Verborgen in 221b von lupele ================================================================================ Kapitel 1: Mrs. Hudson ---------------------- Ich habe es gewusst! Ich habe es immer gewusst! Und jetzt ist es offensichtlich. Meine beiden Mieter sind nicht mehr meine beiden Mieter. Die nicht! Sie summieren sich derzeit zu mehr als zu den zwei alleinstehenden Junggesellen, die sie bisher waren. Nun bilden die Gentlemen eine Einheit, ein Miteinander beim Offenlegen ihrer Empfindungen bezüglich der Qual ohneeinander oder der Entsagung voneinander. Der Horizont ist weiter geworden, als der, den der Doktor in seiner Veröffentlichung über den Fall der Himmelsrichtungen gesteckt hat. Nicht, dass es mich etwas angehen würde, oh nein. Meine Lippen sind versiegelt. Aber ich möchte betonen, ich habe es gewusst! Schon bevor die Niederschrift in Druck gegangen ist und ich sie gelesen habe. Meine Augen mögen ihre besten Zeiten hinter sich gelassen haben. Sie sind keiner glanzvollen Klarsicht mehr freigegeben, wie die hier herumliegenden Lupen. Eher wie andere, nennen wir sie `skurille Dinge`, die da im 1. Stock wie Reliquien gehalten werden und einer Politur in schändlicher Weise entbehren. Dennoch, wer so lange unter einem Dach lebt, muss nicht alles sehen, man entwickelt ein Gespür füreinander. Der kleine Teetisch steht jetzt woanders. Auch die Anordnung der Maskeradeartikel ist überhaupt erst eine Anordnung geworden, die grell-penetrante Schmiererei aus Tuben, die dem weiblichen Subjekt von der Straßenecke alle Ehre machen würden und der zerzauste Perückenschopf, einst das Besitztum einer Tänzerin aus sonstwas für einem verkommenen Varieté, liegen wohlsortiert in einem Schubfach. Ich habe den Plunder nicht zusammengeräumt, nichtmal anfassen würde ich… Aber was sagte ich gerade? Ja, richtig, wer so lange unter einem Dach mit einem Detektiv des Meisterklassenformats lebt, entwickelt ein Gefühl für die kleinen Bedeutsamkeiten in anderer Leute Leben. Für Wortgewandtheiten zwischen Mitbewohnern, die neuerdings tiefgreifender klingen, unterlegt mit Momentaufnahmen, die von mehr erzählen. Für das Streifen von Blicken, die eingefangen werden, gepaart mit dem kurzen Klopfen einer männlichen Schulter vielleicht, oder dem gegenseitigen zur Hand gehen beim Aufheben heruntergefallener Utensilien. Als der arme Doktor mitten in diesem Auftrag um die Hamperson-Familie angegriffen wurde und wir nicht daran zu denken wagten, dass es noch schlimmer kommen könnte, habe ich Mr. Holmes bei der Versorgung des Verletzten natürlich zugearbeitet. Aber Zweifel, dass er es ebenso gut allein geschafft hätte, seinen eigenen Arzt zu kurieren, hatte ich nicht eine Sekunde. Weil es ihm ein Bedürfnis war! Als die Tage grauer und grauer wurden, bis sie in einem tiefen Schwarz versanken, die Tragödie ihren Lauf nahm und durch den zweiten Angriff dann Mr. Holmes` Krankenbett beinahe zum Sterbebett wurde, wandte sich zwar das Blatt der hilfebedürftig gewordenen Person, zu der nun er selbst geworden war, nicht aber das der Intensität des Kümmerns. Mit einer Selbstverständlichkeit übernahm fortan der wiederhergestellte Doktor die komplizierte Begleitung eines Patienten, der schon immer mehr für ihn gewesen war und nun nach Leibeskräften vor seinen Augen ums Überleben kämpfte. Gegen die Stagnation antretend, forderte dieser Körper das Letzte von seinem behandelnden Arzt, aber dieser schien zu keinem Zeitpunkt in Frage zu stellen, wo sein Platz war. Er hatte seine liebe Not mit dieser Zeit der Sorgen und Unsicherheiten. Trotzdem wurde er nicht müde, seinen Übereifer auszuüben und nebenbei noch klebrige Textilien zu wechseln, aus Ampullen zu tränken und aufmunternde Worte zu setzen. Ich stand oft daneben und war nicht halb so handlungsfähig, denn ich steckte voller Angst und voll von Rührung, was die beiden vor meinen Augen schafften. Ich habe in meiner kleinen Küche gesessen und mir die Augen an einem Schürzenzipfel getrocknet. Hier unten ist mein Reich. Hier konnte ich das Gemüse schrubben und meine zu klein geratenen Hände dabei unziemliche Grobheit walten lassen und die düsternen Akzente meiner Befürchtungen mit den Kartoffelschalen entsorgen. Ich konnte den Gedanken an ein vorzeitiges Ableben meines exzentrischen, aber bemerkenswert einzigartigen, Untermieters nicht ertragen. Ich fühlte, wenn es tatsächlich dazu kommen würde, würde es nicht lange dauern und es müsste ein zweites Grab geschaufelt werden. Für seinen Retter, der ihn nicht retten konnte. Als es hier endlich wieder etwas munterer zuging, die beiden aus ihrem bezwingenden Geschundensein, das sie eingewickelt gehalten hatte wie ein Schnürband, erwachten, bekam ich etwas Irritierendes mit. Ich habe sie streiten gehört, meine Mieter, als ich mit einem Gehrock in der Hand den oberen Treppenabsatz erreichte: ”Was soll das schon bringen?“ So harsch wie Mr. Holmes den Doktor anfuhr, fürchtete ich, seine geistige Konstitution hätte schweren Schaden genommen. Oh je, was habe ich mir im ersten Moment Sorgen gemacht, das dieses Leiden nie ein Ende finden würde. Aber der weitere Verlauf ihrer Diskussion war schlußendlich gar nicht von zornerfüllten Segmenten unterlegt. Er bildete sich viel eher zu einem Fundament und schon der nächste Satz, den ich hörte, war aussagekräftig genug, meine Befürchtungen zu widerlegen: “Was immer Sie brauchen.” Trotz all der Herausforderungen an ihn und seine Geduld, ließ sich Dr. Watson nicht aus der Reserve locken. Er sagte nicht viel, aber doch alles in einer Atmosphäre von ruhevoller Eleganz, mit diesen bedachtsam und doch unangreifbar gesetzten Worten, die ihm zum Moralgedanken geworden waren. Zu unser beider Leidwesen war ihm früher oft widersprochen worden, wovon jetzt keine Rede mehr sein konnte. Nun wusste ich, sie hatten sich auf einer anderen Ebene eingependelt. Das sie nicht nur so dahingesagt gewesen waren, fand seine Bestätigung in einer der Episoden, die mich normalerweise zu beunruhigen pflegten, deren diesmalige Handhabung mich aber milde stimmte. Wiederholt war ich in jenen Tagen Zeuge folgender Szenerie geworden: Mein verletzter Mieter hatte die Beine um das untere Ende der zusammengerollten Decke gewickelt, seine schlanke Gestalt war darum gewunden, etwa wie eine Liane. Das obere Deckenende lag zwischen seinen Armen und das Gesamtwerk war ihm dabei dienlich, einen Gegendruck zu dem inneren Ziehen aufzubauen, das ihn permanent quälte. Sobald eine dieser Attacken vorüber war, ließ er sich zurückfallen und sperrte alles um sich herum aus, um in sich selbst zu neuer Kraft zu finden. Niemals hätte er sich und seinen Leib früher freiwilliger Schonung unterzogen, solange sein Hirn dabei noch funktionierte. Was habe ich immer geschimpft und gefleht! Das durchzusetzen, schaffte nur einer. Neuerdings, wie man festhalten muss. Und meinen störrischen Untermieter dazu in die Fremde zu verfrachten, auch. Mir gegenüber war nie die Rede davon, aber die letzte Instanz für die Entscheidung, die Kurfahrt in mein wunderbares Heimatland anzutreten, war das Wohl des Doktors selbst gewesen, auf den nun neuerlich mitgeguckt wurde. Und das war der springende Punkt! Eines verregneten Tages wurden sämtliche Bürden in Koffer verfrachtet und auf Reisen geschickt. Und mit ihnen diese zwei ausgedorbenen Körper, die sich immer mehr aufeinander einließen. Ich ließ sie nicht gerne ziehen. Als ich aber sah, wer zurück kam, sah ich zwei andere Männer, die etwas Besonderes durchlebt hatten, sich ihrer Haltung zueinander in anderer Weise sicher geworden waren. Da füllte sich mein altes Herz mit längst vergessenen Erinnerungen an stürmische Jugendtage und einen Verehrer, der mir damals den Hof und einen anderen Menschen aus mir gemacht hatte, weil er mein ganzes Seelenheil bedeutete. Als ich seinerzeit am Liebesquell getrunken hatte, war mein Glück auf den Gutwill der Feindeshand begrenzt gewesen und hat kein gutes Ende nehmen können. Von außen aufoptroierte Zwangsjacken der Standeszugehörigkeit hatten mein Herz zusammengeschnürt, bis es nicht mehr genug dagegen pumpen konnte und unter diesem Druck brechen musste. Herrje, was habe ich gelitten! Auch der Mann meiner Träume hatte diesen schelmigen Ausdruck, den die beiden da über mir sich teilen. Meistens ist es Mr. Holmes, der diesen Blick aufsetzt, wenn er etwas angestellt hat und überzogen Reue zu präsentieren sucht, so dass es schon wieder mitleiderregend wirkt, ich könnte so manches Mal weich werden. Man fühlt sich augenblicklich entwaffnet, aber man kann ihm nicht böse sein, und das geht nun schon gar nicht, wenn man sich voneinander angezogen fühlt. Letzten Monat war es. An einem Donnerstag, nein Freitag. Noch hatte sich der Tag nicht ganz verabschiedet, da habe ich sie wieder reden gehört, die Entbehrung jeder Normalität lag auch in diesem Gespräch. Abends, am Feuer, als schon nicht mehr mit einem Klienten oder Patienten zu rechnen war. Dafür aber mit meiner Anwesenheit in unmittelbarer Hörweite. Beim ersten Mal erschrak ich, als ich gewahr wurde, welch warmer Ausdruck in ihren Stimmen lag, welch freimütiger Anklang von Intimität. Ich versalzte das Hühnercurry, weil ich so damit beschäftigt war, eine Erklärung für eine Vorsicht zu finden, die ich vermisst hatte, weil sie nicht getroffen worden war, von dem hier wohnenden Künstler im Aufdecken vermeintlich unwichtiger Feinheiten. Die nicht vor mir verborgen gehalten wurde, hinter Schlüssellöchern und Türangeln, meinen Ohren doch hatte unmöglich zugetragen werden sollen und auf einmal so klar zur Schau gestellt wurde. Beim zweiten Mal erkannte ich eine Holmes´sche Absicht. Es war die Probe aufs Exempel, dass die Tür vom großen Zimmer nur angelehnt war, als man dahinter Dinge besprach, wie: „Vertrauen Sie mir, lieber Doktor! Alles andere wäre noch gleich mehr unserem Untergang geweiht, als dieses Unterdrücken zu Gunsten der Rechtssprechung.” „Es ist die Vergänglichkeit meiner eigenen Moral, die dahinter steht. Wer gibt uns Garantie, dass wir so ein despektierliches Leben führen können? Ein Wettlauf mit unseren Gefühlen und der Politik gegen Gleichheit.“ “Niemand guckt hinter unsere Mauern hier, wenn wir es nicht zulassen. Dieses Haus ist unsere Festung und ich werde Sie mit nichts als meinem Verstand sichern!” Mr. Holmes wollte es nicht verheimlichen. Entweder ich schluckte den Köder oder ich bereitete unserer Wohnsituation ein Ende. Als der Doktor noch haderte, hatte er bereits für sich beschlossen, keine Energie darauf zu verschwenden, sich hier, an seinem privatesten Zufluchtsort, zu verstellen. Ich werde nicht jünger. Die Vergänglichkeit des Lebens und die Konfrontation mit undefinierbaren Gestalten auf meiner Schwelle, hat mich ermuntert, in vieles Dubiose einen zweiten Blick zu investieren, anstatt es zu verurteilen- manch andere Dinge aber besser nicht zu hinterfragen. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Jeden Abend ziehe ich die schweren Vorhänge zu und erlaube mir stumm, diesen zwei sagenhaften Männern, die unsere Stadt, in der mein Haus steht, von gewalttätigen Schurken befreien, den in meiner Macht stehenden Schutz unter meinem Dach anzubieten. Und jeden Morgen, einen weiteren Tag der Unversehrtheit miteinander zu gönnen, sich darin fest zu verwurzeln, damit sie ihren Frieden mit ihrer neuen Thematik finden. Genauso, wie ich es meinen eigenen Söhnen wünschen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)