Ahnungslose Augenblicke von Varlet ================================================================================ Kapitel 5: Mord --------------- Pierce sah seinen Kollegen an. „Es wurde eine Leiche gefunden.“ Der FBI Agent steckte sein Handy in die Jackentasche und blickte ernst drein. Solche Botschaften übermittelten ungern. Und noch weniger mochte er es, wenn ein potentielles Familienmitglied dabei war, ehe sie genaue Angaben machen konnten. Unglücklicherweise war mit Agent Starling in manchen Fällen nicht gut Kirschen zu essen. Angela ließ ein Tablett mit vier, mit Kaffee gefüllten Tassen, einer Zuckerdose und einer Kanne Milch auf den Boden fallen. Das Porzellan zerbrach und die verschiedenen Flüssigkeiten vermischten sich mit dem Zucker und den Scherben. Ihre Gesichtsfarbe verschwand. „Jo…jodie…“ wisperte sie leise und rutschte nach unten auf den Boden. Agent Starling schluckte schwer. War sie tot? War seine kleine Jodie tot? Starling sah zu seiner Frau. Tränen bahnten sich ihren Weg aus ihren Augen und liefen an der Wange entlang. Er kniete sich hin und nahm sie in den Arm. „Schhh…alles gut…es wird…alles gut…“, sagte er leise. „Vielleicht ist sie es gar nicht…“, fügte er an. Wenn er ehrlich war, war er sich dem nicht ganz sicher. Eine Leiche war nie gut. Und wenn sie inmitten eines Falles auftauchte, erst recht nicht. Zudem redete ein anderer Agent viel zu offen darüber, sodass auf jeden Fall ein Zusammenhang bestand. Starling drückte seine Frau an sich und sah zu Pierce hoch. „Pierce? Ist es Jodie?“ „Die Identifizierung läuft noch“, antwortete der Agent. „Aber es ist eine weibliche Person, die in Zusammenhang mit Jodies Verschwinden stehen könnte?“, wollte Starling wissen. „Wir wissen es noch nicht. Die Leiche wurde erst vor einer Stunde von der örtlichen Polizei gefunden. Nach Meldung beim NYPD fand ein grober Abgleich mit allen Vermisstenfällen statt. Vom Alter und von der Gegend her, könnte es passen. Direkt danach wurde das FBI informiert. Die Spurensicherung ist bereits auf dem Weg und das Gebiet geräumt.“ Pierce räusperte sich. „Wir sollten den Teufel trotzdem nicht an die Wand malen. Nach meiner Erfahrung ist noch alles offen und wir müssen erst die Identifizierung abwarten.“ Agent Starling nickte. Ein weiteres Mal sah er zu seiner Frau. „Hast du gehört? Es muss noch nichts heißen.“ Es war gut, dass ein anderer Agent die Einzelheiten erklärte. Aus seinem Mund hätte es viel eher nach einem Versuch der Beruhigung angehört. Angela schluchzte. „Es…es geht ihr bestimmt gut“, sagte Starling ruhig. „Ganz bestimmt…“ Angela krallte sich in das Hemd von ihrem Mann. „Sie…darf es…nicht sein…“, murmelte sie leise. Pierce sah zwischen den Beiden hin und her. „Wir informieren Sie, sobald wir Neuigkeiten zum Fund haben“, fing er. „Ich komme mit.“ „Agent Starling, das halte ich für keine gute Idee.“ „Ich…ich komme auch mit…wenn es Jodie ist…muss ich sie sehen…“ „Angela“, sprach Starling. „In diesem Fall ist es besser, wenn du hier bleibst. Wir wissen nicht, ob es Jodie ist und ich möchte nicht, dass du einem Tatort ausgesetzt wirst. Das, was du dort siehst, wirst du möglicherweise nicht wieder vergessen.“ „Aber…“ „Glaub mir, Angela, so ist es besser.“ Sie schluckte. „Aber…wenn es Jodie ist, informierst du…mich?“ „Natürlich“, nickte er. Er würde sie nicht im Unwissenden lassen. „Kann ich dich auch wirklich alleine lassen?“ Angela nickte. „Ich…ich komm klar…“, murmelte sie. Agent Starling glaubte ihr nicht. „Ich rufe James an und werde ihn bitten hier herzukommen.“ „Das musst du nicht.“ „Doch, das mach ich.“ Starling strich ihr durchs Haar. Er versuchte zu lächeln, merkte dann aber selber wie falsch es war. Langsam zog er sie nach oben und setzte sie auf das Sofa. Er wischte ihre Wangen trocken. „Ich bin bald wieder zurück.“ Was hätte er auch sonst sagen sollen? Alles andere hörte sich so falsch an. Stand er auf der anderen Seite und hatte es mit Eltern oder Familienmitgliedern zu tun, war es ein leichtes Ihnen mehr als Hoffnung zu geben. Manchmal musste er lügen, nur um sie zu beruhigen. Aber nun wo er seiner Frau gegenüber saß, konnte er das nicht. Auch wenn er es nur gut meinte, ein falsches Wort würde sie ihm nicht verzeihen. Pierce parkte den Wagen am Waldrand. „Ab hier müssen wir zu Fuß. Es ist nicht weit. Eine Joggerin hat die Leiche gefunden.“ Starling nickte und stieg aus. Das Waldgebiet war, trotz der Gefahren, immer noch ein beliebter Platz für junge Jogger. Weibliche Jogge. Man konnte ihnen erzählen was man wollte, sie oft genug warnen und trotzdem gingen sie immer noch alleine in den Wald. „Ich halte das immer noch für keine gute Idee“, sagte Pierce. Starling musterte den Agenten. „Das haben Sie jetzt zweimal gesagt. Ich nehm es ins Protokoll auf.“ Starling sah sich um. „Ich kann nicht verstehen, wie junge Frauen hier Joggen gehen können.“ Pierce zuckte mit den Schultern. „Sie kennen die Umgebung und ihnen ist nie was passiert. Aber sobald etwas geschieht, werden sie für einen kurzen Moment vorsichtig. Wenn dann wieder Gras über die Sache wächst, fallen sie in alte Muster zurück“, meinte er ruhig. „Ich hoffe wirklich, dass es nicht Ihre Tochter ist.“ „Danke“, entgegnete Starling. „Auch, dass Fries bei meiner Frau blieb.“ „Schon gut.“ Pierce ging solange den Waldweg entlang, bis die Absperrung in Sicht war. Polizei, Gerichtsmedizin und Spurensicherung waren bereits vor Ort. Die Leiche lag auf einer Bahre, abgedeckt mit einem weißen Tuch, während die Spurensicherung Fotos vom Tatort machte. Starlings Schritte wurden immer schneller, den restlichen Weg lief er. Er musste unbedingt sicher sein. Ein Polizist stellte sich ihm in den Weg und auch wenn es Konsequenzen gab, stieß er diesen weg. Vor der Bahre fiel er auf die Knie, sein Atem ging stoßweise, während er die Decke wegschob. „Starling!“ Pierce hielt dem Polizisten seinen Ausweis hin und sah seinen Kollegen an. „Ist das…“ „Ja“, murmelte Agent Starling. „Das ist Amber.“ Ungewollt durchströmte ihn Erleichterung. Starling stand auf und schob das Laken weg. „Sie weist Strangulationsmale am Hals auf.“ Dr. Lambert, die Gerichtsmedizinerin, trat an die Agenten heran. „Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich davon aus, dass Strangulation zum Tod führte. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion und Blutanalyse sagen.“ Pierce nickte. „Gibt es Anzeichen von Missbrauch?“ „Ohne medizinische Untersuchung kann ich das noch nicht sagen. Aufgrund der Art und Weise wie sie hier liegt, gehe ich allerdings nicht davon aus, außer wir hätten es mit einem Serienmörder zu tun.“ Dr. Lambert sah auf die Leiche. „Bei einer Vergewaltigung durch ein Spontanverbrecher fände man die übliche Vorgehensweise: Entweder die Spuren wären deutlich sichtbar, weil der Täter danach ganz schnell die Füße in die Hand genommen hätte oder er hätte sich danach bemüht alles wieder in Ordnung zu bringen. Dennoch hätten wir in beiden Fällen Spuren gefunden.“ Starling schluckte. „Danke, Doktor. Wir lassen die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen“, sagte er und sah zu Starling. „Kommen Sie.“ Er trat zur Seite. Agent Starling sah seinen Kollegen an. „Sie wissen, was das bedeutet, Pierce. Amber ist tot und Jodie verschwunden. Das kann kein Zufall sein.“ Pierce nickte. „Das lässt das Verschwinden Ihrer Tochter in einem anderen Licht erscheinen. Wir müssen jetzt wirklich von einer Entführung ausgehen.“ Der Agent sah sich um und verschränkte die Arme. „Gut, was haben wir? Nach der Befragung durch mich und Fries hat sich Amber umgezogen und ist Joggen gegangen. Wir müssen ihre Mutter zu ihrer bevorzugten Strecke befragen, aber ich denke wir können davon ausgehen, dass sie hier häufiger läuft. Sobald Amber nun in den Wald kam, wurde sie von unserem Täter überrascht.“ Pierce sah zur Spurensicherung. „Was ist in der Bauchtasche?“ „Ein kaputtes Handy und Ohrstöpsel.“ Pierce hob die Augenbraue. „Das ist wirklich sehr interessant. Amber hat uns ihr Handy vor wenigen Stunden selbst gegeben. Dann muss das ihr Zweithandy gewesen sein.“ Starling schluckte. „Das Mädchen hat von Anfang an gelogen.“ „So sieht es wohl aus. Das Warum müssen wir noch herausfinden. Aber spinnen wir die jetzige Situation weiter. Der Täter trifft auf Amber. Anhang ihrer Sachen könnte man darauf schließen, dass sie kaum Bargeld dabei hat. Der Täter wird grob und stranguliert sie. Nachdem sie tot ist, zerstört er ihr Handy und verschwindet.“ „Wir sollten das Handy und die Speicherkarte schleunigst zur Untersuchung geben. Auf einem wird sich sicherlich etwas finden lassen. Und wir sollten nicht außer Acht lassen, dass Amber den Täter kannte. Das könnte zumindest erklären, warum hier keine Kampfspuren sind. Außer sie wurde hier nicht umgebracht“, entgegnete Starling. „Wir konnten keine Spuren durch Herschleifen finden“, warf McKenzie von der Spurensicherung ein. „Das heißt, falls er sie hergetragen oder gefahren hat, müssten wir Spuren an ihr finden. Ich glaube nicht, dass sich jemand so viel Mühe gab“, sprach Pierce. „Das Handy ist der Schlüssel.“ Starling nickte. „Wir sollten Ambers Zimmer auf den Kopf stecken. Egal in was sie verwickelt war, sie hat Jodie mit reingezogen.“ „Starling.“ „Nein, Pierce. Es geht hier um das Leben meiner Tochter. Wer auch immer sie in seiner Gewalt hat, hat möglicherweise auch Amber umgebracht. Und wenn er den Fehler beging und Jodie sein Gesicht zeigte, hat sie nicht mehr lange zu leben.“ Leila saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und starrte die Agenten mit einem ausdruckslosen Gesicht an. „Sind Sie sich sicher?“, fragte sie leise. „Vielleicht ist es gar nicht Amber.“ Es musste ein Albtraum sein. Nicht ihre Tochter. Agent Starling sah sie an. „Es tut mir wirklich sehr leid“, fing er an. „Ich war vor Ort, ich habe Amber identifiziert. Selbstverständlich können Sie sie auch sehen.“ Leila schluchzte. „Aber sie…sie ist doch erst vorhin zum Joggen rausgegangen. Was ist passiert?“ „Den genauen Tathergang konnten wir noch nicht rekonstruieren. Wir nehmen allerdings an, dass sie den Täter kannte. Nach den ersten Erkenntnissen ist kein Kampf sichtbar. Natürlich werden wir das noch durch die Spurensicherung bestätigen lassen. Der Täter hat es scheinbar auf das Handy Ihrer Tochter abgesehen. Wissen Sie, ob dort wichtige Daten oder Bilder drauf waren?“, wollte Pierce wissen. „Ich weiß es nicht“, wisperte Leila leise. „Sie hat mir nicht gezeigt, was sich auf ihrem Handy befindet. Glauben Sie, sie hat vielleicht ein Foto gemacht, was sie nicht hätte machen sollen, oder dass sie was gesehen hat…und wurde deswegen…“ „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen“, entgegnete der Agent. „Ich weiß, gerade jetzt hilft Ihnen diese Antwort nicht.“ Leila wischte sich die Tränen weg. Sie versuchte stark zu sein. Aber wie die meisten Mütter gelang es ihr nicht. „Wurde meine Tochter vergewaltigt?“ „Nach den jetzigen Erkenntnissen gehen wir nicht davon aus“, antwortete Starling. „Ausgeschlossen werden kann es nicht, die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr gering. Leila, ich weiß, Sie haben jetzt ganz andere Gedanken, aber wir benötigen Zugang zu Ambers Zimmer und ihrem Computer. Wenn wir Glück haben, finden wir dort einen Hinweis auf das, was sich auf dem Handy befunden hat und darauf, warum ihre Tochter sterbe musste.“ Starling schluckte leise. „Und wir erhoffen uns einen Hinweis auf den Aufenthaltsort meiner Tochter zu bekommen.“ Leila schwieg und sah auf den Fußboden. Es fiel ihr schwer das ganze Ausmaß und den Tod ihrer Tochter zu realisieren. „Leila?“, fragte Starling nach. „Sie glauben…beide Mädchen sind…darin verwickelt?“, fragte die Angesprochene. „Das tun wir“, nickte Starling. „Es wäre ein sehr großer Zufall, wenn ausgerechnet Jodie verschwindet und kurz darauf Amber ermordet wird. Wir müssen nur noch den Zusammenhang finden.“ „Dann…tun…Sie…das…“ Leila schluckte. „Finden Sie heraus, wer das meinem Mädchen angetan hat.“ Starling nickte und sah zu Pierce. „Holen Sie die Spurensicherung.“ Pierce stand auf und zog das Handy heraus. Sofort wählte er die Nummer der Kollegen der Spurensicherung. Er gab ihnen knappe Anweisungen und sah sich im Raum um. „Wo ist eigentlich der Vater von Amber?“ Leila blickte ihn irritiert an. „Charlie hat uns vor einigen Jahren verlassen. Seitdem bin ich auf mich allein gestellt und habe versucht Amber so gut es ging zu erziehen. Aber es war schwer für sie ohne Vater aufzuwachsen.“ „Mein Beileid“, murmelte Pierce leise. „Nein…so war das nicht…“, murmelte sie. „Er ist wegen einer anderen Frau gegangen. Seitdem haben wir eigentlich keinen Kontakt mehr.“ „Eigentlich?“ Pierce sah sie fragend an. „Wenn er daran denkt, ruft er zu Ambers Geburtstag an oder meldet sich zu Weihnachten. Ich glaube, seine neue Freundin findet es nicht gut, dass er das tut.“ „Haben Sie eine Adresse?“ „Sie glauben, dass er es war?“, wollte Leila wissen. „Oder sie?“ „Ich möchte mir nur alle Optionen freihalten“, antwortete Pierce. Als sein Handy klingelte, zog er dieses wieder hervor. Der Anruf kam von seiner Partnerin Fries. „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Pierce trat an die Seite und wischte über das Display um den Anruf entgegen zu nehmen. „Fries, was ist los?“ Eine Schweißperle lief über die Wange von Agent Starling. Argwöhnisch beobachtete er seinen Agenten. Welche schlechte Nachricht würde dieser Anruf bringen? „Danke, ich richte es aus.“ Pierce beendete den Anruf und schob das Handy in seine Hosentasche. „Pierce!“ Die Anspannung war Starling anzusehen. „Wir haben Ihre Tochter gefunden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)