Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 12: wilde Zeiten ------------------------ ein Jahr zuvor, Okinawa „Da wären wir wieder. Willkommen am Arsch der Welt.“ Loriel seufzte nur leise und kommentierte diesen Einwurf seines Schützlings nicht. Er starrte weiter über die Reling des Bootes, mit dem sie gerade nach Okinawa übersetzten. Er wohnte auf dieser Insel. Sein Wohnsitz war da. Chippy hatte seine Wohnung auch schon ein paar Mal besucht. Aller zwei oder drei Wochen waren sie am Wochenende mal hergekommen, um in Loriels Wohnung nach dem Rechten zu sehen, wenn sie in Sapporo keine Schule hatte. Aber diesmal war es ein endgültiges Heimkommen. Loriel war nach Okinawa zurückgekehrt, um zu bleiben. Er hatte noch keine Ahnung, wie das Leben mit seinem Schützling Chippy nun weitergehen würde. Das störrische Gör war für keine Übereinkunft zugänglich. Die Magie-Ausbildung hatte sie abgebrochen. Aber einen Plan, was sie stattdessen machen wollte, hatte sie nicht. „Müssen wir unbedingt in Ogimi wohnen bleiben? Wieso können wir nicht nach Tokyo ziehen, oder so?“, fuhr Chippy fort. „Auf Okinawa ist doch eh nichts los!“ Loriel strich sich mit einer Hand das schwarze Metallica-T-Shirt über dem runden Bierbauch glatt und wischte dabei auch gleich noch einen Krümel weg. „Wenn du die Wohnung in Tokyo bezahlst, können wir das machen“, brummte er zurück. „Wovon denn bitte?“ „Lass dir was einfallen. Versuch´s doch mal mit ehrlicher Arbeit.“ Oh, das hätte er nicht sagen sollen. Über die mentale Verbindung zu seinem Schützling spürte er sofort eine Welle der Entrüstung herüber schwappen. Diese Bemerkung fand Chippy gar nicht lustig. Sie hasste es, wenn ihr Genius Intimus vorlaut wurde. „Komm, lass uns unseren Krempel zusammen packen. Wir legen gleich an“, lenkte er das Gespräch schnell in eine andere Richtung. Chippy funkelte ihn nur drohend von der Seite an, bis er davon huschte, dann schaute sie kommentarlos wieder auf das Meer und das näher kommende Insel-Ufer hinaus. Die Illusionistin schulterte ihren Rucksack mit den paar Habseligkeiten, die sich im Laufe der Monate derwegen angesammelt hatten, und schaute unmotiviert den Passagieren nach, die vom Schiff strömten und wie die Ameisen über den einzigen, vorhandenen Weg vom Hafen weg davon wuselten. Wer abgeholt wurde oder noch ein Taxi erwischte und sich dieses auch leisten konnte, fuhr. Alle anderen liefen eben. „Sagtest du nicht, es gäbe eine Abkürzung zur Hauptstraße?“ „Ich kann mich nicht erinnern, das behauptet zu haben.“ „Hast du auch nicht. Das war eine rethorische Frage, du Knalltüte. Aber mal im Ernst. Ogimi liegt in dieser Richtung, oder?“ Sie zeigte wage in das Bergland hinauf. „Lass uns durch den Wald gehen.“ „Halte ich für keine gute Idee“, erwiderte Loriel. Chippy marschierte forsch voraus. „Interessiert mich nicht, was du davon hältst.“ „Bitte sehr ...“, seufzte der Schutzengel hinnehmend. „Wenn du unbedingt in Schwierigkeiten kommen willst, dann lass uns eben gehen.“ Er schaute nochmal nach dem Stand der Sonne und rief sich die Landkarte der Insel ins Gedächtnis, um eine Orientierung zu haben, denn er bezweifelte, daß Chippy wirklich ohne Hilfe durch diesen Wald finden würde. Er hatte keine Lust, am Ende noch verloren zu gehen und da drin übernachten zu müssen. „Hör mal, wenn es dir auf Okinawa nicht gefällt ...“ „Nicht gefallen?“, fiel das Mädchen ihm ins Wort. „Ich HASSE Okinawa! Allein das heiße, schwüle Tropen-Klima macht mich schon alle!“ „Wenn es dir auf Okinawa nicht gefällt ...!“, begann Loriel den Satz übertrieben betont nochmal von vorn, um zu signalisieren, daß er die Unterbrechung jetzt nicht gerade toll gefunden hatte. „... dann lass uns doch nach Nagasaki gehen.“ „Und was sollen wir da?“ „Die Süd-Schule hat da eine Außenstelle. Vielleicht gefällt es dir dort ja besser als in der Drachen-Schule im Norden.“ „Die von der Süd-Schule waren die mit der Religion und der Ethik, oder?“, wollte Chippy zweifelnd wissen. Das war nicht gerade ihr Ding. „Aber das ist eine Elite-Schule“, flunkerte Loriel herum, in der Hoffnung, sein trotziger Schützling ließe sich vielleicht weich reden. „Die Lehrer dort sind absolute Meister. Die bringen dir vielleicht nicht solchen Quatsch bei wie in der Nord-Schule.“ „Warum gibt es eigentlich ausgerechnet eine wissenschaftliche, eine kämpferische und eine religiöse Schule für Magie? Wieso keine ... was weiß ich ... künstlerische, oder wirtschaftliche, oder so? Was macht man, wenn man in so eine Richtung will, die gar nicht angeboten wird?“ „Die Schulen sind damals von verschiedenen Interessengruppen gegründet worden. Und wenn die privat ihre eigenen Schulen betreiben, dann bringen sie ihren Schülern natürlich auch vorrangig ihre eigenen Interessenschwerpunkte nahe“, erklärte Loriel. Tatsächlich waren sie gefühlt noch keine 200 Meter ins Unterholz vorgedrungen, da nahm ihre Reise auch schon ein jähes Ende. Vor Chippy schnellte ein Fangnetz in die Höhe und versperrte ihr den Weg. Erschrocken drehte sie sich um, aber auch hinter ihr wurden sofort Seile und Netze hochgespannt, um ihr den Weg in alle Richtungen zu versperren. Lachen wurde laut. Aus den Baumkronen und den Dickischten kamen zerlumpte, verlotterte Männer gesprungen. Viele hatten Messer in der Hand, einer sogar einen alten Revolver. Chippy zählte auf die Schnelle 7 oder 8 Kerle, vielleicht einen mehr oder weniger, das war im Getümmel schwer zu sagen. „Ganz ruhig bleiben! Das hier ist ein Überfall!“, grinste einer der Typen und offenbarte dabei eine effektvolle Zahnlücke in den oberen Schneidezähnen. Die Lücke sah sehr draufgängerisch aus, als wäre der Zahn bei einer heroischen Prügelei ausgeschlagen worden. Tatsächlich und wahrscheinlicher ging der Verlust aber auf das Konto mangelhafter Zahnpflege. Loriel rollte mit den Augen. Ein Überfall also. „Wär ich ja nie drauf gekommen ...“, murmelte er leise. Mister Zahnlücke schlich mit anzüglichem Blick einmal um Chippy herum, um sie von allen Seiten zu mustern. Zugegeben, ganz unattraktiv war das Mädchen ja nicht. „Naaaa? Was ist uns denn hier Hübsches ins Netz gegangen?“ „Was wollt ihr?“, blaffte Chippy ihn genervt an. „Gegenfrage: Was habt ihr denn zu bieten? Komm, rück alles raus, was du hast!“ „Mein angebissenes Mittags-Brötchen? Das kannst du gern haben!“ „Oh, so viel?“, scherzte der Wegelagerer unbeeindruckt. Er schien hier für alle zu sprechen. Augenscheinlich war er der Anführer von dieser Vagabunden-Truppe. „Ihr wollt doch nicht etwa Geld, oder? Sehen wir aus, als ob wir Geld hätten?“ Der schmierige Geselle fingerte interessiert an einer ihrer Haarsträhnen herum, als wolle er prüfen, wie weich die Haare waren, oder ob sie lila Spitzen abfärbten. „Nun, wenn ihr nichts habt ... dann behalten wir eben dich. Für so süße Mädchen haben wir Verwendung.“ Er schnippste mit den Fingern und gab seinen Leuten ein Handzeichen in Richtung seiner neuen Geiseln, woraufhin sich die Männer euphorisch und johlend auf sie und Loriel stürzten. Chippy schob gehörig schlechte Laune. Da saß sie nun gefesselt in einem Räuberlager mitten im Wald, Rücken an Rücken mit Loriel zusammengebunden, und zur Untätigkeit verdammt. Unfassbar. Und das, obwohl sie einen Schutzgeist an der Backe hatte. Sie hatte ja schon immer gesagt, daß der zu nichts taugte. Aber, daß er so dermaßen unnütz war, hätte selbst sie nicht für möglich gehalten. „Ein ganz großartiger Schutzengel bist du! Wirklich!“, maulte sie sarkastisch. Das erste Wort, das sie wieder mit ihm wechselte, seit sie gefesselt und weggeschleppt worden waren. Loriel sah das sehr viel entspannter. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du wusstest doch, daß ich nicht kämpfen kann.“ „Wozu hab ich dich denn dann, zur Hölle?“ „Ich hab dir gesagt, daß es eine blöde Idee ist, durch den Wald zu gehen. Aber du musstest ja trotzdem loslaufen. Wie heißt es so schön? Tadel nicht den Fluss, wenn du ins Wasser fällst.“ „Ach, halt die Klappe! Halt einfach die Klappe, du nichtsnutzige Bierwampe! Sei froh, daß ich gerade gefesselt bin, sonst könntest du was erleben!“ „Na! Na! Der Zorn steht dir nicht gut“, scherzte der Räuberhäuptling mit der Zahnlücke, der sich ihnen inzwischen als Yagi vorgestellt hatte, als er in diesem Moment zufällig vorbei ging und sie zetern hörte. „Du sei mal auch schön still! Ihr habt ja keine Ahnung, wer ich bin und mit welchen Mächten ihr euch angelegt habt!“ Yagi ging schmunzelnd vor ihr in die Hocke, damit er mit ihr auf Augenhöhe war. „Dann klär mich doch mal auf, Kleine.“ Ein weiteres Mitglied der Bande gesellte sich dazu, den die Antwort auch interessierte. Loriel spürte schon vorher, daß Chippy sich herausgefordert fühlte und diese Herausforderung auch gern annahm. Eine gewisse Überheblichkeit und bodenlose Selbstsicherheit kochte in ihr hoch. Aber obwohl Loriel auf eine entsprechende Antwort gefasst war, wandte er ungläubig den Kopf zu ihr nach hinten um, als er die Worte aus ihrem Mund allen Ernstes vernahm. „Ich bin eine Seegöttin!“ stellte das Rocker-Mädchen klar. „Ich beherrsche das Wasser! Und ich schwöre euch, daß ich euch von dieser verdammten Insel spülen werde, wenn ihr mich nicht sofort losbindet!“ Schallendes Lachen brandete auf. Die Diebe fanden das ausgesprochen lustig und kauften ihr das natürlich nicht sofort ab. Welcher Mensch mit Verstand hätte das auch getan? Als Chippy daraufhin aber wirklich mehrere gewaltige Wasserfontainen aus dem Boden schießen ließ, blieb ihnen das Lachen im Hals stecken. Die Wassersäulen bäumten sich meterhoch senkrecht auf wie Geysire und rissen Blätter und Äste aus den Baumkronen. Die Männer wichen schockiert zurück. Als aus den Fontainen dann auch noch humanoide Wassergestalten heraustraten, die auf zwei Beinen frei herum zu laufen begannen, rannten sie schreiend davon. Die wussten ja nicht, daß das bloß magische Illusionen waren. Nach kaum ein paar Sekunden saßen Chippy und Loriel allein in dem Lager. Dummerweise immer noch aneinander gefesselt und gut verschnürt. „Große Show ...“, kommentierte Loriel trocken. „Was hast du dir dabei jetzt gedacht?“ „Ich hab mir gar nichts dabei gedacht! Ich wollte einfach bloß lebend und unversehrt hier weg kommen! Da du nicht in der Lage dazu bist, uns hier raus zu holen, muss ich mir ja offenbar selber was einfallen lassen.“ „Japp. Bist du ein Kind Gottes, dann hilf dir selbst“, erwiderte Loriel sarkastisch. „Und? Wie geht´s jetzt weiter?“ Außer Atem versteckten sich Yagi und seine Leute hinter einem Felsvorsprung und rangen erstmal um Fassung. Sie lebten schon seit Jahren im Wald und überfielen alles, was ihnen über den Weg lief. Sie hatten auch schon Geiseln genommen und gutes Lösegeld dafür herausgeschlagen. Aber so eine Person war ihnen noch nie ins Netz gegangen. Dieses Mädchen hatte übernatürliche Kräfte! „Sind die Dinger weg???“ „Ha-Habt ihr das gesehen?“, bibberte einer der Gauner. „Ja, Mann! Was in aller Welt war das?“ „Die sahen aus wie Menschen aus purem Wasser! Ich konnte durch sie durchgucken!“ „War das dieses Kind?“ „Sie sagte, sie ist eine Seegöttin.“ „Offenbar hat sie damit nicht mal ganz gelogen“, warf Yagi ein, fasste sich wieder und nahm etwas Haltung an, um den großen Anführer und Herrn der Lage raushängen zu lassen und seine Männer wieder zur Ruhe zu bringen. „Na, und was jetzt?“ „Ich geh nicht mehr in das Lager zurück!“ „Was sollen wir mit ihr machen?“ „Freilassen, Mensch! Was denn sonst? Bist du lebensmüde?“, verlangte einer. Yagi schüttelte den Kopf. „Wir haben uns nur erschrecken lassen. Ich bin sicher, so gefährlich ist sie gar nicht. Aber mit diesen Fähigkeiten, die sie hat, kann man sie sicher teuer verkaufen. Ich kann mir vorstellen, daß jemand militärisches Interesse an solchen übernatürlichen Kräften hat.“ „Die ist eine Göttin!“, echauffierte sich einer der Männer. Die Debatte ging eine ganze Weile angeheizt weiter. Manche beharrten darauf, daß das Mädchen eine Seegottheit sein müsse, andere tippten auf etwas weniger hochtrabendes wie etwa eine Yokai oder einen Tiergeist. Wirklich Ahnung hatte aber keiner von diesem Thema. Nur ein paar wenige der Männer kannten zumindest alte Geschichten über Dämonen aus früheren Zeiten. Eine Menge Schiss hatten sie dafür alle miteinander. Ob man eine Gottheit nun gefangen halten und verkaufen durfte oder besser wieder freilassen sollte, oder vielleicht sogar töten sollte, wenn man konnte, darüber teilten sich die Meinungen gehörig. Unter welcher Bedingung war ihnen der Zorn dieser 'Gottheit' am wenigsten gewiss? „Wir sollten abstimmen, was wir mit ihr machen!“, verlangte jemand. „Wo gibt´s denn sowas? Seit wann geht es in unserer Bande demokratisch zu?“, wollte Yagi wissen und zog drohend Luft durch seine Zahnlücke. „Nagut, was schlägst du also vor, Chef?“ „Hmmmm ...“ Der Räuberhäuptling verschränkte die Arme und senkte theatralisch das Kinn auf die Brust, als müsse er nachdenken. „Ich habe mir eure Argumente sorgsam angehört und abgewogen“, begann er gebieterisch. Da konnte er eine Drama-Queen sein, wenn er wollte. „Und ich sage ... ääääh ... wir sollten sie in unsere Bande aufnehmen! Als Mitglied unserer Truppe ist sie uns am nützlichsten! Solche Wunder, die sie bewerkstelligen kann, müssen wir uns doch zu Nutze machen!“ Jubel brach aus. Diese Idee fanden die naiven Genossen alle gut und feierten ihren klugen Anführer auf dem Weg zurück ins Lager gehörig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)