete unglücklich durch. Schöner Mist. Aber nagut, da war Chippy ja quasi selber Schuld dran. „Kannst du dich auch wieder verwandeln?“, wollte Vladislav von Waleri wissen. Er hatte zwar genau so wenig mitbekommen wie Loriel, störte sich aber nicht daran. Er kannte seinen Genius Intimus und dessen magische Fähigkeiten schließlich bestens. „Ja, ich denke schon. Das sollte ich in diesem engen Käfig aber lieber nicht ausprobieren. Ich würde dich an den Gitterstäben gnadenlos zerquetschen.“ Vladislav rüttelte erneut prüfend an den Eisenstangen. „Schade. In deiner Einhorn-Gestalt hättest du uns sicher hier raus bekommen.“ Chippy schlief das Gesicht ein, als sie herein platzte und sich umsah. Loriel stand vor einem Käfig und plauderte in aller Ruhe mit Vladislav und Waleri, statt wie befohlen ihren neuen Schutzgeist zu heilen. Von diesem fehlte übrigens jede Spur. „Lori!? Wo ist Victor hin?“, verlangte sie in drohendem Tonfall zu erfahren. Sie war so außer sich, daß sie sogar vergaß, ihn mit einem der üblichen, beleidigenden Spitznamen zu betiteln. Professor Doktor Hülsenkorn, der hinter ihr stand und nicht herein konnte, weil sie wie angewurzelt in der Tür stehen geblieben war, schaute fragend über ihre Schulter. „Ist er etwa weg?“ „Äääääh~“ Loriel überlegte fieberhaft, wie er das erklären sollte. Die Welle an Wut und Entrüstung, die von seinem Schützling über die mentale Verbindung zu ihm herüber schwappte, reichte bereits, um ihn etwas einzuschüchtern, obwohl es ja eigentlich nur bedingt seine Schuld war. „Mit deinen Illusionen ist da was schiefge-“ „Du hast ihn laufen lassen!?“, pflaumte Chippy ihn hysterisch an, noch ehe er wirklich irgendwas sagen konnte. Wie eine Furie rauschte sie herein. „Das wirst du büßen! Das war dein Todesurteil, Freundchen!“ Sie griff grob in Loriels Haare, um ihn daran in eine der freien Zellen zu zerren. Hinter ihm warf sie die Tür zu und er war eingesperrt. Loriel stöhnte schmerzlich und rieb sich die malträtierte Kopfhaut. Dabei sah er sich in der Zelle um. Sie hatte ihn ernsthaft eingesperrt? Ihren eigenen Genius Intimus? „Wenn ich wieder da bin, werde ich mich um dich kümmern. Ich werde dich brechen, du nichtsnutziger Versager! Mein Wort darauf! Ich werde dein gottverdammtes Selbstbewusstsein so in Scherben schlagen, daß du nie wieder ungefragt ein Widerwort von dir geben wirst! ... Und bis dahin überlasse ich dich den Wissenschaftlern!“ Der Schutzengel bekam riesige Augen. „Was!?“ „Uh, echt!?“, wollte Professor Doktor Hülsenkorn begeistert wissen. Sofort zuckte es ihm in den Fingern. Er wollte schon so lange mal einen echten Shogu Tenshi erforschen. Dazu bekam man nur extrem selten Gelegenheit. „Macht mit ihm, was ihr wollt. Lori gehört euch“, bestätigte die junge Magierin. Sie wandte sich ab und ging. Der lästige Schutzengel, oder was mit ihm passierte, war ihr vollkommen gleichgültig. Hätte sie gekonnt, wäre sie ihn schon viel eher los geworden. „Nur, wenn die Trennung des silbernen Bandes wirklich mit kurzweiliger Bewusstlosigkeit einher geht, dann lasst das bleiben, bis ich wieder da bin. Ich will da draußen nicht mitten im Gefecht plötzlich umkippen, wenn ich diesen Victor wieder einfange.“ „Was!? Nein! Chippy!“ Loriel warf sich gegen das Gitter und umklammerte die Stäbe mit beiden Händen. „Du kannst da nicht alleine raus! Du kannst nicht ohne Schutzgeist draußen rumrennen! Chippy! Nimm mich mit! Das ist gefährlich! Geh nicht alleine!!!“ Seine Stimme wurde immer lauter und panischer, je mehr sie sich entfernte. „Komm zurück! Neeeiiiinnn!“ Er riss abermals wie ein Wahnsinniger an den Eisenstäben. „Hör auf, rumzuspektakeln! Du gehörst jetzt mir!“, verlangte Professor Doktor Hülsenkorn und hackte mit der Kante einer Klemm-Mappe auf Loriels Finger, damit er die Gitter losließ. „chto sluchilos'?“ [Was ist passiert?], wollte Vladislav leise von Waleri wissen, da er das japanische Gezoffe nicht hatte mitverfolgen können. „Was wohl? Die Zicke ist angepisst, daß Victor entkommen ist.“ „Schon klar. Aber warum ging hier gerade so ein riesen Terz los? Hat sie Loriel an die Forscher verkauft?“ „Das auch. Aber in erster Linie wird Chippy die Forschungsstation verlassen, um Victor zu jagen. ALLEINE, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.“ Vladislav blies überrumpelt seine Wangen auf. „Das wird Probleme geben.“ „Ja. Nicht nur für Chippy, fürchte ich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)