Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 8: viele Wege --------------------- einige Jahre zuvor, Tokyo „Du bezahlst doch, oder?“, wollte Chippy wissen, als sie sich in einem Cafe auf einen Stuhl fallen ließ, und griff sich die Karte. „Ich hab wohl keine Wahl“, murmelte Loriel leise. Immerhin war er froh, daß sie tatsächlich des Lesens mächtig zu sein schien, wenn sie die Karte entziffern konnte. Verstohlen musterte er das Mädchen. Für eine 16-Jährige sah sie recht frühreif aus. Er hätte sie locker noch etwas älter geschätzt, jetzt bei Tageslicht betrachtet. Sie hatte lila Spitzen in ihre Haare gefärbt, die Frisur machte jedem Visual Kei Musiker Konkurrenz, und die Klamotten ... naja ... waren wahrscheinlich aus der Altkleider-Tonne. Die Vorliebe für Rocker-Outfits war ihr deutlich anzusehen. Aus dieser Sicht hatte er mit seinem neuen Schützling wenigstens schonmal eine einzige gemeinsame Basis, denn er war mit seinen tätowierten Armen, den langen, ungekämmten Sauerkraut-Haaren und den Lederklamotten ja auch in dieser Richtung unterwegs. „Also, wo wohnst du?“, versuchte er abermals ein vernünftiges Gespräch zu eröffnen. „Überall und nirgends. Manchmal in dem Abbruch-Haus, aus dem du mich gerade raus gezerrt hast, manchmal auf dem Sofa irgendeines Freundes, manchmal im Bahnhof. Hängt von Jahreszeit und Laune ab.“ „Dann schätze ich, daß du mit bei mir einziehen musst.“ „Hab ich nix gegen“, kommentierte sie salopp und klappte die Speisekarte wieder zu. Sie hatte sich wohl schon entschieden. „Aber glaub ja nicht, daß du alter, notgeiler Bock irgendwie mit mir rummachen kannst!“ Alter ... notgeiler ... Bock!? Bitte was!? Loriel war erschüttert. Er war ihr Schutzgeist. Er würde einen Teufel tun, sich an ihr zu vergreifen! „Du hast ein vollkommen falsches Bild von mir“, gab er gezwungen zurück. „Ach was! Ihr seid doch eh alle gleich.“ „Warum erzählst du mir nicht, ob dir in den letzten Tagen irgendwas Komisches passiert ist? Damit wir vielleicht mal raus bekommen, welche magische Begabung du hast?“ „Bei mir passieren ein Haufen komische Sachen“, winkte Chippy ab. „Was war das gestern Abend? Dieser ... Kampf ... oder was immer es war. Du warst in heller Panik, das habe ich deutlich gespürt.“ „Ja. Und du tauchst 12 Stunden zu spät auf, statt mich zu retten, Bierwampe. Ein toller Schutzengel bist du! Wenn man nicht alles selber macht ...“, hielt das Mädchen mit einem gehässigen Schmunzeln dagegen. Loriel atmete tief durch, um nichts Falsches zu sagen. Dieses Kind würde ihn noch fertig machen, wenn das so weiter ging. „Erzähl mir, was passiert ist“, verlangte er nur. „Lass mich das nochmal zusammenfassen. Du gibst dem Nudelverkäufer einen 1'000-Yen-Schein, wünschst dir, es wäre ein 10'000´er, und er hält es wirklich für einen 10'000´er? Und du wirst von jemandem angegriffen, wünschst dir, ein Hund möge dich retten, und dann steht plötzlich wirklich ein Hund da?“ „Zufall, ganz einfach“, behauptete Chippy. Der Shogu Tenshi schüttelte den Kopf. „Nein. Du scheinst mir ein Illusionist zu sein. Du kannst anderen Leuten Dinge vorgaukeln, die gar nicht da sind.“ „Du meinst, ich könnte mir wünschen, du wärst wieder weg?“ Schmeichelhafter Wunsch, dachte Loriel still zähneknirschend. „Du kannst die Illusion erzeugen, ich sei weg. Dann hört und sieht mich außer dir keiner mehr, zumindest vorübergehend. Aber du kannst mich nicht wirklich verschwinden lassen. Und du kannst dich auch nicht selber verarschen. Auf dich selber haben deine Illusionen keine Wirkung. Bis du so eine Illusion, die du gestern in Not und Panik erzeugt hast, bewusst und gezielt bewerkstelligen kannst, ist es allerdings ein langer Weg.“ Eine Kellnerin kam an den Tisch und unterbrach die beiden, um die Bestellung aufzunehmen. Chippy gönnte sich ungeniert den größten Eisbecher, zwei Stücken Kuchen, eine Kanne Tee und eine Obstschale. Ihr neuer Schutzengel bezahlte ja ab jetzt alles. Immerhin ein Vorteil. Vielleicht war es ja doch nicht das Schlechteste, ihn jetzt an der Backe zu haben. „Was ich damit sagen will ...“, fuhr Loriel fort, nachdem die Kellnerin wieder gegangen war und er ans Thema anknüpfen konnte. „Du solltest eine Ausbildung machen und deine magische Begabung ordentlich zu kontrollieren lernen.“ „Und wo macht man solche Ausbildungen? Ich bin noch nie mit Magie in Berührung gekommen. Du bist das erste nicht menschliche Wesen, das ich je gesehen habe. Und Magier sind selten, soweit ich weiß.“ „Nicht ganz so selten wie sie immer tun. Die meisten Magi und Genii gehen nur nicht damit hausieren, was sie sind. In Japan gibt es mehr oder weniger geheime Gruppen von magisch begabten Leuten, sowohl Menschen als auch Genii. Innerhalb der magischen Welt sind sie bekannt, aber normal-sterbliche Menschen haben in der Regel noch nicht davon gehört. Diese Orden bleiben gern unter sich. Aber man wird dich dort sicher aufnehmen und dich ausbilden.“ Chippy nickte interessiert. „Erzähl mir mehr davon!“ „Nun ja, es gibt drei nennenswerte Bildungseinrichtungen für Magie in Japan, die als Ersatzschulen staatlich anerkannt sind. Die Meister der Nord-Schule, oder Drachen-Schule, wie sie sich selbst nennen, haben sich vorrangig der trockenen Theorie verschrieben. Es gibt eine Menge schlaue Köpfe da, dort sind alle wie wild am Studieren und Forschen und Lernen. Dann gibt es die Ost-Schule unter dem Banner des Tigers. Die sind militärisch strukturiert und mehr so hau-drauf-Typen. Die arbeiten daran, ihre Magie kampftauglich zu machen und möglichst große Krieger zu werden. Im Prinzip ist das eine Kampfschule. Aber die nehmen eigentlich nur Genii als Schüler auf. Ich glaube nicht, daß du als Mensch dort überhaupt angenommen wird. Und dann wäre da noch die Süd-Schule, die schon seit Generationen vom Klan der Feuervögel betrieben wird. Die haben was von einer Sekte, wenn du mich fragst. Ich weiß nicht genau wie, aber die haben´s irgendwie mit der Religion und der Ethik. Die leben in ihrem Internat wie in einem Kloster und versuchen moralisch einwandfrei zu werden und ihren Seelenfrieden zu finden. Moral-Prediger, um es auf den Punkt zu bringen. Entsprechend wenig Schüler haben die, aber die sind dafür absolute Elite.“ Loriel machte eine Sprechpause und ließ ihr Zeit, das zu verdauen. „Also ich würde dir die Nord-Schule nahe legen“, fügte er letztlich an. „Da du von Magie noch keinerlei Ahnung hast, sollte dir das viele Theorie- und Hintergrundwissen sehr nützlich sein.“ „Warte, warte, Bierwampe!“, hielt Chippy ihn auf. „Was ist mit dem Westen? Gibt es im Westen keinen Schule?“ „Inzwischen nicht mehr, nein. Zumindest nicht in Japan. Bis vor einigen Jahrzehnten hat es mal eine dubiose Vereinigung namens 'Bruderschaft des Bären' gegeben, die quasi die magisch begabte Bevölkerung im ganzen Westen organisiert und verwaltet haben. Sie wollten den Magi und Genii, die ja weltweit eine totale Minderheit sind, mehr Rechte und Bedeutung einräumen. Alles in allem waren sie also eine politische Gruppierung. Nach einigen internen Streitigkeiten und mehreren Führungswechseln wurden die im Laufe der Zeit komplett auf´s Festland verdrängt. Aber was die Bären überhaupt so richtig gemacht haben, weiß eh keiner. Die waren immer recht zwielichtig, wenn du mich fragst. Sie wollten auch Schulen eröffnen, aber dazu kamen sie hier in Japan nicht mehr. Ich glaube, drüben in China haben sie inzwischen zwei.“ Chippy überlegte. „Die Magie-Schulen werden also alle privat betrieben, von irgendwelchen mehr oder weniger geschlossenen Gruppierungen, Orden, Familien, oder wie auch immer.“ „Nicht alle“, quasselte Loriel dazwischen. „Es gibt wie gesagt auch staatliche Schulen für Magie. Aber die taugen nichts. Von denen würde ich dir abraten.“ „Muss man unbedingt dieser jeweiligen Gruppierung angehören, um auf deren Schule gehen zu können?“ „Nein, musst du nicht. Die meisten, magisch begabten Wesen wollen das auch gar nicht. Der Großteil ist frei und ungezwungen und macht sein eigenes Ding. Und zwei der drei Kollektive nehmen neue Mitglieder auch nur unter strengsten Auflagen auf. Dafür muss man diverse Prüfungen bestehen. Ich weiß nicht, ob man angefangen hat, eigene Schulen zu betreiben, weil die staatlichen Schulen für Magie für die Tonne sind, oder ob die staatlichen Schulen nicht reformiert und verbessert werden, weil es ja sowieso die viel besseren, privat geführten Schulen dafür gibt. Jedenfalls kümmert man sich nicht sonderlich um die staatlichen, weil sie nicht konkurrenzfähig sind.“ „Aber wer finanziert diese freien Schulen denn dann?“ „Oh, die haben Gönner, glaub mir“, lächelte Loriel. Chippy lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dabei sah sie sich ungeduldig nach der Kellnerin um. Sie wollte wohl endlich ihre bestellten Sachen haben. „Woher weißt du das eigentlich alles?“ „Oh, ich bin alt“, schmunzelte der Schutzengel. „Ich bin viel rumgekommen und habe eine Menge gesehen und gehört.“ „Gut, Bierwampe, dann lass uns in den Norden gehen!“, entschied sie mit einem einverstandenen Nicken. Loriel verdrehte die Augen. „Du könntest dir echt mal einen anderen Spitznamen für mich einfallen lassen, Kind.“ Das Rocker-Mädchen winkte achtlos ab. „Ich mag dich nicht. Du bist alt und dick und hässlich. Und mich nervt es jetzt schon, dich für den Rest meines Lebens als Aufpasser an der Backe zu haben. Und da werde ich auch keinen Hehl draus machen, nur um dir einen Gefallen zu tun.“ 'Wie schön, daß wir uns da einig sind ...', dachte Loriel still, sagte das aber nicht laut. Dieses Gör nervte ihn nicht minder, und er war ebenfalls alles andere als begeistert davon, sie als Schützling zu haben. Nur war er in der schlechteren Position, um seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. „Erzähl doch mal, was du eigentlich so drauf hast“, schlug Chippy vor. „Kannst du überhaupt irgendwas, wenn du dich schon als Schutzengel aufspielst?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)