Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 10: hoffnungsloser Fall ------------------------------- einige Jahre zuvor, Sapporo „Okay, da wären wir wieder am Sekretariat. Und? Gefällt dir unsere Schule?“, wollte der freundliche Mitt-Vierziger wissen, der sich als Yamada vorgestellt hatte und wohl der stellvertretende Schulleiter hier war. Er hatte ihnen gerade im Rahmen eines Rundgangs die Schule gezeigt. Chippy nickte nur mit einem eher halbherzigen 'naja,-kann-man-schon-gelten-lassen'-Gesichtsausdruck, obwohl es hier wirklich schön war. Sowohl die alten, liebevoll restaurierten Gebäude der Schule selber, als auch der gesamte Landstrich waren sehr malerisch. Sapporo lag auf Hokkaido, der nördlichsten Hauptinsel Japans. Nicht grundlos nannte sich das hier die 'Nord-Schule'. „Wir haben keine Schuljahre, die zu einem festen Termin beginnen und enden. Weil die Magi halt keinen Einfluss darauf haben, wann ihr magisches Talent erwacht und wann sie auf ihren Genius Intimus treffen. Die Schüler kommen, wann sie wollen, und gehen wieder, wenn sie genug gelernt haben. Du bekommst einen Lehrplan, den du in der Reihenfolge und Geschwindigkeit abarbeiten kannst, die du möchtest. Die Lehrer und die Bibliothek stehen dir jederzeit zur Verfügung. Außerdem gibt es immer mal wieder außerplanmäßige Seminare für alle Schüler, die du je nach Interesse belegen oder weglassen kannst. Wenn du alle nötigen Prüfungen bestanden hast, wird dir der Schulabschluss anerkannt.“ Wieder nickte Chippy. „Und? Möchtest du bleiben?“ „Ja, ist nicht schlecht hier“, stimmte das Mädchen zu. Loriel verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen. Das war doch schonmal ein riesiger Schritt in die richtige Richtung. „Gut, dann gebe ich dir ein Anmeldeformular, damit du dich bei uns einschreiben kannst. Ich nehme an, dein Schutzgeist wird kein Schüler bei uns werden, sondern dich nur begleiten, oder?“, wollte Yamada mit Blick auf den schon unverkennbar in die Jahre gekommenen Engel wissen. In dem Alter war ja anzunehmen, daß er schon alle vorgesehenen Schulabschlüsse hatte. „Nein, der wird hier kein Schüler.“ „Schön.“ Der stellvertretende Schulleiter schloss sein Sekretariat wieder auf und ging voran, um den unvermeidlichen Bürokram in Angriff zu nehmen. „Wollt ihr in unserem Internat wohnen, oder habt ihr eine Bleibe im Umkreis?“ „Wir kommen aus Tokyo. Wir werden wohl im Internat bleiben müssen“, streute Loriel von der Seite an. Yamada nickte, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte, und hatte mit einem einzigen Handgriff das passende Formular parat, das er Chippy mitsamt einem Stift einladend hinschob. „Für das Internat müssen wir eine Gebühr erheben, weil ihr dort ja verpflegt und betreut werdet und Strom und Wasser verbraucht. Der Beitrag von 5'000 Yen im Jahr ist zwar eher symbolisch, aber trotzdem ...“ Chippy reichte ihr Formular samt Stift an Loriel weiter. Der Shogu Tenshi blinzelte irritiert, bis ihm aufging, daß das Straßenmädchen wohl durchaus ein wenig lesen, aber offensichtlich nicht schreiben konnte. Das würde ja heiter werden. Wie wollte sie da im Unterricht Mitschriften machen? Loriel sah sich schon in der Rolle des Sekretärs. Er überflog kurz die Fragen und geforderten Angaben. Das meiste davon wusste er über seinen neuen Schützling noch gar nicht. Aber es wäre sicher blöd, sie vor den Augen der Schulleitung nach ihrem Geburtsdatum oder ihrem korrekten Namen zu fragen. „Wir füllen den Bogen nachher in Ruhe aus und geben ihn dann wieder rein, okay?“ „Klar, kein Problem“, stimmte Yamada gut gelaunt zu. Chippy hantierte unterdessen mit einer Geldbörse herum. „5'000 Yen für´s Internat. Mal sehen, ob ich noch so viel Geld einstecken habe.“ Loriel beäugte argwöhnisch von der Seite, wie sie die ganze Geldbörse umkrempelte und drehte und wendete und jedes mögliche Fach einzeln durchsuchte. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie sich in diesem Ding zurecht finden oder wissen, was wo war. Mal ganz davon abgesehen, daß sie eigentlich gar kein Geld mehr hätte haben sollen, nachdem Loriel sie die Zugfahrkarte hierher aus purem Prinzip hatte selber bezahlen lassen. Aber er sagte zunächst nichts. „Ah, hier, gefunden!“, meinte Chippy plötzlich und zog einen Schein heraus. Der Shogu Tenshi wartete gerade noch, bis man ihnen im Nebengebäude ein Zimmer zugewiesen hatte und der Hausmeister die Tür von außen zuzog. Als sie endlich allein waren, wandte er sich böse an seinen Schützling. „Chippy!? Wo hast du die verdammte Brieftasche her!? Die war doch nicht deine!“ Das Rocker-Mädchen grinste. „Hab sie vorhin dieser Bann-Magie-Tante abgenommen, die uns die Mensa gezeigt hat.“ „Wieso klaust du Geldbörsen?“ „Weil ich das gut kann und mein Lebtag nichts anderes gelernt habe. Irgendwie muss man auf der Straße ja überleben.“ „Aber doch nicht in einer Schule! Du wirst hingehen und ihr das Ding zurückbringen! Hier, steck die 5'000 Yen wieder rein, die du rausgenommen hast!“, verlangte Loriel grenzhysterisch und hielt ihr entsprechend viel Geld aus seiner eigenen Tasche hin. Das war nicht zu fassen. „Und wenn du sowas nochmal machst, gibt es Ärger! Willst du gleich am ersten Tag schon wieder von der Schule fliegen?“ „Und wenn schon. Gibt ja noch mehr Schulen in Japan“, winkte sie sorglos ab. Sie nahm das Geld an und hatte im gleichen Moment schon entschieden, daß sie es natürlich nicht in die Geldbörse zurückstecken würde, bevor sie diese unauffällig irgendwo hinwarf. Natürlich musste sie das Portemonnaie wieder loswerden, damit es nicht bei ihr gefunden wurde. Aber sie war ja nicht so blöd, die Geldbörse persönlich abzugeben. Sie würde es aussehen lassen, als hätte die Material- und Lebensmittel-Logistikerin das Ding einfach verloren. Der Schutzengel atmete bewusst durch, um sich wieder einzukriegen. Er hätte Chippy lieber ins Kloster zu den Feuervögeln schicken sollen. Da wäre sie vielleicht besser aufgehoben gewesen, bei ihrem Sinn für Moral und Anstand. Knapp drei Monate später saß Loriel in der Bibliothek und schmökerte in aller Ruhe ein Buch über die Geschichte der Elementar-Magie, seiner großen Passion, auch wenn er selber keine beherrschte. Die Bibliothek dieser Schule war wirklich grandios. Hier gab es so viel zu lernen! Und er genoss es, mal für eine Weile seinem aufsässigen Schützling Chippy zu entgehen. Da diese Schule quasi ein geschützter Rahmen war, konnte er sie im Unterricht gut und gerne mal zwei oder drei Stunden alleine lassen. Über ihre mentale Verbindung bekam er ja trotzdem mit, ob bei ihr alles okay war. Im Gegensatz zu draußen musste er hier nicht jede Minute an ihr kleben. „Loriel?“, unterbrach einer der Schuldiener seinen Gedankengang. Der Shogu Tenshi ließ über dem Buch den Kopf hängen. „Was hat sie jetzt schon wieder angestellt?“, fragte er nur resignierend. Das war inzwischen nichts Neues mehr. Immer, wenn man nach ihm suchte, hatte Chippy wieder irgendwas verbockt. Vielleicht sollte er sie besser doch nicht alleine lassen, dachte er frustriert. Sachen zu klauen, sich mit anderen Schülern zu prügeln, Lehrer zu bevormunden und zu beleidigen, fiese Streiche zu spielen oder im Streit fremdes Eigentum kaputt zu machen, war bei diesem Mädchen eigentlich an der Tagesordnung. Es verging keine Woche, in der sie nicht bei der Schulleitung antanzen und sich eine Strafarbeit abholen musste. Honda, der Bibliothekar der Schule, trat mit etwas bedauerndem Gesicht an Loriel heran. Bedauernd, daß er den Schutzgeist mit einer schlechten Nachricht behelligen musste. Er wusste selber, wie machtlos Loriel gegenüber seinem Schützling war und wie sehr ihm das an die Substanz ging. „Chippy hat einer Lehrerin ein Fass Tinte über den Kopf und über alle Unterlagen geschüttet. Und die ist nicht amüsiert, das kann ich dir sagen.“ Loriel fuhr sich stöhnend mit der Hand durch das Gesicht. Was war nur los mit diesem elenden Teenager? Konnte man, auch wenn man ein Straßenkind war, tatsächlich derart missraten? „Ist gut, ich geh schon“, seufzte er lustlos. Also mal wieder ab zur Schulleitung und einen Anpfiff abholen. „Ich räum dein Buch für dich ins Regal zurück, okay?“ „Danke.“ „Sie wollte mir Schwachsinn beibringen!“, maulte Chippy uneinsichtig, als sie ein paar Minuten später vor dem stellvertretenden Schulleiter, Herrn Yamada, stand und zu dem Vorfall befragt wurde. „Chippy ...“, versuchte Loriel sie zu beschwichtigen. „Sie will ihren Schülern weismachen, magisch erzeugte Illusionen würden auf bestimmten Licht- und Farbspekten basieren und daher für jedes Wesen gleich aussehen. Das ist einfach Quatsch. Jedes Wesen hat anatomisch gesehen eine andere Farbzäpfchenverteilung im Auge! Jedes Wesen nimmt andere Spektren wahr. Also KANN eine Illusion, wenn sie auf Licht und Farbe basieren würde, gar nicht für jeden gleich aussehen. Habt ihr schonmal was von Tetrachromaten gehört?“ „Was!?“, machte Loriel überfordert und musste erstmal kurz seine Gedanken ordnen, um ihr folgen zu können. „Die haben eine zusätzliche Art Farbstäbchen im Auge. Die nehmen nicht nur Rot, Blau und Grün wahr, sondern können auch noch eine ganze Palette verschiedenster Gelb-Töne unterscheiden, die den meisten anderen Menschen verborgen bleiben! Oder Hunde und Katzen haben zum Beispiel nur zwei Farb-Rezeptoren im Auge, die nehmen gar nicht so viele Farben wahr wie wir Menschen.“ „Die Basis auf Licht- und Farbspekten ist aber nunmal die vorherrschende Theorie, weil es derzeit einfach keine plausiblere, wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, wie die Illusionen funktionieren.“ „Dann sollen sie´s nicht unterrichten, wenn sie´s nicht besser wissen!“ „Trotzdem. Das ist noch lange kein Grund, einer Professorin ein Fass Tinte über den Kopf zu schütten!“, meinte Loriel. „Ich lass mir hier keinen Stuss beibringen!“ „Wenn du mit der Schule fertig bist, kannst du dich ja der Forschung widmen und eine bessere Theorie erarbeiten, wie es funktionieren könnte.“ Yamada seufzte effektvoll hinter seinem Schreibtisch, um die Debatte zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit der beiden zurück zu bekommen. „Chippy, hör zu. Du bist eine unserer besten Schülerinnen. Du bist ein kluges Köpfchen, du kombinierst sehr gut, und du lernst wirklich erstaunlich schnell. Du hast das Zeug dazu, ein verdammt mächtiger Magier zu werden. Ich fände es schade, wenn wir uns von dir trennen müssten. Aber dein Verhalten hier an unserer Schule ist einfach untragbar. Es kann nicht sein, daß du ständig klaust, prügelst, Vandalismus betreibst und sogar unsere Lehrerschaft tätlich angehst.“ Chippy verschränkte schmollend die Arme und sah weg. „Wenn du dir noch eine Schote leistest, fliegst du. Hast du mich verstanden?“, wollte der stellvertretende Direktor in ruhigem, aber strengem Tonfall wissen. Das Mädchen zog nur eine Flunsch und sagte nichts. „Gut. Dann reiß dich jetzt bitte am Riemen. Das wäre für den Moment alles. Ich lass mir noch Strafarbeiten für dich einfallen. Ihr dürft gehen.“ „Ich ...“, wollte Chippy nochmal aufbegehren, aber Loriel packte sie im Genick und bugsierte sie derb aus dem Büro hinaus, bevor sie noch weiter mit dem Mann streiten konnte. Sie machte es ja immer schlimmer. „Lass mich los!“, verlangte das Mädchen sauer. „Chippy, wie soll das weitergehen?“, wollte Loriel draußen vor der Tür erstaunlich beherrscht von ihr wissen. „Warum machst du das? Was erhoffst du dir davon?“ „Die sollen erstmal Lehrer mit Ahnung einstellen, bevor sie die große Klappe haben und mich abstrafen!“ „Das ist doch gar nicht das Thema.“ „Ich hab die Nase voll. Ich werde abhauen“, stellte Chippy klar und stiefelte schlecht gelaunt los. „Da ich ja sowieso bald rausgeschmissen werde, kann ich auch gleich selber gehen. Ich breche diese dumme Schule hier ab.“ „Äh ... U-und was dann!?“, wollte Loriel entgeistert wissen. Damit hatte er nun nicht gerechnet. Der Stellvertretende hatte Recht. Chippy war wirklich ein cleveres Mädchen. So ein Wissen hätte Loriel dem ungebildeten Straßenkind selbst nicht zugetraut. Auf die Schnelle konnte er sich das nur so erklären, daß sie über das silberne Band intuitiv mit auf seine 500-jährige Lebenserfahrung zurückgreifen konnte. Diese mentale Verbindung zwischen einem Genius und seinem Schützling war immerhin für so manche Überraschung gut, auch wenn die Wechselwirkungen bei jedem Team ein wenig anders ausfielen. Aber er hatte schon gedacht, der Lernerfolg hier würde Chippy etwas zur Vernunft bringen und sie auf den richtigen Weg lotsen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)