Verborgen in 221b von lupele ================================================================================ Kapitel 5: Holmes ----------------- Er ist überall. Meine Gedanken zu bündeln, das ist etwas, was mir momentan schwerfällt. Sie streuen umher, in alle erdenklichen Richtungen, verknüpfen sich und lösen sich wieder. Unbändig beschreiten sie wirre Pfade. Enden tun sie allesamt beim selben Fixpunkt, bei Watson. Nein, ich verschmähe die Feststellung nicht. Nicht mehr. Ich kann sie nicht mehr leugnen, sämtliche Indizien, die mir vorliegen, untermalen den Fakt. Da ist dieser Mann, dessen sanfte Stärke ihre Bahnen zieht. Länger und weiter, bis zur hintersten meiner Zweifel. Er kratzt an meiner Funktionalität, hilft mir, sie einzuordnen oder auszuräumen, um sich selbst in Form neuer Impulse hinein zu säen. Er ist so tief verwurzelt, dass er mich fühlen kann, wie ich ihn lesen. Als würden wir in des anderen Körper stecken, die sich so sehr ähneln, dass sich anzunähern unter Strafe verboten ist- und die gleichzeitig grundverschieden sind. Der Homo sapiens in seiner Spezies ist das vorhersagbarste und doch diffizilste, das mir je begegnet ist. Es war zu eng für uns beide, dieses Zugabteil, eines jener kleinen Abgeschiedenheiten, in dem locker sechs Personen Platz finden. Während wir in unser altes Leben, darüber hinaus in eine neue Lebensführung transportiert wurden, fiel unsere Aufmerksamkeit auf ein eigentümliches Gepäckstück, welches enormen Raum einforderte. Man konnte es nicht sehen, sein Ballast wurde blindlings schwer und schwerer. Mit jeder Stunde, in der sich ihm neue Komplikationen hinzufügten. Aktiv zu werden hatte gar nicht in meiner Absicht gestanden, als die gefährliche Mischung aus Verwirrung und Unwohlsein dazu führte, diese rätselhafte Bürde anzugehen, ihre Naht zu Bruch zu bringen. Es war wohl aber an der Zeit, uns zu befreien, von einer Last, die wir gemeinsam bis hierher geschleppt hatten, von der wir wussten, was sie wog und wie sie sich anfühlte und die doch noch keine Bezeichnung bekommen hatte. Weil wir uns beide davor fürchteten. Ich hatte diverse Bemerkungen über Hampersons mögliches Tatmotiv und Familienbunde fallen lassen und mich im Zuge dessen leichtfertig zu einer angrenzenden Thematik geäußert: “Ich muss gestehen, die großen Geheimnisse der menschlichen Natur zu knacken, sind doch die reizbarsten. Sie werden wohl noch für geraume Zeit die langwierigsten sein.” Wie tölpelhaft von mir, das war unbedacht! Kaum war die Aussage von mir getroffen worden, bis ich mir auf die Zunge und begann damit, sehnlichst auf das Eintreten des Zugpersonals zu lauschen. Die Fixierung auf die Kinnlinie meines Reisegefährten hätte nicht zu Lasten meiner Konzentration gehen dürfen, rügte ich mich. Was, wenn Watson sie als meinen Kommentar zu jener Erinnerung interpretierte, die mich soeben befallen hatte, seine zögerliche Gebärde auf dem Felsen, die mir von unterdrückten Ambitionen erzählt hatte? Was, wenn er sie als Einladung verstehen würde, ein Gespräch über unser Miteinander zu führen und gewissen, schweigsam von uns kommentierten, Gemütsregungen aus den Vortagen nun verbalem Ausdruck zu verleihen? Ich konnte Hinweise zu allen erdenklichen Problemlagen aufspüren, aber ich tat mich keineswegs leicht damit, meine eigene Akzeptanz zu finden, dass besagte Vorfälle unbelastet von Bezügen zu unserer nahen Verbindung gewesen sein sollten. Ich arbeitete mich noch zu einer Interpretation vor, zu meiner stillen Interpretation. Die nun eigens verschuldete Atmosphäre aus verdichtenden Andeutungen und versehentlich freigelegten Bezugnahmen auf ihn und mich, kam mir dabei voreilig in die Quere. Es fiel mir zusehends schwerer, das alles auszuhalten. Ihm musste es genauso gehen wie mir. Wenn jemand geschickt darin war, seine eigenen Irritationen über unser enger werdendes Bündnis zu vertuschen, dann sicher der langjährige Partner eines Detektivs. Er war nur nicht geschickt genug. Ich hatte sie registriert, versucht auszulegen und war unter der heimlichen Beschäftigung damit zur Identifizierung meiner eigenen Verwirrung gelangt. Inzwischen sah ich mich gezwungen, den Tatsachen ins Auge zu blicken: Die ständige Nähe zwischen uns manifestierte sich an allen Ecken und Enden. Partiell bedrohlich, fing diese Ausweitung unseres altgewachsenen Systems an, leichte Beklemmungen in mir auszulösen. Eilig schob ich das Fenster hoch. “Holmes. Da draußen herrschen arktische Temperaturen!” Mein Gegenüber sah mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Ich nickte, drei Sekunden später war das Fenster zu. Nicht lange und ich erwischte mich dabei, das Spiel an der Schiebetür zu wiederholen. Ich stand zwischen Gang und Abteil und wusste weder ein noch aus. Eine Hand, Watsons Hand, legte sich von hinten auf meine Schulter, zog mich zurück, schob die Glastür in ihre vorherige Stellung und mich in meinen Sitz. Er setzte sich gegenüber, rutschte nach vorn, bis unsere Knie sich fast berührten und beugte sich vor, so dass ich unmissverständlich zum Objekt seiner diagnostischen Beurteilung wurde. Der Gegenstand meines eigenen Interesses war meine staubtrocken gewordene Zunge, die mit einem Mal an meinem Gaumen zu kleben schien. Watson begann damit, eingehend mein Gesicht zu betrachten. Ich war versucht, ihn zu fragen, was er darin Interessantes zu finden gedachte. Ein Wortschwall aus Abwehr und Empörung wollte aus mir losbrechen, um diesem Etwas eine Begrifflichkeit zu verpassen, mich aus diesem diffusen Unbehagen zu befreien und ad hoc in eine vertraute Form zurückzubringen: auf den altverträglichen Abstand. Ich ließ es bleiben, Mund und Glieder zwangen mich auszuharren, der bohrenden Betrachtung standzuhalten und Watson gab sich schweigsam. Ich konnte mich nicht äußern. Statt mich anders hinzusetzen, musste ich dem lähmenden Gefühl nachgeben. Statt zu sprechen, konnte ich nur wie hypnotisiert zurückstarren. Er sah so anders aus. War da schon immer diese kleine Falte auf seiner Stirn? Woher kam auf einmal dieses Blitzen in seinen Pupillen? Wer war dieser Freund überhaupt? Unsere Blicke trafen sich und begannen, eigenmächtig Informationen auszutauschen. Ich öffnete den Mund. Watson bewegte seinen Kopf, zweimal von rechts nach links. Ich schloss den Mund. Watson bewegte seinen Kopf, zweimal von oben nach unten. Es gibt Leute, auf die üben technische Details von Eisenbahnen und die Eindrücke, die man während ihres Einsatzes auf Schienen gewinnt, eine Faszination aus. Für andere ist das Zugfahren Mittel zum Zweck. Bei mir war es ein wenig von Beidem, als wir uns aus logistischer Notwendigkeit heraus frontal konfrontiert sahen. Ungewohnt innig. Ungewohnt fremd. Die Geschehnisse während der Zugfahrt kamen dem eben noch vorherrschenden Fluchtimpuls auf ihre Art mit Hilfe zuwege. Ihm nachzugeben, war mir nicht möglich. Stattdessen konnte ich nur noch etwas Neuem, Eintritt in mein Empfinden gewähren. Etwas, wovon die Beklemmung alsbald überdeckt wurde. Etwas weitaus komplexeres als eine zwanglose Unterhaltung während einer Reise auf Rädern hatte sich uns gezeigt, eine aus der Faszination geborene Neugier, gekoppelt an eine aus der Neugier geborene Faszination war der ungebremsten Auseinandersetzung freigegeben worden. Es öffnete sich das Tor, an das Fragmente unserer Körper- und Gebrauchssprache schon länger geklopft hatten. Der Weg zu neuen, ehrlichen Formulierungen war frei und wir sahen uns erstmalig in der Situation, dem anderen die Klinke in die Hand zu geben, um ihm die Sicht auf die eigene Strecke zu erlauben und die Mitnahme anzubieten. Schließlich haben wir es zurück nach London geschafft. Wir haben die Route, ein gutes Stück weg von klar umrissenen physischen Leiden, dafür aber hin zu nicht greifbaren psychischen, unter der Bravour einer letztendlich nicht wirklich zur Sprache gebrachten Kernproblematik absolviert. Wir waren noch vorsichtig, zu vorsichtig, um so bald schon etwas Endgültiges, wie zu Gehör gebrachte Worte, über das, was wir gespürt hatten, sprechen zu lassen. Nunmehr nicht ganz ungelegen, wurde uns die abzuschließende Aufgabe zuteil, im Yard in traditionelle Muster zurückzufallen und zunächst der Auflösung des Verbrechens zu widmen. Ich stand mit Watson im Büro und faselte meine Ergebnisse herunter, aber ich war nicht so einfältig zu glauben, er hätte meine Bemerkung im Zug überhört, sie für allgemeines Geplauder gehalten. Nicht, nachdem er mich mit seinem Kopfnicken angewiesen hatte, das Unaufschiebbare zu akzeptieren: die Thematik zu thematisieren. Bis zu Hause bangte und hoffte ich tatsächlich gleichermaßen, dass er hellhörig geworden war. Dann leitete ich mir, mangels Kenntnisstand, meine eigene Ansicht her: Er hatte sich direkt angesprochen gefühlt und wollte Klärung. Warum auch Ruhe geben? So war Watson nicht. Es hat ihn gewurmt. Ganze drei Nächte, in denen er auf und ab lief, nicht ein einziger Abend, den er in der Baker Street verbrachte. Er ist durch feuchte Gassen geirrt, es war nicht sonderlich herausfordernd, die Handvoll Gastgewerbe zu benennen, die er garantiert betreten hatte. Die Hosentaschen irgendwann leer und den Kopf genauso voll wie vorher. Mittlerweile habe ich ihn aussprechen gehört, was er für angebracht hielt: “Wir müssen darüber reden!” Bereits zuvor hatte ich selbigen Sinngehalt vernommen, aus seiner offenen Gestik, aus seiner versteckten Gestik. In allen Gebärden hatte er gesteckt. Artikuliert hatte mein Freund sich kein einziges Mal. Und so redeten wir. Ich war damit beschäftigt, alten Tabak aus meiner ältesten Pfeife auf dem Kaminsims auszubreiten, um mich im Laufe des Tages der mikroskopischen Untersuchung der getrockneten Restbestände zu widmen. Viel mehr eigentlich, um mich mit irgendeiner Sache zu befassen, die mich fesseln konnte. Die mich nicht herausforderte, das anstrengende Schweigen zu überhören, in dem wir seit vierundsechzig Stunden mehr oder weniger festhingen, das künstliche Ignorieren, das uns zur Unterhaltungskultur geworden war. Feste Schritte näherten sich hinter meinem Rücken, kamen unerwarteterweise dichter und wurden lauter. “Ich muss es aus Ihrem Mund hören!” Die feste Stimme, die dazu gehörte, ließ mich herumfahren. “Sagen Sie mir alles! Jetzt! Ihre ganze verdammte Ansicht dazu, dass ich mich lächerlich gemacht habe. Verschonen Sie mich nicht und glauben Sie bloß nicht, dass ich nicht in der Lage bin, Ihre bissigen Kommentare einzuordnen, in eine hochmütige Belustigung über niedere menschliche Befindlichkeiten.” Schock und Entsetzen umklammerten mich. Das war es absolut nicht, was ich glaubte, was ich glaube. Die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr weiß, woran ich glauben soll. Mein einstiges Gefüge aus fest in mir verankerten Grundsätzen löst sich immer weiter auf, seit sich ein Messer darin gedreht hat. Ganz gemächlich hat es seine Spur gezogen, immer weiter, immer dicht an Watsons Handlungen entlang und immer noch, als die Klinge schon längst nicht mehr in mir steckte. Wie ein riesiger Splitter, unnachgiebig hindurch gebohrt, bis am Ende eine offene Wunde zurückgeblieben ist, hitzig und unbetäubt, deren Blutung sich einfach nicht stillen lässt Sie zieht sich von meiner Mitte bis zu meinem Kopf. “Was genau gedenken Sie, mir mit diesem unangebrachten Vorwurf zu entlocken?”, fragte ich. “Ich gedenke,…unangebracht?” Mein aufgebrachter Freund geriet ins Stottern. Aber er hatte wohl bloß Anlauf genommen, denn er kam bald auf den Punkt. “Strafen Sie mich Lügen, Holmes?” ”Gewiss.” “Was ist das hier? Was war das auf der Rückfahrt?” “Ich weiß es nicht”, sagte ich resigniert und senkte den Kopf. Nur weil ich gewöhnlich keine Reaktionen auf Emotionen zeigte, hieß das nicht, dass ich keine kannte, keine hatte. Es waren zu viele geworden. Watson war das im Laufe der Zeit sichtbar geworden. Bis dahin war ich mir schon vor unserer Rehabilitationsfahrt im Klaren. Trotzdem ist er geblieben. Aus dieser Erkenntnis heraus blieb er wohl auch in diesem Moment. “Wenn das neulich keine Erprobung meiner Toleranz war, müssen wir andere Hintergründe für definitorische Unklarheiten in Erwägung ziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das sehen wollen.” “Wir? Watson! Wenn, dann sind seit jeher Sie derjenige, der solche Dinge erklärbar machen kann, Worte kennt für schwebende Zustandsbeschreibungen zwischen Himmel und Erde, die sich meiner Erfahrung größtenteils entziehen.” “Zwischen Mann und Frau, ja, aber nicht…” Er hielt inne. “Ich weiß nicht, wo wir angelangt sind…“ Schlagartig nahm ich mich zurück, weil ich zu freizügig gewesen war und fühlte mich sofort wieder erschöpft. “Sind Sie der Meinung, dass die Zwischenfälle im Cottage gar nicht dafür gedacht waren, im Zug Ihrem Sarkasmus zum Opfer zu fallen?” Er trat näher an mich heran. Ich konnte meinem eigenen leichten Unbehagen nachspüren. Seine Fragen klangen nicht seicht. Nur noch hart und fordernd. “Verhält es sich mit Ihren verqueren Zugängen zu sich selbst etwa so wie mit meinen,...” “Das kommt darauf an…”, unterbrach ich ihn. Leichtes Frösteln ergriff Besitz von mir. “…den konfusen Gefühlen eines Normalsterblichen für seinen unersetzbaren Freund!” Die Verblüffung, dass er die Regsamkeit seines Gefühlserlebens so klar zuordnete und mehr noch, sie hinausposaunte, muss mir ins Gesicht geschrieben gewesen sein. “Ach, gucken Sie mich nicht so an, wir diskutieren hier Mysterien, die sich Ihrer feinsinnigen Beobachtungsgabe doch schon lange vor mir gezeigt haben müssen!” Wenn mir das kraftvolle Sprechen noch ab und an schwerfällt, ob aus Gründen schwächelnder Konstitution oder Bedrängnis, beschränke ich mich darauf, kurze Floskeln von mir zu geben, genau genommen gleichen sie dann wohl einem Hauchen. Wenn mir von der Person meines größten Vertrauens, die sich angriffslustig gibt, obwohl uns beiden klar ist, dass die Ursache für dieses Auftreten keinesfalls in einer Bösartigkeit begründet liegt, wuchtig Konfrontationen entgegen geschmettert werden, kommt es vor, dass sich meine Verwunderung in der auf ein Minimum reduzierten Lautstärke meiner Antwort niederschlägt. “Seien Sie versichert, genau das meine ich.” Er drehte sich um und ließ mich stehen. Seit diesem Tag ist nichts mehr wie es war. Ich muss erfassen, was wir uns in dieser Unterredung eingestanden haben und dazu muss ich sie ergründen. Unaufhörlich frage ich mich, was meiner Betrachtung und Kontemplation entgangen ist, welche Situation diese problembehaftete Beziehung ins Leben gerufen hat, wo vorher nur freundschaftliche Absichten vorherrschten. Unweigerlich rückt eine Überlegung in den Vordergrund: War da tatsächlich etwas im hohen Norden, in der nackten Wirklichkeit des urgewaltigen Schottands, das dazu geführt hat, dass er auf meine Bemerkung hin so explodiert ist? Ich muss tiefer in mich hineinhorchen lernen. Als mein ganzer Körper durch die Missstände in diesen elenden Zustand geraten war, so zerstört, dass nur das Nötigste realisiert wurde, weil mein Kopf nicht imstande war, etwas anderem die Aufmerksamkeit zu widmen, als der Vorbereitung auf die nächste Welle von Schmerzen oder der letzten nicht zu erliegen, spürte ich nicht nichts. Watson war mein ständiger Lotse, ein Teil von mir registrierte, wenn er irgendwo da draußen außerhalb des Bereiches auftauchte, auf den ich mich fixieren konnte und wie er immerzu irgendetwas Besänftigendes säuselte, mir Mut zusprach. All die schleppend verstreichende Zeit lang, bis ich unter seiner Anleitung endlich wieder Herr meiner Kräfte und Gedanken wurde. Weitere Erinnerungen fehlen mir. Ich habe Lücken. Und ich habe niemanden, der sie mir objektiv auffüllen wird. Zumindest das Wissen um zwei Episoden ist mir aber geschenkt worden: Meine Beine hatten mir einmal mehr ihren Dienst versagt. So kauerte ich auf der Ottomane, krank vor Krampf und Kummer. Meine Augen hatten das Zimmer noch nicht abgesucht, da sah ich ihn bereits, meinen wohlvertrauten Freund- und ich sah ihm einen Moment lang zu. Wie er mit wenigen Bewegungen, die eine gemeinhin vorhandene Zielsicherheit vermissen ließen, seine Tasche einräumte, Pinzetten und Kompressen sortierte. Ich sah ihn in einem anderen Licht damals, jede seiner Gesten war zögerlicher geworden, als noch am Tag zuvor. Als hätte er sich selbst auferlegt, sich keinen Zwängen von Uhrzeiten, Tag- und Nachtrhythmen mehr zu unterwerfen. Als er fertig wurde, sich niederließ und in alter Routine meinen Puls prüfte, war er nicht voll von den üblichen Mahnungen, sondern verbreitete eine innere Ruhe, in der ich mich getrost gebettet sehen und er überdenken konnte, was als nächstes nötig sei. In der völligen Unaufgeregtheit, nach der zu handeln ihm seine Professur und seine Wesensart erlaubten, bekam ich das Gefühl einer zeitlosen Sicherheit vermittelt, als sei sämtlicher Druck von meiner Brust genommen worden, lediglich die Lider wurden wieder schwer. Ich meine, in dem Moment regte sich etwas in mir. Wenn ich jetzt an seinen Ausbruch denke, bei dem er Dinge zur Sprache brachte, die ihn vielleicht damals schon beschäftigten, stelle ich ihn in Relation. Seine Impulsivität mutet um Vieles milder an, wenn sie unter dem Ausdruck seiner selbstgesetzten Priorität betrachtet wird. Einfach da zu sein, war sein Bestreben, aber sicher nicht halb so leicht, wie es klingt. Einmal mehr streckte sich sein Arm aus, griff nach der Decke und ich merkte, wie er sie mir bis zum Schlüsselbein zog, soweit eine ihm zur Gewohnheit gewordene Geste. Seine linke Hand jedoch zog sich nicht nach altem Brauch zurück, sondern verweilte noch für fünf Sekunden. Er ließ die Hand unkommentiert auf mir liegen und ich ließ sie ihn liegen lassen. Ich nahm an, dass er mich zurück im Land der Träume glaubte und tat nichts, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Tatsächlich war es das Land der Verwirrung, in dem ich mich befand. Durchzogen von Schwere und Wärme war es eine Hand, die diesen Griff schon etliche Male getätigt hatte. Aber es war eine andere Art von Berührung, eine, die mein Interesse weckte. Hautschicht auf Hautschicht, abgetrennt nur durch den dünnen Stoff der Decke, war die Wärme alles andere als unangenehm. Leicht irritiert wie ich war, wagte ich nicht, die Augen aufzuschlagen und seinen Gesichtsausdruck mit meinem Befinden abzugleichen, eine andere Absicht als die der Zweckmäßigkeit zu erkunden. Denn unweigerlich hätte ich eine Aussage darin gelesen, auf die ich hätte reagieren müssen. Als ich mir endlich zutraute, meine Verstörung zu überspielen, öffnete ich sie und richtete sie direkt auf die Kaminuhr. Ich versuchte, die Zeiger Kraft meiner Willensstärke zum Stillstand zu bezwingen. Das war ebenso aussichtslos, wie die Illusion, mich dadurch ablenken zu können. Konträr zu diesen ruhe getränkten Minuten schloss sich bald darauf an, was mir nur als Ausdruck seiner eigenen Zerrissenheit zu deuten bleibt, welche Watsons Weg in das neue Territorium ebnet. “Tun Sie nicht so!”, fauchte er mich ein paar Stunden später an. “Ihr Körper kann sich nicht selbst reparieren, also laufen Sie nicht so viel im Cottage umher!” Mein lieber Doktor war schon immer der Meinung, dass ich einen nachlässigen Umgang mit meiner Gesundheit pflegte. “Kein Grund, zu dramatisieren.” Als ich mich seinen medizinischen Auflagen widersetzte, weil ich mich ein wenig abzulenken und aufzuwärmen gedachte, wurde er über alle Maßen ungehalten, unterstellte mir, ich würde leichtsinnig mit meinem Leben hantieren, seine unermüdlichen Fürsorgen nicht länger ertragen und am Ende selbst mein körperliches Verrecken provozieren. “Dramatisieren? So bezeichnen Sie das alles?” Fuchsteufelswild sah er plötzlich aus, die Wangen rot vor Zorn baute er sich im Türrahmen auf. “Spielen Sie nicht mit mir, Mr. Sherlock Holmes! Nie mehr!” Erstaunt über dieses selten gezeigte Gesicht extremen Widerstreits ahnte ich bereits, wie mild ich mich vergleichsweise anhören würde, bevor ich den nächsten Ton herausbrachte und meine Annahme bestätigt sah. „Ich spiele nicht, habe nie gespielt“, sagte ich betroffen und noch leicht rau und hoffte inständig, ihn im Ausbruch seiner aufwallenden Emotionen zu beschwichtigen. Ich wollte seine alten Kopfschmerzen nicht heraufbeschwören, zerbrach mir allerdings meinen eigenen Kopf. Wie konnte er das nur denken? Glaubte er etwa, ich wüsste seinen Einsatz nicht zu schätzen? Es war mir genauso ernst, ihn in der Nähe zu wissen, wie ihm. Wir wären beide des anderen größter Verlust. Heute weiß ich, dass mehr dahinter steckte. Es war die blanke Angst, nicht nur seine an mich adressierte Wut, die er mir ab und an mit dem Vorwurf eines leichtsinnigen Patienten zuteilwerden ließ, sondern die Angst um etwas Größeres, vor etwas Größerem. Nachdem sich der im Haus aufgezogene Sturm in seiner anschließenden Gefühlsentladung gelegt hatte, rutschte ich an der Kaminleiste hinunter. Ich fühlte mich erschöpft von dieser Detonation an Eindrücken. Was pochte da so heftig? Mein Herzmuskel? Konnte er sich nicht einfach eintakten, anstatt so hemmungslos zu pulsieren? Ich landete auf dem kalten Dielenboden, blieb sitzen und fing an, die Astlöcher zu inspizieren. Kreisförmige Aussparungen, denen sicher nie ein Mensch besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sich unsymmetrisch einfügten, wo sie schon immer gewesen waren und als gegeben hingenommen wurden. Wären sie nicht da, wäre es seltsam. Dann würde etwas fehlen. So war es auch mit meinem alten Gefährten. Es dauerte nicht lange und ich spürte ihn neben mir, nahm leicht das Aroma des Essens wahr, das er vorhin für uns angerichtet hatte. Ich bildete mir ein, dass der Geruch aus seinem Haarschopf stieg und spürte die alte Ablehnung aufkommen, auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen. Schulter an Schulter kauerten wir am Boden und starrten selbigen an, während mein leerer Magen zu revoltieren anfing. Ich richtete meinen Blick auf und lenkte ihn auf mein Inneres, wo ich den Gedanken an die nächste Mahlzeit weit von mir schob, um Platz zu machen, für diesen neuen Klumpen, der dabei war, sich wie ein befremdliches Kribbeln, ein Flattern, auszubreiten. Seltsam. Aber durchaus nicht uninteressant, der näheren Analyse wert. Mir war nicht mehr kalt, obwohl mich das Flattern zunächst erstarren ließ wie einen Eiszapfen Es kam ein wohliges Brennen hinzu, das mich an den fiebrigen Wahn erinnerte. Aus der dunklen Verschleierung untergrabener Eindrücke empor zu einer hellen Wachheit, der erschreckenden Realität ausgeliefert. In diesen Stunden vereinbarten wir stumm, kommunizierten, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Mit keiner Silbe hätte der Schrecken über das was mit uns passierte, in Sätze gefasst werden können. Es war die Vereinigung unserer Seelen, das, was die Körper noch aussparten. Wir rangen beide um die Bewältigung dieser Erkenntnis, die uns zu erschlagen drohte, dann aber Milde walten ließ und uns nur in die Lähmung zog. Das sind die Bilder, die ich vor mir sehe, die nicht verblassen wollen. Rückblickend erkenne ich, was mir damals verwehrt geblieben ist, weil meine Wahrnehmung entweder zu benebelt war oder in dem Bemühen behaftet, Telegramme und Buchschriften auszuwerten. Beide Male hat Watson meines Erachtens recht eindeutig gehandelt. Ob willentlich oder nicht sei dahingestellt, heute kann ich sein Tun in den Kontext unserer Verstrickung einordnen. Auch mich muss ich als Gesamtperson hinein ordnen, die wenigen Teile von mir, die noch außen vor sind und sich ambivalent fühlen. Mich holt die mentale Wiederbelebung früherer Ereignisse ein, an ein ähnlich befremdliches Empfinden, welches mich in der Auseinandersetzung mit den Gefühlen um meine Hilflosigkeit schon einmal befallen hatte. Damals, nach dem Angriff auf ebenjenen Kompagnon, der sich unersetzbar gemacht hat. Der mir nicht nur mein Leben zurückgegeben hat, sondern mir auch seit jeher bei der Bewältigung assistiert. Und der sich immer weiter meinem Kern genähert hat, von deren Kompliziertheit er sich nie abschrecken ließ, sondern so lange seine schützende Hand darüber legte, bis er auf wundersame Weise weicher wurde. Aus Verbündeten wurde Verbundenheit. Nun fühle ich mich zweigeteilt. Entgegen meiner Befürchtung ist durch seine Hinwendung das Phänomen entstanden, dass ich doppelt so vielen Empfindungen nachspüre, wie zuvor. Auch den schillernden. Ich deduziere, dass seine Nerven seit Wochen blank liegen. Ich bin Schuld. In jeder Hinsicht. Und deshalb werden wir uns Zeit lassen. So wie wir Zeit und Mut und diese Kurreise gebraucht haben, zu unserem Eingeständnis zu finden, werden wir Zeit und Mut und vielleicht noch eine Reise brauchen, ein Einvernehmen über die Zukunft zu finden. Wenn nicht heute, dann morgen. Die Unsicherheit, die ich bei ihm sehe, wird überdeckt werden, jeder Tag spielt für uns. Langsam, ganz behutsam, versuchen wir beide, uns dem zu stellen, was der Wahnsinn um das Hamperson-Geblüt uns hinterlassen hat. Wovon es kein Zurück gibt. Bis dato observiere ich mich selbst. Ich muss mich erst anfreunden, mit der Vorstellung von einem neuen Freund. Mein alter bester Freund war mir immer genug. Ich habe keinen anderen Watson vermisst, bis zu dem Tag, an dem ich merkte, was mir gefehlt hat. Ich wollte es nicht wahrhaben, da war er bereits zur lebenden Perfektion für mich geworden. Der erste Schritt ist gesetzt. Ich bin nicht der Einzige, der darüber erschrocken ist. Der gute Doktor war schon immer vorsichtiger als ich, weniger wagemutig. Was ihn zurückhalten lässt, diese Angst vor der Angst, ein neues Uns zuzulassen, ist bei mir die Furcht vor mir selbst und lässt mich vorsichtiger agieren als gewöhnlich. Ich bin irritiert, aber mich treibt mein Wissensdurst, weiterzugehen. Er ist irritiert, aber ihn bremst seine Vernunft. Er wird lernen, das Widernatürliche in eine Beziehung mit natürlichem Empfinden zu integrieren, sein Weltbild zu korrigieren. Man könnte auch sagen, das Außergewöhnliche. Und damit bewegen wir uns einen Schritt in seine Richtung, denn das Außergewöhnliche, das Gefahrvolle war es seit jeher, was ihn gelockt hat. Und das lässt mich an ihn glauben, dass er es schaffen kann, sein Erlebnishunger den Kampf gegen seine Prinzipientreue eröffnen wird. So wie er immer an mich geglaubt hat, erst recht nach dem Angriff und wie er lange zuvor gelernt hat, meine Marotten auszuhalten. Es wird noch weitere Wagnisse brauchen, gemeinsame Fälle vielleicht, aber keiner wird uns mehr zu Fall bringen als dieser hier. Mein Freund ist auch ein Wettfreudiger. Ich bin ein Denker. Deshalb beziehe ich die These in meine Überlegungen ein, dass er mich einholen kann, dem Reiz als Erster erliegen. Und dann verwerfe ich sie, weil sie mich selbst noch ängstigt. So oder so kann ich ihn nicht zu mir ziehen. Erstens ist es zu früh, es ist mir recht, wenn auch mir noch Raum bleibt, mich mit mir zu arrangieren. Anderenfalls überschwemmt mich die Furcht. Wenn ich sie nicht im Zaum halten kann, löse ich mich auf. Ich muss erst ein Stück von mir wiederfinden, damit ich mich nicht verliere und mich stabilisieren, bevor ich mein neues altes Pendant dazu und für immer ganz in mir aufnehmen kann. Und zweites würden wir beide ins Stolpern geraten, wenn wir im Fußmaß des anderen liefen. Meine verlässliche Logik ist zum ersten Mal in meinem Leben ein Scherbenhaufen und legt mir Steine in den Weg, die ich nach und nach beseitigen muss, abtragen wie Schichten aus Scheu und Unwissen. Er muss selbst hindurchgehen. Denn wenn ich ihn ziehen würde, würde der Mann, der mir am teuersten ist, Schaden nehmen, sich schneiden an scharfen Splittern. Er muss seine eigene Schrittfolge setzen, ich muss nur dafür sorgen, dass er unversehrt bleibt. Meine Herleitung ergibt, dass eines Tages Bewegung reinkommen wird, zwangsläufig, das erfordern die Gesetzmäßigkeiten der Dynamik zwischen ihm und mir, davon bin ich überzeugt. So wie ich überzeugt davon bin, dass in die Entwicklung der photographischen Bildgebung Bewegung kommen wird, eine Patentierung von an Wände projizierten Lichtspielen, das ist der vorhersagbare Ablauf einer technischen Revolution. Erst jüngst haben wir darüber diskutiert, Watson wollte mir partout keinen Glauben schenken, dass sie sich reformieren wird. Jetzt ist er zwar hier, aber momentan ist er unerreichbar. Ich kann mit ihm diskutieren, worüber ich will, er hat immer seine eigenen Argumente. Ich kann ihm auch seine Bedenken über uns nicht nehmen und er kann das Auslöschen der meinen nicht beschleunigen. Irgendwann wird die glühende Hitze lange genug gebrodelt haben, um hervorzubrechen wie heiße Lava und aus dem Wunschdenken ein Stück Wirklichkeit zu formen. Manchmal brechen schon Funken durch. Dann gehen wir an unsere Grenzen, die nicht fest genug sind, für immer unerschütterlich aufrecht stehen zu bleiben. Gedanklich noch weg von hier, von den Zwängen und der Enge der Stadt, aber schon nah genug an unseren eigenen Grenzen, die das Nahtoderlebnis zum Einsturz gebracht hat, erahnen wir, was wir sehen werden. Die dunkelsten Ecken werden ausgeleuchtet und wir blicken auf das Wissen um die Gefahr, uns selbst weiter zu entdecken und dadurch entdeckt zu werden. Es wird nicht immer so beherrscht ablaufen, wie sich alles angebahnt hat. Wenn ich die Augen schließe, weil die grellen Funken mich blenden, fühle ich seinen festen Griff. Beide dieser kräftigen Hände, die zu Watson gehören spüre ich an meinem Kragen, der mit einem Mal schnürt, obwohl er geöffnet ist. Dann sehe ich, wie ich ihn energisch zurück drücke und höre uns all das hinausschreien, was die grottige Schlacht der Emotionen heraufbeschworen hat. Der Blick auf uns selbst ist ein anderer geworden. Wir sind beide die Verlierer unserer Autonomie, die uns immer unangreifbar schien, und haben doch so viel gewonnen. Soweit bin ich immerhin schon mit meinen Prüfungsvorgängen, weitere werde ich anstellen. Wir kennen Menschen, die uns begleitet haben, die mir meine Eindrücke relativieren helfen, ob ich sie frage oder nicht. Ich werde akribisch vorgehen, bei allen Recherchen, damit ich nicht merke, wie viel Zeit vergeht, während ich bei jedem Zeigerschlag der Uhr die Hoffnung hege, dass er sich zu mir gesellt. Bald. Wir werden einen Weg finden. Ich weiß noch nicht wie, aber ich sitze an einem Labyrinth aus Entwürfen und Theorien, die ich alle aufspare, damit wir sie abarbeiten können. Jede Stunde, die er bei mir sein wird, können wir damit verbringen, sie zu verwerfen, eine nach der anderen, bis sich die richtige aus der Reihe abhebt. Eine wird am Ende übrigbleiben, sage ich mir und ich würde es auch ihm so gerne sagen. Und ich bestärke mich selbst in dem Glauben, dass er nicht die Alternative wählt, weil er es nicht aushalten würde, mich ziehen zu lassen. Es würde ihn zerstören und all das, woraus er in den letzten Wochen seinen Lebensmut gezogen und wohinein er seine Energie gesteckt hat. Er wird es nicht müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)